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Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
fki
expert verlag Tübingen
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2024
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Herausgegeben von Irmgard Lochner-Aldinger 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau Entwurf und Planung nachhaltiger Bestands- und Neubauten Tagungshandbuch 2024 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau 18. und 19. Juni 2024 Technische Akademie Esslingen Herausgegeben von Prof. Dr.-Ing. Irmgard Lochner-Aldinger 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau Aktuelle Herausforderungen und Lösungen Tagungshandbuch 2024 In Zusammenarbeit mit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das vorliegende Werk wurde mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autoren oder Herausgeber übernehmen deshalb eine Haftung für die Fehlerfreiheit, Aktualität und Vollständigkeit des Werkes und seiner elektronischen Bestandteile. © 2024. Alle Rechte vorbehalten. expert verlag Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen E-Mail: info@verlag.expert Internet: www.expertverlag.de Printed in Germany ISBN 978-3-381-12781-8 (Print) eISBN 978-3-381-12782-5 (ePDF) Technische Akademie Esslingen e. V. An der Akademie 5 · D-73760 Ostfildern E-Mail: bauwesen@tae.de Internet: www.tae.de 5 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 5 Vorwort Der Konstruktive Ingenieurbau ist von grundlegender Bedeutung für die Gestaltung unserer modernen Welt. Als Fachgebiet, das sich mit Entwurf, Planung und Realisierung von Bauwerken befasst, spielt er eine entscheidende Rolle bei der Schaffung sicherer, funktionaler, ästhetisch ansprechender Strukturen und trägt maßgeblich zu einer nachhaltig, effizient, lebenswert gebauten Umwelt bei. Dabei werden fortschrittliche digitale Technologien, neue Entwurfs- und Projektmanagementmethoden, moderne Fertigungs- und Inspektionsverfahren sowie innovative Werkstoffe entwickelt und angewendet, die die Tragfähigkeit, Stabilität und Langlebigkeit von Bauwerken gewährleisten sowie Aspekte der Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft berücksichtigen. Solche und weitergehende Perspektiven werden beim 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau am 18. und 19. Juni 2024 an der TAE in 40 Plenar- und Fachvorträge zu folgenden Themenschwerpunkten vorgestellt und diskutiert: • Entwurf und Konstruktion • Planung, Normung und Verordnungen • Materialien - Beton, Holz, Mauerwerk • Bauen im Bestand und Zirkuläres Bauen • BIM Das vorliegende Tagungshandbuch enthält die vorab eingereichten Beiträge zu den Vorträgen und bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik sowie neueste Entwicklungen und Ausblicke im Konstruktiven Ingenieurbau. Weitere Informationen unter: www.tae.de/ 50053 7 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 7 Inhaltsverzeichnis 0.0 Plenarvorträge 0.1 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf 13 Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Matthias Pfeifer 0.2 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess 19 Peter W. Schmidt 1.0 Entwurf, Konstruktion 1.1 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens 29 Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thorsten Weimar, Laura Vuylsteke 1.2 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover 37 Prof. Dipl.-Ing. Bernhard Tokarz 1.3 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht 43 Prof. Dr.-Ing. Stephan Engelsmann 1.4 Über schwebende Bänder zu den Zügen - die Verteilerstege in Stuttgarts neuem Hauptbahnhof 51 Dominik Nimführ, Dipl.-Ing. Angelika Schmid 1.5 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung 53 Alex Seiter, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Trautz 1.6 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen 61 Daniel Ferger 1.7 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen 67 Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. (FH) Jürgen H. R. Küenzlen, Dipl.-Ing. (FH) Eckehard Scheller, Dipl.-Ing. Hermann Hamm 2.0 Planung, Normung, Verordnungen 2.1 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m 87 Johannes Ruf, Prof. Dr.-Ing. Patricia Hamm, Valentin Knöpfle 2.2 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung 95 Prof. Dr. Gerd Motzke 2.3 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen 107 Marc Gutermann 2.4 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali 115 Dipl.-Ing. Architektur Wieland Schmidt 2.5 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko 121 Dipl.-Ing. Marius Pinkawa 8 8 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 3.0 Material Holz 3.1 BIM2Field bei vorgefertigten Elementen im Holz- und Stahlbau 131 Rainer Abt 3.2 Holzbaugerecht planen - Wirtschaftliche Holzbauten erfordern ein Umdenken in der traditionellen Planungskultur 133 Philipp Bacher, Prof. Tobias Götz 3.3 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen 137 Franz Hägele, Matthias Oppe, Juliane Deubel 3.4 Bauen mit Rohholz - Entwurfs- und Konstruktionsmethoden 145 Kevin Moreno Gata, Denis Grizmann, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Trautz 4.0 Material Mauerwerk 4.1 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts 151 Dipl.-Ing. Claudia Neuwald-Burg 4.2 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik 159 Dr.-Ing. Andreas Hasenstab 5.0 Material Beton 5.1 Geklebte Verstärkungen - Brandschutz und hohe Temperaturen - CFK-Lamellen im Brandfall und unter Asphalt 169 Dipl.-Ing. (FH) Florian Eberth 5.2 Besser bauen mit weniger - Zement und Beton - altbewährt und neu gedacht 173 Matthias Howald, Bauingenieur 5.3 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen 175 Prof. Dr.-Ing. Alexander Schumann, Dipl.-Ing. Anett Ignatiadis, Dr.-Ing. Norbert Will, Dr.-Ing. Jan Bielak 5.4 CUBE - Das Carbonbetongebäude 183 David Sandmann, Dipl.-Ing. Enrico Baumgärtel, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E. h. Manfred Curbach 5.5 Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 189 Dipl.-Ing. Maximilian May, Prof. Dr.-Ing. Alexander Schumann, Dipl.-Wirt.-Ing. Miriam Melzer 5.6 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung 197 Dr.-Ing. Jan Kortmann, Dipl.-Ing. Enrico Baumgärtel, Prof. Dr.-Ing. Steffen Marx, Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Katharina Kleinschrot 9 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 9 6.0 Bauen im Bestand, Zirkuläres Bauen 6.1 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen 207 Dipl.-Ing. Andreas Möller, Johanna Höb 6.2 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk 215 Prof. Dr.-Ing Sylvia Stürmer, Dipl.-Ing. Claudia Neuwald-Burg 6.3 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher 221 Jan Grossarth 7.0 BIM 7.1 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten 229 Dr.-Ing. Marcus Achenbach, Dipl.-Ing. (FH) Jens Schikowski 7.2 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik 235 Gustavo Cosenza, Prof. Dr.-Ing. Christian Koch, Dr.-Ing. Marcus Achenbach 7.3 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen 245 Prof. Dr.-Ing. Niels Bartels, Prof. Dr.-Ing. Markus Nöldgen, Prof. Dr.-Ing. Ruth Kasper 8.0 Anhang 8.1 Programmausschuss 253 8.2 Autorenverzeichnis 255 Plenar 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 13 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Matthias Pfeifer Karlsruher Institut für Technologie KIT/ ZPP INGENIEURE AG Zusammenfassung Kaum eine Produktempfehlung ohne die Worte „Grün“ oder „Nachhaltigkeit“ als Verkaufsargument, kaum noch ein Architekturwettbewerb ohne Holz im Gewinnerprojekt als scheinbar einzig möglicher Baustoff und ausschließliches Argument zur Nachhaltigkeit, sowie ein Wettrennen um das höchste Holzhaus der Welt. Tatsächlich ist es nicht nur die Materialwahl, die darüber entscheidet, ob ein Bauwerk als nachhaltig oder nicht bezeichnet werden darf. Der Entwurf selbst und die Ausbildung von Details im Entwurfs- und Planungsprozess sind es, die erheblich darüber entscheiden, ob ein Bauwerk mehr oder weniger ressourcenschonend realisiert werden kann. „Ressourcenschonend“ deshalb, weil „nachhaltig“ nicht steigerbar ist. Nachhaltiger und am nachhaltigsten gibt es nicht, nur entweder nachhaltig oder nicht. 1. Einführung Bei genauerer Betrachtung sind die mechanischen Prinzipien, die der Entwicklung tragender Konstruktionen zugrunde liegen, recht einfach. Ihre konsequente Anwendung hat, z.- B. in der Gotik, über lange Zeit hervorragende, filigrane Bauwerke, kühne Strukturen sogar mit Material, das keine Zugfestigkeit hat, hervorgebracht. Heute, im Zeitalter der geballten Computertechnik und künstlichen Intelligenz, scheint sich eine gewisse Beliebigkeit breit zu machen, die danach strebt, Bauwerke zunächst ohne Beachtung der Schwerkraft zu entwerfen. Dies soll hier beleuchtet werden. 2. Mechanische Prinzipien 2.1 Prinzip Nr. 1: Die vertikale Schwerkraft Es ist trivial: Die natürliche Richtung der Schwerkraft ist vertikal. Schräg gerichtete Kräfte entstehen durch zusätzliche horizontale Kräfte, die z. B. aus Fliehkräften (Erdbeben) oder Wind entstehen können. Andererseits induzieren Tragwerke zur Abtragung vertikaler Lasten, die von der Vertikalen abweichen, horizontale Kräfte, die abgestützt werden müssen, wie eine Leiter, die an der Wand lehnt. Abb. 1: Gleichgewicht im Punkt Als Konsequenz davon gibt uns allein das Gleichgewicht der Kräfte die „richtige“ Form eines Tragwerks. Abweichungen davon kosten Ressourcen und Energie. Die mehrfache Addition dieses Systems ergibt unter Anwendung des „Polplanverfahrens“ als zeichnerische Lösung ein effektives Tragwerk: Abb. 2: Addition von Kräftedreiecken Große oder sehr große Tragwerke können nur nach diesem Prinzip wirtschaftlich errichtet werden. Jede Abweichung von der „natürlichen“ Form erfordert zusätzliche Maßnahmen. Das gleiche Prinzip gilt für die Umkehrung der Hängelinie in die Stützlinie. Abb. 3: „natürliche Form“ der Bosporusbrücke 14 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf Abb. 4: Brücke nach der Stützlinie (Maillart) Zur Abtragung nicht-gleichförmiger Lasten sind Versteifungen erforderlich. (Versteifungsfachwerk bei der Golden Gate, Querschnittsverdickung im Viertelspunkt bei der Maillart-Brücke) Bei der Halle der Waterloo Station in London von Nicolas Grimshaw weicht die Druckbogenform von der natürlichen Stützlinie für gleichförmige Last (rot) ab. Die entstehenden Biegemomente entsprechen dem geometrischen Abstand multipliziert mit der Bogendruckkraft. Diese werden durch die zusätzliche Über- und Unterspannung aufgenommen. Abb. 5: Tragwerk der Waterloo-Station in London Das Prinzip der Hänge- und der Stützlinie findet sich auch in ebenen Stahl- oder Spannbetontragwerken wieder: Abb. 6: Tragmechanismus ebener Betontragwerke Räumliche Tragwerke folgen ebenso dem Stützlinienbzw. Stützflächenprinzip. Abb. 7: Formfindung durch Schwerkraft bei der Multihalle Mannheim 2.2 Prinzip 2: Versetzte Kräfte und Momente Gegeneinander versetzte Kräfte erzeugen Rotation, die durch entgegengesetzte Kräfte verhindert werden muss. Das in Abb. 8 rechts angedeutete, berühmte Bauwerk von Rem Koolhaas, eines der größten Gebäude der Welt, zeigt die versetzte Kraft des nach vorn auskragenden Bauwerkkopfes gegenüber dem nach hinten orientierten Basisgebäude. Die dabei entstehenden Rotationskräfte müssen durch entsprechende Konstruktionen in den Untergeschossen bzw. in der Gründung aufgenommen werden. Abb. 8: Straßenkünstler in Hamburg/ Berühmtes Bauwerk in Peking (Rem Koolhaas) 3. Der OMNITURM in Frankfurt am Main Der OMNITURM ist mit einer Höhe von knapp 190 m das erste „Mixed-Use“-Hochhaus in Europa und beherbergt Büros, Wohnungen und Gastronomiebetriebe. Die ausgeprägte und außergewöhnliche Architektur entsteht durch den so genannten „Hüftschwung“, bei dem die Geschosse 11 bis 24 rotierend um bis zu knapp 9,0 m aus der normalen Lage verschoben sind. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 15 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf Abb. 9: Der OMNITURM in Frankfurt am Main (Architekt: Bjarke Ingels) 3.1 Schräg stehende Stützen Aufgrund der Stellung der Stützen an den äußeren Rändern der Decken sind für diese Verschiebungen große Stützenneigungen erforderlich. Entsprechend dem Prinzip 1 treten dabei große horizontale Umlenkkräfte auf, die von den aussteifenden Decken in den Kern geleitet werden müssen. Insgesamt gibt es 18 Stützenstränge, die in 13 Geschossen von den Schrägstellungen betroffen sind. Abb. 10 zeigt diesen Bereich in 3D aus dem Berechnungsmodell des Autors. Aufgrund von Verschiebungen in beiden Richtungen kommt es in zwei Ecken zur Verschmelzung von je zwei zu einer Stütze. Abb. 10: 3D-Modell des OMNITURMES im Bereich des Hüftschwungs Die Stützenkräfte liegen am oberen Ende bei ca. 20 MN und am unteren Ende bei 30 MN. Die maximale Horizontalkraft beträgt ca. 3.500 kN bei einer Stütze. Abb. 11: Kräftespiel im Bereich des Hüftschwungs Die Umlenkkräfte werden in die Decken mit Hilfe schwerer Stahleinbauteile und angeschweißter Bewehrung eingeleitet. Diese mussten gleichzeitig als Durchstanzbewehrung der hier ausgeführten Flachdecken und in den Eckbereichen, bei den verschmelzenden Stützen, als gegenseitige Zugverbindungen bzw. Stützelemente konstruiert werden. Die Stahleinbauteile sind in Abb. 12 und 13 zu sehen. Abb. 12: Stahleinbauteile zur Aufnahme der Umlenkkräfte Abb. 13: Stahleinbauteile an der Stützenverschmelzung 16 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf 3.2 Der „A-Bock“ Der so genannte „A-Bock“ befindet sich im 1. und 2.-Obergeschoss und besteht aus zwei schräg gegeneinander gelehnte Stützstäbe mit Zugstab am unteren Ende, um die Vertikallast der Stütze von 38 MN umzulenken und im Erdgeschoss eine Lieferantenzufahrt zu bewerkstelligen. Dies ist zunächst nichts Spektakuläres, jedoch war hier aufgrund architektonischer Vorgaben (Fassadengeometrie) ein Achs-Versatz von 10 cm senkrecht zur Gebäudeoberfläche zu berücksichtigen. Die Stütze wurde, wie alle anderen Stützen auch, aus hochfestem Beton C140 mit Sonderstahl SAS 670 hergestellt. Zunächst schätzt man 10 cm Exzentrizität als „gering“ ein, ein Moment aus 38.000 kN mit 10 cm Hebel ist jedoch gleichbedeutend mit einem 38-Tonnen-Lastzug und 10 m Hebel! Der hochfeste Beton ist sehr spröde, deshalb konnte bei dem gewählten Stützen-Durchmesser von 70 cm lediglich eine Lastexzentrizität von 3,0 cm zugelassen werden. Folglich war eine Konstruktion zu entwickeln, die diese 3,0 cm garantiert und die restlichen 7,0 cm in den A-Bock einleitet. Erschwerend kam hinzu, dass dieser in Richtung der Exzentrizität nur 60 cm dick ist. Ein weiterer Aspekt ist die Wirkung des mehr als erwartet steifen A-Bocks in seiner Ebene als zusätzliches aussteifendes Element gegen horizontale Windkräfte im Turm. Aufgrund der Steifigkeit werden erhebliche Kräfte angezogen. Alles in Allem wurde ein Einbauteil entwickelt, das sämtliche Randbedingungen erfüllt und als ca. 10 Tonnen schweres Stahl-„Monster“ eingebaut und einbetoniert in harmlos erscheinende Rechteckstützen aus Stahlbeton letztlich in der Unsichtbarkeit verschwand. Abb. 14 zeigt das Stahleinbauteil an dessen Kopf. Man erkennt ein ringförmiges Auflagerblech, das als voll durchplastizierte „Quetschplatte“ aus S235 für die maßgebende Designlast ausgelegt ist. Zur Garantie der maximalen Exzentrizität von 3,0 cm unter Vollast ist durch Entfernung eines kleinen Stücks der Platte dessen Schwerpunkt genau auf diese 3,0 cm festgelegt. Abb. 14: Lasteinleitungskonstruktion „A-Bock“ Abb. 15: Quetschplatte mit 3,0 cm Schwerpunktverschiebung 3.3 Fehlende Eckstützen Auf besonderen Wunsch der Bauherrschaft und als beworbenes Qualitätsmerkmal sollten die Ecken des Bauwerks stützenfrei bleiben. Bei den Regelgeschossen im „Lowrise-„unterhalb des „Resi“- (residental) und dem „Highrise“-Bereich wurden die Decken aus Halb-Fertigteilunterzügen, die vom Kern zu den äußeren Deckenrändern spannen, randparallelen Halb-Fertigteilunterzügen außen, sowie Filigranplatten mit Aufbeton in einer Stärke von 15 cm errichtet. Fertigteile sind gut für Einfeldträger mit hochgezogenen Auflagern auf Stützenkonsolen geeignet, für Einfeldträger mit Kragarm jedoch weniger, insbesondere dann, wenn sie mit Stützenlasten von bis zu 40 MN zusammenkommen. Hier musste entschieden werden, ob die Stützen oder die Unterzüge mit Kragarm durchgehen sollen. In beiden Fällen braucht man schwere Stahleinbauteile, die sowohl die großen Stützenlasten als auch die Kragmomente mit angeschweißter Bewehrung durchleiten können. Letztere musste aufgrund der geringen Abmessungen der Unterzüge in drei Lagen eingebaut werden. Abb. 16: Grundriss Regelgeschoss mit fehlenden Eckstützen 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 17 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf Abb. 17: Fertigteilträger mit Auskragung und Einbauteil zur Durchleitung der Stützenlast Abb. 18: Auskragender Fertigteilträger mit (unsichtbarem) Stahleinbauteil 3.4 Auswirkungen im Materialverbrauch Es wurde gezeigt, dass aufgrund verschiedener architektonischer oder Bauherrnbezogener Wünsche und Entscheidungen Sonderbauteile erforderlich wurden, die einen erheblichen Bedarf an Material nach sich zogen. Der Mehrverbrauch gegenüber einem Bauwerk, bei dem diese Sonderbauteile nicht erforderlich wären, ergibt sich wie folgt: Gesamtzahl besonderer Stahleinbauteile: 420-Stk Gesamtgewicht dieser Bauteile 350-t Energieverbrauch zur Herstellung 630-GJ Öl-Äquivalent 15-kt CO 2 -Emission 600-t 3.5 Die Geometrie des Kerns Dieser Aspekt ist in der Bilanz nicht eingeflossen: Der aussteifende Kern des Bauwerks geht vertikal durch das gesamte Gebäude bis zur Gründung durch, im 2. Obergeschoss findet jedoch ein Rücksprung des Kerns um 2,0 m statt, was zu einer Verschiebung des Schwerpunktes um etwa 1,0 m nach sich zieht. Die Spannweite der Decken in den aufgehenden 43 Geschossen beträgt auf der Seite des Rücksprunges gut 11,0 m, auf der gegenüberliegenden Seite nur knapp 8,0 m. Dadurch werden auf der Seite mit größerer Spannweite größere Lasten in den Kern eingeleitet als gegenüber. Insgesamt beträgt die Last-Exzentrizität im Kern unter Volllast 1,8 m. Bei einer Seitenlänge des Kerns von 21 m ergibt das einen Spannungszuwachs auf der höher beanspruchten Seite von: Das heißt, trotz der vermeintlich geringen Exzentrizität beträgt der Spannungszuwachs 50%! Die Kernwände sind mit einer Stärke von 60-70 cm ausgeführt und mit Sonderstahl SAS 670 mit Muffenstößen bewehrt (Abb.-20). Das entstehende charakteristische Moment im Kern von rund 2.100 MNm ist nahezu doppelt so groß wie das Windmoment. Die Auswirkungen der Theorie II. Ordnung sind darin noch nicht berücksichtigt. Abb. 19: Lastexzentrizitäten am Kern Abb. 20: Bewehrung aus Sonderstahl SAS 670 4. Zusammenfassung In der Tat ist es so, dass die spezielle Architektur des OM- NITURMES große Attraktivität, Akzeptanz und großen Erfolg dieses Gebäudes bewirkt hat. Deshalb soll hier keine architektonische oder wirtschaftliche Beurteilung oder Bewertung erfolgen, vielmehr ist es das Ziel dieser Betrachtungen, die Sinne insofern zu schärfen, als 18 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Über die Schwerkraft - Entscheidungen im Entwurf dass jede Entscheidung im Entwurfsprozess auf Seiten der Bauherrin, des oder der Architektinnen oder Architekten sowie der konstruktiven Ingenieurinnen und Ingenieure hinterfragt werden muss, wenn man hochgesteckte Ziele der Ressourcenschonung und der Reduzierung von Energieverbrauch und Treibhausgas-Emission wirklich ernsthaft verfolgen will. Nur dann, wenn die Entwurfsentscheidung tatsächlich einen hohen architektonischen Anspruch hat und damit einen wesentlichen Beitrag zur Baukultur leistet, könnte ein Mehraufwand an Material und Energie gerechtfertigt sein. Abbildungen und Fotos: Prof. Matthias Pfeifer 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 19 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Peter W. Schmidt Peter W. Schmidt + Assoziierte GmbH & Co. KG, Pforzheim Zusammenfassung Das Holz-Hybrid-Hochhaus CARL in Pforzheim ist ein wegweisendes Bauprojekt, das auf einem prominenten Grundstück entsteht, neuen Wohnraum bietet und ökologische Herausforderungen angeht. Mit 14 Geschossen und 45 Metern Höhe ist es das höchste Holz-Hybrid-Hochhaus in Süddeutschland. Das Projekt verdeutlicht die Komplexität des Holz- Hochhausbaus und erfordert innovative Lösungen und eine kontinuierliche Zusammenarbeit aller Beteiligten. Nach der Entscheidung für Holzbau wurden Fachplaner und Behörden bereits früh in das Projekt CARL eingebunden. Sie begleiten den Prozess von der Planung bis zum Bau. Die Architektur des Gebäudeensembles markiert einen städtebaulichen Meilenstein und bietet zugleich dringend benötigten Wohnraum. Darüber hinaus finden eine Kindertagesstätte und eine Bäckerei Platz in den Neubauten. Die Konstruktion des Gebäudes als Holz-Hybrid-Bau kombiniert die Baustoffe und setzt auf wegweisende Lösungen für Brandschutz und Nachhaltigkeit. Regionale Materialien und die Einbindung von Holz in verschiedenen Bauelementen betonen die Nachhaltigkeitsaspekte des Projekts. Einleitung Auf einem exponierten Grundstück am westlichen Stadteingang von Pforzheim entsteht ein Gebäudeensemble, das Antworten auf zwei große Herausforderungen unserer Zeit findet: zum einen dem drängenden Bedarf an Wohnflächen und Kindertagesstätten, vor allem in Großstädten, zum anderen auf die Frage, wie nachhaltig gebaut und dadurch auf ökologische Erfordernisse Rücksicht genommen werden kann. Das Ensemble besteht aus dem Wohnhochhaus CARL, mit 14 Geschossen und 45-m Höhe dem bis dato höchsten Holz-Hybrid-Hochhaus in Süddeutschland, sowie zwei weiteren vierbzw. sechsgeschossigen Baukörpern in konventioneller Bauweise. Insgesamt werden die Gebäude 73 Wohnungen mit über 5.300 Quadratmetern hochwertigem Wohnraum bieten, außerdem finden dort eine Kindertagesstätte für 100 Kinder sowie eine Bäckerei ihren Platz. Abbildung 1: Visualisierung des Gebäudeensembles ©-P.W.S. Das Projekt CARL veranschaulicht die Komplexität der Planung von Holz-Hochhäusern. Als Holz-Hybrid- Hochhaus erschließt CARL neue Themenbereiche und nimmt eine Vorreiter Rolle ein. Gegenwärtig existieren in Deutschland nur vereinzelte Referenzen auf die sich Planer aber auch Genehmigungsbehörden beziehen können. Das Projektteam entwickelte daher neue Lösungsvorschläge und Ansätze, wie sich Holzbau im Hochhaussektor realisieren lässt. Die Hochhausrichtlinie, als eine Richtlinie, die an konventionellen Bauweisen orientiert ist, sowie die Holzbaurichtlinien, setzen hier den Rahmen, innerhalb dessen die Projektbeteiligten neue Lösungen verhandeln. Ein Projekt wie CARL erfordert eine Lernbereitschaft aller Beteiligten, da im Prozess kontinuierlich neue Lösungen erarbeitet werden müssen. Aufgrund des erhöhten Planungsaufwands lassen sich Projekte dieser Art nur schwer gewinnbringend realisieren. Als «Leuchtturmprojekt» leisten sie jedoch einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Bauens mit Holz. Die gesellschaftliche Akzeptanz wird gestärkt und Vorbehalte auch von Behördenseite gegenüber Holzbauten im Allgemeinen können reduziert werden. 