Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur
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expert verlag Tübingen
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Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand
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Jens Kühne
Die Digitalisierung der Verkehrsinfrastruktur wird seit einigen Jahren stark durch BIM bestimmt. Entscheidend für die schnelle Umsetzung eines digitalen Erhaltungsmanagements ist jedoch vor allem die Digitalisierung von Bestandsinformationen. Viele der dafür benötigten Daten liegen bereits vor, sind jedoch stark fragmentiert und in nicht vernetzten Fachanwendungen verfügbar. Dabei werden sowohl verschiedene im Infrastrukturbereich seit vielen Jahren etablierte Datenstandards (z. B. ASB-ING, OKSTRA, IFC) als auch andere offene Formate genutzt. Hinzu kommt, dass für die intelligente Bestandsbewirtschaftung eine Verknüpfung der Informationen ressort-übergreifend (technisch, kaufmännisch) und in allen Prozessen (end-to-end) unumgänglich ist. Die Modellierung basiert dabei auf miteinander vernetzten Referenzobjekten. Es entstehen Digitale Zwillinge auf Objekt- und Netzebene. Historie und Prognosen sind abbildbar, können in Folgeprozessen bereitgestellt werden und eine unkomplizierte und dennoch sichere kollaborative Zusammenarbeit auch mit externen Partnern und Lieferanten erlauben.
Der Vortrag fasst die Anforderungen an Digitale Bestandszwillinge zusammen und zeigt die verwendete SAP-IT-Architektur sowie die Vernetzung der Daten. Am Beispiel der Stadt Hamburg werden die Ergebnisse sowie die Verwendung der Daten in den Asset Management Prozessen erläutert.
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2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2023 203 Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand Ganzheitliches digitales Erhaltungsmanagement am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg Dipl.-Ing. Jens Kühne Kühne Mobilität, Seeheim-Jugenheim Zusammenfassung Die Digitalisierung der Verkehrsinfrastruktur wird seit einigen Jahren stark durch BIM bestimmt. Entscheidend für die schnelle Umsetzung eines digitalen Erhaltungsmanagements ist jedoch vor allem die Digitalisierung von Bestandsinformationen. Viele der dafür benötigten Daten liegen bereits vor, sind jedoch stark fragmentiert und in nicht vernetzten Fachanwendungen verfügbar. Dabei werden sowohl verschiedene im Infrastrukturbereich seit vielen Jahren etablierte Datenstandards (z. B. ASB-ING, OKSTRA, IFC) als auch andere offene Formate genutzt. Hinzu kommt, dass für die intelligente Bestandsbewirtschaftung eine Verknüpfung der Informationen ressort-übergreifend (technisch, kaufmännisch) und in allen Prozessen (end-to-end) unumgänglich ist. Die Modellierung basiert dabei auf miteinander vernetzten Referenzobjekten. Es entstehen Digitale Zwillinge auf Objekt- und Netzebene. Historie und Prognosen sind abbildbar, können in Folgeprozessen bereitgestellt werden und eine unkomplizierte und dennoch sichere kollaborative Zusammenarbeit auch mit externen Partnern und Lieferanten erlauben. Der Vortrag fasst die Anforderungen an Digitale Bestandszwillinge zusammen und zeigt die verwendete SAP-IT-Architektur sowie die Vernetzung der Daten. Am Beispiel der Stadt Hamburg werden die Ergebnisse sowie die Verwendung der Daten in den Asset Management Prozessen erläutert. 