eJournals Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur 1/1

Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur
dtv
2748-9213
2748-9221
expert verlag Tübingen
61
2021
11

BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten

61
2021
Christof Gipperich
Tobias Kupfer
PPP-Projekte (Public-Privat-Partnership) denken der Sache nach im Lebenszyklus. Bisherige Ansätze der Digitalisierung in der Baubranche unter dem Synonym Building Information Modeling (BIM) decken jedoch nur einen sehr geringen Teil der Wertschöpfung ab. Viel zu selten gibt es bisher überhaupt digitale Modelle von Infrastrukturen wie Straßen und Autobahnen, obwohl nahezu alle Anwendungsfälle auf objektbasierten Datenstrukturen aufbauen, also auf dem 3D-Modell. Sogar wenn einmal ausnahmsweise und ambitioniert 5D-BIM geplant wird, springen wir viel zu kurz, um die Produktivität entscheidend weiter zu entwickeln. Denn die Planung macht nur wenige Prozentpunkte der Gesamtwertschöpfung aus. Was kommt also nach 5D-BIM? Was kommt nach dem Digital Twin? Zunächst muss BIM und die Digitalisierung die Kernkompetenz der Bauunternehmen abdecken lernen, nämlich die Bauverfahren, Bauabläufe und Bauprozesse. Dazu zeigen die Autoren erste innovative Ansätze, die Technologien aus dem Gaming-Bereich, u.a. VR/AR, integrieren und perspektivisch KI-Anwendungen unterstützen. Darauf aufbauend muss auch der Betrieb der Infrastruktur digital abgedeckt werden. Am Beispiel des PPP-Projektes A6 in Baden-Württemberg zeigen die Autoren auch hier erste Anwendungen. Neben den o.g. technologisch orientierten Aspekten zeigt uns die Industrie 4.0, dass erst durch die Ausbildung digitaler Wertschöpfungsnetzwerke die eigentlichen Produktivitätseffekte entstehen durch die Betrachtung und (lean-)Optimierung von Prozessen unternehmensübergreifendend und im Lebenszyklus. Das bedeutet auch neue partnerschaftliche Vertragsmodelle wie Integrated Project Delivery (IPD) o.glw.
dtv110391
1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 391 BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten Prof. Christof Gipperich Hochschule Biberach Studiengang Bau-Projektmanagement, Biberach a.d.R. Deutschland Tobias Kupfer ViA6West Service GmbH & Co. KG, Bad Rappenau Deutschland Zusammenfassung PPP-Projekte (Public-Privat-Partnership) denken der Sache nach im Lebenszyklus. Bisherige Ansätze der Digitalisierung in der Baubranche unter dem Synonym Building Information Modeling (BIM) decken jedoch nur einen sehr geringen Teil der Wertschöpfung ab. Viel zu selten gibt es bisher überhaupt digitale Modelle von Infrastrukturen wie Straßen und Autobahnen, obwohl nahezu alle Anwendungsfälle auf objektbasierten Datenstrukturen aufbauen, also auf dem 3D-Modell. Sogar wenn einmal ausnahmsweise und ambitioniert 5D-BIM geplant wird, springen wir viel zu kurz, um die Produktivität entscheidend weiter zu entwickeln. Denn die Planung macht nur wenige Prozentpunkte der Gesamtwertschöpfung aus. Was kommt also nach 5D-BIM? Was kommt nach dem Digital Twin? Zunächst muss BIM und die Digitalisierung die Kernkompetenz der Bauunternehmen abdecken lernen, nämlich die Bauverfahren, Bauabläufe und Bauprozesse. Dazu zeigen die Autoren erste innovative Ansätze, die Technologien aus dem Gaming-Bereich, u.a. VR/ AR, integrieren und perspektivisch KI-Anwendungen unterstützen. Darauf aufbauend muss auch der Betrieb der Infrastruktur digital abgedeckt werden. Am Beispiel des PPP-Projektes A6 in Baden-Württemberg zeigen die Autoren auch hier erste Anwendungen. Neben den o.g. technologisch orientierten Aspekten zeigt uns die Industrie 4.0, dass erst durch die Ausbildung digitaler Wertschöpfungsnetzwerke die eigentlichen Produktivitätseffekte entstehen durch die Betrachtung und (lean-) Optimierung von Prozessen unternehmensübergreifendend