1. Ausgangssituation Das Projekt CARL entsteht auf einem etwa 5.000 m 2 großen Grundstück, welches die Baugenossenschaft Arlinger von der Stadt Pforzheim erworben hatte. In der Vergangenheit hatte das Grundstück wenig Beachtung gefunden und wurde als unattraktiv betrachtet. Erst als ab dem Jahr 2015, aufgrund des verstärkten Zuzugs, auch nach innerstädtischen Bauflächen gesucht wurde, insbesondere für die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften, geriet das Areal in den Fokus. Nicht zuletzt aufgrund seiner Lage vor den Toren des Stadtteils Arlinger hat sich die Baugenossenschaft Arlinger darum bemüht. Seitens der Baugenossenschaft Arlinger wurde gemeinsam mit dem Büro Peter W. Schmidt Architekten überlegt, welche 20 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Verbesserungen diesem eher unwirtlichen Areal verliehen werden könnten. Daraus resultierte die Erarbeitung eines Dreiklangs an Aspekten für die weitere Planung. 1.1 Städtebau Das Projekt wird als Landmarke den westlichen Stadteingang Pforzheims kennzeichnen. Im Weiteren ist das Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, zusammen mit den beiden dazugehörigen Gebäuderiegeln, ein anschauliches und gutes Beispiel für die Aspekte der städtischen Nachverdichtung und Innenentwicklung. Von dieser exponierten Lage profitiert der Baustoff Holz. Das Gebäude wird eine gute Sichtbarkeit erfahren und damit die Akzeptanz des Baustoffes stärken. 1.2 Nutzungsvielfalt Im Projekt entstehen 73 freifinanzierte Mietwohnungen, die im Eigentum der Baugenossenschaft Arlinger verbleiben. Zusätzlich entsteht eine Kindertagesstätte mit sechs Gruppen für bis zu 100 Kinder sowie eine Bäckerei. Das Projekt trägt somit dazu bei, dringend benötigten und bezahlbaren Wohnraum in der Stadt zur Verfügung zu stellen. Auch bei dem noch drängenderen Mangel an Kindertagesstätten leistet das Projekt einen Beitrag. 1.3 Innovation Schnell wurde die Entscheidung getroffen, den Hochpunkt des Projekts in Holzbauweise zu errichten. Es war dabei besonders wichtig, ein Gebäude von hoher Glaubwürdigkeit zu schaffen und wo möglich konventionelle Baumaterialien zu substituieren und dies sowohl im Innenals auch im Außenbereich erlebbar zu machen. Diese frühe Entscheidung für den Baustoff Holz war essenziell. Nur durch das Planen mit Holz von Beginn an, sowie durch die frühe Abstimmung mit Fachplanern, Behörden und Feuerwehr, lässt sich ein Projekt wie CARL realisieren. Wesentliche Details müssen bereits in den frühen Leistungsphasen mit allen Beteiligten entwickelt und geprüft werden. 2. Architektur und Städtebau Das Gebäudeensemble, dessen Hochpunkt das 14-geschossige Holz-Hybrid-Hochhaus CARL darstellt, soll als neues städtisches Markenzeichen der Stadt Pforzheim fungieren. Im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung besetzt das Ensemble eine langjährige Brache und leistet so einen Beitrag zur «Stadtreparatur». Das Grundstück am westlichen Stadteingang Pforzheims markiert einen wichtigen Punkt auf dem Weg in den Schwarzwald. Diesen Bezug zu Landschaft, Handwerkskunst und Tradition nimmt das Hochhaus CARL auch in seiner Holzfassade auf und veranschaulicht die Qualitäten eines urbanen Holzbaus, der sich sowohl des regionalen Fachwissens im Holzbau als auch moderner digitaler Fertigungstechniken bedient. Die markanten, geschossweise auskragenden Beton- Krempen dienen nicht nur technischen Anforderungen, sondern leisten auch einen Beitrag zur architektonischen Gestaltung des Gebäudes. Im Zusammenspiel mit der vertikalen Stollenfassade und den schlanken bodentiefen Fenstern entwickelt das Gebäude eine filigrane Ansicht. Die Kompaktheit des Gebäudes ermöglicht es alle Räume mit Tageslicht auszubilden. Die intelligente Gliederung der Grundrisse reduziert die Wohnfläche pro Kopf und hält damit auch die Mietkosten auf einem erschwinglichen Niveau. Jede Wohneinheit verfügt zudem über eine geräumige Loggia mit je zwei Ausrichtungen. Abbildung 2: Das Gebäudeensemble im städtebaulichen Kontext © P.W.S. 3. Nachhaltigkeit Die wirtschaftliche Geschichte der Region ist eng verknüpft mit der Holzgewinnung im Schwarzwald. Erstaunlich, dass der Holzbau in unserer Zeit bislang hier keine nennenswerte Rolle spielte. Das Holz-Hybrid- Hochhaus CARL kombiniert nun ökologische Erfordernisse mit der regionalen Holz-Affinität und wird neben dem Nachhaltigkeitsaspekt auch die ästhetischen Qualitäten des Holzes zur Geltung bringen. Konsequenterweise stammt daher auch das Material, wo möglich, aus der Region: Ein Großteil des für den Neubau eingesetzten Holzes wurde im Pforzheimer Stadtwald geschlagen und im Anschluss beim Holzbauunternehmen zu Brettsperrholz verarbeitet. Die Belüftung des Wohnhochhauses erfolgt in Form einer eigens dafür entwickelten natürlichen Be- und Entlüftung. Architekturseitig wurde in Kooperation mit dem Akustikplaner eine Möglichkeit entwickelt, um die Wohnungen mit Frischluft zu versorgen, ohne dabei den Schallschutz zu vernachlässigen, welchem aufgrund der exponierten Lage an der Bundesstraße 294 eine enorme Bedeutung zukommt. Die hierbei entwickelte «Low- Tech-Lösung» mündete in dem Einbau von fensterhohen «Lüftungskammern». Diese Lüftungskammern wurden mit schallabsorbierenden Materialien ausgekleidet und finden inzwischen auch in weiteren Projekten Anwendung. Auf der Rauminnenseite befindet sich der Öffnungsflügel. Wird dieser geöffnet strömt auf natürliche Art und Weise Frischluft in die Innenräume. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 21 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Abbildung 3: Außen- und Innenansicht der fensterhohen Lüftungskammern, welche die Wohnungen auf natürliche Art und Weise mit Frischluft versorgen © -P.W.S. Die Tiefgarage des Gebäudeensembles umfasst 73 Stellplätze, welche bereits heute alle mit Elektroladesäulen ausgestattet sind, um auch den zukünftig erwartbaren Bedarf an Ladeinfrastruktur zu decken. Die drei Gebäude des Ensembles sind zudem als KfW-Standard 55 EE- Energieeffizienz-Häuser ausgeführt und an das städtische Fernwärmenetz angeschlossen. Die «Komplexität» des Bauens mit Holz im Hochhausbereich wird auf dem Dach erfahrbar. Aufgrund der hohen Brandschutzanforderungen war eine PV-Anlage auf dem Dach des Hochhauses nicht möglich. Auch eine Begrünung der Dachfläche wurde zunächst kritisch bewertet, da im Falle einer Austrocknung in den Sommermonaten hier Brandlasten entstehen. Zugleich war die Begrünung von städtischer Seite gefordert und stellt im Rahmen der Klimaanpassung deutscher Städte einen wesentlichen Beitrag dar. Diese gegensätzlichen Anforderungen wurden im interdisziplinären Team intensiv diskutiert und eine Begrünung letztlich in Parzellen realisiert. Im Brandfall wäre somit nur eine kleine Fläche betroffen. Das Beispiel des Daches veranschaulicht die Komplexe Planungssituation, in die sich Projekte dieser Höhe in Holzbauweise begeben. Teils stehen sich Anforderungen der Ökologie und der Sicherheit gegenüber. Hier braucht es ein disziplinübergreifendes Planungsteam, das bereit ist, neue Wege zu gehen. Die aktuell entstehenden Hochhäuser in Holzbauweise in Deutschland nehmen in diesem Spannungsfeld eine Pionierfunktion ein und schaffen Referenzen für zukünftige Projekte. 4. Konstruktion Konstruiert ist CARL als Hybridbau: Dort, wo es aus statischen und brandschutztechnischen Gründen notwendig ist - bei der Fundamentierung, den Keller- und Tiefgeschossen sowie Treppenhauskernen - wird Stahlbeton eingesetzt. Das Treppenhaus dient als aussteifendes Element. Die tragende Konstruktion besteht aus Holz, genauso wie die Fassade. Holz-Beton-Verbunddecken (HBV) werden geschossweise am Treppenkern aufgelegt und spannen bis zu den Außenwänden, wo Buchenfurnierschichtholz-Stützen die Lasten abtragen. Abbildung 4: Gebäudeensemble - Ansicht West ©-P.W.S. 4.1 Bauablauf und Meilensteine Vorentwurf/ Entwurf 2016-2019 Bauantrag 09/ 2020 Baugenehmigung 06/ 2021 Spatenstich 10/ 2021 Rohbau 11/ 2021-05/ 2023 Richtfest 05/ 2023 Ausbau aller Gebäude 11/ 2022-04/ 2024 Fertigstellung (geplant) Frühsommer 2024 4.2 Erschließungskern Beim Bau des Erschließungskern, welcher aus brandschutztechnischen Gründen, erforderlich ist, kam das sogenannte «Gleitschalverfahren» zum Einsatz. Gleitschalungen stellen immer dann eine Option dar, wenn bei Bauvorhaben fugenlose Bauwerke oder kurze Bauzeiten erforderlich sind. Bei diesem Verfahren wird ein gesamtes Bauwerk durch kontinuierliches Einbringen von Beton und Bewehrungsstahl in die Höhe «geglitten». Eine weitere Besonderheit des Gleitschalverfahrens ist, dass aus technologischen Gründen eine Unterbrechung unter allen Umständen zu vermeiden ist. Dies führte dazu, dass beim Bau des Treppenhauskerns ein 24-Stunden-Betrieb eingerichtet wurde. Dadurch wuchs der Treppenhauskern des Holz-hybrid-Hochhauses CARL um 4,30 m/ Tag in die Höhe und konnte in nur 10 Tagen realisiert werden. Die Zwischenpodeste des Treppenhauses wurden im Nachgang vor Ort betoniert, während die Treppen als Betonfertigteile vom Bau-kran sukzessive eingehoben wurden. 22 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Abbildung 5: Der Treppenhauskern wuchs mittels Gleitschalverfahren in etwa 4 m pro Tag in die Höhe ©-Christoph von Zepelin 4.3 Statisches Konzept Das statische Konzept des Gebäudes basiert auf einem Skelettbau mit tragenden Fassadenstützen, auf denen der Ringanker der Betondecke aufliegt. Abgesehen von den Fassaden und vom Treppenkern gibt es im Gebäude keine tragenden Wände. Die Spannrichtung der Decken verläuft demnach von der jeweiligen Fassade zum zentralen Treppenhauskern. Deckengleiche Unterzüge, sogenannte Deltabeam-Träger dienen an den Eckpunkten - an denen die Decken nicht am Treppenhauskern auflagern können - als Auflager. Abbildung 6: Schnitt Deltabeam-Träger © P.W.S. Abbildung 7: Anschluss Deltabeam-Träger an Treppenhauskern © P.W.S. 4.4 Holzbau 4.4.1 Außenwandkonstruktion Die Außenwände bestehen aus einer Holzrahmenbaukonstruktion. Die darin zur Lastabtragung integrierten Stützen aus Buchenfurnierschichtholz messen in den unteren Etagen 26 x 42 cm und werden nach oben hin schlanker. Die Elemente sind mit nicht brennbarer Wärmedämmung (Schmelzpunkt > 1000° Celsius) ausgefacht und rauminnenseitig mit Gipskartonplatten verkleidet. Davor sitzt eine ca. 60 mm starke Installationsebene, die rauminnenseitig mit zwei Lagen 12,5 mm Gipskartonplatten beplankt ist. Außen wurden die Stützen mit Folie ummantelt und mit zwei Lagen Gipsfaserplatten verkleidet - die äußere davon feuerabweisend. Eine weitere, 60-mm starke Dämmschicht dient dazu, Wärmebrücken auszuschließen. Gipsfaserplatten und Unterspannbahn als Witterungsschutz ergänzen den Auf bau. Die sichtbare Außenhaut bildet eine Stollenfassade, deren Fassadenbretter aus Douglasie bereits werkseitig mit einem Vorvergrauungsanstrich behandelt wurden. Abbildung 8: Auf bau Außenwand © P.W.S. 4.4.2 Nichttragende Innenwände Für die nichttragenden Wohnungstrennwände des Hochhauses kam ebenfalls Holz zum Einsatz. Die nichttragenden Elemente setzen sich aus zwei Schalen mit je 80 mm Brettsperrholz zusammen, die jeweils raumseitig mit drei 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 23 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Lagen Gipsfaserplatten beplankt sind. Die Beplankung stellt den gewünschten Schallschutz sicher. Um zu gewährleisten, dass die bis zu 5 m langen Innenwände keine tragende Funktion übernehmen, wurden sie lediglich am Boden und an der Stirnseite befestigt. An der Decke wurden entsprechende Fugen eingeplant. 4.4.3 Decken und Wohnungstrennwände Sowohl die Decken als auch die Wohnungstrennwände wurden bereits im Werk des Holzbauunternehmens vorgefertigt. Auch die Außenwände wurden an einem speziellen Fertigungsplatz stehend aufgebaut, gedämmt und mit Platten geschlossen. Lediglich die Fenster (und die Fassadenelemente) wurden auf der Baustelle montiert - Grund dafür sind einerseits die Lieferfristen der Fenster, andererseits die Gefahr, diese während der Rohbauphase zu beschädigen. Abbildung 9: Auf bau Boden © P.W.S. 4.4.4 Holzfassade und Beton-Krempe In der Fassadengestaltung wird der Baustoff Holz bewusst nach außen getragen. Die Stollenfassade aus Douglasie kleidet alle 14 Geschosse des Holz-Hybrid-Hochhauses und wurde bereits werkseitig mit einem Vorvergrauungsanstrich versehen. Die markanten, geschossweise angeordneten Beton-Krempen des Gebäudes verhindern mit einem Fassadenüberstand von > 1,00 m einen Brandüberschlag zwischen den Geschossen und ermöglichen es dadurch, eine Holzfassade sowie bodentiefe Holzfenster unter Einhaltung aller Brandschutzvorschriften zu realisieren. Zugleich stellt die Beton-Krempe einen baulichen Holzschutz der Fassade dar und überträgt dieses technische Detail in eine zeitgemäße und charakteristische Architektursprache. Die an drei Seiten jedes Geschosses angeordneten Loggien haben neben der Wohnqualität eine zusätzliche Funktion. Im Falle eines Fassadenbrandes würden sie diesen unterbrechen. Einem «Ringbrand» eines ganzen Geschosses wird damit vorgebeugt. Die Loggien und die Beton-Krempe machen in diesem Zusammenspiel einen etwaigen Fassadenbrand kleinteilig und kontrollierbar. Hierbei veranschaulicht das Projekt, dass sich technische Anforderungen an einen Bau auch durch intelligente Gestaltung lösen lassen und ermöglichte beispielsweise den Verzicht auf eine Sprinkleranlage. Auch im Bauablauf stellt die Krempe einen Mehrwert dar: Die vorgefertigten Holzfassaden-elemente liegen bereits während der Bauphase in den entsprechenden Geschossen montagebereit ab und können über die großen Loggien und über die Beton-Krempe von zwei Monteuren eingebaut werden. Abbildung 10: Detail Betonkrempe © P.W.S. 24 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess Abbildung 11: Beton-Krempe im Rohbauzustand, zusätzlich zu sehen sind die Iso-Körbe, welche die Verbindung zwischen HBV-Decke und Betonkrempe gewährleisten © P.W.S. 4.4.5 Eingesetzte Produkte und Holzarten Tabelle 1: Eingesetzte Produkte und Holzarten im Holz-Hybrid-Hochhaus CARL Einsatzgebiet Produkt Holzart Decken Brettsperrholz Fichte Außenwände und Stützen Holzrahmenbau/ BauBuche Fichte, Buche Wohnungstrennwände Brettsperrholz Fichte Fassade Stollenfassade Douglasie Fenster Holz-Alu-Fenster Fichte Bodenbeläge Parkett Eiche 5. Ausblick Das Projekt CARL veranschaulicht die Komplexität der Planung von Hochhäusern aus Holz. Als Holz-Hybrid- Hochhaus erschließt CARL dabei neue Themenbereiche und nimmt eine «Vorreiterrolle» ein. Die Hochhausrichtlinie, als eine Richtlinie, die an konventionellen Bauweisen orientiert ist, sowie die Holzbaurichtlinien, setzen hier den Rahmen, innerhalb dessen die Projektbeteiligten neue Lösungen verhandeln. Ein Projekt wie CARL erfordert eine Lernbereitschaft aller Beteiligten, da im Prozess kontinuierlich neue Vorschläge erarbeitet werden müssen. Aufgrund des erhöhten Planungsaufwands lassen sich Projekte dieser Art nur schwer gewinnbringend realisieren. Als Leuchtturmprojekt leisten sie jedoch einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Bauens mit Holz. Die gesellschaftliche Akzeptanz wird gestärkt und Vorbehalte auch von Behördenseite gegenüber Holzbauten im Allgemeinen können reduziert werden. Damit veranschaulicht CARL, wie sich die hohen technischen Auflagen beim Bauen von Holzhochhäuser in kreative, gestaltprägende Lösungen verwandeln lassen. Aufgrund der innovativen Holz-Hybridbauweise erzielte das Projekt bereits während der Planungsphase eine starke mediale Resonanz. Die Anerkennung des Projekts als «Leuchtturmprojekt» in Baden-Württemberg durch Politik und Verbände lässt auf eine Katalysatorwirkung und weitere Bauvorhaben dieser Art hoffen. Abbildung 12: Blick auf das Gebäudeensemble, Stand Sommer 2023 © Achim Birnbaum 6. Daten Die Eckdaten des Gebäudeensembles teilen sich wie folgt auf: Holz-Hybrid-Hochhaus CARL (Haus 1) Geschosse: 14 Höhe: 45 m Mietfläche: 2700 m 2 Wohneinheiten: 37 Nutzung: Wohnen, Gewerbe Besonderheiten: Holzbau, Holzfassade, Loggia in jeder Wohnung, höchstes Holzhochhaus Süddeutschlands Länglicher Baukörper mit Kindertagesstätte (Haus 2) Geschosse: 6 Höhe: 20 m Mietfläche: 1560 m 2 Wohneinheiten: 24 Nutzung: Wohnen, Kindertagesstätte Besonderheiten: Kindertagesstätte Länglicher Baukörper (Haus 3) Geschosse: 4 Höhe: 12 m Mietfläche: 915 m 2 Wohneinheiten: 12 Nutzung: Wohnen Besonderheiten: Laubengang 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 25 Holz-Hybrid-Hochhaus CARL, Pforzheim - Erkenntnisgewinn aus dem Planungs- und Bauprozess 7. Projektbeteiligte Tabelle 2: Projektbeteiligtenliste Bauherr Architekt Baugenossenschaft Arlinger eG Hohlohstraße 6 D-75179 Pforzheim Generalunternehmer Ed. Züblin AG, Direktion Karlsruhe An der Tagweide 18 D-76139 Karlsruhe Tragwerksplanung (LPH 1-3) merz kley partner GmbH Sägerstraße 6 A-6850 Dornbirn Tragwerksplanung (ab LPH 4) B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann GmbH Westhafenplatz 1 D-60327 Frankfurt am Main Peter W. Schmidt + Assoziierte GmbH & Co. KG Kuppenheimstraße 4 D-75179 Pforzheim Holzbauunternehmen Züblin Timber GmbH Industriestraße 2 D-86551 Aichach Brandschutz Dehne, Kruse Brandschutzingenieure GmbH & Co. KG Meinhardshof 1e D-38100 Braunschweig Entwurf, Konstruktion 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 29 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens Univ.-Prof. Dr.-Ing. Thorsten Weimar Universität Siegen Laura Vuylsteke, M. Sc. Universität Siegen Zusammenfassung Zur Erreichung nationaler und globaler Klimaschutzziele sowie zur Einhaltung der daraus resultierenden Anforderungen für die Energiewende soll der Einsatz von Photovoltaik nachhaltig gestärkt werden. Dazu ist in Deutschland eine theoretische Fläche von 31 m 2 pro Einwohner erforderlich, dem eine Fassaden- und Dachfläche von ungefähr 18.000 km 2 im Gebäudebestand gegenübersteht. Dieses Potential wird allerdings noch nicht ausreichend ausgeschöpft, da sich der Markt für bauwerksintegrierte Photovoltaik nur bedingt entwickelt. Ein Grund sind komplizierte und aufwendige bautechnische Zulassungsverfahren für die Nutzung der Solarmodule in Fassaden- und Dachflächen. Ein durch den Vergleich von bautechnischen Anforderungen mit den elektrotechnischen Prüfungen im Rahmen einer CE-Kennzeichnung der Solarmodule entwickeltes Prüfverfahren könnte den Ablauf der bautechnischen Zulassungsverfahren zukünftig vereinfachen. 1. Einführung Solarmodule als Bauprodukt sind in der Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB) der technischen Gebäudeausrüstung zugeordnet und in Abhängigkeit des Aufbaus, der Einzelmodulfläche und des Einbaubereichs unterteilt. [1] Die CE-Kennzeichnung von Solarmodulen basiert auf der Richtlinie 2014/ 35/ EU für die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel (EU-Niederspannungsrichtlinie) und nicht auf der Verordnung Nr. 305/ 2011 zur Vermarktung von Bauprodukten (EU-Bauproduktenverordnung). [2], [3], [4] Damit bietet die CE- Kennzeichnung für die Montage der Solarmodule keine Gewährleistung für die Erfüllung der Grundanforderungen an Bauwerke gemäß Musterbauordnung (MBO). [5] Standardmäßige Solarmodule für den Einsatz in vorgehängten, hinterlüfteten Fassaden und In-Dachkonstruktionen weisen auf der Vorder- und auf der Rückseite eine Glastafel auf, deren Modulfläche eine Größe von 2,0 m 2 nicht übersteigt. Die Solarmodule sind in der Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB) für die In- Dach-Konstruktionen der Nummer B 3.2.1.25 und für die vorgehängte, hinterlüftete Fassade der Nummer B 3.2.1.27 zuzuordnen. Solarmodule für diese Anwendungen müssen hinsichtlich der Grundanforderung der mechanischen Festigkeit und der Standsicherheit zusätzlich in Abhängigkeit von der Einbausituation die Bestimmungen von A 1.2.7 zu Glaskonstruktionen erfüllen. Diese Anforderungen beziehen sich für Glas im Bauwesen auf die Bemessungs- und Konstruktionsregeln in DIN 18008. Bei den Anwendungen als In-Dach-Konstruktion und in vorgehängten, hinterlüfteten Fassaden sind den Glaskonstruktionen keine Zusatzanforderungen hinsichtlich Absturzsicherung, Begehbarkeit oder Betretbarkeit zuzuweisen. Es gilt allerdings, weitere Maßgaben gemäß § 85a (2) MBO zu beachten, die DIN 18008-1, -2 und -3 zu entnehmen sind. [6], [7], [8] Der Auf bau von Glas-Glas-Modulen entspricht zunächst einem Verbundglas mit eingeschlossenem Material zwischen zwei Glastafeln. Daher müssen die Module nicht nur den Anforderungen und den Vorgaben von DIN 18008 entsprechen, sondern in Abhängigkeit der Einbausituation auch gemäß Produktnorm DIN EN 14449 die Anforderungen an Verbundglas nach DIN EN ISO 12543-3 beziehungsweise an Verbundsicherheitsglas nach DIN EN ISO 12543-2 erfüllen. [9], [10], [11] Hinsichtlich der zusätzlichen mechanischen Beständigkeit von Verbundsicherheitsglas sind die Prüfungen der Normen DIN 52338, DIN EN 12600 und DIN EN 356 von Bedeutung. [12], [13], [14] Der Einsatz von bauwerksintegrierter Photovoltaik erfordert zusätzlich entsprechende elektrotechnische Nachweise aus den technischen Baubestimmungen. Die Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen ordnet Solarmodule als technische Gebäudeausrüstung ein, die nach der EU-Niederspannungsrichtlinie (2014/ 35/ EU) als elektrische Betriebsmittel eine CE-Kennzeichnung tragen und daher als elektrisches Betriebsmittel nach DIN EN 61215 und DIN EN IEC 61730 zu zertifizieren sind. [2] DIN EN 61215 legt die Anforderungen für einen Langzeitbetrieb in Freiluftklima fest. In der Norm werden die Bestimmung der elektrischen und der temperaturbezogenen Kenngrößen geregelt sowie der Nachweis der Lebensdauer von Solarmodulen unter definierten Witterungseinflüssen. Die Bauarteignung und die Bauartzulassung sind durch Prüfanforderungen und -verfahren nach DIN EN 61215 gewährleistet. In DIN EN IEC 61730 werden grundlegende Anforderungen an den Auf bau von Solarmodulen definiert, um deren sicheren elektrischen und mechanischen Betrieb nachzuweisen. [15], [16] 30 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens 2. Anforderungen an Solarmodule Neben den Anforderungen an die mechanische und die klimatische Beständigkeit der Solarmodule aus den elektrotechnischen Normen sind bei einer Bauwerksintegration auch die Bestimmungen aus den bautechnischen Normen zu beachten. Die in diesen bautechnischen Normen definierten Prüfungen unterscheiden sich allerdings von den bereits für die CE-Kennzeichnung durchgeführten Prüfungen basierend auf den elektrotechnischen Normen. Problematisch erweisen sich beispielsweise die abweichenden Abmessungen der Prüfkörper für die einzelnen Prüfungen im Vergleich zu den vorhandenen Abmessungen der zu untersuchenden Solarmodule. Die Normen für die bautechnischen Versuche sehen unterschiedliche Abmessungen für die Prüfkörper vor, die teilweise deutlich von den Modulabmessungen der Hersteller von Solarmodulen abweichen. Um eine mögliche Übertragbarkeit der Prüfungen auf die Modulabmessungen der Hersteller zu untersuchen, erfolgt die Durchführung zunächst an Prüfkörpern mit den erforderlichen Normabmessungen und anschließend an Prüfkörpern mit durchschnittlichen Modulabmessungen von 950-mm auf 1.600-mm, die sich an den auf dem Markt verfügbaren Solarmodulen für die Gebäudeintegration orientieren. [17] Der Aufbau der Prüfkörper setzt sich mit zwei äußeren Glastafeln aus teilvorgespanntem Glas (TVG) der Nenndicke von 4,0-mm sowie mit zwei Lagen aus Ethylenvinylacetat (EVA) der Nenndicke von 0,2-mm ohne sowie mit Photovoltaikzellen zusammen. [18], [19] Es soll damit eine mögliche Übertragung der bautechnischen Nachweise auf gängige Modulabmessungen von Solarmodulen erzielt werden. Die Normabmessungen sind von Herstellern mit serieller Produktion nur mit einem erheblichen Aufwand produzierbar. Durch den Nachweis einer Übertragbarkeit auf andere Abmessungen ergibt sich zukünftig für die zu einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung/ allgemeinen Bauartgenehmigung erforderlichen Prüfungen eine erhebliche Vereinfachung. 