1. Einführung Die Digitalisierung der Verkehrsinfrastruktur verfolgt viele wirtschaftliche und politische Ziele: - Ganzheitliches Asset Management auf Basis konsistenter Datenbestände (Prozesse, Nachhaltigkeit) - Lebenszyklusbetrachtung (Ausbau BIM, Implementierung von Bestandsdaten) - Intelligentes Verkehrsmanagement (Verkehrsflussoptimierung) - Kollaboration aller Prozessbeteiligten (Reduktion von Prozesszeiten) - Regionen- und verkehrsträgerübergreifendes Planen und Handeln - Unterstützung der Planungs- und Managementprozesse (Digitale Haushalts- und Verkehrswegeplanung) Bei den Betreibern finden wir jedoch inkonsistente und fragmentierte System- und Datenlandschaften vor. Eine betreiber- oder gar verkehrsträgerübergreifende Datenstrategie fehlt. Sie muss Anforderungen an das Bestandsdatenmodell klar definieren: - Datenformat-offen (BIM inkl.) - semantisch integriert - single source of truth - assetklassen- und equipment-übergreifend - Einbindung von Daten aus Fachanwendungen - Einbindung von Docs, IoT- und Bilddaten - End-to-end-Prozesse - Interaktives und grafikorientiertes Reporting 2. Digitale Zwillinge im Lebenszyklus BIM wird sich in den kommenden Jahren zum Standard für Planung, Bau und Betrieb von Infrastrukturen entwickeln. Kosten und Aufwand für die Erstellung der Modelle sind immer noch hoch, sodass eine „BIM-isierung“ des Bestandes aus jetziger Sicht nicht wirtschaftlich ist. Dennoch lassen sich die teilweise über Generationen gesammelten Daten und Informationen sinnvoll modellieren, um damit Betrieb und Erhaltung der Bauwerke sicherstellen und sogar Netzsichten bauen zu können (zum Beispiel für Betriebsdienst oder Verkehrsmanagement). Objekte, Netze und Prozesse lassen sich schnell und digital abbilden! 2.1 BIM Der große Vorteil von BIM ist das sich als Backbone durch alle Anwendungen und Dimensionen (10D) ziehende Datenformat IFC. Die aktuellen Anwendungen haben meist Neubau- und Objektbezug, in der Praxis gibt es erste Erfahrungen mit 4D/ 5D für Planung und Bau (Asset Management ist 7D! ). Für die Einbindung von Daten aus Fachanwendungen sind Schnittstellen notwendig, zwischen den Anwendungen gibt es immer noch Systembrüche (z. B. Revit (BIM), Algor (FE), Spartacus (CAFM)), und eine ganzheitliche Verknüpfung mit allen Stammdaten und Unternehmens-prozessen fehlt (Management, Reporting, FiBu, HR, Supply Chain). Insbesondere die fehlende Einbindung von Fremdformaten erschwert das Ableiten von Maßnahmen aufgrund der inhomogenen Informationslage. 204 2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2023 Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand 2.2 Bestandsmodell Im Beispielprojekt in Hamburg wurde ein gegenüber BIM vereinfachtes Datenmodell mit dem Fokus auf das Erhaltungsmanagement gewählt. Es orientiert sich an der von SAP für das Asset Management verwendeten Asset Taxonomy. Die hierarchische Struktur der Objekte (Technische Plätze, Equipments, Materialien, Attribute) ermöglicht eine schnelle Umsetzung innerhalb der modular aufgebauten Standard-Softwareumgebung. Das Modell erlaubt die flexible Einbindung von Informationen und Daten aus Fachanwendungen in die Datenbank und verknüpft technische und kaufmännische Prozesse (end-to-end) für alle Assetklassen. Es entsteht eine durchgängige Historie (Einbindung aller jeweils vorhandenen Daten unabhängig von Baujahr und Status) für Objekt- und Netzzwilling, aktuelle Zustandsinformationen lassen sich über mobile Endgeräte erfassen und Maßnahmen auf Basis gerechneter Prognosen zur Zustandsentwicklung ableiten. Außerdem lassen sich Bestandsmodelle, GIS-Kartensichten und IoT-Daten (z. B. aus Monitoring) schnell einbinden. Schnittstellen und doppelte Datenhaltung werden vermieden (single source of truth, IT-Connectoren). Die Standardsoftware erlaubt den schnellen Auf bau eines interaktiven Reporting auf Basis aktueller Informationen für alle Entscheidungsebenen in nahezu Echtzeit, jederzeit und überall. Die abgeleiteten Maßnahmen basieren dabei auf einer validen und konsistenten Datenbasis. 