und im Lebenszyklus. Das bedeutet auch neue partnerschaftliche Vertragsmodelle wie Integrated Project Delivery (IPD) o.glw.. 1. Ausgangslage 1.1 Besonderheiten von PPP-Projekten Bei PPP-Projekten im Straßeninfrastrukturbereich wird die Infrastruktur über den gesamten Lebenszyklus bewirtschaftet. D.h. neben Planung und Bau sind zahlreiche Anforderungen an Betrieb und Erhaltung zu erfüllen, die von der Dokumentation der Bauüberwachung, Mängelverfolgung, Kontroll-, Prüf- und Wartungstätigkeiten, der Leistungserbringung des Betriebes sowie den Erhaltungsmaßnahmen bis hin zu einem sehr umfangreichen Berichtswesen reichen. Somit ist ein ganzheitliche Asset Management notwendig, welches sämtliche Prozesse unter Berücksichtigung von Qualitäten, Terminen und Kosten steuert. 1.2 Building Information Modeling im Infrastrukturbau Obwohl vor dem Hintergrund des Stufenplans der Bundesregierung zu Building Information Modeling (BIM) eine breite Einführung der Technologie ab 2021 im öffentlichen Sektor und damit im Straßenbau zu erwarten wäre, müssen wir feststellen, dass der Straßenbau, insbesondere der kommunale Straßenbau, anderen Bereichen der Baubranche deutlich hinterher hängt. Die bestehenden Hindernisse lassen sich in technologische Aspekte und strukturelle Aspekte aufteilen. Technologisch betrachtet sind die gebräuchlichen CAD-Softwareprodukte im Infrastrukturbau zu wenig intuitiv. Die Softwareanwendungen hinken dem Entwicklungsstand des Hochbaus hinterher. Softwarearchitekturen oder geschlossene Softwarelösungen, mit denen die notwendigen Anwendungsfälle im Straßenbau wirklich störungsfrei und für den Planer wirklich komfortabel abgedeckt werden können, sind am Markt z. Zt. nicht zu finden. Zudem stehen viel zu wenig frei im Netz verfügbare Bauteile und Baugruppen zur Verfügung. Die strukturellen Hürden erscheinen jedoch deutlich höher. Hintergrund sind die i.d.R. jahrelangen, nicht selten sogar jahrzehntelangen Vorlaufzeiten der Projekte. Die Planungen sind mit Technologien aufgesetzt, die Jahrzehnte alt sind und kaum Bezug zur BIM-Denkweise auf- BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 392 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 weisen. Gleiches müssen wir leider auch für die Prozesse feststellen, in denen die Strukturen der Bauherren, der Fachplaner und der ausführenden Unternehmen denken und arbeiten, u.a. der noch unzureichende Wille zur Vernetzung, zum Wissensaustausch (die eigentlichen Treiber der Digitalisierung) und zur Innovation. Oft fehlen das Streben und der Wille, dass Machbare umzusetzen, sich auf neues Terrain zu wagen, Geübtes und Gewohntes fallen zu lassen und Neues zu wagen. Die Vergaberichtlinien der öffentlichen Hand und deren Handhabung in der Praxis sind hier das Paradebeispiel. Die VOB/ A steht in krassem Kontrast zur kollaborativen Arbeitsmethodik nach BIM. Die haushaltsrechtlich begründeten kleinteiligen Vergaben von Planungs- und Bauleistungen widersprechen den in der BIM-Methode geforderten und produktivitätserhöhenden ganzheitlichen Lebenszyklus- und Wertschöpfungskettenbetrachtungen. Zudem scheint gerade die öffentliche Hand und hier wieder besonders der kommunale Bereich im zunehmend intensiven „War for Talents“ das Nachsehen zu haben. Agiles Management oder Methoden wie rapid Prototyping oder Design Thinking fühlen sich weit weg an von der Realität kommunaler Verwaltungen. Oft spürt man auch im direkten Kontakt einen absolut unzureichenden Ausbildungsstand im Bereich Digitalisierung und BIM und nicht zuletzt ist die technische Ausstattung der Ämter viel zu oft tatsächlich beklagenswert. Hier müssen wohl noch viele dicke Bretter gebohrt werden, damit angemessene Geschwindigkeit entsteht. Allerdings ist auch festzustellen, dass bei den Softwareprodukten aktuell