3. Prüfung der klimatischen Beständigkeit Die Untersuchungen zur klimatischen Beständigkeit eines Verbundglases in Anlehnung an DIN EN ISO 12543 umfassen im Bereich der Bautechnik die Prüfung bei hoher Temperatur, die Prüfung in der Feuchte und die Bestrahlungsprüfung. In der Elektrotechnik werden im Rahmen der CE-Kennzeichnung die Solarmodule mit der Temperaturwechselprüfung, Prüfung mit feuchter Wärme und UV-Prüfung auf eine ausreichende klimatische Beständigkeit nachgewiesen. Bei dem Vergleich der experimentellen Untersuchungen für die beiden Bereiche Bautechnik und Elektrotechnik zeigen sich sowohl Analogien als auch Differenzen. In der Bautechnik ist die klimatische Beständigkeit bei hoher Temperatur nach DIN EN ISO 12543-4 im Klimaschrank bei konstanter Temperatur von +-100-°C und Prüfkörpern mit Mindestabmessungen von 300-mm auf 200-mm nachzuweisen. Im Gegensatz dazu wechselt die Temperatur in definierten Intervallen für die Prüfkörper mit Modulabmessungen beim Nachweis der Beständigkeit in der Elektrotechnik. Die Randbedingungen und die Anforderungen sind in Tabelle 1 gegenübergestellt. Tab. 1: Parameter für den Nachweis der klimatischen Beständigkeit bei hoher Temperatur. Bautechnik Elektrotechnik Prüfung bei hoher Temperatur Temperaturwechselprüfung DIN EN ISO 12543 DIN EN IEC 61215, DIN EN IEC 61730 3 Prüfkörper mit Mindestabmessungen 3 Prüfkörper mit Modulabmessungen Anforderung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Anforderung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Temperatur T-=-+-100-°C Dauer d-=-16-h Temperatur T-=-(−-40-±-2)-°C; (+-85-±-2)-°C Dauer d-=-50 beziehungsweise 200-Zyklen mit Haltezeiten von 10-min (17-h bis 68-h) Die Randbedingungen und die Anforderungen zum Nachweis der klimatischen Beständigkeit in der Feuchte weichen in den Bereichen Bautechnik und Elektrotechnik bezüglich Temperatur, Feuchte sowie Dauer voneinander ab. Grundsätzlich ist bei der Prüfung in der Elektrotechnik von einer höheren Beanspruchung auszugehen. In der Bautechnik weisen die Prüfkörper die Mindestabmessungen von 300-mm auf 200-mm und in der Elektrotechnik die Modulabmessungen auf. Eine Gegenüberstellung der Parameter nach der jeweiligen Norm ist in Tabelle 2 dargestellt. Tab. 2: Parameter für den Nachweis der klimatischen Beständigkeit in der Feuchte. Bautechnik Elektrotechnik Prüfung in der Feuchte Prüfung mit feuchter Wärme DIN EN ISO 12543 DIN EN IEC 61215, DIN EN IEC 61730 3 Prüfkörper mit Mindestabmessungen 3 Prüfkörper mit Modulabmessungen Anforderung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Anforderung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Temperatur T-=-(+-50-±-5)-°C Feuchte rF-=-100-% Dauer d-=-336-h Temperatur T-=-(+-85-±-2)-°C Feuchte rF-=-(85-±-5)-% Dauer d-=-1.000-h 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 31 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens Die Prüfung unter Bestrahlung nach DIN EN ISO 12543- 4 aus dem Bereich Bautechnik zeigt im Vergleich mit der Prüfung MST 54 nach DIN EN IEC 61730-2 aus dem Bereich der Elektrotechnik höhere Anforderungen. Die Randbedingungen und die Anforderungen sind in Tabelle-3 angegeben. Die Prüfung unter Bestrahlungen definieren für die Prüfkörper in der Bautechnik die Mindestabmessungen von 300-mm auf 150-mm sowie in der Elektrotechnik die Modulabmessungen. Tab. 3: Parameter für den Nachweis der klimatischen Beständigkeit unter Bestrahlung. Bautechnik Elektrotechnik Bestrahlungsprüfung UV-Prüfung DIN EN ISO 12543 DIN EN IEC 61730 3 Prüfkörper mit Mindestabmessungen 1 Prüfkörper mit Modulabmessungen Anforderung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Anforderdung sind keine Blasen, Delamination, Schleier oder Trübung Strahlungsenergie E VSG,gesamt = 64,8-∙-10 8 -J/ m 2 , E VSG,UV -=-7,13-∙-10 8 J/ m 2 Strahlungsenergie Prüffolge B E Solar,gesamt = E Solar,UV = 4,32 ∙ 10 8 J/ m 2 Prüffolge C E Solar,gesamt = E Solar,UV = 0,54 ∙ 10 8 J/ m 2 Die Prüfungen werden an Prüfkörpern mit Mindestsowie mit Modulabmessungen durchgeführt. Es treten bei keinem Prüfkörper entsprechende Fehlstellen in Form von Trübungen, Delaminationen oder Blasen auf und der Nachweis der klimatischen Beständigkeit gilt für die Solarmodule als erbracht. 4. Prüfung der mechanischen Beständigkeit Nach DIN EN 14449 stehen für den Nachweis der Anforderungen an Verbundsicherheitsglas mehrere mechanische Prüfungen zur Verfügung. Neben dem Kugelfallversuch und dem Pummeltest ist der Pendelschlagversuch ein Nachweis für eine ausreichende mechanische Beständigkeit und in Anlehnung an DIN EN 12600 durchzuführen. Die Abmessungen der Prüfkörper betragen (876-±-2) mm in der Breite und (1.938-±-2) mm in der Länge. Der Stoßkörper besteht aus einem (50-±-1) kg schweren Doppelreifenpendel, dessen Reifen einen Luftdruck von (0,35-±-0,2) MPa aufweisen. Die Durchführung der Prüfung erfolgt bei (+- 20- ±- 5)- °C an vier Prüfkörpern je Fallhöhe, beginnend bei der niedrigsten Fallhöhe mit anschließender Steigerung. Die Fallhöhen betragen 190- mm, 450- mm sowie 1.200-mm und werden von der Auftreffstelle des Pendels in der Prüfkörpermitte gemessen. Der Pendelschlagversuch gilt als bestanden, wenn der Prüfkörper infolge des Aufpralls nicht bricht oder entsprechend der Beschreibungen in DIN EN 12600 ungefährlich bricht. Bei einem Prüfkörper aus einem Glasverbund bedeutet dies, dass weder ein Versatz noch eine Öffnung auftreten darf, den eine Kugel mit einem Durchmesser von 76-mm unter einer Kraft von maximal 25-N durchdringt. Die abgefallenen Glasstücke sind 3-min nach dem Aufprall zu wiegen. Das Gewicht darf nicht mehr als die äquivalente Masse von 10.000-mm 2 des Prüfkörpers betragen sowie das größte Bruchstück weniger als die äquivalente Masse von 4.400-mm 2 des Prüfkörpers wiegen. Während der hier durchgeführten Prüfungen werden die Dehnungen mit Dehnungsmesstreifen auf der Glasoberfläche und die Verformung in Plattenmitte mit einem Laserdistanzsensor gemessen. Durch die Aufnahme der Spannungen und der Verformungen ist ein anschließender Vergleich der Beanspruchungen mit dem Nachweis der Festigkeit aus der Elektrotechnik möglich. In Abbildung 1 wird der Versuchsauf bau mit einem Prüfkörper gezeigt. Abb. 1: Nachweis der mechanischen Beständigkeit von Solarmodulen mit dem Doppelreifenpendel nach DIN 12600. Im Rahmen der CE-Kennzeichnung ist im Bereich der Elektrotechnik eine ähnliche Prüfung zur mechanischen Festigkeit durchzuführen. Die Modulbruchprüfung dient dem Nachweis, das Verletzungsrisiko infolge des Bruches eines Solarmoduls auf ein Minimum zu verringern. Das Solarmodul wird bei den hier durchgeführten Prüfungen mit senkrechter Ausrichtung und umlaufender Klemmung 32 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens zwischen zwei Stahlrahmen analog zum Pendelschlagversuch gelagert. Der Stoßkörper wiegt (45,5-±-0,5) kg und besteht aus einem mit Schrotkugeln gefüllten Leinensack. Um eine glatte Oberfläche zu erzeugen, ist der Leinensack mit Klebeband umwickelt. Die Auftreffstelle des Stoßkörpers befindet sich in der Mitte des Prüfkörpers. Die Fallhöhe beträgt 300-mm. Zum Bestehen der Prüfung darf sich der Prüfkörper nicht aus der Rahmenkonstruktion lösen sowie nicht brechen oder so brechen, dass keine Schnittstelle oder Öffnung entsteht, durch die eine Kugel mit einem Durchmesser von 76-mm passt. Es dürfen sich keine Bruchstücke mit einer Größe von mehr als 65-cm 2 vom Prüfkörper lösen. Ein Brechen der abgelösten Bruchstücke auf dem Boden ist zu verhindern. Die Aufnahme der Verformungen und der Spannungen erfolgt äquivalent zum Pendelschlagversuch aus dem Bereich der Bautechnik. Der Versuchsaufbau ist in Abbildung 2 gezeigt. Abb. 2: Nachweis der mechanischen Beständigkeit von Solarmodulen mit dem Leinensack nach DIN EN IEC 61730. Um die Ergebnisse aus dem Bereich der Bautechnik mit denen aus dem Bereich der Elektrotechnik vergleichen zu können, sind die Randbedingungen der beiden Versuchsauf bauten bezüglich der mechanischen Beständigkeit zu prüfen. Die Anforderungen an den Versuchsauf bau sowie an die Durchführung sind den entsprechenden Normen zu entnehmen und in Tabelle 4 gegenübergestellt. Tab. 4: Vergleich der Randbedingungen von dem Pendelschlagversuch aus der Bautechnik und dem Modulbruchtest aus der Elektrotechnik. Pendelschlagversuch Modulbruchtest Stoßkörper als Doppelreifenpendel Stoßkörper als Leinensack Gewicht (50,0-±-0,1) kg Gewicht (45,5-±-0,5) kg Fallhöhen 190-mm, 450-mm und 1.200-mm Fallhöhe 300-mm Länge Auf hängseil ohne Angabe Länge Auf hängseil >-1.525-mm Stahllitzenseil d-=-5 mm Stahllitzenseil d-=-3-mm Auftreffstelle Plattenmitte R-=-50 mm Auftreffstelle Plattenmitte R-=-50-mm Abstand Stoßkörper 5-mm <-a-<-15-mm Abstand Stoßkörper a->-13-mm Bei direktem Vergleich der wesentlichen Parameter zeigen sich deutliche Unterschiede im Aufprallkörper sowie der Fallhöhen. Auch die Lagerung der Prüfkörper ist in den beiden Versuchsauf bauten unterschiedlich geregelt. In der Bautechnik wird im Hinblick auf eine mögliche Vergleichbarkeit mit anderen Produkten die Lagerung fest vorgegeben. Die Prüfkörper sind in einem Klemmrahmen allseitig linienförmig gelagert. Zwischen dem Prüfkörper und dem Klemmrahmen werden genau definierte Elastomere angeordnet, die eventuelle Spannungsspitzen aufnehmen sollen. Zusätzlich ist ein konstanter Anpressdruck, definiert durch die Kalibrierung eines Monoglases, auf den Klemmrahmen aufzubringen. Bei dem Modulbruchtest in der Elektrotechnik entspricht die Lagerung der Konstruktion dem späteren Einbau. Zum Vergleich der Beanspruchungen der unterschiedlichen Anprallkörper aus den Bereichen der Elektrotechnik und der Bautechnik sollten die Prüfungen mit gleicher Lagerung durchgeführt werden. Zur Aufnahme der Verformungen und der Spannungen an den Prüfkörpern in Abhängigkeit der Auswahl der Fallkörper und der Fallhöhe wird eine Glastafel mit einer Nenndicke von 8,0-mm in dem Klemmrahmen nach DIN EN 12600 eingebaut. Bei dem gewählten Prüfkörper ist eine Bruchsicherheit bis zu einer Fallhöhe von 1.200-mm gewährleistet. Die gemessenen Ergebnisse der Spannungen in Plattenmitte sind in Abbildung 3 dargestellt. Abb. 3: Vergleich der Hauptzugspannungen durch Doppelreifenpendel und Leinensack in Abhängigkeit der Fallhöhe. Die Spannungen in Abhängigkeit der Fallhöhe zeigen, dass der Stoßkörper aus der Elektrotechnik eine höhere Beanspruchung in Plattenmitte verursacht. Es ist beispielsweise bei einer Fallhöhe von 300-mm mit dem Leinensack eine etwas höhere Belastung zu erwarten als bei dem Doppelreifenpendel mit einer Fallhöhe von 450-mm. In Abhängigkeit von den Anforderungen an das Solarmo- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 33 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens dul wird der Nachweis der mechanischen Beständigkeit aus der Bautechnik gegebenenfalls mit dem Modulbruchtest aus der Elektrotechnik bereits erbracht. 5. Vereinfachtes Prüfverfahren Aus den umfangreichen Prüfungen zeigen sich mögliche Vereinfachungen für die Nachweise der klimatischen Beständigkeit von bauwerksintegrierter Photovoltaik. Alle Nachweise sind zukünftig auch grundsätzlich mit den Abmessungen von gängigen Modulabmessungen durchführbar. Die Prüfung unter Bestrahlung weist im Bereich der Bautechnik eine deutlich höhere Strahlungsenergie auf. Dieser Versuch ist daher auch weiterhin ergänzend nachzuweisen. Eine Vereinfachung könnte hier in der Anpassung der Prüfung für die CE-Kennzeichnung im Bereich der Elektrotechnik liegen. Dazu sollten die Leuchtmittel im vorhandenen Versuchsaufbau ausgetauscht und die Versuchsdauer auf 1.000-h erhöht werden. Zusätzlich ist eine Erhöhung auf drei Prüfkörper erforderlich. Die in der Bautechnik geforderten Nachweise zur klimatischen Beständigkeit bei hoher Temperatur und in der Feuchte könnten grundsätzlich wegen der etwas höheren Beanspruchung durch die Versuche im Rahmen der CE-Kennzeichnung ersetzt werden. Der Nachweis aus dem Bereich der Bautechnik für die klimatische Beständigkeit bei hoher Temperatur sowie in der Feuchte sind dann analog erfüllt. Der entwickelte Versuchsablauf zum Erlagen einer CE-Kennzeichnung und gleichzeitig dem Nachweis zur Verwendung des Solarmoduls als Verbundglas ist in Tabelle 5 aufgeführt. Die Prüfung gilt als bestanden, wenn in der Zwischenschicht keine Trübungen, Blasen oder Delaminationen auftreten. Tab. 5: Prüfungen für die CE-Kennzeichnung von Solarmodulen als bauwerksintegrierte Photovoltaik mit zusätzlichen bautechnischen Anforderungen an Verbundglas. Nachweis Prüfung Prüfung bei hoher Temperatur 200-Zyklen mit Dauer von 10 min unter Temperatur von (--40-±-2)-°C sowie (+-85-±-2)-°C Prüfung in der Feuchte 1-Zyklus mit Dauer von 664-h unter Temperatur von (+-85-±-2)-°C und relativer Feuchte von (85-±-5)-% Prüfung unter Bestrahlung Bestrahlung mit einer Dauer von 2.000-h und Leuchtmittel mit 300-W Zusätzlich zum Nachweis der Beständigkeit ist für Solarmodule beim Einsatz als Verbundsicherheitsglas in der Gebäudehülle die mechanische Beständigkeit zu gewährleisten. In der Bautechnik wird dies durch den Pendelschlagversuch, dem Kugelfallversuch oder dem Pummeltest experimentell nachgewiesen. Reproduzierbare Ergebnisse werden insbesondere mit dem Pendelschlagversuch erzielt, der daher für den Nachweis der mechanischen Beständigkeit zu empfehlen ist. Die mechanische Beständigkeit eines Solarmoduls gilt als nachgewiesen, wenn der Prüfkörper beim Pendelschlagversuch nach DIN EN ISO 12543-2 mindestens die Klassifizierung 3(B)3 erreicht. Die Prüfkörper dürfen bei einer Fallhöhe von 190-mm des Stoßkörpers nicht oder sicher brechen. Im Rahmen der CE-Kennzeichnung wird die mechanische Beständigkeit auch geprüft. Es zeigt sich im Vergleich, dass durch die Belastung des hier verwendeten Stoßkörpers als Leinensack mit einer Fallhöhe von 300- mm eine ähnliche Beanspruchung erzeugt wird wie bei dem Doppelreifenpendel mit einer Fallhöhe von 450-mm. Die Prüfung der mechanischen Beständigkeit könnte daher im Rahmen der CE-Kennzeichnung mit dem Modulbruchtest nach DIN IEC 61715 nachgewiesen werden. Dafür ist allerdings das Solarmodul in einem linienförmigen Klemmrahmen mit einem Anpressdruck von 7 bar analog zum Pendelschlagversuch einzuspannen und die Prüfung an drei weiteren Prüfkörpern zu wiederholen. Neben den experimentellen Nachweisen zur klimatischen und mechanischen Beständigkeit ist zusätzlich die Resttragfähigkeit des Solarmoduls nachzuweisen. Die Resttragfähigkeit stellt einen wesentlichen Teil des Sicherheitskonzeptes für Glas im Bauwesen dar und wird entweder durch die Einhaltung konstruktiver Vorgaben, durch rechnerische Nachweise oder experimentell nachgewiesen. Die Lagerung von Solarmodulen entspricht meistens nicht den normativen Konstruktionsvorgaben. Dies betrifft insbesondere den Glaseinstand von 10-mm sowie die Vorgaben für die Zwischenschicht im Verbund. Der Nachweis der Resttragfähigkeit erfolgt daher experimentell an der Bauart der geplanten Ausführung. Die Abmessungen der Solarmodule müssen allerdings dazu nicht verändert werden. Abb. 4: Bruchbild von Verbundglas ohne Photovoltaikzellen nach planmäßiger Zerstörung und anschließender Belastung beim Nachweis der Resttragfähigkeit. 34 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens Abb. 5: Bruchbild von Verbundglas mit Photovoltaikzellen nach planmäßiger Zerstörung und anschließender Belastung beim Nachweis der Resttragfähigkeit. Die Untersuchungen zur Resttragfähigkeit werden an Prüfkörpern mit und ohne Photovoltaikzellen durchgeführt. Die flächige Belastung nach planmäßiger Zerstörung beträgt 0,5-kN/ m 2 . Die Verformungen in Plattenmitte werden während der Prüfungen aufgezeichnet. In Abbildung 4 und 5 sind exemplarische Bruchbilder der Prüfkörper dargestellt. Die Untersuchungen zeigen, dass die Prüfkörper mit Photovoltaikzellen und einer durchschnittlichen Verformung von 17,7-mm mindestens eine analoge Resttragfähigkeit aufweisen wie die Prüfkörper ohne Photovoltaikzellen und einer durchschnittlichen Verformung von 23,5-mm. Dies bestätigen auch Ergebnisse aus bisherigen Analysen. [20] Nach entsprechender Bemessung der Glastafeln für die zu berücksichtigenden Einwirkungen sollte daher für die Solarmodule eine ausreichende Resttragfähigkeit analog zu Verglasungen als Verbundsicherheitsglas gegeben sein. 6. Ausblick Zukünftig könnten die erforderlichen Prüfungen für den zusätzlichen Nachweis aus der Bautechnik für bauwerksintegrierte Solarmodule mit den Modulabmessungen durchgeführt werden und damit den Ablauf im Rahmen einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung/ allgemeinen Bauartgenehmigung deutlich vereinfachen. Mit der Anpassung der Prüfungen beim Nachweis der klimatischen Beständigkeit könnten für das Solarmodul im Rahmen der CE-Kennzeichnung auch analog die Anforderungen an ein Verbundglas erfüllt werden. Zu empfehlen ist die Anpassung der Auflagerung bei der Modultestprüfung mit dem Leinensack zum Nachweis der mechanischen Beständigkeit aus der Elektrotechnik an den Pendelschlagversuch aus der Bautechnik. Zusätzliche Prüfungen zum Nachweis der Resttragfähigkeit sind allerdings weiterhin erforderlich. Literatur [1] Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen (MVV TB). Berlin: Deutsches Institut für Bautechnik, 2021. [2] Richtlinie 2014/ 35/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.04.2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zu Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt. Luxemburg: Amtsblatt der Europäischen Union, 2014. [3] Verordnung (EU) Nr. 305/ 2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09.03.2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/ 106/ EWG des Rates. Luxemburg: Amtsblatt der Europäischen Union, 2011. [4] Berichtigung der Verordnung (EU) Nr. 305/ 2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09.03.2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/ 106/ EWG des Rates. Luxemburg: Amtsblatt der Europäischen Union, 2013. [5] Musterbauordnung (MBO). Fassung 11.2002, zuletzt geändert durch Beschluss der Bauministerkonferenz vom 27.09.2019. [6] DIN 18008-1: Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 1: Begriffe und allgemeine Grundlagen. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2020. [7] DIN 18008-2: Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 2: Linienförmig gelagerte Verglasungen. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2020. [8] DIN 18008-3: Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 3: Punkt-förmig gelagerte Verglasungen. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2013. [9] DIN EN 14449: Glas im Bauwesen - Verbundglas und Verbund-Sicherheitsglas - Konformitätsbewertung/ Produktnorm. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2005. [10] DIN EN ISO 12543-3: Glas im Bauwesen - Verbundglas und Verbund-Sicherheitsglas - Teil 3: Verbundglas. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2022. [11] DIN EN ISO 12543-2: Glas im Bauwesen - Verbundglas und Verbund-Sicherheitsglas - Teil 2: Verbund-Sicherheitsglas. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2022. [12] DIN 52338: Prüfverfahren für Flachglas im Bauwesen - Kugelfallversuch für Verbundglas. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2016. [13] DIN EN 12600: Glas im Bauwesen - Pendelschlagversuch - Verfahren für die Stoßprüfung und Klassifizierung von Flachglas. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2003. [14] DIN EN 356: Glas im Bauwesen - Sicherheitssonderverglasung, Prüfverfahren und Klasseneinteilung des Widerstandes gegen manuellen Angriff. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2000. [15] DIN EN 61215 (VDE 0126-31): Terrestrische Photovoltaik-(PV-)Module - Bauartgenehmigung und Bauartzulassung. Deutsche Norm. Berlin: Beuth. 2019. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 35 Solarmodule als Bauprodukt - Entwicklung eines vereinfachten Prüfverfahrens [16] DIN EN IEC 61730 (VDE 0126-30): Photovoltaik (PV)-Module - Sicherheitsqualifikation. Deutsche Norm. Berlin: Beuth. 2018. [17] Ensslen, F.; Kuhn, T.: Bauordnungsrechtliche und konstruktive Anforderungen für bauwerksintegrierte Photovoltaik (BIPV). In: Glasbau 2021. Berlin: Ernst & Sohn, 2021. [18] DIN EN 1863-1: Glas im Bauwesen - Teilvorgespanntes Kalknatronglas - Teil 1: Definition und Beschreibung. Deutsche Norm. Berlin: Beuth, 2012. [19] Vitasolar Grade 521. Datenblatt, 2018. [20] Hemmerle, C.: Photovoltaik in der Gebäudehülle. Wertung bautechnischer Anforderungen. Dissertation. Technische Universität Dresden. 2015. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 37 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover Prof. Dipl.-Ing. Bernhard Tokarz Ingenieurgruppe Tokarz Frerichs Leipold, Hannover Zusammenfassung Das Unterwasser-Technikum ist ein außergewöhnlicher Industriebau. Das Institut für Werkstoffkunde der Leibniz-Universität Hannover brauchte für sein Forschungsgebiet „Arbeiten unter Wasser“ 3 neue Hallen verschiedener Größe. „Arbeiten unter Wasser“ ist wichtig für die Herstellung der großen Bohrinseln und Windkraftanlagen im Meer, aber auch für das risikoarme Zerlegen von Bauteilen aus Atomkraftwerken. Das Bauwerk ist das erste an einem neuen Standort der Universität. Da sollte so ein Gebäude eine Botschaft senden: Ein Bild ungewöhnlicher, eindrucksvoller Technik. Es sollte etwas Noch-Nicht-Gesehenes sein, wie die Ergebnisse der erwarteten Forschung. Die Aufgabe war also, die 3 Hallen verschiedener Größe äußerlich zu einem einheitlichen eindrucksvollen Gebilde zu machen. Gewählt wurde mit starken Gründen die Alternative mit Tragwerk außerhalb der Gebäudehüllen. Dargestellt wird das besondere System des Ganzen und die außergewöhnlichen, besonders sorgfältig gestalteten Details. Im Einzelnen beschrieben wird auch die thermische Trennung der günstig gewählten Durchstoßpunkte der Konstruktion von innen nach außen. 1. Einführung Jeder Gegenstand des täglichen Gebrauchs müsste über seine Nützlichkeit hinaus für sich allein Wert haben - anzusehen, anzufassen … auch Brücken, auch Industriebauten. Sie sind ja tägliches Umfeld für viele. Sie müssen dazu Eigenschaften haben, die nicht durch die Nützlichkeit allein erklärbar sind. Vollkommene Technik ist ihre notwendige und nützliche Qualität. Sichtbar gestaltet ist in meinen Augen notwendige Qualität für die, die damit leben. Der folgende Bericht soll beides erkennen lassen. Der entscheidende Unterschied ist manchmal leichter zu sehen als mit Worten zu beschreiben. Abb. 1: Das Bauwerk von Süden gesehen Das Bauwerk sieht von weitem aus wie ein großes Gerät, ein großes Gerät aus dem Industriebau. Und eigentlich ist es auch so etwas: Das sogenannte Unterwasser-Technikum der Leibniz Universität Hannover. Hier wird erforscht, welche Möglichkeiten es gibt, unter Wasser zu arbeiten und wie das am günstigsten geschieht. Das ist wichtig für die Herstellung der großen Bohrinseln im Meer, aber auch für das Zerlegen von nicht mehr benötigten Bauteilen aus Atomkraftwerken. Sie können anscheinend unter Wasser mit sehr viel geringerem Risiko bearbeitet werden. 