3. Referenzprojekt beim LSBG Die Stadt Hamburg hat sich vor einigen Jahren entschieden, flächendeckend ein digitales Asset Management System zu etablieren. Ziele waren die übersichtliche Objektverwaltung, die mobile und/ oder messdatenbasierte Zustandserfassung sowie die Schaffung assetübergreifend einheitlicher, interaktiver Reports und zeitsparender, ressourcenschonender End-To-End-Prozesse. Für die Umsetzung ist der Einsatz einer leistungsfähigen IT-Lösung notwendig, die die verschiedenen Daten aus der fragmentierten System- und Anwendungslandschaft mit den kaufmännischen Informationen zusammenführt. SAP erfüllte alle notwendigen Voraussetzungen. Im Rahmen der Implementierung des Systems erfolgte die regelbasierte und skalierbare Validierung, Plausibilisierung und Modellierung der Daten sowie die Verprobung des Reporting. Es wurde die Umsetzung verschiedener Usecases in einem Pilotgebiet vereinbart. Daraus ergaben sich folgende Teilprojekte: - Aufbau eines Objektregisters für Brücken und Straßen, Visualisierung in GIS - Aufbau Standard-Reporting auf Basis vorgegebener Templates - Prototyp einer Erhaltungsplanungs-App für Straßen (auf Basis vorhandener Daten aus ZEB-Befahrungen) - Prototypische Einbettung von FE-Modell und Messdaten aus dem Monitoring einer Brücke - Umsetzung erster Prozessimplementierungen Als Pilotgebiet wurde der Stadtteil Hamburg Mitte mit 181 Basisobjekten Straße und 42 Teilbauwerken Brücken ausgewählt (Abb. 1). Abb. 1: Referenzgebiet Hamburg-Mitte 3.1 Objektregister und Reporting Objekt- und Zustandsdaten der Brücken wurden inkl. Geo-Referenzierung aus der SIB-BW in die S/ 4 HANA- Datenbank übernommen und auf Maschinenlesbarkeit, Vollständigkeit und Plausibilität geprüft. Die Verkehrsflächen wurden als Realflächen modelliert (im Fernstraßenbereich wird derzeit hinreichende Genauigkeit mit Knoten-Kanten-Modellen erzielt). Die Polygone wurden aus verschiedenen Quellen eingelesen und plausibilisiert, Datenqualitätsabweichungen wurden regelbasiert erkannt und überwiegend automatisiert beseitigt (Abb. 2). Abb. 2: Flächenabweichung bei einem Brunnen Die Objektstrukturen wurden regelkonform abgeleitet (Abb. 3), entsprechende Eigenschaften zugeordnet. 2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2023 205 Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand Abb. 3: Objektstrukturen für eine Schleuse Im Folgenden wurden die Unterstrukturen (Verkehrsflächen, Nebenflächen, Grünflächen) ausgebildet, Equipments eingebunden (z. B. Bäume) und entsprechende Eigenschaften (Attribute) zugeordnet (ist eine Nebenfläche beispielsweise Fußweg oder Radverkehrsweg) (siehe Abb. 4). Abb. 4: Verkehrs-, Neben-, Grünflächen, Equipments Auf der vernetzten Datenbasis konnten in der SAP Analytics Cloud für die verschiedenen Assetklassen sehr schnell die Dashboards für ein maßgeschneidertes Reporting aufgebaut werden. Dabei wurden historische, aktuelle und Prognosedaten ausgewertet und visualisiert. Die jeweils betrachteten Datenbestände lassen sich über Dialogfenster filtern/ selektieren (Abb. 5). Abb. 5: Dashboard Zustand Brückenbestand Das Objektregisterverzeichnis für mehrere Assetklassen (rollout gesamte Stadt Hamburg) umfasst derzeit etwa 6.000 Technische Plätze. 3.2 Erhaltungsplanungs-Apps Auf Basis der vorhandenen Zustandsdaten für die Straßen (ZEB, 20 m-Abschnitte) wurde der Prototyp einer App zur Planung der Erhaltungsbedarfe (Jahr, Maßnahme, Wert) entwickelt. Eine der Herausforderungen dabei war das Mapping der Straßenschäden (Knoten-Kanten- Modell) auf die Realflächen (Abb. 6). Abb. 6: Überlagerung Realflächen- und Knote-Kanten- Modell Nach Analyse der Zustandsabschnitte werden entsprechend optimierte Erhaltungsabschnitte ausgegeben (Abb. 7). In einem nächsten Schritt werden verschiedene Maßnahmenoptionen zugeordnet und wirtschaftlich bewertet. Abb. 7: Visualisierung eines Erhaltungsabschnitts 3.3 Einbindung von Messdaten (IoT) und Modellen SAP bietet im Rahmen des Asset Management Software Portfolios auch Werkzeuge zur Einbindung und Visualisierung von 3D-Modellen und zur dynamischen Modellierung von Bauwerken auf Basis von IoT-Daten an. Eine Aufgabe im Pilotprojekt war, diese Einbindung prototypisch anhand von Messdaten zu zeigen. Messdaten standen in verschiedenen Quellen zur Verfügung (Schöpfwerkpumpen, Pegelstände der Elbe, Brückenmonitoring). Für die Graskeller Fußgänger-brücke (Abb. 8) wurde ein FE-Modell erstellt (Abb. 9) und in SAP eingebunden. 