große Fortschritte gemacht werden und eine 5D-Anwendung im Straßenbau, mit ein paar Einschränkungen, zumindest kein unüberwindliches technologisches Problem mehr darstellt. Dieses wurde an der Hochschule Biberach im Rahmen einer Semestergruppenarbeit (Bachelor 7. Semester) analysiert, in der insgesamt 23 Programme der Kategorien CAD, Terminplanung, Kostenplanung, Modelchecker / 5D Baumanagement, Visualisierung und Simulation getestet und in einer agilen Matrix bewertet wurden. Unten dargestellt ist eine Softwarearchitektur, welche auf der Basis der verbreiteten CAD-Anwendung card1 hin zu einer BIM-5D- Lösung eingesetzt werden könnte und sich aus Sicht der Hochschule als eine praxistaugliche Lösung darstellt. Andere Lösungsansätze für eine BIM 5D Softwarearchitektur sind je nach Gewichtung der unterschiedlichen Vor- und Nachteile sinnvoll, wobei sich als größter Kritikpunkt die Fehleranfälligkeit und der Informationsverlust bei der Datenübergabe, vor allem aber der notwendige Arbeitsaufwand zur Datenübergabe bei s.g. „open BIM“-Lösungen herauskristallisiert. Hier sind geschlossene Lösungen, s.g. „closed BIM“-Lösungen derzeit anwendungsfreundlicher, auch wenn diese Entwicklung aus marktwirtschaftlicher Sicht ausgesprochen kritisch zu betrachten ist, im Trend möglicherweise aber gar nicht mehr zu stoppen ist. Die Erzeugung und Nutzung von digitalen Bauwerksmodellen nimmt derzeit im Straßenbau Fahrt auf. Die exemplarisch aufgeführten Hindernisse werden in den nächsten Jahren überwunden werden, wahrscheinlich schneller als wir erwarten. Abbildung 1: Beispielhafte BIM 5D Softwarearchitektur (Hochschule Biberach) BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 393 Wesentlicher Treiber wird vermutlich der schon oben angesprochene Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung bei den Bauingenieuren sein, die national betrachtet und auf Sicht gar nicht mehr beeinflussbar ist. Immer mehr Infrastruktur, denken Sie an die notwendigen Erneuerungsarbeiten, an den Ausbau der digitalen Infrastruktur oder die Energiewende, muss mit immer weniger und immer älteren Ingenieuren geschaffen werden. Junge Ingenieure zieht es übrigens schon seit Jahren in den Hochbau. Im Hochbau geht zunehmend die „digitale Post“ ab, es entstehen moderne und zeitgemäße Arbeitsplätze, die immer weniger mit Maßstab, Massen ziehen und Aufmaßblättern zu tun haben. BIM 5D im aktuellen Verständnis (dreidimensionale CAD-Daten erweitert um Termin und Kosteninformationen) wird zunehmend Standard sein. 2. Konfigurator Zufriedenstellend ist jedoch auch das Ergebnis aus Abbildung 1 noch nicht, vor allem bei der Erstellung des 3D-Modells, welches nach der gängigen Denke das s.g. Quellmodell ist, also alle Daten enthalten soll, die für andere „use cases“ erforderlich sind. Im Gegensatz zu Anwendungen aus dem Hochbau wäre das extrudieren von standardisierten Querschnitten, seien es Straßenquerschnitte, Leitungen u.v.a.m. an einer spline entlang orientiert ein sehr wichtiges Werkzeug. Zudem ist die Nachmodellierung einer Punktwolke aus dem Laserscanning eine sehr mühsame aber notwenige Angelegenheit. Denn gerade der kommunale Infrastrukturbau findet i.d.R. im Bestand statt und nur in relativ wenigen Fällen als wirklicher Neubau. Eigentlich gibt es kein Infrastrukturprojekt, welches nicht in irgendeiner Form vorhandene Strukturen tangiert. Hier scheint es viel eleganter, CAD-Modelle aus „Regelquerschnitten“ zu generieren und z. B. an Orthophotos zur Darstellung der Umgebung zu orientieren und im Detail, an Kreuzungen etc. mit möglichst standardisierten Elementen nachzubearbeiten. Für die Erzeugung von CAD-Modellen drängen sich sehr schnell CAD-unabhängige Konfiguratorlösungen auf, die basierend auf hinterlegten Regelquerschnitten anhand einer definierten Streckenführung (spline) möglichst sogar automatisiert das 5D Straßenmodells generieren. Abbildung 2: Schematische Darstellung des Konfigurationsprinzips (Hochschule Biberach) Mit der Software customX konnten Studierende der Hochschule Biberach einen Prototyp eines Konfigurators für Straßenelemente entwickeln. Ein Regelwerk bestimmt Abhängigkeiten, Restriktionen und Parameter, welche mit einem Rohmodell verknüpft sind. Über eine intuitive Benutzeroberfläche wird man über Abfragen zu einem vollständigen 3D Modell des gewünschten Straßenzugs geleitet. Die Ausgabe funktionierte in unserem Fall als Revit-Familie, sodass eine Verknüpfung mit 4D und 5D problemlos zu lösen ist. 3. Digitale Bauprozessplanung Die Planung und die Erstellung von 5D-Modellen als digitaler Zwilling ist aber erst am Anfang einer zunehmend dynamischen Entwicklung. Denn bei BIM geht es heute um das Planen. Die eigentliche Kernkompetenz der Bauunternehmen, die Bauproduktion oder besser die Bauprozesse, werden zurzeit noch nicht digital abgebildet. Das mag auch der Grund sein, warum sich BIM gerade bei den Bauunternehmen so schleppend durchsetzt. Abbildung 3: Herkömmliches BIM-5D. Digital und analog ermittelte Kosten und Terminanteile (eigene Darstellung) Deshalb ist aktuell BIM auch keine wirkliche 5D-Planung, weil die Bauprozesse nicht digital geplant werden. Digital ermittelte Massen werden mit analogen s.g. „Aufwandswerten“ in der Kalkulation und Terminplanung vermischt. Deshalb kann BIM aktuell auch nur die „halbe Wahrheit“ bei den Baukosten, nämlich die massebezo- BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 394 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 genen Kosten digital und mit zeitgemäßer Genauigkeit erfassen. In Abbildung 3 sind die wirklich digital ermittelten Kosten- und Terminanteile grün dargestellt, die herkömmlich analog mit Schätz- und Erfahrungswerten ermittelten Anteile in orange dargestellt. Soweit wir s.g. Simulationen in verschiedenen Softwareprodukten sehen, handelt es sich durchweg um händisch erzeugte Verknüpfungen von herkömmlich erzeugten Balkenplänen mit dem Bauwerksmodell, also um Visualisierungen des Terminplans oder nachträglich ebenfalls auf der Basis von Balkenplänen oder den s.g. Phasenplänen erzeugte Videos. Die Planungsumgebung der Bauprozessplanung ist herkömmlich aber immer analog. In einem hochschulnahen Startup wird z.Z. eine Software entwickelt, die eine ganz neuartige intuitive und interaktive Bauprozessplanung ermöglicht und sich dabei wiederum auf Werkzeuge der Gaming Industrie abstützt. Ausgangsbasis der Planungen ist immer das digitale Bauwerksmodell, d.h. die Bauprozessplanung ist wie alles bei BIM objektorientiert. Das Model wird zusammen mit Umgebungsdaten in die Software geladen, die Gamer bezeichnen das als „in die Welt holen“ und meinen damit ihre virtuelle Welt. Für etwas ältere Semester eine Metapher: Es entsteht so etwas wie ein digitaler Sandkasten, in dem virtuell solange mit Baugeräten etc. gespielt werden kann, bis der richtige Bauablauf und Bauprozess gefunden sind. Es wird also tatsächlich erst geplant, bevor wir bauen, so wie es ein ehemaliger Bundesverkehrsminister forderte, als er den Stufenplan BIM 2015 veröffentlichte. Ist der BIM-Sandkasten betriebsbereit, wird zunächst die Baureihenfolge festgelegt. Das ist die herkömmliche Bauablaufplanung, die wir aus der Balkenplanerstellung kennen. Abbildung 4: Workflow digitale Prozessplanung Bau am Beispiel der Software dproB (Building Information Innovator GmbH) In der Bauprozessplanung wird jetzt tatsächlich gebaut. Geräte werden positioniert, lassen sich fahren und drehen, führen Hubprozesse durch, Laden und Entladen u.v.a.m. Je nach Anwendungsfall (rail, road ….) müssen heute noch unterschiedliche Geräte konfiguriert werden, weil die