2. Die Aufgabe Die Besonderheit dieses Bauwerks und der Hauptgrund, dass eine so auffällige Form gewählt wurde, ist: Das Bauwerk ist das erste an einem neuen Standort der Universität. Die Universität Hannover liegt ganz nahe dem “Großen Garten”, dem berühmten Barockgarten in Hannover Herrenhausen. Das für die Universität zur Verfügung stehende Gelände erlaubt keine nennenswerte Erweiterung mehr, also wurde ein neuer Ort gesucht und am Rande der Stadt gefunden. Das neue Gebäude sollte also den neuen Ort zu etwas Besonderem machen, es sollte ihn anziehend machen für künftige Mitarbeiter künftiger neuer Einrichtungen der Universität. Das ist anscheinend so gut gelungen, dass die Stadt Garbsen, in deren Gemarkung das neue Gebäude liegt, inzwischen das Bauwerk als Bild außen auf ihrer Stadtkarte zeigt. Sozusagen als Symbol für die Stadt und ihre Zukunftserwartungen. Und schließlich war die Anziehungskraft des Ortes und des Bauwerks selbst wichtig für das Institut. Das Institut verdient sein Geld großenteils mit Drittmittel-Forschung. Da sollte so ein Gebäude eine Botschaft senden: Ein Bild ungewöhnlicher, eindrucksvoller Technik. Es sollte etwas Noch-Nicht-Gesehenes sein, wie die Ergebnisse der erwarteten Forschung. Noch nicht gesehen aber sichtbar sinnvoll. Der Leiter dieser Abteilung des Instituts sagt, das Bauwerk hat uns viele interessante Kontakte und gute Aufträge gebracht. 38 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover 3. Ein beherrschender Gedanke Kern des Programmes waren drei Hallen, die größte 15-m breit und 17 m hoch, also mehr als fünf Normalgeschosse hoch. Neben den 3 Hallen gehört ein Institutsgebäude mit den Schreibtisch-Arbeitsplätzen zum Ensemble - und eine Reihe hoher Bäume. Die Aufgabe, die sich der entwerfende Architekt, Klaus Heinzel, im Staatshochbauamt I, und ich stellten, war, die drei Hallen als ein einziges Bauwerk erscheinen zu lassen. Das hieß unter diesen Umständen, sie zu verbinden, ohne zu verbergen, dass es eigentlich drei und von der Nutzung drei verschiedene sind. Dafür gibt es erstaunlich viele geeignete Möglichkeiten. Nur am Rande: Das Kostbarste, was man am Beginn eines Planungsprozesses haben kann, ist ein Team, von dem man weiß, dass es hervorragend zusammenstimmt. Das war hier in ungewöhnlichem Maße der Fall. Die Stahlbaufirma Rüterbau reihte sich später ein. 4. Der Baukörper in Alternativen Ich zeige vier in der engeren Wahl: Bilder der Modelle der ersten Versuche zeigen ein Pultdach als eine Art Klammer über den drei Körpern. Bei einer Gliederung des Körpers in 5 je 10 m breite Zonen nimmt der Teil mit schrägem Dach die 3 mittleren Zonen ein. Jede andere Teilung wäre möglich gewesen. Es minimiert zugleich die Flachdachzonen, die ja immer mühsamer zu unterhalten sind als geneigte Dächer. Natürliches Licht kommt durch Fensterflächen in vertikalen Flächen, die die schräge Zone abschließen oder in den Stufen zwischen den Hallen. Die weitere Entwicklung zeigt, dass das übergreifende Element benutzt wird, zusätzlich natürliches Licht über Dachfenster in der schrägen Fläche hereinzuholen. Das ist günstig vor allem bei schwachen Lichtverhältnissen im Winter. Licht aus dem Zenit hat die größte Intensität. Und schließlich Belichtung über eine nach Norden gerichtete Folge von Sheds. Das erprobte Prinzip im Industriebau: natürliches Licht nach Belieben bei gleichzeitig minimalem Wärmeintrag. Sie liegen, wie das Modell zeigt, nicht die gegebenen Stufen der Dachflächen nutzend, denn wir konnten weder die Lage der Hallen noch die Himmelsrichtung ändern. Dies ist für mich die anziehendste Form des Baukörpers, allerdings auch die mit dem größten Volumen des Innenraums. Die Architekten entschieden sich für die Lösung auf der entgegengesetzten Seite der Scala: die überwiegend außen liegende Konstruktion. Ein Grund war die Minimierung des umbauten Raumes, denn Kosten werden in diesem frühen Stadium nach den m 3 umbauten Raumes ermittelt und da war eine Lösung von Vorteil, die den Innenraum klein hielt, und damit die Aussicht steigerte, das Vorhaben finanziert zu bekommen. Die außen liegende Konstruktion ermöglicht zugleich Innenräume mit minimalen Betriebskosten. Ein dritter Grund war das demonstrativ Technische einer schlüssigen, außen liegenden Konstruktion. Sie sagte auch dem Bauherrn-Institut besonders zu. Abb. 2: Ansicht der gewählten Lösung, Nordseite So kommt es zu der arte povera der reinen drei Körper, verbunden durch das außen liegende Tragwerk, dessen Keil-Umriss das Pultdach noch ahnen lässt. Es hat ein vergleichsweise minimales Volumen. Das war eine Art Abstraktionsvorgang, der mich heute an eine Sequenz von Radierungen von Picasso erinnert: Metamorphose eines Stieres. Alternativen mit größtem und mit kleinstem Volumen. Ich hatte zuerst, ich gebe es offen zu, wenig Sympathie für das außen liegende Tragwerk. Ich habe oft genug gespottet über die Exhibitionisten, die wider alle Vernunft die Dachhaut hundertmal durchdringen und hundert potentielle Regeneinläufe und Wärmebrücken schaffen. Der äußere Umriss bei der Shed-Lösung wäre der gleiche, aber die Konstruktion läge ganz im Trockenen und die natürliche Belichtung über das Dach und von Norden ist sowieso unübertrefflich. Abb. 3: Blick auf die Südseite Heute würde man wahrscheinlich die großen Fenster auf die Nordseite legen und sich im Süden mit schmalen Fensterschlitzen begnügen, die nicht mehr als einen schmalen Sonnenstreifen im Laufe eines Tages über den Boden wandern lassen. 5. Das Prinzip der Konstruktion Meine Aufgabe war nun, ein Konstruktionsprinzip zu finden, das die Nachteile der außen liegenden Konstruktion minimiert und die Vorteile herausarbeitet. Das heißt: möglichst wenig Durchstoßpunkte durch die Dachhaut; diese an Firsten, oder mindestens an Stellen, wo das Wasser abfließt; also auch die als Flachdach erscheinenden Dächer mit First oder Gefälle für ablaufenden Regen zu 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 39 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover konstruieren; alle Übergänge aus dem Warmen ins Kalte sorgfältig thermisch trennend zu konstruieren. (Ich habe auf meinen Exkursionen nicht wenige sogenannte Hightech-Bauten gesehen, bei denen sich die Nutzer bitter beklagten über die tropfenden Dächer, im Sommer vom Regen, im Winter auch von schmelzendem Eis innen und von Schwitzwasser.) 6. Die Konstruktion im Einzelnen Sie betont die Höhenstufung der drei Hallen durch das übergeordnete System der „vielfüßigen Bockreihe“. Ein einzelnes solches Bocksystem besteht aus 4 vertikalen Stützen und dem ihre Köpfe mit einem Widerlager verbindenden schrägen Stab. Es wiederholt sich in Hallenlängsrichtung im Abstand von 10 m. Es nimmt auf besonders günstige Weise vertikale und horizontale Lasten überwiegend durch reine Längskräfte auf. Das Sekundärsystem sind Unterspannungen des schrägen Stabes über jedem Hallendach. Sie hängen zugleich die Dächer in der Mitte auf. Über diesen Stellen, den Hallenlängsachsen, sind alle schrägen Stäbe gegen Ausknicken in Querrichtung durch einen horizontalen Stab miteinander verbunden und an beiden Enden über den Giebeln durch eine horizontale Umspannung als horizontales Fachwerk gegen seitliches Ausknicken gehalten. Alle außenliegenden Stahlkonstruktionsteile sind von den innen liegenden sorgfältig thermisch getrennt. Hierfür wurden besonders günstige Details entwickelt. Sie werden am Ende díeses Berichts genau gezeigt. Das System für vertikale Lasten: Die Dächer werden in der Mitte ihrer Spannweite aufgehängt. Dadurch verringert sich die Konstruktionshöhe der innen liegenden Dachträger auf weniger als die Hälfte. Diese Auf hängung ist der einzige Punkt, an dem die Dachhaut durchdrungen wird. Er liegt, wie gesagt, am First, der Stelle, an der kein Regenwasser stehen bleibt. Die Dachträger sind an allen Außenseiten des Baukörpers durch Rohrstützen vor den Fassaden gestützt. Sie durchdringen dafür die Fassade, natürlich thermisch unterbrochen. Die Aufnahme der horizontalen Kräfte auf das Bauwerk geschieht in Gebäudequerrichtung durch die als eine Folge von Böcken wirkende Konstruktion. Der schräge Stab läuft im Garten zwischen den Hallen und dem Institutsgebäude dicht über dem Boden und oberhalb der Spritzwasserzone in einen Widerlagerkörper aus Stahlbeton. Abb. 4: Süd- und Ostseite des Bauwerks In Gebäudelängsrichtung geschieht die Aufnahme der horizontalen Kräfte durch Verbände zwischen je zwei Stützen und horizontalen rohrförmigen Stäben. Der oberste horizontale Stab des Verbands liegt deutlich unterhalb des Knotens am Kopf nach dem Prinzip möglichster Entflechtung der Knoten. 7. Zur Ausbildung und Gestaltung der Details: Die Ausbildung und Gestaltung der Details wurde nicht der Stahlbaufirma überlassen, wie das sonst häufig der Fall ist. Sie könnte das natürlich den anzuschließenden Kräften gemäß. Aber hier geht es in besonderem Maße um Gestaltung. Warum ist die Gestaltung der Details so wichtig? Es ist nicht genug, eine einleuchtende Gestalt für das Tragwerk als Ganzes zu finden. Die Anziehungskraft eines Bauwerks ist vor allem seine Wirkung aus der Nähe. Es ist wie beim Gesicht: Jede Einzelheit spielt eine Rolle. Deswegen ist die individuelle Gestaltung der Konstruktion im Detail die 2. notwendige Leistung für ein vollendetes Werk. Sie produziert die „Atmosphäre“ eines Bauwerks. „Konstruktives Entwerfen“ ist der Weg dahin. Das Gestalten endet erst bei dem letzten sichtbaren Detail. Die Ausbildung der Details entscheidet über die Qualität einer Konstruktion in jeder Hinsicht. Die Knoten sind ganz rational und zugleich als individuelle plastische Form entworfen. Sie zeigen betont anschaulich, auf welche Weise die hohen Kräfte übertragen werden. Für die Gestaltung der Details spielten zwei Prinzipien eine besondere Rolle: ein technisches und ein ästhetisches. Das technische Prinzip: Anschlüsse von dünnen Stäben an Rohre werden besonders günstig, wenn sie ihre Kräfte nicht radial, sondern tangential in die Wandungen des Rohres einleiten. Denn die dünnen Rohrwandungen werden durch radial wirkende Kräfte ungünstig quer zu ihrer Ebene auf Biegung, durch tangential wirkende günstig in ihrer Ebene membran-ähnlich beansprucht. Die Bilderfolge ungünstig - günstig - abstrakt und als Konstruktion zeigt den Unterschied. Dieses antike Gefäß ist ein schönes Beispiel: Seine Henkel leiten ihre Kräfte überwiegend „tangential“ in das Gefäß, oben in die Wandung des Gefäßes, unten-- sozusagen in die Kante eines Faltwerks eine Komponente der schräg angreifenden Kraft ebenfalls in die Wandung, die zweite, die horizontale Komponente fließt in den Boden des Gefäßes. Deswegen enden die Stäbe in Knotenblechen, die die Rohre umarmen und so die Kräfte auf günstigste Weise tangential in die Wandungen der Rohre einleiten. Das ästhetische Prinzip war: Diese Knoten nun nicht so auszubilden, dass das technische Prinzip gerade so erfüllt würde, sondern ausdrucksvoller anschaulich betonend, was hier Besonderes vor sich geht, so wie in romanischen Skulpturen die wichtigen Personen größer dargestellt wurden als die übrigen. Es ist ja nur ein sehr kleiner Teil der Stahlmenge, 40 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover der hier zur Diskussion steht und es spielt für den Preis keine nennenswerte Rolle, ob hier etwas mehr oder weniger Material verwendet wird. Dagegen spielt es für die Qualität der Konstruktion eine große Rolle. Und erst recht für das, was ich die Kraft des Ausdrucks nennen möchte, dieses suggestive Deutlich-machen eines Zustandes, hier eines Kräftezustandes, wie wir es ja auch bei alten Bauten bewundern, wenn die Säule sich am Kopf zu einer über die Notwendigkeit hinaus breiten Fläche ausdehnt, auf der der Bogen oder der Architrav aufsetzt, als hätte die Last sie breit getreten. Jeder hat es schon erlebt: Wenn ich wahrnehme, dass etwas sichtbar über die reine Nützlichkeit hinaus gestaltet ist, so ist das eine Freude, wie wenn mir ein eigentlich fremdes Gesicht im Vorbeigehen zulächelt. Deswegen die höchst logische Regel: äußerste Ökonomie bei der Wahl des Systems und der Profile, aber großzügige, betonende, kräftige, bildhaft anschauliche Gestaltung beim Detail des Knotens. Knoten sollten sein wie Knospen, „organisch“, wie gewachsen, wie sich Blätter am Ast entfalten - nicht wie ein zufälliger Zusammenstoß von zwei verschiedenen Konstruktionselementen. Das Detail der Verbindung Stütze-Druckstab-Unterspannung stellt die Aufgaben: Rohr an Rohr in bis zu 26-m Höhe mit Montagestoß anzuschließen und dünne Zugstäbe an dicke Rohre anzuschließen. Das sogar in zwei Ebenen bei der räumlichen Umspannung der äußeren Binder, die zugleich in der Querrichtung die horizontale Stützung aller Druckgurte des Bocksystems leisten. Abb. 5: Detail Knoten Stütze-Druckstab-Unterspannung Wichtige Eigenschaft solcher Details ist auch, günstig für die Montage auf der Baustelle zu sein. So kann der schräge Stab mit seinen Knotenteilen auf die Stützenköpfe einfach in Schlitze aufgesteckt werden. Für das Anschweißen in bis zu 26 m Höhe ist keine weitere Festhaltung mehr notwendig. Der Anschluss der Zugstäbe wird nachstellbar eingerichtet. Die Stützen sind in Köcherfundamente eingespannt, so dass sie schon vor der Montage der Dachkonstruktion stabil stehen. Die Sorgfalt der Herstellung ist am schönsten aus der Nähe zu sehen an den zum Einbau bereit liegenden Bauteilen. Sie haben auf mich die Wirkung frei entworfener Skulpturen, ganz unabhängig von ihrem Zweck; auch von ganz nahem noch eine Freude zu sehen - wenn die Schweißnähte gut gezogen sind. Das ist dann wirklich nicht mehr gleichgültig. Wie da das Rohr zwischen den Blechen wie ein glatter Bauch hervorscheint: das sind Formen aus Geometrien, die man den einzelnen Elementen des Knotens gar nicht zugetraut hätte. Erst das Modell hat´s zum Vorschein gebracht. Skulptur im Kleinen: der Anschluss für nachstellbare Zugstäbe aus Röhrchen und Kreis-Ausschnitt des Knotenbleches. Der 2. besondere Knoten ist der Knoten am Längsverband außen und innen. Er sieht aus wie ein Mund. Die Bleche, die die Kräfte aus dem horizontalen Druckstab und den diagonalen Zugstäben in die Rohrstütze einleiten, sind ganze und halbe Kreisringe. Sie leiten die Kräfte auf günstigste Weise tangential in die Rohrwandungen ein. Zugleich betonen sie diesen für die Stabilität des Ganzen wichtigen Ort der Konstruktion. Der 3. besondere Knoten ist der Fuß der Stütze im Bauzustand. Abb. 6: Detail Knoten des Verbandes auf der Ostseite Kühle Vernunft im Einzelnen findet zu einer - für mein Auge - vollkommenen plastischen Form. Das ist mehr 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 41 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover als nackte Nützlichkeit. Die Stütze ist ein dünnwandiges Rohr. Sie wird in das Köcher-Fundament eingespannt. Dann steht sie schon im ersten Bauzustand allein stabil. Das Fundament ist natürlich aus Stahlbeton. Die den Fuß der Stütze umschließenden Blechteile leiten die vertikalen, die horizontalen Lasten der Stütze und das horizontale Kräftepaar aus dem Einspann-Moment in das Fundament. Sie liegen deswegen mit möglichst großem Hebelarm nahe der Oberkante und der Unterkante des Fundaments. Die runden Löcher sind notwendig, damit sich beim Füllen der Fundamenthülse unter dem Blech keine Luftblase bilden kann, die den kraftschlüssigen Kontakt von Beton und Stahl stört. Der 4. besondere Knoten ist der thermisch getrennte Stoß der Stützen innen zwischen den Hallen. Dieser Stoß ist als Form gleichgültig, dagegen als technisches Detail besonders wichtig und interessant. Ich beschreibe ihn im letzten Teil des Vortrags. Gestaltung aber auch im Kleinsten, zum Beispiel: Knoten eines „Windverbandes“, eines Verbandes zur Aufnahme horizontaler Kräfte an der Stelle, an der sich die 2 Diagonalen kreuzen. Der Knoten wird offensichtlich dadurch sichtbar gestaltet, dass die Arme des Knotenblechs breiter als notwendig gewählt werden und, technisch günstig, mit ausgerundeten Übergängen verbunden sind. Das technisch Notwendige wird durch eine kleine Geste ästhetisch „überhöht“ und dadurch eigentlich erst deutlich sichtbar. Ein zweiter Knoten, Knoten eines Verbandes an anderer Stelle, die Kreuzung von 2 Rundstählen. Hier ist es der Stern der 4 Gewindehülsen zum Nachspannen der schlanken Zugstäbe, der dem Knoten ein Gesicht von besonderer Gestaltung gibt. Die Gewindehülsen haben die Form und Farbe von Fischen, sie füllen den Knoten mit der Lebendigkeit natürlicher Geschöpfe. Ein besonderes Detail ist die Konstruktion, die innen die Kranbahn trägt. Die Kranbahn läuft mit beträchtlichem Abstand innerhalb der Stützenreihen auf einer aus den Stützen auskragenden Konstruktion. Die Auskragung zur anderen Seite trägt die Fassade der höheren Nachbarhalle oberhalb des Daches. Diese notwendige technische Einrichtung wird allein durch eine freie Form der großen Knotenbleche fast schon zu so etwas wie einem Kunstobjekt, das Aufmerksamkeit weckt für den, der Augen hat zu sehen, das Modell zeigt es schon. Die Knotenbleche geben der Konstruktion eine Spur von Individualität. Mit den heutigen technischen Mitteln sind so geformte Knotenbleche genau so einfach herstellbar wie rechteckige. Die Augenform der Bleche hat den technischen Vorteil, dass ich in beiden Richtungen verschiedene Anschlusslängen anbieten kann, für große und kleine Kräfte. Jede Betonung, ja Übertreibung ist gut, wenn sie die Verhältnisse anschaulich und zugleich technisch günstiger macht als die Mindest-Konstruktion. 8. Die thermisch trennenden Knoten Technisch und ökonomisch für sich allein gesehen ist eine tragende Konstruktion, besonders eine Stahlkonstruktion, am besten ganz innerhalb der wärmedämmenden Hülle untergebracht. Wenn ich die freie Wahl habe, würde ich eine Stahlkonstruktion immer innerhalb der wärmedämmenden Hülle unterbringen. Das ist technisch einfacher, ökonomisch für Herstellung und Unterhaltung günstiger und bei großen Sälen und Hallen meist eine innen willkommene architektonische Steigerung des Raumes, wenn sie gut gemacht ist. Es muss starke Gründe geben, die tragende Konstruktion außerhalb der Hülle, außerhalb der Fassade zu platzieren. Es gibt tatsächlich starke Gründe, die tragende Konstruktion in Teilen nach außen zu legen: Minimierung des Innenraums, den ich heizen und lüften muss, Minimierung der Hindernisse für die freie und veränderbare Nutzung des Innenraums, architektonische Steigerung der Außenansicht, besonders, wenn innen an die Architektur keine Ansprüche gestellt werden, wie bei einem Hochregallager oder bei automatischer Fertigung oder bei Lagerhallen überhaupt und natürlich zur Steigerung des ganzen Bauwerks, schon von weitem zu sehen und als eine Botschaft gedacht. Beim Unterwasser-Technikum ist die Konstruktion der thermischen Trennung von 2 Knoten besonders interessant: Unterbrechung und Stoß einer Stütze für Kräfte in Längs- und Querrichtung und Anschluss eines von innen kommenden Trägers an eine außen stehende Stütze. 8.1 Rohr-Stütze von innen nach außen durch die flach geneigte Dachhaut stoßend: Zwei kreisflächenförmige Bleche unterbrechen das Rohr der Stütze. Zwischen ihnen liegt ein Neoprene-Kissen oder Ähnliches und verbindet sie für vertikale Lasten druckfest miteinander. Horizontale Kräfte und Kräfte aus Torsion der Stütze - sofern überhaupt vorhanden - werden von der oberen auf die untere Scheibe auf einfachste Weise wie folgt übertragen: Das Bild zeigt den „Kopf“ des Teiles der Stütze, die aus dem darunter liegenden Innenraum kommt. Die Kopfplatte ähnelt mit ihren teilkreisförmigen Ausschnitten einem groben Kreissägeblatt. Sie hat einen Rand, der an 3 Stellen auf eine Länge von je etwa 1/ 6 ihres Umfanges mindestens 3 cm tief ausgeschnitten ist. An der oberen Scheibe ist ein Kreisring aufgeschweißt, so dass ein nach unten offener Topf entsteht. Dieser Topf wird auf das Neoprenekissen gestülpt und greift mit 3 Zähnen an seinem unteren Rand in die 3 Einschnitte am Rand der Scheibe unter dem Neoprenekissen ein. Horizontale Kräfte und horizontale Kräfte aus Torsion der Stütze werden von dem Topf allein an die kleinen radial liegenden Stirnflächen der teilkreisförmigen Ausschnitte der unteren Scheibe weitergegeben. Das sind die einzigen Kontaktflächen, an denen Stahl des kalten Stützenteils unmittelbar auf Stahl des warmen Stützenteils trifft. 42 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Drei Hallen für die Forschung - Das Unterwasser-Technikum der Leibniz-Universität Hannover Abb. 7: Thermische Trennung einer Rohrstütze 3 Schrauben, die die beiden Kreisscheiben verbinden, könnten Zugkräfte in Längsrichtung der Stütze aufnehmen, wenn sie aufträten. Sie dienen der Lagesicherung im Bauzustand. Zuletzt wird der ganze Knoten in Wärmedämmung dicht eingehüllt und mit einem Blechmantel umgeben. Innerhalb der Wärmedämmung treffen sich warme und kalte Bauteile. Die außen allein sichtbare Blechhaut umhüllt den Knoten regendicht. 8.2 Anschluss eines Trägers von innen an eine außen stehende Rohrstütze Die Träger, die innen die Hallendächer tragen, werden mit den außerhalb der Fassaden stehenden Stützen durch einen einzigen Bolzen gelenkig verbunden. Aus der Stütze kragen 2 vertikale und parallel zueinander liegende Bleche aus. Sie werden durch Schlitze der Stütze gesteckt und beiderseits mit der Rohrwand verschweißt. Zwischen die beiden vertikalen Bleche, die aus der Rohstütze auskragen, wird der Steg des Trägers geschoben und durch einen Bolzen mit ihnen verbunden. Die Zwischenräume zwischen den Blechen sind so groß gewählt, dass sie Platz für genügend dicke Neoprene- oder ähnliche Kissen bieten. Sie trennen thermisch die kalten Bleche der Stütze von dem warmen Steg des Trägers. Abb. 8: Thermische Trennung Anschluss Träger-Stütze Der einzige Kontakt Stahl auf Stahl geht über den Bolzen. Die vertikalen Lasten aus dem Träger und aus dem Moment infolge der kleinen Auskragung werden über schubbeanspruchte Schweißnähte auf beiden Seiten in die Rohrwand eingeleitet. Horizontale Kräfte werden durch einen das Rohr umfassenden breiten horizontalen Blech-Ring in Höhe des Bolzens günstig tangential in das Rohr geleitet. Der Knoten wird zuletzt in Wärmedämmung dicht eingehüllt und mit einem regendichten Blechmantel geschützt. 9. Ergebnis und Nutzen: Ziel war, ein Beispiel zu geben, dass es lohnt, auch nüchterne Industriebauten zu architektonischen Ereignissen zu machen. Sie sind tägliche Arbeitsstätte und Lebensumgebung für viele. Sie haben deswegen das Potential, das Leben von vielen reicher zu machen. Notwendig erscheint mir dabei, viel Mühe auf die Gestaltung im Einzelnen zu verwenden, denn die Atmosphäre eines Bauwerks ist seine Wirkung aus der Nähe. Sie wird am nachhaltigsten bestimmt durch seine Details. Es ist wie beim Gesicht. Die Details dieses Bauwerks und die Details zur thermischen Trennung sind zudem neue gute allgemein verwendbare Lösungen. Ich hoffe, es war zu erkennen: Entwurf und Konstruktion sind eins. Zu guter Architektur gehört (auch) ein Schuss Radikalität. Das steht zwar in Widerspruch zur Angemessenheit, aber anderenfalls fehlt das Unbedingte der Leidenschaft, aus der das Besondere entsteht. (Nach Benedikt Loderer in einem Vortrag „Baukultur als Konsumgut)“. Die 3 Hallen sind als Stahlkonstruktionen vollständig recyclebar. Material und Gestaltung der Fassaden wurden bei nächsten Bauten zum weiteren Ausbau des Standorts zum „Produktionstechnischen Zentrum“ der Universität übernommen. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 43 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Prof. Dr.-Ing. Stephan Engelsmann MA Arch. Des. Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart/ Engelsmann Peters GmbH Zusammenfassung Faltwerke sind ein geistreiches Konstruktionsprinzip. Tragwerkstypologisch zählen Faltwerke zu den räumlichen Flächentragwerken. Die Einzelkomponenten des Faltwerks sind dünnwandige, ebene Flächen, die selbst nur über eine begrenzte Steifigkeit verfügen, aber bei einer geeigneten dreidimensionalen Konfiguration zu hochleistungsfähigen, ressourceneffizienten Tragstrukturen werden. Für das Entwerfen, Bemessen und Konstruieren von Faltwerken steht heute eine große Auswahl an industriell gefertigten Halbzeugen aus unterschiedlichen Werkstoffen zur Verfügung. Faltwerke ermöglichen es, bei richtiger geometrischer Ausbildung ausdrucksstarke Formen und selbstragende Gebäudehüllen in modularer Bauweise mit einem minimalen Materialeinsatz zu realisieren. Eine besondere Bedeutung kommt in jedem Einzelfall der Entwicklung einer werkstoffgerechten Fügetechnologie zu. Die Potentiale des Konstruktionsprinzips werden am Beispiel von experimentellen Prototypen beziehungsweise Projekten aufgezeigt. 