206 2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2023 Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand Abb. 8: Graskeller Fußgängerbrücke in Hamburg Abb. 9: FE-Modell der Graskeller Fußgängerbrücke Die gemessenen Schwingungen am Bauwerk wurden sowohl zu Kennwerten verrechnet (Abb. 10) als auch in 3D modelliert. In einem weiteren Schritt besteht nun die Möglichkeit, die Ergebnisse zu normieren und ergänzend zu den Zustandsnoten aus der SIB-BW für die Bewertung zu nutzen. Für die Visualisierung in Cockpits stehen im SAP eine Vielzahl von Optionen zur Verfügung. Abb. 10: Einfache Visualisierung von berechneten Daten in SAP 3.4 Prozessimplementierung Kernziele des Pilotprojektes waren die Anreicherung des Objektregisters mit weiteren Bestandsinformationen sowie die Verknüpfung von Asset Management Informationen mit den kaufmännischen Prozessen im ERP (S/ 4 HANA). Alle relevanten Assetmanagement-Prozesse wurden standardisiert sowie fachlich und kaufmännisch integriert für mehrere Assetklassen umgesetzt: - Planung und Durchführung regelmäßiger Prüfungen - Durchführung ereignisgesteuerter Prüfungen - Maßnahmen-Planung und Durchführung von kleinen Erhaltungsmaßnahmen bis zu großen Projekten - Erstellen von Meldungen aus mobil erfassten Zustandsinformationen - Rückmeldung von Aufträgen Unterstützung von kollaborativen Prozessen mit Dienstleistern - Analysen auf den gesamten Assetbestand sowohl fachlich wie aus Finanzsicht (objektgenaue Kostentransparenz) - Integration zur Anlagenbuchhaltung 4. Weiteres Vorgehen Nach Abschluss des Pilotprojektes wurden die Daten aus der Pilotanwendung in die Live-Systeme überführt. Die Datenmodellierung erlaubte eine Übertragung der Prüfalgorithmen auf die Daten des gesamten Stadtgebietes sowie die Implementierung weiterer Assetklassen (Deiche, Schleusen, Wasserflächen, …). Die Implementierung weiterer Equipments wie Straßenbeleuchtung, LSA, Beschilderung kann begonnen werden. Das Reporting wird assetklassenbezogen erweitert. Die auf Basis von ZEB-Daten begonnene Lebenszyklusmodellierung (Abb. 11) kann durch weitere Einflussfaktoren wie Auf baudaten, Verkehrs- und Umweltdaten oder die Einbeziehung von Zustandsinformationen der Radverkehrswege verfeinert werden. Abb. 11: Lebenszyklusmodell nach DIN SPEC 91298 2. Fachkongress Digitale Transformation der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2023 207 Assetübergreifender Digitaler Zwilling für den Bestand Literatur [1] Entwurfsrichtlinie Nr. 1 „Standardisierter Oberbau mit Asphaltdecken für Fahrbahnen“, 2014. [2] DIN SPEC 91298 „Alterungsverhalten von Bauteilen in Bezug auf ganzheitliche Lebenszyklusbewertungen und weiterführendes Erhaltungsmanagement von Infrastrukturbauten“, 09/ 2013. [3] ZTV ZEB StB „Zusätzliche Vertragsbedingungen und Richtlinien zur Zustandserfassung und Bewertung von Straßen, 2006. [4] FGSV, AP 9, Arbeitspapiere zur Systematik der Straßenerhaltung. [5] FGSV, AP 9 K, Arbeitspapiere zur Systematik der Straßenerhaltung (Kommunale Straßen). [6] FGSV, RPE-Stra 01 (Richtlinien für die Planung von Erhaltungsmaßnahmen an Straßen-befestigungen). [7] FGSV, E EMI 2012, Empfehlungen für das Erhaltungsmanagement von Innerortsstraßen. [8] ReStra, Hamburgs Regelwerke für Planung und Entwurf von Stadtstraßen. [9] FGSV, RPE-Stra 01, Richtlinien für die Planung von Erhaltungsmaßnahmen an Straßen-befestigungen. [10] FGSV, RStO 12, Richtlinien für die Standardisierung des Oberbaus von Verkehrsflächen. [11] FGSV, TP Eben, Berührungslose Messungen. [12] BMDV, ASB-ING, Anweisung Straßeninformationsbank, Segment Bauwerks-daten. [13] OKSTRA, Objektkatalog für das Straßen- und Verkehrswesen. [14] DIN 1076 - Ingenieurbauwerke im Zuge von Straßen und Wegen; Überwachung und Prüfung.