Gerätehersteller i.d.R. noch keine digitalen Modelle der Baugeräte mit den Grundfunktionalitäten ausgestattet bereitstellen. Auch das ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit. Mit dieser Bauprozessplanung wird zum einen die „Baubarkeit“ von bestimmten Bauwerken bzw. die dazu notwendigen Aufwendungen (denken Sie an komplexe innerstädtische Infrastruktur) erkannt und dargestellt, sowie gezeigt, wie verschiedene Bauprozesse ineinandergreifen (denken sie an die letzten Wochen eines komplexen Hochbaus). Vor allem gelingt es mit der digitalen Prozessplanung Bau endlich ein Verständnis für den vollständigen Bauprozess zu gewinnen und damit für Termine und Baukosten. Denn sind wir einmal ehrlich: Bei etwas komplexeren Baustellen kommen wir schlicht an die kognitiven Kapazitätsgrenzen unseres Gehirns, weil uns die Abspeicherungsmöglichkeiten und resultierend auch die Kommunikationsmedien fehlen. Haben Sie sich einmal den Bauprozess einer fünfjährigen innerstädtischen Tunnelbaustelle von Ihrem erfahrenen Arbeitsvorbereiter und Terminplaner im Detail erläutern lassen? Wenn Sie nach einem halben anstrengenden Tag verstanden haben, wie das nächste halbe Jahr im groben nach den Vorstellungen des Planers abläuft, können sie sich auf die Schulter klopfen. Die gleichen Bauprozesse wie der Planer haben Sie dabei noch lange nicht im Kopf. BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 395 Abbildung 5: digitale Bauablaufplanung und Bauprozessplanung (Building Information Innovator GmbH) Die extreme kognitive Belastung in solchen Prozessen verhindert auch, dass wir schneller und effektiver bei der Optimierung von Bauprozessen sind. Der o.g. Arbeitsvorbereiter bleibt in seiner eigenen Welt, alle anderen Fachlaute verstehen die Gedankengänge mehr oder weniger gut und sind so außen vor. Trotz aller Nachteile von VR-Anwendungen (Visually Induced Motion Sickness, Komfort) liegt hier der Vorteil stark visualisierter Umgebungen. Je weniger das Gehirn „übersetzen“ muss, je immersiver also die Planungsumgebung ist, desto kommunikativer, schneller und kreativer werden wir. Abbildung 6: Standardisierung von Bauwerksplanungen, Bauabläufen und Bauprozessen (eigene Darstellung) Neben dem Vorteil der immersiven digitalen Planung und Kommunikation ergeben sich die maßgeblichen Wirtschaftlichkeitseffekte durch Produktivitätszuwächse, in dem wir den Gedanken der Planung mit BIM auf die Bauproduktionsplanung übertragen. Auch wenn viele Architekten und Bauingenieure noch darauf schwören, dass es sich bei Bauwerken um die s.g. Losgröße 1 handeln muss, also immer wieder besonders speziell an die Bedürfnisse des Bauherrn angepasste Einzelfertigungen, so wissen wir doch aus der Realität des digitalen Planens, dass wir uns über copy and paste, so gut es möglich ist, aus „Altplanungen“ bedienen, wo es geht Objekte oder Bauteilfamilien aus dem Netz oder dem firmeneigenen Server laden u.v.a.m., um den Planungsaufwand zu reduzieren und Performance zu bekommen. Erst das macht die digitale Planung gegenüber der herkömmlichen Planung effektiv. Das führt aber zwangsläufig auch zu gewissen Standardisierungen. Deshalb basiert die Bauwerksplanung wie auch die Bauabläufe und Bauprozesse möglichst weitgehend auf digital hinterlegten objektorientierten Standards, den s.g. Sequenzen. So kann u.a. das Wissen der Baufirmen zum ersten Mal digital gespeichert werden. Erfahrene Baufachlaute können Ihr Wissen digital archivieren. Standardisierte digitale erfasste Prozesse öffnen zudem die Möglichkeit eines effektiven KVP-Prozesses, weil immer nur die sich am besten in der Praxis bewährte Sequenz digital in einer Datenbank archiviert ist. Standardisierung ist auch immer zwingende Voraussetzung und KI-Anwendungen. BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 