1. Einführung In der Bautechnik bezeichnet der Begriff Faltwerk ein Tragwerk, das in einer räumlichen Konfiguration aus dünnwandigen, ebenen Teilflächen zusammengesetzt ist. Faltungen zur Verbesserung von tragstrukturellen Eigenschaften finden sich nicht nur in der Technik, sondern auch in der Natur, beispielsweise in der Flora bei Blattstrukturen. Mit Faltungen kann eine fast grenzenlose Formenvielfalt erzeugt werden (Abb. 1). In der Regel folgen Faltwerke aber geometrischen Prinzipien. Abb. 1: Formenviel von Faltstrukturen Eine gefaltete Fläche bezeichnet man als Faltstruktur. Das auf einer Faltstruktur basierende Tragwerk wird zum Faltwerk. Eine in die Ebene abgewickelte Faltstruktur bildet ein Faltmuster (Abb. 2). Grundformen sind Längsfaltung und Umkehrfaltung. Beispiele für Umkehrfaltungen sind Rautenfaltungen oder Fischgrätfaltungen. Abb. 2: Faltmuster, Faltstruktur und Faltwerk Die Faltstruktur beeinflusst grundsätzlich die Faltwerksform - nicht jede Faltwerksform kann mit jeder Faltstruktur generiert werden. Faltwerke mit gekrümmter Global-Geometrie können beispielsweise mit Hilfe von Rauten- oder Fischgrätfaltungen konstruiert werden. Die Faltwerksform wiederum beeinflusst das Tragverhalten. Beim Entwerfen von Faltwerken ist es erforderlich, diese Parameter bereits zu einem frühen Zeitpunkt sinnvoll aufeinander abzustimmen, um ein effizientes Tragwerk zu erhalten. Bei der Entwicklung der Geometrie ist aber auch sicherzustellen, dass alle Teilflächen planmäßig entwässert werden und keine lokalen Tiefpunkte ohne Ablauf entstehen. 2. Das statisch-konstruktive Prinzip der Faltwerke Tragwerkstypologisch zählen Faltwerke zu den räumlichen Flächentragwerken. Die Einzelkomponenten des Faltwerks sind dünnwandige, ebene Flächen, die selbst nur über eine begrenzte Steifigkeit verfügen, aber bei einer geeigneten dreidimensionalen Konfiguration zu hochleistungsfähigen Tragstrukturen werden. Faltwerke können gegebenenfalls gleichzeitig als Gebäudehülle fungieren, also die Funktionen Tragen und Einhüllen kombinieren. Das statisch-konstruktive Prinzip, das den Faltwerken zugrunde liegt, beruht vor allem auf der Vergrößerung der statisch nutzbaren Höhe durch die Faltung, die dem Tragwerk seine geometrische Steifigkeit gibt. Strukturform, Faltungshöhe und die Geometrie der Einzelflächen bestimmen dabei maßgeblich das Tragverhalten von Faltwerken. Nicht jede Form der Faltung führt aber zu einer Struktur, die das vorteilhafte Tragverhalten 44 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht der Faltwerke im statisch-konstruktiven Sinne aufweist. Im Vergleich mit räumlich gekrümmten Flächentragwerken wie beispielsweise Schalen besitzen Faltwerke den großen wirtschaftlichen und fertigungstechnischen Vorteil, dass sie aus ebenen Teilflächen beispielsweise in Form von industriell gefertigten Halbzeugen, zusammengesetzt werden können. Die Einzelflächen der Faltwerke sind wie Scheiben überwiegend normalkraftbeansprucht. Den Normalkraftbeanspruchungen überlagern sich Biegebeanspruchungen, weil die normal zur Fläche wirkenden äußeren Einwirkungen zunächst über Plattenbiegung in den Einzelflächen zu den Plattenrändern, die von den gemeinsamen Kanten der Elemente gebildet werden, abgetragen werden. Über die Kanten werden die Auflagerkräfte in die angrenzenden Flächen eingeleitet und erzeugen Normalspannungen in den Ebenen der Einzelflächen. Voraussetzung für diese Tragwirkung ist eine schubfeste Verbindung der Kanten, um die Verträglichkeit der Verformungen sicherzustellen und Relativverschiebungen zu verhindern. Die kraftschlüssige Verbindung der Einzelflächen in den Kanten ist ein wesentliches Kennzeichen von Faltwerken. Der besonderen tragwerksplanerischen Aufmerksamkeit bedürfen die freien Ränder von Faltwerken, weil sie in der Regel nur unzureichend gehalten sind und große Formänderungen erleiden können. Die Bemessung von Faltwerken ist sehr anspruchsvoll. Betrachtet man die Global-Geometrie, so kann in vielen Fällen eine tragstrukturelle Analogie zu klassischen Tragsystemen wie Balken, Rahmen oder Bogen aufgebaut werden. Faltwerke mit komplexer Geometrie können mit geeigneten numerischen Werkzeugen heute problemlos bemessen werden. 3. Werkstoffe und Fügetechnologien Für die Konstruktion von Faltwerken eignen sich insbesondere die Werkstoffe Beton, Holz, Stahl sowie Kunststoff. Für das Entwerfen, Bemessen und Konstruieren von Faltwerken steht heute eine Vielzahl von industriell gefertigten Halbzeugen in Form von Platten oder Composite-Elementen zur Verfügung, Ortbeton-Faltwerke bilden einen Sonderfall. Tragwerksform und Werkstoff sind voneinander abhängig im Hinblick auf Faltstruktur und Abmessungen der Einzelflächen, Tragverhalten, Fügetechnologie, Herstellung und Gestaltung. Je geringer die Steifigkeit der Einzelfläche insbesondere im Hinblick auf Stabilitätsversagen, desto kleiner ist die Einzelfläche zu wählen. Sofern der Werkstoff nicht selbst wärmedämmend ist, wie beispielsweise bei Composite-Werkstoffen mit einer ausreichenden Stärke der Kernschicht, benötigen Faltwerke in der Regel außenseitig eine Wärmedämmung. Von den monolithischen Beton-Faltwerken abgesehen, kommt der Fügetechnologie eine entscheidende Rolle sowohl in konstruktiver als auch in gestalterischer Hinsicht zu, denn die Kantenfügung stellt - von den Fußpunkten des Faltwerks abgesehen - das einzige Detail der Konstruktion dar und ist aus diesem Grund in hohem Maße gestaltprägend. Sie ist abhängig vom verwendeten Werkstoff und der Querschnittsbeschaffenheit der einzelnen Flächen. Grundsätzlich können lösbare und nichtlösbare Verbindungen unterschieden werden. Die Verbindung der Kanten von Holz-Faltwerken erfolgt in der Regel über Randhölzer, die miteinander verschraubt werden. Bei ausreichend dickem Querschnitt kann auch direkt in den Plattenquerschnitt geschraubt werden. Faltwerke aus Kunststoffen sind in der Regel über Flansche verschraubt und Faltwerke aus metallischen Werkstoffen können verschweißt, geschraubt oder vernietet werden. 4. Bautechnische Entwicklungen Das Prinzip der Faltung in tragstruktureller Funktion wurde insbesondere im Stahlbetonbau bereits sehr früh eingesetzt. Ein Beispiel sind Eugene Freyssinets Luftschiffhallen in Paris-Orly mit Grundrissabmessungen von 300 x 100 m (Fertigstellung 1924), die eine Faltung zur Stabilisierung der Oberfläche nutzen. Um dem Beulen der Schale bei asymmetrischen Einwirkungen entgegenzuwirken, wurde die Oberfläche in breite, trapezförmige Rippen unterteilt. Stahlbeton-Faltwerke in Ortbetonbauweise mit großen Einzelflächen und parallel verlaufenden Kanten wurden für Dachkonstruktionen mit großer Spannweite eingesetzt, beispielsweise beim Unesco-Gebäude in Paris. Die Einzelflächen von Faltwerken in Ortbetonbauweise können im Vergleich mit Kunststoff-Faltwerken und Stahl-Faltwerken groß sein, weil die Teilflächen nicht in Form von Halbzeugen industriell vorgefertigt werden und weil das Teilflächenbeulen bei Betonflächen nicht in dem Maße relevant ist wie bei sehr dünnwandigen Teilflächen. Ab den 1950er Jahren entstanden Faltwerke, die sich von den vergleichsweise einfachen prismatischen Formen lösten und das geometrische und gestalterische Potential der Faltwerke ausschöpften. Ein besonders expressives Beispiel ist die St. Paulus Kirche in Neuss-Weckhoven. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde eine Reihe von Beton-Faltwerken mit sehr anspruchsvoller Geometrie ausgeführt, bevor der Bau von Beton-Faltwerken - von Ausnahmen abgesehen - wie die Schalenbauweise zum Erliegen kam. Die Herstellung von Beton-Faltwerken kann prinzipiell auch in Fertigteilbauweise erfolgen. Bei der Festlegung der Faltwerkgeometrie sind die Transportabmessungen zu beachten. Für die Fertigteilbauweise eignen sich vor allem modular konzipierte Faltwerke, bei denen Teilflächen wiederholt vorkommen und die Schalung mehrfach eingesetzt werden kann. Eine entscheidende Rolle kommt bei den Fertigteil-Faltwerken der Fügetechnologie zu, die eine Übertragung der Beanspruchungen sicherstellen muss. Ein bemerkenswertes Faltwerk aus Betonfertigteilen ist die 1969 fertiggestellte, 146 m weit spannende Tonnenschale der tragwerksplanerisch von Ulrich Finsterwalder und Helmut Bomhard verantworteten Paketposthalle in München. Faltwerke aus Holz wurden ab den späten 1950er Jahren gebaut. Holz-Faltwerke werden häufig aus großformatigen Furniersperrholz- oder Brettsperrholzplatten konstruiert. Faltwerke mit großen Abmessungen der Teilflächen wurden realisiert, indem die Teilflächen als 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 45 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Sandwichkonstruktion mit einer innen liegenden Pfosten-Riegel-Konstruktion und äußeren Deckschichten ausgebildet wurden, beispielsweise das radiale Faltwerk der Kirche Zu den Heiligen Engeln in Landsberg. Ab den frühen 1960er Jahren wurde mit Faltwerken aus Kunststoffen experimentiert. Faltwerke sind eine für Kunststoffe in besonderem Maße geeignete Konstruktionsform, denn die geringe Steifigkeit der Kunststoffe kann durch die dreidimensionale Formgebung in optimaler Weise kompensiert werden. In herstellungstechnischer Hinsicht von Vorteil ist die modulare Geometrie vieler Faltwerke, weil der aufwendige Formenbau nur bei mehrfachem Einsatz wirtschaftlich vertretbar ist. Faltwerke aus Kunststoff wurden in der Vergangenheit fast ausschließlich unter Verwendung modularer, dreidimensional geformter GFK-Elemente konzipiert, die miteinander verschraubt wurden. Ein sehr gelungenes Beispiel ist das Kunststofffaltwerk für die Schwefelgewinnungsanlage Pomezia/ Rom. Die Beiträge der Gegenwart sind gekennzeichnet durch ingenieurwissenschaftliche Entwicklungen im Bereich der Werkstoffe und der Fügung. Das Potential der Bauweise zeigen vor allem experimentelle Prototypen. 5. Kunststoff-Faltwerk abk Ein Prototyp für werkstoffgerechtes Konstruieren ist das von der Klasse für Konstruktives Entwerfen der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (abk) entwickelte und in Eigenarbeit realisierte Kunststoff-Faltwerk (Abb. 3). In funktionaler Hinsicht als temporär Pavillon und Teehaus genutzt, ist das Kunststoff-Faltwerk ein architektonisches und ingenieurwissenschaftliches Experiment, mit dem die Einsatzmöglichkeiten von plattenförmigen Kunststoff-Halbzeugen für selbsttragende Gebäudehüllen nachgewiesen werden konnten. Abb. 3: Kunststoff-Faltwerk, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart Ein hochleistungsfähiges Tragwerkskonzept, eine komplexe Gemetrie, ein innovativer und hochwertiger Werkstoff und eine neue, speziell entwickelte Fügetechnologie sind die besonderen Kennzeichen des Experimentalbaus. Die innovative Ganzkunststoffkonstruktion besteht aus transluzenten Polycarbonat-Sandwichplatten mit Wabenkern, die mit einer Kombination aus lösbaren und nichtlösbaren Verbindungen mit Hilfe von Haftverschlüssen gefügt werden. Der Kunststoff-Pavillon besitzt im Grundriss einen Durchmesser von knapp 4 m und hat eine Hüllfläche von insgesamt ca. 22 m². Die Struktur des Pavillons ist modular aufgebaut und besteht aus acht identischen Teilsegmenten, die rotationssymmetrisch um eine vertikale Achse durch den Mittelpunkt des Pavillons angeordnet sind (Abb. 4). Das Faltwerk folgt dem Prinzip der radialen Rauten-Faltung. Der gesamte Pavillon besteht aus insgesamt lediglich vier verschiedenen Plattenformaten, die jeweils 16mal eingesetzt werden. Abb. 4: Modulare Bauweise Für die Einzelplatten der Teilsegmente werden mit einem speziellen Verfahren gefertigte, 19 mm dicke transluzente Kunststoff-Sandwich-Elemente aus Polycarbonat verwendet. Sie bestehen aus einem auf einer Kernziehanlage gefertigten Wabenkern und den Deckschichten, die auf einer Flachbettlaminieranlage miteinander verklebt werden. Das Flächengewicht beträgt lediglich 8,5 kg/ m 2 . Die Stabilisierung der vollständig aus Kunststoff bestehenden Struktur erfolgt über die Geometrie und eine kraftschlüssige Verbindung der Kanten. In der Mitte des Pavillons befindet sich eine Öffnung, um den Innenraum zu belichten. Für die Detailplanung bestimmend war die gestalterische und konstruktive Herausforderung, Sandwich-Platten mit nur 19 mm Dicke flächenbündig zu fügen. Die Einzelplatten der Teilsegmente sind in einer die Toleranzen berücksichtigenden, vorab festgelegten Reihenfolge teilweise mit einem Flüssigklebstoff verklebt und teilweise lösbar gefügt. Die Verbindung der Teilsegmente untereinander ist im Unterschied dazu lösbar ausgebildet, um einen Rück- und Wiederauf bau an einer anderen Stelle einfach bewerkstelligen zu können. Für die Fügetechnologie wurden Klebeverbindungen und Haftverschlüsse eingesetzt. Die maximalen Abmessungen geklebter Bauteile sind durch Transport und Montage vorgegeben. Eine Verklebung von Polycarbonat ist nur mit dünnflüssigen Lösungsmittelklebern möglich, die keinen Toleranzausgleich gestatten. Um unvermeidliche Herstellungstoleranzen berücksichtigen zu können, können bei jedem Einzelelement maximal zwei Kanten mit 46 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht den jeweiligen Nachbarkanten verklebt werden. Für die lösbaren Verbindungen wurde eine neuartige Fügetechnologie mit Hilfe von Haftverschlüssen individuell entwickelt (Abb. 5). Sie gewährleistet eine kraftschlüssige und gleichzeitig lösbare Verbindung ohne Verwendung von materialfremden Teilen. Abb. 5: Neuartige Fügetechnologie mit Haftverschlüssen Die Horizontalkräfte in den Auflagerpunkten wirken radial nach innen. Die konstruktive Ausbildung der Fußpunkte erfolgte konsequent entsprechend der Beanspruchung. Die Fußpunkte bestehen aus einem gekanteten Edelstahlblech auf der Innenseite des Kunststoff-Faltwerks, das auf eine Fußplatte mit kleiner Auflagerfläche geschweißt wurde. Die Fußplatte ist mit dem Podest über eine Schraubenverbindung verbunden. Die Druckkräfte aus werden über Kontakt in die Fußpunkte eingetragen. Fügetechnologie und Detailarbeit hatten bei diesem Projekt eine herausragende Bedeutung für die Qualität des Ergebnisses. Sie waren im vorliegenden Fall Voraussetzung für den Nachweis der gestalterischen und technischen Funktionsfähigkeit des Faltwerk-Konzepts. Das Beleuchtungskonzept nutzt die Transluzenz des Werkstoffs und lässt das Kunststoff-Faltwerk bei Nacht zu einer überwältigenden Erscheinung werden. Die Ganz-Kunststoffkonstruktion ist ein Prototyp für selbsttragende Gebäudehüllen aus Kunststoff. Sie leistet einen besonderen Beitrag zur Weiterentwicklung des werkstoffgerechten Bauens mit Kunststoffen und soll das Potential des Werkstoffes für zukünftige architektonische und ingenieurtechnische Anwendungen aufzeigen. 6. AKA-Wippe Für den Campus-Außenbereich hat die Klasse für Konstruktives Entwerfen und Tragwerkslehre der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart die AKA-Wippe, ein Faltwerk, bewegliches Freiraummöbel und Leichtbau-Forschungsprojekt in einem, entwickelt und gebaut (Abb. 6). Das experimentelle Möbelobjekt kombiniert die Werkstoffe Holz und Kunststoff funktional sinnvoll zu einer leistungsfähigen und innovativen Verbundkonstruktion. In statisch-konstruktiver Hinsicht bildet das Möbel ein ungewöhnliches Hybrid-Tragwerk aus Holz und Kunststoff mit komplexer Geometrie. Funktional hat das Objekt eine Doppelfunktion als Sitzmöbel und Wippe. Abb. 6: AKA-Wippe, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart In der Längsansicht ist das Sitzmöbel mit Grundrissabmessungen von 2.40 x 7.00 m unterseitig und oberseitig linsenförmig gekrümmt. Die unterseitige Krümmung ermöglicht es, mit dem Sitzmöbel Wippbewegungen durchzuführen (Abb. 7). Innen liegend verfügt das Objekt über einen in mehreren Stufen abgetreppten Sitzbeziehungsweise Liegebereich. Abb. 7: Freiraummöbel und Leichtbau-Forschungsprojekt Der untere Teil des Sitzmöbels ist aus architektonischen und baukonstruktiven Gründen in Holzbauweise gebaut. Die Bearbeitbarkeit und Beanspruchbarkeit des Werkstoffes in Verbindung mit seinen Oberflächeneigenschaften erwiesen sich als ideale Voraussetzungen für den im Gebrauch hochbeanspruchten Unterbau. Der obere Teil besteht aus einer einfach gekrümmten Kunststoff-Überdachung, die einen hinreichenden Witterungsschutz für die Sitzflächen und den witterungsempfindlichen Holzbau gewährleistet. Sie ist als ein Kunststoff-Faltwerk mit einer Fischgrätfaltung aus GFK-Sandwichelementen mit extrem geringem Eigengewicht gebaut (Abb. 8). Der Krümmungsradius der Überdachung beträgt ca. 6 m. Sie ermöglicht im Vergleich mit der verbreiteten Rautenfaltung bei vorgegebener Krümmung eine in statischer Hinsicht vorteilhafte größere Höhe der Faltung. In fertigungstechnischer Hinsicht vorteilhaft ist die im Vergleich mit anderen Faltmustern geringere Anzahl von aneinanderstoßenden Flächen in den Scheitelpunkten. Die Geometrie des Faltwerks sowie die Größe der Einzelplatten sind vor Fertigungsbeginn in einer Weise optimiert worden, dass der Verschnitt minimiert werden konnte. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 47 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Abb. 8: Explosionszeichnung AKA-Wippe Dachaufsicht Die Überdachung ist in der Tragwirkung einem Bogensegment vergleichbar, dessen Tragfähigkeit gegenüber den auch bei normalkraftbeanspruchten Tragwerken - beispielsweise bei halbseitiger Schneelast - unvermeidbaren Biegebeanspruchungen durch die Faltung in erheblichem Umfang erhöht ist. Die Faltung vergrößert also die statische Nutzhöhe und die Steifigkeit der Konstruktion. Die Auflagerkräfte der Kunststoff-Überdachung werden vom Holz-Unterbau aufgenommen beziehungsweise kurzgeschlossen. Die Kunststoff-Überdachung besteht aus industriell vorgefertigten 26 mm dicken Sandwichplatten mit Schaumkern. Die Deckschichten bestehen aus 1.5 mm dünnem GFK mit einer Faserverstärkung aus Textilglasmatten. Die 23 mm dicke PUR-Kernschicht mit einer Dichte von 40 kg/ m³ sorgt für das geringe Flächengewicht der Platten von nur 4.5 kg/ m². Die Überdachung mit einer Gesamtfläche von 20.2 m² ist in Längsrichtung mit einem konstanten Radius gekrümmt und hat einen Stich von 1.48 m. Das Kunststoff-Faltwerk besteht aus sechs gefalteten Einzelstreifen, die paarweise gespiegelt angeordnet sind. Die Einzelplatten haben - mit Ausnahme der Platten an den Bogenenden - infolge des Umstandes, dass der Krümmungsradius konstant ist, im Grobzuschnitt gleiche Abmessungen. Unter Berücksichtigung der Spiegelachse mussten lediglich die Gehrungswinkel der Plattenränder entsprechend gespiegelt zugeschnitten werden. Die Gesamtlänge der Fügekanten des Kunststoff-Faltwerks betrug 77 m. Für die kraftschlüssige Verbindung der Einzelflächen des Kunststoff-Faltwerks wurde eine neue Fügetechnologie entwickelt, denn ein direktes Verkleben der Schnittkanten mit offenem Schaumkern ist nicht möglich. Sie besteht in der stumpfen Verklebung von Fichtenleisten, die umlaufend in die Einzelteile des Faltwerks eingeleimt und kraftschlüssig mit den GFK- Deckschichten verbunden sind. Der Vorteil von Holzleisten liegt in dem Umstand, dass der Gehrungsschnitt nach dem Einkleben erfolgen kann. Für die Verklebung der Einzelplatten wurde der Klebstoff Weicon Flex 310 M Classic gewählt, der Klebespalten bis zu 5 mm überbrücken und gleichzeitig die Fugenabdichtung bilden kann. Der vor allem auch durch das Wippen hochbelastete Holzunterbau besteht aus einer leistungsfähigen, in Längsrichtung angeordneten, Holz-Rippenkonstruktion. Die vier Spanten geben die Querschnittsform des Unterbaus vor und sind seitlich über in Querrichtung eingefügte Stege stabilisiert, dies insbesondere auch im Hinblick auf Montagezustände. Sie bestehen aus jeweils drei 15 mm dicken, wetterfest verleimten OSB-Platten und besitzen eine Gesamtstärke von 45 mm. Eine untere und eine obere Beplankung aus Holzwerkstoffplatten ergänzt die Einzelteile zu einem tragfähigen Unterbau. Für die Beplankung sind ebenfalls 15 mm dicke OSB-Platten verwendet worden, die unmittelbar auf die Spanten geschraubt sind. In den Auflagerbereichen führt die Faltung des Daches zu einem in entsprechender Weise gezackten Randabschluss des hölzernen Unterbaus. Die Verbindung zwischen Sitzmöbel und Kunststoff-Dach erfolgt über ein mehrfach gekantetes 4 mm dünnes Edelstahl-Blech, das dem geometrisch komplexen Randverlauf angepasst und mit der hölzernen Spantenkonstruktion verschraubt ist. Die äußeren Flansche der Bleche bilden gleichzeitig die Auflager für die Sandwichplatten. Diese sind zur Aufnahme der Windsogbeanspruchungen mit dem Holz verklebt und verschraubt. Die Realisierung der AKA-Wippe erfolgte mit einem studentischen Team in Eigenleistung in den Werkstätten der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Die AKA-Wippe ist ein Prototyp für selbsttragende Gebäudehüllen aus Kunststoff in Ultra-Leichtbauweise. 7. Beton-Faltwerk Neue Mitte Gaiberg Für die Neugestaltung der neuen Mitte Gaiberg wurde der Sonderfall einer einseitigen Faltung konzipiert und baulich realisiert. Neben dem wegen des geneigten Geländes anspruchsvollen städtebaulichen Eingriffs mit seinen Freianlagen und Aufenthaltsflächen bildete ein eingeschossiger Neubau mit Gastronomie-Nutzung den Schwerpunkt der Baumaßnahme. Der kleine Neubau mit Grundrissabmessungen von ca. 8,7 m x 17,7 m beherbergt Gastronomie und Weinhandel. Vom umliegenden höheren Niveau der Ortschaft aus ist die Deckenkonstruktion des Neubaus von der Hauptstraße aus befahrbar und dient als Stellplatzfläche. Die Stahlbeton-Konstruktion des Neubaus wird im Gebäudeinneren als Sichtbeton-Konstruktion erlebbar (Abb. 9). 48 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Abb. 9: Beton-Faltwerk Neue Mitte Gaiberg (Objektplanung: Ecker Architekten, Tragwerksplanung: Engelsmann Peters GmbH) Der unbestrittene Blickfang des Neubaus sind eine gefaltete Deckenuntersicht und eine ebenfalls gefaltete Wandansicht in Sichtbetonbauweise (Abb. 10). Die beiden Faltungen stehen in einem unmittelbaren geometrischen Zusammenhang: die Faltung der Decke findet ihre logische geometrische Fortsetzung in der südwestlichen Wandebene. Das geometrische Grundmuster der gefalteten Tragstruktur ist eine Längsfaltung mit dreieckigen Einzelflächen. Abb. 10: Innenräumlich plastisch erlebbare Faltung Aus Gründen der Bauwerksentwässerung besitzt die Längsfaltung der Decke eine leichte Neigung in Richtung Gebäuderückseite. Statisch-konstruktiv stellt die nur innenräumlich ausgebildete und erlebbare Faltung eine hinreichende Konstruktionshöhe zur Verfügung. Nach oben gestattete die Nutzung der Gebäudedecke als Stellplatzfläche keine Ausbildung und Erlebbarkeit einer Faltung. Die Deckenkonstruktion spannt einachsig in Gebäudequerrichtung und kragt über der nordöstlichen Fassadenebene aus. Die Bauhöhen der Deckenkonstruktion bewegen sich zwischen 26 und 46 cm, die Stärke der Wandkonstruktion zwischen 30 und maximal 50 cm. Im Bereich der Sichtbeton-Faltung wurden erhöhte Anforderungen an die Rissbreitenbeschränkung berücksichtigt. Architektonisch ermöglicht die Faltung dem Nutzer von innen und außen ein außergewöhnliches, beinahe plastisches Raumerlebnis. Im Bereich der Glas-Fassade werden die Auflagerkräfte der Deckenkonstruktion in Deckenspannrichtung durch in Fassadenrichtung verlaufende Unterbzw. Überzüge aufgenommen. Die an zwei Seiten verlaufenden Dachrandelemente in Form von Stahlbetonüberzügen haben absturzsichernde Funktion für den oben liegenden Stellplatzbereich. Die Schalung der Sichtbetonwand- und Dachkonstruktion ist vom Schreiner auf Grundlage einer sorgfältigen Schal- und Bewehrungsplanung mit höchster Präzision gefertigt worden (Abb. 11). Die anspruchsvolle Bewehrungsführung ist vollumfänglich dreidimensional konzipiert. Abb. 11: Schalung und Bewehrung in qualitätvoller handwerklicher Ausführung Innenarchitektonisch ist die Beleuchtung flächenbündig in die Sichtbetonkonstruktion integriert worden. Sanitärräume, Lager und Haustechnik verschwinden hinter Holzwänden, die gefaltete Betonplastik kann ihre Wirkung frei entfalten, sie wird auf diese Weise zum raum- und gestaltprägenden Element. Die großzügig verglasten Fassadenbereiche auf zwei Seiten ermöglichen Sichtbezüge in Richtung Platz und Terrassen. Die plastisch erlebbare Faltung der Betonkonstruktion leistet einen Beitrag dazu, dass Gaiberg einen qualitativ hochwertigen, öffentlichen urbanen Aufenthaltsraum bekommen hat, der als eine soziale Mitte funktioniert und auch für Veranstaltungen genutzt werden kann. Das Projekt Neue Ortsmitte Gaiberg erhielt eine Hugo-Häring-Auszeichnung vom BDA Baden-Württemberg. 8. Schlußbemerkung Faltwerke ermöglichen es bei richtiger geometrischer Ausbildung, komplexe Räume, ausdrucksstarke Formen und selbstragende Gebäudehüllen mit einem vergleichsweisen geringen Materialeinsatz zu realisieren. Sie sind grundsätzlich in unterschiedlichen Materialitäten denkbar. Experimentelle Prototypen haben neue Entwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf Geometrie, Materialität und Fügetechnik aufgezeigt. Für die Zukunft in Reichweite gerückt ist auch die Entwicklung einer kontinuierlichen digitalen Prozesskette, die von der parametrischen Erzeugung der Geometrie über die Bemessung mit Finite-Elemente-Programmen bis zur Fertigung reicht. Neben den klassischen Faltwerken existieren Sonderformen, beispielsweise hybride Tragwerke, die im Hinblick 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 49 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht auf Geometrie und Tragverhalten Merkmale sowohl von Schalen als auch von Faltwerken aufweisen. Einen sehr anspruchsvollen und noch wenig erforschten Sonderfall bilden Faltwerke, die aus gekrümmten Teilflächen bestehen (curved folding). Das Potential des geistreichen und materialsparenden Konstruktionsprinzips der Faltwerke und seine architektonischen Spielräume sind noch nicht ausgeschöpft. Literatur [1] Stephan Engelsmann, Stefan Peters: Sichtbeton- Faltungen für eine neue Ortsmitte. ingbw aktuell 09/ 2023, S. 4-5. [2] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding: Der geistreiche Trick des Faltens: ein leistungsfähiges Konstruktionsprinzip. Detail structure 02/ 2017, S. 4-10. [3] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding, Stefan Peters: Kunststoffe in Architektur und Konstruktion. Birkhäuser, Basel Boston Berlin, 2010. [4] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding: Ein prototypisches Kunststoff-Faltwerk mit neuartiger Fügetechnologie. Stahlbau 78, 2009, Heft 4, S. 227-31. [5] Stephan Engelsmann, Valerie: Freiraummöbel und Hybridtragwerk mit Erlebnisfaktor. Bauen mit Holz 5.2013, S. 26-29. Bildnachweis Abb. 1: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 2: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 3: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 4: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 5: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 6: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 7: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 8: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 9: © Brigida Gonzaléz Abb. 10: © Brigida Gonzaléz Abb. 11: © Ecker Architekten 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 51 Über schwebende Bänder zu den Zügen - die Verteilerstege in Stuttgarts neuem Hauptbahnhof Dominik Nimführ, M. Sc. Werner Sobek AG, Stuttgart Dipl.-Ing. Angelika Schmid Werner Sobek AG, Stuttgart Zusammenfassung Der neue Hauptbahnhof in Stuttgart wird durch drei große Brückenbauwerke - die sog. Verteilerstege - erschlossen. Die Verteilerstege dienen neben der Erschließung der Bahnsteige auch als ebenerdiger Übergang vom Bonatzbau in Richtung des nordöstlich des Bahnhofs gelegenen Rosensteinquartiers und ermöglichen den Zugang zur neu errichteten Stadtbahn-Haltestelle Staatsgalerie. Die Verteilerstege wurden mit einem möglichst schlanken Tragwerk konzipiert, um die Blickbeziehungen in der Bahnhofshalle so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Die Abmessungen der Stege variieren, um bestmöglich auf die jeweils erwarteten Fußgängerströme zu reagieren. Die begehbaren Flächen der Verteilerebenen sind dabei wesentlich größer als bei gängigen Fußgängerbrücken. Das Tragwerk besteht aus Stahl- und Stahlbetonbauteilen, welche entsprechend den Materialeigenschaften und den architektonischen Anforderungen eigenständig und im Verbund miteinander eingesetzt werden. Im Wesentlichen werden die Verteilerstege durch Zugstäbe (sog. Hänger) vom Schalendach abgehangen. In Bereichen besonders großer Spannweiten wird das Tragwerk durch schmale Stützen ergänzt, die auf den Bahnsteigen stehen. Die Verteilerstegebene besteht aus drei separaten Verteilerstegen: - Verteilersteg A: ca. 31-m x 81-m - Verteilersteg B: ca. 61-m x 81-m - Verteilersteg C: ca. 8-m x 74-m, mit seitlichem Zugang 22-m Abb. 1: Statisches Berechnungsmodell des Verteilerstegs B (Werner Sobek AG) Das Schalendach weist aufgrund seiner Geometrie und der gegebenen Randbedingungen ein sehr komplexes Verformungsverhalten auf. Dieses überträgt sich über die am Schalendach befestigten Hänger auf die Verteilerstege. Auf Grund der unterschiedlichen Steifigkeiten im Bereich der Kelche, der Deckenflächen und der Bahnhofswände verformen sich die Stege dabei nicht gleichmäßig. Dadurch entstehen Differenzverformungen zwischen den Hängerfußpunkten und den vertikalen Lagern auf der Trogwand und der Stützen und Treppenauflager im Bereich der Bahnsteige, die es planerisch zu berücksichtigen galt. Für die Nach-Justierung der Stege wurde deshalb ein Konzept entwickelt, das genau vorgibt, wann das Tragwerk nachgestellt werden muss und welche Randbedingungen aus tragwerksplanerischer und betrieblicher Sicht eingehalten werden müssen. Dies beinhaltet u. a. eine detaillierte Beschreibung in welcher Reihenfolge die Hänger um welchen Betrag nachgestellt werden müssen. Für die Messung der Kräfte in den Zugstäben wurde zusätzlich ein Monitoringkonzept entwickelt. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 53 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung Alex Seiter, M. Sc. RWTH Aachen University Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Trautz RWTH Aachen University Zusammenfassung Leichtbaukonzepte werden in verschiedenen Branchen wie der Automobil- oder der Luft- und Raumfahrtindustrie genutzt, um Materialverbrauch und Betriebsenergie zu reduzieren. Dies geschieht durch gezielte Formgebung und angepasste Bauteilgeometrien zur Erhöhung des Widerstands gegenüber definierten Beanspruchungen. Mit wachsendem Druck auf ressourcenschonende Bauweisen in der Bauwirtschaft gewinnen Leichtbausysteme auch in dieser Branche wieder an Bedeutung. Dem hohen Energieaufwand bei der Herstellung von Metallen steht die hohe Rezyklierfähigkeit gegenüber. Neue Planungstools und Prozesskombinationen reduzieren sowohl den Entwicklungsals auch den Fertigungsaufwand wodurch diese Systeme auch für Individualbauteile relevant werden. In diesem Beitrag werden die Potentiale von Leichtbausystemen durch individuelle Formteile aus Blech anhand des Air Foil Pavilion dargelegt. Das betrachtete System basiert auf doppellagigen Paneelen, die aus metallischen Basishalbzeugen, mittels Streckziehverfahren und inkrementeller Blechumformung hergestellt werden. Der Pavillon wurde auf dem Campus der RWTH Aachen errichtet. 1. Einführung In der Automobilindustrie sowie in der Luft- und Raumfahrt werden Leichtbaupotenziale bereits umfangreich ausgeschöpft, um Material- und Energieressourcen optimal auszunutzen [1][2]. Ein zentraler Ansatz ist, auf Beanspruchung nicht durch erhöhten Materialeinsatz, sondern durch gezielte Formgebung und angepasste Bauteilgeometrie zu reagieren [3][4]. Abb. 1 zeigt beispielhaft ein durch Tiefziehen hergestelltes versteiftes Karosseriebauteil. Abb. 1: Blechformteil einer Karosserie Die Architektur hingegen steht vor der Herausforderung, die projektoptimierte Fertigung individueller Bauwerke zu bewältigen, während der Druck für ressourcenschonende Bauweisen zunimmt [5]-[7]. Das wachsende Bewusstsein für einen sparsamen Umgang mit den begrenzten Ressourcen führt zu einer materialbewussten, werkstoffgerechten und damit auch ressourcenschonenden Bauweise. Neben dem Materialverbrauch selbst spielt auch die benötigte Energie zur Herstellung eine relevante Rolle. Auf der einen Seite ist der Energiebedarf für die Gewinnung von Metallen sehr hoch, auf der anderen Seite können Metalle mit deutlich geringerem Energieaufwand verlustfrei rezykliert werden. Deswegen ist zwischen neu produziertem Primärmetall und rezykliertem Sekundärmetall zu unterschieden. Neben dem enormen Leichtbaupotential wiegt auch ein Einsparpotential von grauer Energie gegen die ressourcenintensive Herstellung metallischer Flächenhalbzeuge auf. Während in der Automobilindustrie der hohe Fertigungs- und Entwicklungsaufwand durch die hohen Stückzahlen relativiert wird, kompensieren in der Luft- und Raumfahrt die Treibstoffeinsparungen den Kostenaufwand [3]. In der Bauwirtschaft allerdings sind die hohen Kosten bei einer Kleinserien- oder sogar Einzelfertigung bisher kaum durch Vorteile auszugleichen gewesen [3][4]. Neue Fertigungstechnologien und Planungstools haben ein hohes Potenzial für projektoptimierte Bauteillösungen sowie die Vorfertigung von Einzelstücken und machen auch individualisierte Bauteile für den Markt interessant. Der Einsatz von Stahl im Bauwesen war über viele Jahre von engen Vorgaben hinsichtlich der einsetzbaren Halbzeuge geprägt. Im digitalen Zeitalter ist es nunmehr möglich, nicht nur auf Seiten der Produktion, sondern auch auf Seiten des Entwurfes, der Darstellung, der Planung und der Konstruktion Prozessketten zu erstellen, mit deren Unterstützung hochindividualisierte Blechbauteile erzeugt werden können, die wiederum Teil von individualisierten Bauwerken sind. Mit diesen Mitteln lassen sich Leichtbaukonstruktionen aus Blech mit individuellem Design erstellen, wie zwei Prototypen, die an der RWTH Aachen in Kooperation des Lehrstuhls Tragkonstruktionen und dem Institut für Bildsame Formgebung entstanden sind, eindrücklich demonstrieren [8]-[10]. Die neuartige Bauweise aus Feinblech ermöglicht eine bisher unerreichte Vielfalt an Formen im Stahlbau und erweist 54 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung sich als äußerst materialsparend sowie rezyklierfähig und erfüllt damit Kriterien des nachhaltigen Bauens. 2. Entwicklung eines doppellagigen Paneelsystems für kontinuierlich gekrümmte Flächen Entwickelt wurde ein doppellagiges Paneelsystem, dessen Komponenten aus metallischen Basishalbzeugen, mittels Streckziehverfahren und inkrementeller Blechumformung hergestellt werden. Das entwickelte System zeichnet sich durch einen effektiven Lastabtrag, auch bei Biegebeanspruchungen und die Möglichkeit Abbildung jeglicher Oberflächenkrümmung aus, ohne die zugrunde liegende Referenzgeometrie vereinfachen oder approximieren zu müssen. Das System ermöglicht aufgrund seiner hohen strukturellen Leistungsfähigkeit selbsttragende Fassaden und Tagkonstruktionen. Die Tragfähigkeit ergibt sich aus zwei Blechlagen, die über eingeformte konische Details miteinander verbunden sind und so einen schubfesten und biegemomenttragfähigen Auf bau ergeben [10]. Der Auf bau ist in Abb. 2 dargestellt. Die notwendigen Steifigkeiten der Bauteile werden durch Umformung und nicht durch Materialzugabe erzeugt. Dies entspricht den Prinzipien des Leichtbaus. Abb. 2 links: strukturelle Lage oben und Decklage unten, rechts: gefügte Paneele Die beiden Blechlagen werden im Bereich der Konenspitzen über Schweißbolzen zu Paneelen gefügt. Die Paneele werden über Einnietmuttern und Schrauben miteinander verbunden. Beide Fügetechniken lassen sich einfach lösen und ermöglichen einen einfachen Rückbau. Durch die Monomaterialität ist die Rezyklierbarkeit uneingeschränkt gegeben. Die Fügungen können statisch so ausgelegt werden, dass ein kontinuierlicher Lastabtrag gewährleistet wird. Eine flexible hybride Prozesskette, die die Umformverfahren Streckziehen (SZ) und inkrementelles Blechumformen (IBU) kombiniert, ermöglicht eine wirtschaftliche Produktion durch geringe Werkzeugbindung und reduzierte Prozesszeiten. Neben dem Streckziehprozess und der IBU kann auch die Fräsung des Werkzeugblocks sowie auch der Beschnitt und die erforderlichen Bohrungen zur Fügung der einzelnen Lagen der Paneele in einem einzigen Maschinenauf bau realisiert werden. Der Maschinenauf bau basiert auf einer 5-Achs-CNC Maschine, die durch vier Streckbacken erweitert wurde (Abb. 3). Abb. 3: Modifizierte 5-Achs-CNC-Fräse: Kombiniert Streckziehen, Inkrementelle Blechumformung, Beschnitt und Bohrung sowie Fräsen des Formwerkzeugs 2.1 Kombination von Streckziehen und IBU Grundsätzlich können durch die Kombinationen der beiden Umformprozesse lokale und globale Einformungen oder Krümmungen in kurzmöglichster Zeit realisiert werden ohne die Notwendigkeit zur Herstellung aufwendiger Formwerkzeuge oder Matrizen (siehe Abb. 4). Dies ermöglicht aus der Sicht der Fertigung auch die wirtschaftliche Herstellung von Bauteilen, die nur einmal gefertigt werden. Abb. 4: SZ und IBU auf einer Matrize aus MDF, oben: Fräsen des Formwerkzeugs und Spannen des Bleches, unten: Streckziehen und Ausformen der Konen mit IBU Beim Streckziehen (SZ) wird ein flaches Blech über eine Matrize gezogen, um die gewünschte Form zu erhalten. Dazu wird das Blech über Streckziehbacken bis in den plastischen Zustand vor gedehnt und wie eine Folie über die gewünschte Form gezogen. Durch den plastischen Zustand sind die Kräfte auf der Matrize nur sehr gering, was die Anforderungen an die Selbige vor allem bei geringen Stückzahlen pro Form minimal hält. Der Prozess ermöglicht die schnelle und effiziente Herstellung von Teilen mit komplexen Formen, da der Prozess automatisiert und in großem Maßstab durchgeführt werden kann. Durch die präzise Steuerung von Druck, Temperatur und Geschwindigkeit kann eine hohe Formtreue erreicht werden. Streckziehen kann für alle in der Bauindustrie relevanten Metal- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 55 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung len und Legierungen angewendet werden, darunter Stahl, Aluminium sowie rostfreier Stahl. Die inkrementelle Blechumformung (IBU) ist ein Fertigungsverfahren, bei dem Bleche schrittweise und lokal umgeformt werden, indem ein starres Werkzeug kontinuierlich kleine Bereiche des Blechs in die gewünschte Form drückt. Im Gegensatz zu herkömmlichen Umformverfahren, bei denen das gesamte Blech auf einmal umgeformt wird, geschieht dies bei der IBU in kleinen Schritten bzw. Inkrementen. Bei der IBU wird das Blech von einem Werkzeug (Stempel) in eine Form (Matrize) gepresst. Auch dieser Prozess kann vollautomatisiert bei gleichzeitig geringer Anforderung an die Matrize durchgeführt werden. 3. Integrale Planungs- und Fertigungskette anhand parametrischer Modelle Die integrale Planungs- und Fertigungskette sorgt für die nahtlose Verbindung aller Schritte von dem Entwurf bis zur Fertigung eines Produkts. Sie beinhaltet eine enge Verknüpfung zwischen den verschiedenen Phasen des Produktionsprozesses, um Effizienz und Qualität zu maximieren. Im Rahmen dieses Konzepts spielt die Parametrisierung eine entscheidende Rolle. Die Parametrisierung ermöglicht es, Modelle flexibel anzupassen, indem Parameter oder variable Werte verwendet werden, um bestimmte Merkmale oder Dimensionen zu variieren. Anstatt jedes Bauteil einzeln zu entwerfen, können parametrische Modelle verwendet werden, um verschiedene Versionen desselben Bauteils zu erstellen, indem bestimmte Parameter angepasst werden. Bei parametrischem Input ermöglichen die individualisierten Umformtechniken, Bauteile individuell an die Anforderungen oder Spezifikationen anzupassen. Diese Techniken ermöglichen es, auf spezifische Anforderungen einzugehen und gleichzeitig effiziente Fertigungsprozesse aufrechtzuerhalten. Abb. 5: Funktionsdiagramm der integralen Prozesskette Insgesamt zielt die integrale Planungs- und Fertigungskette darauf ab, die Effizienz und Flexibilität in der Produktentwicklung und Fertigung zu maximieren, indem die Planung und Fertigung eng miteinander verknüpft werden und auf flexiblen Modellen und Techniken basieren. Die einzelnen Schritte der Prozesskette sowie die verwendeten Softwareumgebungen und Schnittstellen können der nachfolgenden Abbildung (Abb. 5) entnommen werden. Das Ergebnis einer funktionierenden Integralen Kette entspricht einem File-to-Factor Prozess Um neben der Herstellbarkeit die Funktionalität der Bauteile sicherzustellen sind Umformsimulationen sowie Analysen zum strukturellen Verhalten in die Kette inkludiert. 4. Realisierung des Airfoil Pavilion Zur Validierung der Herstellbarkeit und der Funktionalität des Paneelsystems wurde der Airfoil Pavilion, eine auf vier Punkten gelagerte Schale mit einer Spannweite von 9,00-m, realisiert (Abb. 6). Die überspannte Fläche beträgt 64-m². Die beiden Blechlagen sind jeweils 0.8-mm stark womit das geringe spezifische Eigengewicht von 16-kg/ m² erreicht wird. Die Schalenstärke am Rand verjüngt sich auf null. Abb. 6: Rendering Airfoil Pavilion Der Airfoil Pavilion soll die strukturelle Leistungsfähigkeit (ausgelegt für volle Wind- und Schneelasten nach DIN EN 1991) und das mögliche Formenspektrum (alle Gaußschen Krümmungstypen vorhanden) des Systems aufzeigen. Die Struktur setzt sich aus 144 zweilagigen Paneelen zusammen. Aufgrund der Rotationssymmetrie der Schale ergeben sich 36 unterschiedliche Bauteile. 4.1 Geometrie und Bauteildefinition Die Geometrie des Airfoil Pavilion wurde aus einer Hängeform abgeleitet, die mittels der Methdode der dynamischen Netzrelaxation unter Belastung durch Eigengewicht ermittelt wurde. Die Hängeform gewährleistet, dass die Beanspruchung unter Eigengewichtslast hauptsächlich Normalkraftbeanspruchungen erzeugt, resultierende Biegemomentenbeanspruchungen ergeben sich ausschließlich aus einer Windbelastung. Die aerodynamische Form des Schalenrandes reduziert die Angriffsfläche des Windes und damit dessen resonanzinduzierende Wirkung. Der Abstand zwischen den Blechlagen wurde entsprechend gewählt, um sensible Stellen bezüglich der Biegebeanspruchung zu verstärken. Die näherungsweise quadratische Grundrissform der Schale erlaubte eine gleichmäßige Tesselierung in gleichseitige Paneelgeometrien durch gleichmäßige Interpolation. Trotz unterschiedlicher Seitenlängenverhältnisse 56 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung und Krümmungen werden Netzsingularitäten vermieden, da alle Paneele die gleiche Topologie aufweisen. Die Gestaltung des Airfoil Pavilion stellt die höchstmöglich realisierbaren Anforderungen an die Geometrie, die durch kontinuierliche Krümmungsverläufe ohne Unstetigkeiten gekennzeichnet sind. Das Geometriespektrum umfasst dabei alle Gauss‘sche Krümmungen, darunter synklastische (kuppelförmige) und antiklastische (hyperbolische) Krümmungen. Für die Montage sowie die Funktionalität sind nur geringer fertigungsbedingte Geometrieabweichungen tolerierbar. Abb. 7: Geometrieabweichung der ungefügten Blechlagen (links) und eines gefügten Paneels (rechts) Die Auswertung eines eingescannten Paneels (Abb. 7) zeigt, dass die Geometrieabweichung der strukturellen Lage (mit Konen) mehr als doppelt so hoch ist als die der Decklage (ohne Konen). 50 % der Abweichungen entstehen demnach aus der inkrementellen Blechumformung und 50 % aus der Rückfederung nach dem Streckziehprozess. Durch die Fügung der beiden Lagen zum Panel verringert sich die Gesamtabweichung auf ein tolerierbares Maß. 4.2 Minimierung des Werkzeugmaterials Als Matrize für die Umformprozesse dient ein MDF- Block, der für jede Bauteilgeometrie schrittweise abgefräst wird. Abb. 8: Iterationsschritt zur Optimierung der Bauteilorientierung im Bauraum und der Fertigungsreihenfolge der Paneele Um den Material- und Herstellungsaufwand für die erforderlichen Matrizen zu reduzieren, wurde ein spezieller Algorithmus entwickelt. Dieser Algorithmus basiert auf Parametern zur Ausrichtung der Paneele im Bauraum sowie der Fertigungsreihenfolge der herzustellenden Paneele und zielt darauf ab, den Fräsaufwand für jedes nachfolgend ausgeformte Paneel zu minimieren. Durch diese Vorgehensweise konnte das benötigte Material für der Matrize deutlich gesenkt und die Fräszeit minimiert werden. In Abb. 8 ist das Zwischenergebnis eines Iterationsschritts des Optimierungsalgorithmus dargestellt. 