396 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 7: dProB Bild aus dem Straßenbau (Building Information Innovator GmbH) Viele Erfahrungen aus anderen Branchen (denken Sie an die Plattformtechnologie beim Automobilbau) zeigen, dass die Standardisierung und Digitalisierung der Bauplanungen, der Bauabläufe und Bauprozesse die entscheidende Grundlage für eine effektive Vernetzung von Wertschöpfungsketten und damit verbundenen sprunghaften Produktivitätssteigerungen ist. Für den Bau zeigen das einige inzwischen verfügbare Studien z. B. von McKinsey auf. Gemeinsam mit verschiedenen Industriepartnern als Early Adopter wurde bereits ein s.g. „Stable MVP“ zur Erstellung von Prozesssequenzen für einen bestimmten Anwendungsfall programmiert und begonnen in die Softwarelandschaft zu integrieren. Im Rahmen der Optimierung der digitalen Bauablaufplanung wird eine Verbindung zum Lean Management untersucht („digital Lean“) und die Weiterentwicklung zahlreicher Funktionen, UI´s, dem Softwarekern und spezielle Anwendungsfälle der Industriepartner vorangetrieben. Dabei wird das Prinzip des Lean-Startup verfolgt. 4. Digitaler Betrieb von Autobahnen Darauf aufbauend muss auch der Betrieb der Infrastruktur digital abgedeckt werden. Am Beispiel des PPP-Projektes A6 in Baden-Württemberg zeigen die Autoren auch hier erste Anwendungen. HOCHTIEF PPP Solutions betreibt und erhält eine Vielzahl von Straßeninfrastrukturprojekten. Bei PPP-Projekten im Straßeninfrastrukturbereich sind neben Planung und Bau zahlreiche Anforderungen an Betrieb und Erhaltung zu erfüllen, die von der Dokumentation der Bauüberwachung, Mängelverfolgung, Kontroll-, Prüf- und Wartungstätigkeiten, der Leistungserbringung des Betriebes sowie den Erhaltungsmaßnahmen bis hin zu einem sehr umfangreichen Berichtswesen reichen. Um Baumanagement, Betrieb und Erhaltung wirtschaftlich und organisatorisch erfolgreich zu steuern, werden die Bau-, Betriebs- und Erhaltungsprozesse der Straßeninfrastruktur bei PPP-Projekten von HOCHTIEF PPP Solutions digital abgewickelt. Zu Beginn wurden Arbeitsaufträge und das Berichtswesen automatisiert, mittlerweile werden anhand eines BIM-Modells die relevanten Informationen zur Verfügung gestellt und auf Basis dieses Modells die digitalen Prozesse abgebildet. BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 397 Abbildung 8: Darstellung P3IM Management-Modell (eigene Darstellung) Das PPP Information Modeling (P3IM) ist eine Entwicklung von HOCHTIEF PPP Solutions (Niederlassung Transport Infrastruktur Europa) unter Anwendung der Building Information Modeling (BIM) Methode. Das P3IM ist auf den Leistungsumfang von Bau- und Projektmanagement sowie Betrieb und Erhaltung von Straßeninfrastrukturprojekten adaptiert. Der besondere Vorteil besteht darin, dass durch die enthaltenen Werkzeuge zur Aufnahme, Integration, Verknüpfung und Auswertung von Daten sowie ihre Visualisierung am Modell Informationen über die gesamte Lebenszyklusphase transparent zur Verfügung gestellt werden, um durch Analysen der Informationen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Auch das P3IM Management-Modell ist in seinem Grad der Detaillierung (LoD) für Geometrie (LoG) und Informationen (LoI) auf die Anforderungen des Asset Managements abgestimmt. Es wird dabei kein exakter „Digitaler Zwilling“ modelliert, sondern es werden im Modell alle für das Projekt relevanten Objekte von Strecke und Ingenieurbau schematisch mit einer ausreichenden Genauigkeit abgebildet. Aufgrund des großen räumlichen Umfangs von PPP-Projekten der Verkehrsinfrastruktur kommt der Verfügbarkeit und Auswertung von Informationen unterschiedlicher Use Cases über den Lebenszyklus am Modell eine besondere Bedeutung zu. Mit diesem Ansatz hat sich das P3IM neben Transparenz und Prozesssicherheit