4.3 Experimentelle und numerische Analyse des Strukturverhaltens Zur Festlegung der Konendichte und Paneelhöhe wurden umfangreiche Untersuchungen zum Beul und Verformungsverhalten unterschiedlicher Paneelgeometrien in einer Parameterstudie durchgeführt. Exemplarisch wird in Abb. 9 die Beulform eines gekrümmten Paneels unter gleichförmigen Randspannungen gezeigt. Die Parameterstudie auf Basis der FEA umfasste 128 verschiedene Parameterkombinationen, mit deren Hilfe neben diesen direkt beeinflussbaren Geometrieparametern (Abstand, Neigungswinkel Konus, etc.) sich auch indirekte Einflussparameter bestimmen ließen, die Einfluss auf die Tragfähigkeit haben, wie etwa die effektive Länge des ungestützten Blechbereichs zwischen den Konenspitzen [11]. Abb. 9: Numerisch ermittelte Beulform eines Paneels mit 16 Konen Es wurden der Einfluss der Konenanzahl pro Paneel, deren Neigungswinkel sowie das Verhältniss von Konen- Grundfläche zu Paneel-Grundfläche, untersucht. Aus diesen Parametern ergeben sich automatisch unterschiedliche Paneelhöhen. Die Paneelhöhe war somit kein direkter einstellbarer Parameter. Die Ergebnisse wurden mit Ergebnissen von umfangreichen Biege- und Stabilitätsversuchen im Bauteilmaßstab verglichen. Anhand dieses Vergleichs konnten die Finite- Elemente-Analysen validiert werden. Per Definition sind Leichtbaukonstruktionen nicht nur durch ihr Eigengewicht signifikant beansprucht, sondern durch andere Belastungen wie Schnee, vor allem aber 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 57 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung durch Wind. Mittels der Finite-Elemente-Analyse lassen sich die Auswirkungen dieser Belastungen hinreichend analysieren, um die strukturelle Integrität der Konstruktion zu gewährleisten. Im Rahmen dieser Analysen wurde ein detailliertes Berechnungsmodell auf Grundlage der oben genannten Modelle der Einzelpaneele erstellt, das sämtliche Randbedingungen und Lasten mithilfe eines parametrischen Modells berücksichtigt. Das parametrische Modell ermöglicht es, verschiedene Szenarien effizient zu untersuchen und potenzielle Schwachstellen zu identifizieren. Neben der Spannungsanalyse sind aufgrund der Dünnwandigkeit der Konstruktion Stabilitätsuntersuchungen von größter Relevanz [12]. Dazu kamen lineare und nichtlineare Analysen zum Einsatz, um sicherzustellen, dass lokale Beulverformungen im elastischen Zustand nicht zu einer Instabilität der Gesamtstruktur führen und Lastreserven durch Lastumlagerung aktiviert werden können [12]. Für die Durchführung der Tragsicherheits- und Gebrauchstauglichkeitsnachweise wurden die geltenden technischen Regeln, insbesondere die DIN 1993-1-7, berücksichtigt. Dabei wurde ein nichtlineares Werkstoff- und Strukturverhalten sowie geometrische und strukturelle Imperfektionen einbezogen, um eine realitätsnahe Analyse durchzuführen [13]. Abb. 10: Fluiddynamische Untersuchungen an der Prototypstruktur, oben: Ansicht der Strömungslinien parallel zum Wind, unten: Ansicht der Strömungslinien quer zum Wind Zusätzlich wurden fluidmechanische Simulationen durchgeführt, um den Einfluss des Windes genau zu erfassen und die daraus resultierenden Ersatzlasten im Finite-Elemente-Modell zu berücksichtigen (Abb. 10). Die Ergebnisse dieser Simulationen liefern dieGrenztragfähigkeit der Struktur sowie Werte zur Nachweisführung gegen Beulen und kritische Verformungen. Die Grenztragfähigkeit ergab sich aus dem Minimum der einzelnen Nachweise. Es erfolgten globale und lokale Spannungs-, Beul und Verformungsnachweise (Abb. 10) der Struktur sowie Scher- und Lochleibungsnachweise für die Verbindungsmittel. Es ergab sich in der Simulation eine maximale Traglast in Höhe der 5,72-fachen Bemessungslast, bevor lokales Beulversagen eintritt. Abb. 11: Gesamtverformung im mm - Draufsicht (links) und Seitenansicht (rechts), Maximalwert: 14,85-mm 5. Ergebnisse Die Integration moderner CAD-Methoden und die Anwendung innovativer Umformungsprozesse eröffnen neue Horizonte für den Einsatz von Leichtbaukonzepten im Bauwesen und der Architektur. Trotz der typischen Einzelfertigung im Bauwesen ermöglichen parametrische Techniken und digitale Werkzeuge eine effiziente digitale Prozesskette. Diese erleichtert die Handhabung komplexer Geometrien und Konstruktionen und optimiert somit den Planungsprozess für maßgeschneiderte Bauteile. Die generierten Datensätze dienen nicht nur der Beschreibung und Konstruktion, sondern ermöglichen auch eine detaillierte Analyse sowie eine präzise umformtechnische Produktion von Blechleichtbaukonstruktionen. Durch die geschickte Anwendung von Verfahren wie der Inkrementellen Blechumformung in Verbindung mit dem Streckziehen wird die Produktion und Umformung von Metallteilen weiter vergrößert. Die Realisierung von Bauteilen in Losgröße „Eins“ wird dadurch ökonomischer. Ein echter File-to-Factory Prozess ermöglicht die nahtlose Umsetzung der Bauteile eines Blechleichtbau- Demonstrators vom digitalen Entwurf bis zur fertigen Produktion von Blechbauteilen. 58 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung Abb. 12: Demonstrator in Frontansicht, Perspektive und Innenansicht 6. Fazit und Ausblick Mit der Realisierung des Demonstrators konnte die statische Leistungsfähigkeit, die Stimmigkeit der Prozessabläufe und die Herstellbarkeit für das System geprüft und validiert werden. Mit den erzielten Ergebnissen konnte die Eignung des Systems zur Anwendung im Bauwesen bewiesen werden und die Vorzüge des Bauens mit Feinblech aufgezeigt werden. Abb. 13: Versteifungspattern für einlagige uniaxiale Systeme Neben den bereits entwickelten Systemen und der Umsetzung an konkreten Tragstrukturen wurden Konzepte für einlagige Systeme untersucht. Dabei werden mit demselben Herstellungsprozess unterschiedliche Pattern in die Bleche eingeformt. Ziel dabei ist eine ungerichtete Flächentragwirkung, die das Einsatzgebiet bereits bestehender Systeme wie u. a. dem Trapezbleches erweitert [14]. Für eine ungerichteten Lastabtrag sind die Versteifungspattern verzahnt anzuordnen, eines der getesteten Pattern ist exemplarisch in Abb. 10 zu sehen. Die statische Leistungsfähigkeit reicht nicht an die zweilagigen Systeme erweitert jedoch das Produktportfolio für leichte Blechsysteme. Literatur [1] Wiedemann, J. Leichtbau 1: Elemente, 2., neubearb. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer, 1996. [2] Wiedemann, J. Leichtbau 2: Konstruktion, 2., neubearb. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer, 1996. [3] Klein, B. Leichtbau-Konstruktion. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2013. [4] Ochsner, A. Leichtbaukonzepte anhand einfacher Strukturelemente. Berlin, Heidelberg: Springer, 2019. [5] Cushing, L. (2014) Henry J. Kaiser, geodesic dome pioneer, Kaiser Permanente [6] Hachul, H. (2008) BLOBMASTER - Freie Formen aus Stahlblech, Stahlbau 77, H. 11, S. 822-823. [7] Castaneda, E. et. al (2015) Free-form architectural envelopes: Digital processes opportunities of industrial production at a reasonable price, Journal of Façade Design and Engineering 3, S. 1-13. [8] Bailly, D.; Bambach, M.; Hirt, G.; Pofahl, T.; Della Puppa, G.; Trautz, M. (2015) Investigation on the Producibility of Freeform Facade Elements of Sheet Metal as Self-Supporting Structures by Means of Incremental Sheet Forming. Beitrag zu einem Tagungsband in METEC & 2 nd ESTAD 2015, 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 59 Potentiale im Leichtbau durch individuelle Formteile aus Blech - Integrale Planung und Fertigung European Steel Technology and Application Days, Düsseldorf, Germany. [9] Pofahl, T.; Della Puppa, G.; Trautz, M.; Bailly, D.; Hirt, G. (2014) A new concept for freeform shell structures composed of doubly curved multilayered panels. Beitrag zu einem Tagungsband in the annual IASS Symposium and the 6 th Latin American Symposium on Tension Structures, Brasilia, Brasil. [10] Seiter, A.; Pofahl, T.; Trautz, M.; Reitmaier, L.-M.; Hirt, G.; Bailly D. (2019) Design and Analysis of Freeform Shell Structures Composed of Doubly Curved Sheet Metal Panels. Beitrag zu einem Tagungsband in Form and Force 60 th Anniversary Symposium of the International Association for Shell and Spatial Structures/ Structural Membranes 2019, Barcelona, Spain, S. 60-67. [11] Seiter, A.; Pofahl, T.; Trautz, M.; Reitmaier, L.-M.; Bailly, D. and Hirt, G., Sheet Metal Shells, in 14. Baustatik Baupraxis., ser. Baustatik Baupraxis, vol.- 14, Institut fur Baustatik und Baudynamik, Universitat Stuttgart, 2020, pp. 439-446. [12] Petersen, C. Statik und Stabilitat der Baukonstruktionen: Elasto- und plasto-statische Berechnungsverfahren druckbeanspruchter Tragwerke: Nachweisformen gegen Knicken, Kippen, Beulen. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 1982. [13] Trautz, M.; Pofahl, T.; Seiter, A.; Hirt, G.; Reitmaier, L.-M. and Bailly, D.; Leichtbaukonstruktionen aus Feinblech, Stahlbau, vol. 91, no. 6, pp.-375-384, 2022. [14] Pofahl, T.; Seiter, A.; Trautz, M.; Reitmaier, L.- M.; Bailly, D. and Hirt, G.; Form Finding of aSheet Metal Shell by Generative Design and Pareto Optimization, in Advances in Architectural Geometry, Berlin; Boston: De Gruyter, 2023, pp. 269-382. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 61 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen Daniel Ferger, M. Eng. Peikko Deutschland GmbH, Waldeck Einleitung In unseren Metropolen wird es immer enger. Die hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum ist derzeit eine der zentralen Herausforderungen in Deutschland. Die Ziele der Bundesregierung, 400.000 neue Wohnungen zu bauen, wurden im Jahr 2023 weit verfehlt. Dabei wird von einem dringlichen Bedarf von mehr als 1,5 Millionen zusätzlichen Wohnungen gesprochen. Allein durch Aufstockungen und Umnutzung von Bestandsgebäuden könnten 2 bis 3 Millionen neue Wohnungen entstehen und das ohne neue Flächen erschließen und versiegeln zu müssen. Schlanke, leichte und dennoch sehr leistungsfähige Deckensysteme sind bei Aufstockungen im Bestand von Nutzen. Hier kann der Verbundbau entscheidende Vorteile bieten. Vor allem der Mix aus den Baustoffen Stahl, Beton und Holz bringt viele positive Effekte mit sich. Geringes Eigengewicht, nachhaltige Bauweise und durch den jeweiligen Verbund der Materialien untereinander entstehen sehr hohe Tragfähigkeiten bei schlanker Konstruktionshöhe. 1. Motivation & Potenzial 1.1 Motivation Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist, vor allem in Metropolregionen, Ballungsräumen sowie Groß- und Universitätsstädten, mittlerweile ein bekanntes Problem. Diese Entwicklung wird durch inländische und ausländische Wanderungsbewegungen verstärkt. Die Zuzüge aus dem Ausland haben in den letzten Jahren stark zugenommen [Abb. 1]. So beträgt die Netto-Zuwanderung Ende 2022 ca. 1,5 Millionen Menschen [2]. Abb. 1: Wanderung zwischen Deutschland und dem Ausland (Quelle: Statistisches Bundesamt) Ferner setzt sich der Trend seit Dekaden fort, dass junge Generationen verstärkt für Ihre Ausbildung, Studium oder Berufseinstieg in Metropolen und Großstädte ziehen [ Abb. 2]. Abb. 2: Binnenwanderungssaldo nach Altersgruppen (Quelle: Statistisches Bundesamt) Die Motivation ist daher klar: Zeitnah bezahlbaren Wohnraum schaffen. 1.2 Potenzial Eine weitere Versiegelung von Freiflächen durch die Erschließung neuer Baugebiete hätte weitreichende negative Folgen für die Umwelt und das Klima. Eine systematische Nachverdichtung, vor allem in Form von Aufstockungen, hat das Potenzial dem Wohnraummangel entgegenzuwirken, ohne die Versiegelung weiterer Freiflächen in Kauf zu nehmen. Die Bundesregierung reagierte bereits auf die zunehmende Flächenversiegelung und setzte sich das sogenannte „30-Hektar-Ziel“, nach dem täglich nur noch dreißig Hektar, statt derzeit 60 Ha, neue Freiflächen für Siedlungs- und Verkehrsflächen in Anspruch genommen werden sollen. Die zwei-Deutschlandstudien 2016 und 2019 der Technischen Universität Darmstadt und des Pestel Instituts Hannover untersuchten, wie es gelingen kann, zusätzlichen Wohnraum einschließlich der dazugehörigen sozialen und technischen Infrastruktur zu schaffen und dabei bereits versiegelte Flächen durch Aufstockungen oder Umnutzungen effizienter zu nutzen. 62 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen Im Rahmen der Studien wurden verschiedene Typologien in Innenstädten in ungesättigten Wohnungsmärkten betrachtet, bei denen Möglichkeiten der Umnutzung oder Aufstockung bestehen. Aus den Untersuchungen ergaben sich folgende Potenziale: • 1,1 bis 1,5 Mio. Wohneinheiten auf Wohngebäuden der 1950er bis 1990er-Jahre • 20.000 Wohneinheiten oder soziale Infrastruktur auf Parkhäusern der Innenstädte • 560.000 Wohneinheiten durch Aufstockung von Büro- und Verwaltungsgebäuden • 350.000 Wohneinheiten durch Umnutzung des Überhangs (Leerstand) von Büro- und Verwaltungsgebäuden • 400.000 Wohneinheiten auf den Flächen von eingeschossigem Einzelhandel, Discountern und Märkten, bei Erhalt der Verkaufsflächen Insgesamt bieten die betrachteten Gebäudetypologien somit ein Potenzial von 2,3 Mio. bis 2,7 Mio. Wohnungen. 2. Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen 2.1 Verbundbau und daraus resultierende Vorteile Beim Verbundbau werden verschiedene Bauteile aus wechselnden Materialien mittels Verbundmitteln kraftschlüssig miteinander verbunden. Neben dem bereits etablierten Stahl-Beton-Verbundbau trifft man heute auch immer mehr auf den Holz-Beton-Verbundbau. Eine neuere Sonderform bezeichnet den Hybridbau, bei dem der Stahl-Beton-Verbundbau mit dem Holz-Beton-Verbundbau kombiniert wird. Abb. 3: Holz-Beton-Verbund in Kombination mit Stahl- Beton-Verbund (Quelle: Peikko) Der Verbundbau bringt auch bei Aufstockungen viele Vorteile mit sich. Zum Beispiel das geringe Eigengewicht der Deckenkonstruktion. Im Vergleich zur konventionellen Stahlbetonbauweise kann das Deckensystem ca. 40 % leichter werden. Die Reduktion des Eigengewichts kann im Bestand entscheidend sein. Dadurch werden alle tragenden Bestandsbauteile entlastet und müssen ggf. nicht ertüchtigt werden. Neben der Holzhybridbauweise bietet die Kombination Spannbeton-Fertigdecke mit DELTABEAM ® ebenfalls den Vorteil des geringen Eigengewichts. Abb. 4: Spannbeton-Fertigdecke in Kombination mit Stahl-Beton-Verbund (Quelle: Peikko) Ferner wird durch die Slim-Floor-Bauweise Konstruktionshöhe eingespart. Dies führt zu weniger Fassadenfläche und umbauten Raum. Bei Neubauten ist es durch die geringere Konstruktionshöhe oft möglich weitere Geschosse bei gleichbleibender Gebäudegesamthöhe auszuführen. Das bedeutet für den Bauherren entsprechend mehr Fläche, die vermietet oder verkauft werden kann. Abb. 5: Vergleich der Gebäudehöhe zwischen Brettschichtholzbalken und DELTABEAM® (Quelle: Peikko) Entscheidet sich der Bauherr für die optimierte Gebäudehöhe [links in Abb. 5] so spart er deutlich an Volumen ein. Das eingesparte Volumen führt zu deutlich weniger Heiz- und Kühlkosten und somit erheblich weniger CO 2 - Emissionen. Im Lebenszyklus eines Gebäudes werden ca. zweidrittel der CO 2 -Emissionen während der Nutzung des Gebäudes emittiert [6, Abb. 6]. Damit bietet die Slim-Floor-Bauweise unter anderem im Hinblick auf die Nachhaltigkeit einen entscheidenden Vorteil im Vergleich zu herkömmlichen Deckensystemen. Nachfolgend ein vereinfachtes Zahlenbeispiel hinsichtlich des Einsparpotenzials der Konstruktionshöhe: Ein deckengleicher DELTABEAM ® in einer 30 cm hohen HBV-Decke (Holz 20 cm, 10 cm Beton) erreicht im Zustand I (t = 0) problemlos eine Trägersteifigkeit von ca. 165-MNm². Um mit Holz (GL28h) diesen Wert erreichen zu können, muss der Balken folgende Abmessungen aufweisen: Annahme: b Holz = 40 cm 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 63 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen Man stellt fest, dass die Höheneinsparung, insbesondere im Vergleich zu Linienlager ohne Verbundansatz, sehr groß ist. Abb. 6: Verteilung der CO2-Emissionen eines Gebäudes über den Lebenszyklus (Quelle: DGNB 2021) Abb. 7: Reduktion des Gebäudevolumens (Quelle: Peikko) 2.2 Funktionsweise und Anwendung Häufig stoßen gute Ideen in der Praxis auf berechtigte Widerstände, da sie in der Realität nicht oder nur schwierig und mit negativen Auswirkungen auf andere Bereiche umsetzbar sind. Nicht so beim Verbundbau. Die Kombination von Stahl und Beton kennen wir seit Jahrzehnten. Wir wenden sie schadensfrei im Stahlbetonbau an. Dabei mussten wir lernen, auf verschiedene Besonderheiten, wie z. B. eine ausreichende Betonüberdeckung für die Dauerhaftigkeit, zu achten. Die Kombination aus Stahl und Beton ist bereits in den Regelwerken erfasst. Hier sei die DIN EN 1994-1-1 und DIN EN 1994-1-2 [3, 4] sowie Bauartgenehmigungen wie die Z-26.2-49 und Z-26.2-64 der Firma Peikko genannt [5]. Abb. 8: klassischer Verbundquerschnitt (Quelle: Wikipedia - Verbundbau) Eine Weiterentwicklung des Verbundbaus, speziell für besonders hohe Biegeschlankheiten entwickelt, wird von der Firma Peikko angeboten. Abb. 9: trapezförmiger Verbundquerschnitt (Quelle: Peikko DELTABEAM®) Bei diesem System wird der Träger (DELTABEAM ® ) in die Höhenlage des Deckenquerschnitts verschoben. Je nach Spannweitenverhältnissen und Deckensystemen kann damit eine deckengleiche oder eine teilintegrierte Bauweise erreicht werden. Aus dieser Weiterentwicklung des Verbundbaus ergeben sich folgende Vorteile: 1. Brandschutzanforderungen bis R120 können ohne weitere Maßnahmen, wie Beschichtungen oder Verkleidungen, wirtschaftlich erfüllt werden. 2. Konstruktionshöhen können bis zur Deckengleichheit reduziert werden. 3. Ebene Deckenuntersichten erlauben reduzierte Bauhöhen und großflächige Installations- und Belichtungsmöglichkeiten. Der Verbundträger verfügt über eine Allgemeine Bauartgenehmigung (Z-26.2-49): 64 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen Abb. 10: Deckblatt zu Z-26.2-49 (Quelle: Peikko) 2.3 Brandschutz Heutige Anforderungen an den Brandschutz sehen vor, dass Gebäude einen Feuerwiderstand über eine gewisse Branddauer einhalten. Die rechnerisch anzunehmende Branddauer richtet sich dabei nach der Gebäudenutzung sowie den Gebäudeklassen gemäß den jeweiligen Landesbauordnungen. Die Grundlage für die Bemessungsansätze bildet die sogenannte Einheitstemperaturzeitkurve ETK (Normbrandbeanspruchung). Die Brandbemessung des trapezförmigen Verbundträgers kann keiner aktuell verfügbaren Norm entnommen werden. Hierzu wurden im Rahmen einer Bauartgenehmigung komplexe Finite-Elemente-Berechnungen herangezogen, die die Bemessung im Brandfall analog der Allgemeinen Bauartgenehmigung Z-26.2-49 ermöglichen. Dabei werden werkseitig in den Verbundquerschnitt eingelegte Sekundärbewehrungen für die Nachweise im Brandfall herangezogen. Diese Bewehrung weist aufgrund der Einbindung in den umgebenden Beton deutlich geringere Temperaturen als der direkt beflammte Untergurt auf. Abb. 11: Isothermen bei Brandbeanspruchung (Quelle: Peikko) Über den Ansatz der reduzierten Werkstoffkennwerte nach EN 1994-1-2 kann das innere Kräftegleichgewicht hergestellt und die notwendigen Spannungssowie Verformungsnachweise geführt werden [vgl. Abb. 12 und 13]. Abb. 12: Reduktionsfaktoren für Baustahl im Brandfall (Quelle: EN 1994-1-2, Beuth) Abb. 13: Brandreduzierter Querschnitt zur Ermittlung der positiven Momententragfähigkeit - beispielhaft (Quelle: Z-26.2-49, Peikko) An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass reaktive Brandschutzbeschichtungen auf Stahlbauteilen keinen dauerhaften Brandschutz darstellen [7]. Der komplette Wortlaut wird in Abbildung 14 wiedergegeben. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 65 Mehrwert im Bestand - Schlankes Bauen mit Slim-Floor Konstruktionen Abb. 14: Technische Mitteilung 09b/ 002 (Quelle: [7] Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik e.V.) 2.4 „Grüner“ Stahl - DELTABEAM ® Green Neueste Entwicklungen machen es möglich, dass der Verbundträger aus über 97 % recyceltem Stahl hergestellt werden kann. Dadurch werden die Klimaauswirkungen und das globale Erwärmungspotential weiter und signifikant reduziert. Im Vergleich zu einem aus normalem Baustahl hergestellten trapezförmigen Verbundträger fallen nur etwa 50 % der CO 2 -Emissionen an. 3. Zusammenfassung Die hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum in Städten, die durch Zuzüge und den Bildungsbedarf der jungen Generationen weiter steigt, stellt eine wachsende Herausforderung dar. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, bietet die Nachverdichtung und Umnutzung von bestehenden Gebäuden und Flächen eine vielversprechende Lösung. Untersuchungen zeigen, dass durch diese Maßnahmen bis zu 2,7 Millionen neue Wohneinheiten geschaffen werden könnten. In diesem Kontext gewinnen Slim-Floor Konstruktionen an Bedeutung. Diese innovative Bauweise, bei der Stahl und Beton effizient kombiniert werden, bringt mehrere Vorteile mit sich. Zum einen ermöglicht sie durch ihr geringeres Gewicht das Aufstocken von Gebäuden, ohne die bestehenden Strukturen zu überlasten. Dies führt zu einer kosteneffizienten Bauweise und reduziert gleichzeitig die CO 2 -Emissionen durch den Einsatz von weniger Baumaterial. Darüber hinaus erfüllen diese Konstruktionen die strengen Brandschutzanforderungen und bieten durch ihre flexiblen Design- und Bauhöhen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. So können moderne und nachhaltige Wohnräume geschaffen werden, die den aktuellen und zukünftigen Anforderungen an Wohnraum gerecht werden. Literatur [1] HEINZE GmbH/ BauNetz [2] Statistisches Bundesamt (DESTATIS) [3] DIN EN 1994-1-1 2010-12, Beuth [4] DIN EN 1994-1-2 2010-12, Beuth [5] Allgemeine Bauartgenehmigung Z-26.2-49 DEL- TABEAM ® Verbundträger, 2020-25, Peikko Group OY, DIBt [6] DGNB [7] Technische Mitteilung 09b/ 002 der Bundesvereinigung der Prüfingenieure für Bautechnik e.V 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 67 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. (FH) Jürgen H. R. Küenzlen LL. M., M. A., M. A. Adolf Würth GmbH & Co. KG, Künzelsau Dipl.-Ing. (FH) Eckehard Scheller ISB Block und Becker Beratende Ingenieure PartGmbB, Bochum Dipl.-Ing. Hermann Hamm Glasstatik Hamm - Ingenieurbüro für Baustatik Glas und Stahlbau, Gelnhausen 1. Einleitung Im Bereich der Fensterbefestigungen gewinnen absturzsichernde Fensterelemente eine immer größere Bedeutung (Bild-1). Man vergisst allerdings im praktischen Baualltag bzw. bei der Planung der Befestigung eines absturzsichernden Fensterelements allzu oft, dass es sich bei einem solchen Fenster, auch beim Einsatz eines „Fenstergeländers“ (Bild-5), baurechtlich nicht mehr nur um ein „einfaches“ Lochfenster, sondern um eine bauliche Sicherung gegen einen Absturz handelt. Eine solche Sicherung muss vor der Montage entsprechend geplant und bemessen werden! Insbesondere bei der Bemessung der Fensterbefestiger sind dafür unterschiedliche Regelwerke zu beachten. Schwerpunkt dieses Beitrags ist ein Praxisbeispiel (Abschnitt 6): Für ein bodentiefes absturzsicherndes Fenster mit Drehkippflügel wird die Befestigung eines Fensterbzw. Glasgeländers direkt auf dem Blendrahmen des Fensters und zugehörigem statischen Nachweis vorgestellt. Bild 1: Beispiel für bodentiefes absturzsicherndes Fenster mit Drehkippflügel und auf dem Blendrahmen aufgeschraubtem Fenstergeländer 2. Aktuelle Regelungen für die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen 2.1 Allgemeines Bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen treffen zwei „Interessen“ aufeinander,: • Zum einen besteht der Wunsch, durch möglichst große Fenster möglichst viel Tageslicht in ein Gebäude zu lassen. Darüber hinaus sollen mit den Fenstern in der kälteren Jahreszeit durch die Sonneneinstrahlung auch energetische Wärmegewinne generiert werden. Zusätzlich erfordert heutzutage das barrierefreie Bauen, dass Fensterbrüstungen so niedrig sein müssen, damit z. B. Menschen, die im Rollstuhl sitzen, besser aus dem Fenster schauen können (vgl. Küenzlen et al., 2022, S. 13, Abschnitt 2.5). • Zum anderen ist die Tragfähigkeit von Fensterbefestigern in modernen Wandbaustoffen, z. B. in Mauerwerk aus filigranen Lochsteinen und/ oder wärmedämmenden Mauersteinen mit geringer Rohdichte sehr begrenzt, weshalb in Folge auch die Fenstergröße für den statischen Nachweis von absturzsichernden Fensterelementen und deren Befestigung „endlich“ ist. 2.2 Musterbauordnung (MBO) und Landesbauordnungen (LBOen) Allgemein ist nach der Musterbauordnung [siehe hierzu in Musterbauordnung (2020) §38] eine Umwehrung als Absturzsicherung erforderlich (vgl. „UH“ in Bild-2), wenn ein festgelegter Höhenunterschied zwischen Verkehrsflächen besteht (vgl. „AH“ in Bild-2). Verkehrsflächen sind solche Flächen, auf denen sich Personen (sowohl in öffentlichen als auch in privaten Bereichen) auf halten können. Der Höhenunterschied zwischen diesen Verkehrsflächen, ab dem Umwehrungen vorzusehen sind, ist, mit Ausnahme von Bayern, in allen Bundesländern mit > 1 m definiert; in der Bayerischen Bauordnung (BayBO, Artikel 36) sind dagegen „Flächen, die im Allgemeinen zum Begehen bestimmt sind und unmittelbar an mehr als 0,50 m tiefer liegende Flächen angrenzen“ zu umwehren, d. h. mit einer Absturzsicherung zu versehen. 68 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen OK FFB = Oberkante Fertigfußboden UH = Umwehrungshöhe AH = Absturzhöhe (vgl. MBO §38: „Höhenunterschied zwischen Verkehrsflächen“) Bild 2: Absturz- und Umwehrungshöhe für absturzsicherndes Fensterelement nach Bild-1. Hinweis: Die Details der jeweiligen LBO sind zu beachten! Die erforderlichen Brüstungs- und Umwehrungshöhen werden in den Vorschriften der Länder als Mindesthöhe über der jeweiligen Verkehrsfläche angegeben. Gemessen wird in der Regel von Oberkante Fertigfußboden. Für die Brüstungshöhe (BH) ist in der Regel die Oberkante der raumseitigen Fensterbank maßgebend (vgl. RAL Gütegemeinschaft, 2020, S. 162, Abschnitt 5.3.2). Allerdings sind in einzelnen Bundesländern Abweichungen zu beachten, wobei ggf. zusätzlich noch die Brüstungstiefe zu berücksichtigen ist. Bei absturzsichernden Fensterkonstruktionen beträgt die erforderliche Umwehrungshöhe (Höhe des lastabtragenden Holmes bzw. Querriegels) UH = 0,90 m bis zu Absturzhöhen von AH = 12 m. Bei größeren Absturzhöhen ist UH = 1,10 m einzuhalten (vgl. Küenzlen et al., 2022, S. 15, Abschnitt 2.5, Tabelle 2.1). Neben den bauordnungsrechtlichen Vorschriften sind, sofern es sich um Arbeitsstätten handelt, auch die Technischen Regeln für Arbeitsstätten ASR A2.1 (2018) zu beachten. Hier ist die Holmhöhe bis zur Absturzhöhe von 12 m mit 1,00 m festgelegt. Ggf. können auch noch andere Regelwerke (z. B. Schulbau-Richtlinien) maßgebend werden. 