auch zu einer wichtigen Säule im Risikomanagement etabliert. HOCHTIEF PPP Solutions verwirklicht über P3IM die Umsetzung von zahlreichen Use Cases für Bau, Betrieb und Erhaltung der Straßeninfrastrukturprojekte. Die Digitalisierung der Prozesse über den gesamten Lebenszyklus hat große Vorteile: • Zeit- und Kostenersparnis durch Prozessoptimierung • Risikoreduktion • Transparenz • Prozesssicherheit • Durchgängige, transparente Zusammenarbeit mit den Partnern Abbildung 9: Use Cases HOCHTIEF PPP Solutions (eigene Darstellung) 4.1 Beispiel Unfallmanagement Das P3IM-Unfallmanagementsystem der HOCHTIEF PPP Solutions der Niederlassung Transport Infrastruktur Europa wurde entwickelt, um den gesamten Prozess der Unfallabwicklung vom Unfallereignis bis zur Schadensabrechnung und Nachverfolgung zu digitalisieren und automatisieren. Entwickelt wurde das P3IM-Unfallmanagementsystem auf dem Projekt A6, bei welchem der BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 398 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Betriebsdienst jährlich ca. 300 Unfälle mit einer Gesamtschadenshöhe von ca. 1 Mio. EUR abzuwickeln hat. Abbildung 10: Unfall-App (eigene Darstellung) Die Unfallaufnahme erfolgt über eine App. Unfalldaten inklusive Fotos werden direkt am Unfallort eingegeben, übertragen und zentral gespeichert. Dort erfolgt zugleich auch die Verwaltung der Unfalldaten. Über automatisierte Geschäftsprozesse werden die digitalen Prozesse abgewickelt. Exemplarisch lässt sich nach der Erfassung eines Unfalls direkt über die App die Unfalldokumentation und Schadensabrechnung erzeugen. Ebenfalls kann bei besonders relevanten Ereignissen auch der Projektgeber über einen Geschäftsprozess direkt informiert werden. Aus den Unfalldaten werden mithilfe von BI-Anwendungen zudem verschiedene Reports erzeugt. Eine dynamisch aktualisierte Unfallsteckkarte visualisiert zudem alle Unfallorte. Die Vorteile des Unfallmanagement-Systems sind: • KOSTENEINSPARUNG: Dokumentation und Abrechnung erfolgen direkt über die App. Dies sorgt für Entlastung, da weniger „Nacharbeit“ notwendig ist. • DATEN-MANAGEMENT: Unfalldaten müssen nur einmal erfasst werden und stehen zentral zur Verfügung. • AUTOMATISIERUNG: Automatisierte Prozesse steigern die Sicherheit und Qualität, minimieren die Risiken und ermöglichen die schnellere Durchführung administrativer Aufgaben. • ERKENNTNISSE: Über ein intelligentes Datenmodell können mit BI-Anwendungen neue Erkenntnisse gewonnen werden. Alle Unfalldaten lassen sich analysieren und visualisieren. 5. Digitales Wertschöpfungsnetzwerk In zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen wird die praktisch nicht vorhandene Produktivitätserhöhung der Baubranche in den letzten Jahrzehnten thematisiert. Betrachten wir allein die technologischen Weiterentwicklungen der letzten Jahrzehnte auf den Baustellen und vergleichen diese z. B. mit der Maschinen- und Elektroindustrie oder gar der IT-Technologie, ist diese Aussage schnell qualitativ nachgewiesen und begreifbar. Diese zugegeben sehr niedrig liegende Ausgangsbasis hat wiederum einen Vorteil, nämlich ein riesiges Potential auch für Sprunginnovationen, wenn wir uns die Technik und Arbeitsweisen anderer Branchen schnell und effektiv zu nutzen machen. Abbildung 11: Potential zu Sprunginnovationen in der Baubranche (eigene Darstellung) BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 399 Neben den o.g. technologisch orientierten Aspekten zeigt uns die Industrie 4.0, dass erst durch die Ausbildung digital vernetzter Wertschöpfungsnetzwerke die eigentlichen Produktivitätseffekte entstehen und durch die Betrachtung und (lean-)Optimierung von Prozessen unternehmensübergreifendend und im Lebenszyklus. Natürlich ist es schwer zu quantifizieren, welche Produktivitätseffekte Technologie und welche Prozesse und Vernetzung haben. Letztere sind aber sicherlich mehr als die sprichwörtliche „halbe Miete“. Vermutlich bedingen und verstärken sich sogar beide Effekte. Im Bereich der Prozesse und der Vernetzung sind die Früchte viel leichter zu ernten als im Bereich der Technologie. Irgendein Marktteilnehmer wird dieses Potential früher oder später erkennen und heben, spätestens im nächsten Konjunkturzyklus. Für die im Markt befindlichen Unternehmen ergibt sich dann aber die Notwendigkeit und/ oder Machbarkeit von Innovationssprüngen mit mehreren Zehnprozent Produktivitätszuwachs. Markteilnehmer, die nicht Bestandteil von digital vernetzten Wertschöpfungsketten sind, haben schnell gravierende Produktivitätsdefizite und verschwinden vom Markt. Beachten Sie dabei, dass einmal gebildete Netzwerke stabil sind, also ein späterer Zugang zu einem solchen Netzwerk an Eintrittsbarrieren scheitert. Innerhalb der Netzwerke sind moderne partnerschaftliche Vertragsmodelle wie Integrated Project Delivery (IPD) o.glw. erforderlich. Dazu müssen wir lernen, die Wertschöpfung als Ganzes zu betrachten, uns zu vernetzten, unser Wissen zu teilen und unsere Kräfte zu bündeln. Erst mit dem dafür notwendigen Kulturwandel in unserer Branche können wir die Produktivitätsvorteile aus der technischen Entwicklung hebeln und die geforderten Innovationssprünge erreichen. An der Hochschule Biberach haben wir, basierend auf der wegweisenden Bachelorarbeit von Herrn Patrick Theis aus dem Wintersemester 19/ 20, den Begriff des „digitalen Wertschöpfungsnetzwerks“ geprägt und beschrieben. Das digitale Wertschöpfungsnetzwerk beschreibt die projektunabhängige vollständige digitale Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Stakeholder über den gesamten Lebenszyklus. Digital verfügbare Standards der Bauwerke, Bau- und Betriebsprozesse erhöhen die Produktivität und Innovationskraft. Durch einen transparenten, risikominimierten, nutzerorientierten, kollaborativen und digital gestützten Planungs- und Bauprozess werden partnerschaftliche Vertragsmodelle mit den Kunden/ Nutzern ermöglicht und Vertrauen aufgebaut. Die heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung schaffen dafür endlich die geeignete technologische Basis. BIM und VR zur Prozesssteuerung bei Straßeninfrastrukturprojekten 400 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 12: Digitales Wertschöpfungsnetzwerk (eigene Darstellung) 6. PS auf die Straße bringen Um „PS auf die Straße zu bringen“, sollten große Masterpläne in der Hoffnung, die Entwicklungen der nächsten Jahre bis ins letzte Detail planen und vorbestimmen zu können, ad acta gelegt werden. Umsetzen was geht, machen was möglich ist und agil managen sind die Zeichen der Zeit. Bei PPP-Projekten bestehen für die Stakeholder über den Lebenszyklus i.d.R. deutlich größere Freiräume bei der technologischen Entwicklung, beim Prototyping und bei der agilen Gestaltung von Prozessen. Auch hier besteht noch erhebliches Optimierungspotential, denn PPP-Verträge gerieren sich als besonders „fair“, stellen aber in der Realität lediglich den Bauherrn frei von vielen Risiken und drängen ihn als Bau- und Betriebspartner in die Kundenrolle (Nutzer und Zahler). Die Fachkompetenz des Bauherrn wird nicht gehoben. Auch sind die Vertragsmodelle zu den eigentlichen Bauunternehmen eher konventionell gestaltet, so dass auch hier kein kollaborative vernetzte Zusammenarbeit entstehen kann, sondern eher die Schnittstellen klar gesäubert, weil getrennt werden. Weil hier aber schon wichtige vor allem „kulturelle“ Voraussetzungen bestehen und vor allem eine Lebenszyklusdenke Grundlage der Geschäftsmodelle ist, könnten PPP-Modelle Vorreiter für die öffentlichen Auftraggeber auf dem Weg zur Digitalisierung und Produktivitätserhöhung sein.