2.3 ETB-Richtlinie - Bauteile, die gegen Absturz sichern 2.3.1 Allgemeines und Einbaubereiche Die im Jahre 1985 veröffentlichte ETB-Richtlinie „Bauteile, die gegen Absturz sichern“ (ETB, 1985) wird ausführlich in Küenzlen et al. (2022, S. 102, Abschnitt 8.3) vorgestellt, soweit sie für die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen relevant ist, so dass hier nur noch einmal die wichtigsten Punkte herausgehoben werden: Die Richtlinie ist bis heute, d. h. über 37 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, eine eingeführte technische Baubestimmung (siehe DIBt MVV TB, 2021/ 1, Teil A, S. 11, lfd. Nr. A 1.2.1.3) und damit noch immer unverändert gültig. Sie unterscheidet zwei Einbaubereiche für raumabschließende Bauteile, Brüstungen, Umwehrungen und dergleichen (ETB, 1985, Abschnitt 2): • Einbaubereich 1: Wohnungen, Hotel- oder Büroräumen usw. mit geringer Menschenansammlung. • Einbaubereich 2: Größere Versammlungsräume, Schulräume usw. mit großen Menschenansammlungen. Weiterhin unterscheidet die Richtlinie bei der Belastung der Bauteile, die gegen Absturz sichern, zum einen in „horizontale, statische Lasten“ und zum anderen in „stoßartige Belastungen“ (ETB, 1985, Abschnitte 3.1 und 3.2). 2.3.2 Horizontale, statische Lasten Für den Einbaubereich 1 sind als „horizontale Last (Linienlast)“ 0,5 kN/ m und 1,0 kN/ m für den Einbaubereich 2 in einer Höhe von 90 cm über dem Fußboden anzusetzen. Bei Geländern ist die Last auf Holmhöhe anzusetzen, auch wenn die Holmhöhe von 90 cm abweicht. Die Windlasten sind mit diesen Lasten zu überlagern (ETB, 1985, Abschnitt 3). Gemäß DIBt MVV TB (2021/ 1, Teil A, S. 20, Anlage A 1.2.1/ 8) sind bei der Anwendung der ETB-Richtlinie aktuell u. a. auch noch die zwei folgenden Punkte zu beachten: 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 69 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen • „Sofern sich nach DIN EN 1991-1-1: 210-12 in Verbindung mit DIN EN 1991-1-1/ NA: 2010-12 größere horizontale Linienlasten ergeben, müssen diese berücksichtigt werden.“ • „Anstelle des Satzes „Windlasten sind diesen Lasten zu überlagern“ gilt: „Windlasten sind diesen Lasten zu überlagern, ausgenommen für Brüstungen von Balkonen und Laubengängen, die nicht als Fluchtwege dienen“ Der rechnerische Nachweis der „horizontalen statischen Lasten“ (Bezeichnung nach ETB-Richtlinie) bzw. der „horizontalen Nutzlast“ (Bezeichnung nach DIN EN 1991-1-1/ NA) für die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen wird in Abschnitt 5.1.1 dargestellt. Bezüglich der Überlagerung der horizontalen Nutzlast (Holmlast) mit den Windlasten wird auf die Ausführungen in Abschnitt 5.1.2 hingewiesen. 2.3.3 Stoßartige Belastung Für die Differenzierung von Personen und Gegenständen, die auf absturzsichernde Bauteile einwirken können, unterscheidet die ETB-Richtlinie den „weichen Stoß“ und den „harten Stoß“ (für Details siehe ETB, 1985, Abschnitte 3.2.2 und 3.2.3). Bauteile der Einbaubereiche 1 und 2 (vgl. Abschnitt 2.3.1) dürfen bei weichem oder hartem Stoß nicht insgesamt zerstört oder örtlich durchstoßen werden. Nach dem Stoß sind folgende Bedingungen einzuhalten (ETB, 1985, Abschnitt 3.2.1): a. Die Standsicherheit der Bauteile muss erhalten bleiben. b. Das Bauteil darf nicht aus seiner Halterung herausgerissen werden. c. Bruchstücke, die Menschen ernsthaft verletzten können, dürfen nicht herabfallen. d. Das Bauteil darf von den in der Richtlinie definierten Lasten in seiner gesamten Dicke nicht durchstoßen werden. Grundsätzlich ermöglicht die Richtlinie die Nachweise für „Bauteile, die gegen Absturz sichern“ gemäß Tabelle-1. Tabelle 1: Nachweise für „Bauteile, die gegen Absturz sichern“ nach ETB (1985) Nachweis siehe ETB (1985) Abschnitt …. weicher Stoß Rechnerischer Nachweis 3.2.2.2.1 Nachweis durch Versuche 3.2.2.2.2 harter Stoß nur Nachweis durch Versuche 3.2.3 Für die Befestigung am Bauwerk braucht der harte Stoß nicht nachgewiesen zu werden (ETB, 1985 Abschnitt 3.2.2.2.3). Für baupraktische Fälle genügt der Nachweis des weichen Stoßes, bei dem nachgewiesen wird, dass das Befestigungselement für diesen Fall eine größere Widerstandskraft besitzt als 2,8 kN (ETB, 1985 Abschnitt 3.2.2.2.3). Zum rechnerischen Nachweis der Befestigung macht die ETB-Richtlinie folgende Aussage (ETB, 1985 Abschnitt 3.2.2.2.3): „Als Widerstandskraft darf die Kraft angesetzt werden, bei der ein Versagen gerade noch nicht eintritt.“ Im aktuellen Leitfaden zur Planung und Ausführung der Montage von Fenstern und Haustüren wird die Widerstandskraft von 2,8 kN wie folgt definiert (RAL Gütegemeinschaft, 2020, S. 163, Abschnitt 5.3.2): „Bruchlast, nach heutiger Auslegung ist dies die statistisch ermittelte, charakteristische Tragfähigkeit ohne Berücksichtigung von Sicherheiten“ Das Prinzip für den rechnerischen Nachweis der stoßartigen Belastung für die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen wird in Abschnitt 5.2.2 und im Praxisbeispiel (Abschnitt 6) dargestellt. 3. Baurechtliche Grundlagen für die Befestigung am Bauwerk 3.1 Allgemeines Es sollte selbstverständlich sein, dass bei der normativen Forderung eines Standsicherheitsnachweises für die Verglasung eines Fensters auch die Weiterleitung der zu verankernden Lasten im tragenden Verankerungsgrund (Bauteil) nachzuweisen sind. In DIN 18008-1: 2020-05, als Teil der Normenreihe DIN 18008, heißt es daher in Abschnitt 8.1.1 wie folgt: „Für die Nachweise der Glasbefestigung, Unterkonstruktion, Befestigung am Gebäude, usw. gelten die einschlägigen technischen Regeln.“ 3.2 Grundlagen für den statischen Nachweis Die Abtragung/ Weiterleitung der Lasten, die auf absturzsichernde Fensterelemente einwirken, vom Fensterelement in den tragenden Baukörper bzw. die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen am tragenden Baukörper (wobei mit „Baukörper“ i. d. R. die Gebäude- Außenwand gemeint ist) kann daher im Prinzip nur auf Grundlage der folgenden vier Regelungen statisch nachgewiesen und entsprechend ausgeführt werden: 1. Verwendung von Befestigungssystemen, die über eine „Zulassung“ (abZ/ aBG und/ oder ETA) verfügen. Die Bemessung/ der statische Nachweis dieser Systeme erfolgt auf Grundlage der in der abZ/ aBG und/ oder ETA angegebenen bauaufsichtlich eingeführten Bemessungsregeln. 2. Verwendung von Befestigungssystemen, die über eine abZ/ aBG und/ oder über ETA verfügen, wobei der konkrete Anwendungsfall nicht von der abZ/ aBG 70 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen und/ oder ETA abgedeckt ist. Ergänzend wird hier eine „vorhabenbezogene Bauartgenehmigung (vBG)“ erforderlich. 3. Verwendung von Befestigungssystemen, die nicht über eine abZ/ aBG und/ oder über ETA verfügen: Das ungeregelte System und dessen Anwendung für den konkreten Einzelfall werden über eine „Zustimmung im Einzelfall (ZiE)“ geregelt. 4. Verwendung eines (Befestigungs-) Systems z. B. aus einem „Maueranker“ (siehe in RAL Gütegemeinschaft, 2020, S. 133 ff., Abschnitt 5.1.2.3 mit Tabelle-5.7) und einem zugelassenen Dübel. Hierbei kann der Rechteckquerschnitt des „Mauerankers“ aus genormten Stahl (z. B. S235) nach geltender Stahlbau- Normung bemessen werden. Für den zugelassenen Dübel gilt Punkt 1 dieser Aufzählung. Kann der „Maueranker“ nicht nach geltender Stahlbau-Normung bemessen werden (z. B. besonders profilierter Stahlquerschnitt), gelten für den „Maueranker“ ebenfalls die Punkte 1 bis 3. Auch die Bemessung der Verglasung nach DIN 18008- 4 impliziert, dass man den Lastfluss der Einwirkungen auf die absturzsichernde Verglasung im Prinzip immer von der Einwirkungsstelle der Stoßlast bis in den tragenden Baugrund verfolgen und nachweisen muss und dass man nicht einfach bei der Nachweisführung der Befestigung unterbrechen bzw. abbrechen darf („Nachweiskette“; vgl. z. B. in Küenzlen et al, 2022, S. 101/ 102). Statisch bemessen werden können aber nur - wie bereits zuvor erwähnt-- zugelassene Befestigungssysteme bzw. solche, die über eine ZiE bzw. eine vBG geregelt werden. 4. Produktbeispiele 4.1 Allgemeines Hier wird als Fensterbefestiger die AMO Combi Schraube in Verbindung mit der entsprechend zugehörigen Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS oder W-UR 10 XXL (Abschnitt 4.2) vorgestellt. Soll die Absturzsicherung eines Fensterelements z. B. durch ein Fensterbzw. Glasgeländer realisiert werden, das direkt auf dem Blendrahmen des Fensters montiert wird (vgl. Bild-5), so muss zusätzlich zur Befestigung des Blendrahmens am Baukörper auch die Befestigung des Fenstergeländers am Blendrahmen nachgewiesen werden, was z. B. für das Befestigungssystem BS 100 auf Grundlage dessen Zulassung möglich ist (Abschnitt 4.3). Beide „Befestigungssysteme“ verfügen jeweils über eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung/ allgemeine Bauartgenehmigung, die sowohl die Produkte selbst als auch die Verbindung mit dem Fensterrahmen (PVC mit Stahlarmierung, Holz oder Aluminium) regelt. 4.2 AMO-Combi Schraube mit Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS oder W-UR 10 XXL Die AMO-Combi Schraube mit Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS oder W-UR 10 XXL (Bild-3) wird aktuell in der „Zulassung“ abZ/ aBG AMO-Combi (2022) geregelt. Die am 23. August 2022 erteilte, erweiterte und ergänzte Zulassung kann nun auch für die Befestigung von absturzsichernden Elementen verwendet werden. Bild 3: AMO-Combi Schraube mit Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS (a) oder W-UR 10 XXL (b) Bild 4: Allgemein bauaufsichtlich zugelassenes System z. B. als Kombination aus AMO Combi Schraube und Kunststoff-Dübelhülse zur Verbindung von Fensterrahmen mit dem Verankerungsgrund bei einer absturzsichernden Verglasung [siehe auch für weitere mögliche Kombinationen abZ/ aBG AMO-Combi (2022, Anlage-7)] 4.3 Befestigungssystem BS 100 zur lastabtragenden und absturzsichernden Befestigung von Anbauteilen an Fensterrahmenprofilen Brüstungsgeländer werden umgangssprachlich auch als „französische Balkone“ bezeichnet. Die Geländer-Ausfachungen solcher „französischen Balkone“ können z. B. als Stabgeländer, Lochblech-Füllungen oder Glas-Ausfachungen ausgeführt werden. Die gleichen Geländer können auch direkt auf dem Blendrahmen des Fensterelements befestigt werden, was im Praxisbeispiel dieses Beitrags (Kapitel 6) exemplarisch für ein Fensterbzw. Glasgeländer (Bild-5) gezeigt wird. Hierbei wird die Verglasung des Brüstungsgeländers an den zwei Vertikalkanten links und rechts über U-förmige Glashalteprofile aus Aluminium-Strangpressprofilen gelagert. Diese Glashalteprofile werden nach abZ/ aBG BS 100 (2021, S.4, Tabelle 1) je nach Material des Fensterprofils an mindestens 2 Befestigungspunkten je Seite über das Befestigungssystem BS 100 mit dem Fensterblendrahmen verschraubt. Das Befestigungssystem BS 100 besteht dafür jeweils aus einer M16-Gewindestange aus nichtrostendem Stahl mit Innengewinde M8, die über einen Innensechskant zur Montage in das vorgebohrte Blendrahmenprofil eingeschraubt wird. Im Innengewinde M8 können dann über geeignete Schrauben die Glashalteprofile - oder alternativ z. B. ein Stahlgeländer wie für einen französischen Balkon - befestigt werden. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 71 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Bild 5: Beispiel für die Befestigung eines Fensterbzw. Glasgeländers auf dem Blendrahmen eines absturzsichernden Fensterelements, wobei der Fensterflügel aus Übersichtsgründen nicht mit dargestellt ist (Bildquelle: febatec) Hierbei regelt die abZ/ aBG BS 100 (2021) nur die Verbindung des Geländers mit dem Fensterrahmen. Die absturzsichernde Befestigung des Fensterrahmens am Baukörper kann z. B. durch die AMO-Combi Schraube mit Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS oder W-UR 10 XXL nach Abschnitt 4.2 realisiert werden (vgl. Bild-3). 5. Nachweisführung für die Befestigung 5.1 Nachweis der horizontalen Nutzlast (Holmlast) 5.1.1 Lastannahmen für horizontale Nutzlasten (Holmlasten) In der ETB-Richtlinie [siehe ETB (1985) im Abschnitt 3.1] wurden die „horizontalen, statischen Lasten“ bzw. die „horizontalen Lasten (Linienlasten)“ für die Einbaubereiche 1 und 2 differenziert (vgl. hier Abschnitt 2.3.2). In der modernen Normung ist dagegen für die „Bereichseinteilung“ DIN EN 1991-1-1 mit dem zugehörigen nationalen Anhang DIN EN 1991-1-1/ NA maßgebend. Gemäß DIN EN 1991-1-1/ NA, Tabelle 6.12DE, Fußnote (2) sind die horizontalen Nutzlasten nach in Absturzrichtung in voller Höhe und in Gegenrichtung mit 50-%, mindestens jedoch mit 0,5 kN/ m anzusetzen. Damit sind die entsprechenden Befestigungen im Bereich des Holmes für folgende Einwirkung (F ED ) aus der horizontalen Linienlast zu bemessen: (1) F ED = q k · g Q mit: q k ≥ 0,5-kN/ m beachte DIN EN 1991-1-1/ NA, Tabelle 6.12DE: charakteristische horizontale Nutzlast (Holmlast) g Q = 1,5 Teilsicherheitsbeiwert für unabhängige veränderliche Einwirkung mit ungünstiger Auswirkung nach DIN EN 1990/ NA, Tabelle NA.A.1.2(B) Gemäß Abschnitt 2.2 sind ggf. auch noch andere Regelwerke maßgebend (vgl. Küenzlen et al., 2022, S. 110, Abschnitt 8.5.2.1). 5.1.2 Überlagerung von horizontaler Nutzlast (Holmlast) und Windlast Bei absturzsichernden Fensterelementen wird es sich in den meisten Fällen um Außenfenster handeln, die zusätzlich zu den horizontalen Nutzlasten (Holmlasten) auch durch Windlasten beansprucht werden. Nach ETB (1985, Abschnitt 3.1) sind • die Windlasten, die gemäß DIN 1991-1-4 und DIN 1991-1-4/ NA (bzw. vereinfacht nach DIN 18055) bestimmt werden, und • die horizontalen Linienlasten, die gemäß DIN EN 1991-1-1/ NA zu ermitteln sind (vgl. Abschnitt 5.1.1), zu überlagern (Ausnahme vgl. Abschnitt 2.3.2). Das in Abschnitt 4.2 vorgestellte zugelassene Befestigungssystem kann nach abZ/ aBG AMO-Combi (2022) auch für Windlasten bemessen werden, d. h. das entsprechende absturzsichernde Element kann umlaufend mit dem System befestigt werden, wobei dann auch die Befestigungselemente entsprechend nachzuweisen sind. Die Lastüberlagerung erfolgt nach DIN EN 1990/ NA, NCI zu 6.4.3.2(3). Danach beträgt der Kombinationsbeiwert für die horizontale Linienlast (Holmlast) Ψ 0 = 0,7 und für Windlasten Ψ 0 = 0,6 (siehe in DIN EN 1990/ NA, Tabelle NA.A.1.1). Somit sind mindestens zwei Lastfallkombinationen zu untersuchen: 1. Die Holmlast wird voll und die Windlast um den Faktor Ψ 0 = 0,6 reduziert angesetzt. 2. Die Windlast wird voll und die Holmlast um den Faktor Ψ 0 = 0,7 reduziert angesetzt. Aufgrund der Lastüberlagerung kann es durchaus erforderlich werden, dass zur Aufnahme der horizontalen Nutzlast (Holmlast) und der Windlast insgesamt vier AMO Combi Schrauben in Holmhöhe (zwei je Seite) erforderlich werden. Diese Schrauben sollten dann symmetrisch zum Holm bzw. der angenommenen Höhe der horizontalen Nutzlast angeordnet werden (Bild-6). Dabei ist zu beachten, dass das in einem PVC-Fensterprofil vorhandene Stahlprofil zur Lastübertragung geeignet sein muss und dass der entsprechende Achsabstand des Dübel-Systems, also der Abstand zwischen zwei Befestigern gemäß der jeweiligen Zulassung des Dübel-Systems, eingehalten wird. 72 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Bild 6: Beispiel für Befestigungspunkte zur Abtragung von horizontaler Nutzlast (Holmlast) und Windlast mit vier AMO Combi Schrauben in Holmhöhe (zwei je Seite, jeweils oberhalb und unterhalb des mittleren Querriegels) 5.2 Nachweis der stoßartigen Belastung 5.2.1 Allgemeines Gemäß den Ausführungen in Abschnitt 2.3.3 gibt es für den erforderlichen Nachweis des weichen Stoßes nach ETB-Richtlinie (ETB, 1985) zwei Möglichkeiten. Der Nachweis kann entweder rechnerisch (Abschnitt 5.2.2) oder durch Versuche im Labor oder direkt auf der Baustelle erfolgen (Abschnitt 5.2.3). 5.2.2 Rechnerischer Nachweis Das Prinzip der rechnerischen Nachweisführung wird ausführlich in Küenzlen et al. (2022, S. 114, Abschnitt 8.5.3) beschrieben, insbesondere die Einordnung der „alten“ ETB-Richtlinie in das heute übliche Sicherheitskonzept mit Teilsicherheitsbeiwerten. Daher wird hier nur das rechnerische Nachweisformat für die Einwirkung aus stoßartiger Belastung (weicher Stoß) wiedergegeben: (2) F Ed / F Rd = 2,8 kN/ F Rd ≤ 1,0 mit: F Ed = F Ek · g F = 2,8 kN · 1,0 = 2,8 kN Bemessungswert der Einwirkung F Ek = 2,8 kN charakteristische Einwirkung nach ETB-Richtlinie (vgl. hier Abschnitt 2.3.3) g F = g A = 1,0 Teilsicherheitsbeiwert für außergewöhnliche Einwirkung nach DIN EN 1990/ NA, Tabelle NA.A.1.2(B)“ F Rd = F Rk / gM Bemessungswert der Tragfähigkeit F Rk = charakteristische Tragfähigkeit des Befestigungssystems (für einen positiven rechnerischen Nachweis ist F Rk ≥ 2,8 kN erforderlich g M = 1,0 Material-Teilsicherheitsbeiwert [siehe in RAL Gütegemeinschaft (2020, S. 163, Abschnitt- 5.3.2) und z. B. in abZ/ aBG W-ABZ (2022, S.-9, Abschnitt 3.2.1.1)] 5.2.3 Nachweis durch Versuche Die Details der durchzuführenden Stoßversuche enthält ETB (1985, Abschnitt 3.2.2.2.2, Absatz 2). Dabei geht die Richtlinie davon aus, dass die Stoßkraft direkt auf die jeweilige Befestigungsstelle wirkt (ETB, 1985, Abschnitt 3.2.2.2.3, Absatz 1). Bei einem absturzsichernden Fensterelement gibt es allerdings Bereiche, auf die keine direkten Stoßkräfte wirken können (siehe in ift Forschungsbericht, 2020, S. 73, Abschnitt 7.3.2.3). DIN 18008-04: 2013-07, Anhang A definiert daher in Abhängigkeit der Verglasungskategorien nicht nur die Pendelfallhöhen (Tabelle-2), sondern auch die Auftreffflächen (Bild-7). Abschnitt 2.3.3 dieses Beitrags führte bereits aus, dass die Bedingungen a) bis d) eingehalten werden müssen, damit der Nachweis der stoßartigen Belastung erfolgreich durch Versuche geführt werden kann (siehe ETB, 1985, Abschnitt 3.2.1). Tabelle 2: Pendelfallhöhen für die Verglasungskategorien nach DIN 18008-4: 2013-07, Anhang A Kategorie A B C Pendelfallhöhe h in mm 900 700 450 Bild 7: Auftreffflächen für stoßartige Einwirkungen (auszugsweise) nach DIN 18008-4: 2013-07, Anhang A 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 73 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen 6. Praxisbeispiel - Befestigung eines bodentiefen absturzsichernden Fensterelements mit Drehkippflügel und auf dem Fensterrahmen aufgeschraubtem Fenstergeländer 6.1 Allgemeine Hinweise Nachfolgend wird ein Bemessungsbeispiel für die Befestigung eines bodentiefen Fensterelements mit Drehkippflügel dargestellt (Bild-8). Die Außenmaße des Fenster- Blendrahmens aus Aluminiumprofilen betragen B x H = 1,20 m x 2,20 m. Die Befestigung des Fensterelements erfolgt ausschließlich seitlich mit der AMO-Combi Schraube und der Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XXL (vgl. Abschnitt 4.2). Für die Sicherstellung der erforderlichen Absturzsicherung wird ein Fensterbzw. Glasgeländer mit dem zugelassenen „Befestigungssystem BS 100 zur lastabtragenden und absturzsichernden Befestigung von Anbauteilen an Fensterrahmenprofilen“ an vier Befestigungspunkten auf den Fensterrahmen geschraubt (vgl. Abschnitt 4.3, Bild-8 und Bild-11). Damit ergibt sich die folgende „Nachweiskette“ (Definition der „Nachweiskette“ vgl. z. B. in Küenzlen et al, 2022, S. 101/ 102): • Glied 1 der Kette: Absturzsichernde Verglasung des Geländers • Glied 2 der Kette: Unmittelbare Glasbefestigung bzw. Glaslagerung des Geländers • Glied 3 der Kette: Verbindung des Geländers mit dem Fensterrahmen mit dem Befestigungssystem BS 100 • Glied 4 der Kette: Fensterrahmen • Glied 5 der Kette: Befestigung bzw. Verankerung des Fensterrahmens am Baukörper mit der AMO-Combi Schraube und der Kunststoff- Dübelhülse W-UR 10 XXL Aus Gründen der Übersicht werden hier nur die Kettenglieder 2, 3 und 5 nachgewiesen. Für die Kettenglieder 2 und 3 sind die Befestigungspunkte (7) und (8) maßgebend, da hier auf das Fenstergeländer die ETB-Last wirkt und Wind und horizontale Nutzlast berücksichtigt werden müssen. Die Befestigungspunkte (11) und (12) können für die Kettenglieder 2 und 3 baugleich wie die Befestigungspunkte (7) und (8) ausgeführt werden, da hier nur die Einwirkungen aus Personenanprall oder Wind bemessungsrelevant sind. Für den Nachweis von Kettenglied 5 in den Befestigungspunkten (7) und (8) können aus Sicht der Autoren zwei ingenieurmäßige Ansätze bzw. Überlegungen gemacht werden, die in den beiden folgenden Abschnitten erläutert werden. Unabhängig von diesen beiden Ansätzen ist abschließend für das Kettenglied 5 der Vollständigkeit halber der Nachweis der Befestigungspunkte (1) und (11) für den Lastfall 90° geöffnetes Fenster zu führen. 6.1.1 Ansatz 1 Für den Nachweis der AMO-Combi Schraube und der Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XXL in den Befestigungspunkten (7) und (8) gelten folgende Überlegungen: • Bezüglich der Überlagerung von horizontaler Nutzlast und Windsoglast ist anzunehmen, dass bei voller Windsoglast (» Sturm), das Fenster nicht geöffnet wird und damit keine Personen an das Fenstergeländer herantreten. Das bedeutet im Prinzip, dass entweder die volle Windsoglast auf das Fenstergeländer wirkt oder die volle horizontaler Nutzlast. • Gleiche Überlegungen gelten sinngemäß für die hier nach innen anzusetzende horizontale Nutzlast, die mit Winddruck nach innen wirkend überlagert werden müsste. 6.1.2 Ansatz 2 Prinzipiell wird die Absturzsicherung im Praxisbeispiel durch das Fensterbzw. Glasgeländer realisiert, das mit dem zugelassenen „Befestigungssystem BS 100 in der Nähe der Befestigungspunkte (7) und (8) sowie (11) und (12) auf den Fenster-Blendrahmen aufgeschraubt wird (vgl. Bild- 8). Der Fensterflügel fungiert entsprechend „nur“ als „Durchgangstür zum französischen Balkon“. Dennoch bilden Fensterbzw. Glasgeländer, Fensterflügel und Fenster-Blendrahmen zusammen die Einheit „absturzsicherndes Fensterelement“. Entsprechend könnte man mit Bezug auf Abschnitt 6.1.1 (Ansatz 1) überlegen, dass hier in den Befestigungspunkten (7) und (8) eine nach außen gerichtete Querlast auf die AMO-Combi Schraube und die Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XXL wirkt, die sich aus einer Überlagerung von • Windsog von außen auf das Fensterbzw. Glasgeländer und • horizontaler Nutzlast von innen auf die „Durchgangstür“ ergibt. Dieser Ansatz 2 wird nachfolgend mit den in Abschnitt 5.1.2 dargestellten Lastfallkombinationen untersucht, d. h. ohne die Faktoren Ψ 0 zu verändern. Mit Hinweis auf die Feststellung zuvor, dass prinzipiell das Fensterbzw. Glasgeländer die Absturzsicherung realisiert, liegen die entsprechenden Nachweise dabei aus Sicht der Autoren auf der sicheren Seite (vgl. Abschnitt 6.7.2). 74 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Bild 8: Übersicht für das Praxisbeispiel: Bodentiefes absturzsicherndes Fenster mit Drehkippflügel mit auf dem Fensterrahmen aufgeschraubten Fensterbzw. Glasgeländer (Ansicht von außen): Befestigung des Blendrahmens links und rechts im Planhochlochziegel mit je 6 Befestigern (AMO-Combi Schraube mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) 6.2 Zusammenstellung der erforderlichen Ausgangsdaten Für das in Bild-8 dargestellte bodentiefe Fenster mit Drehkippflügel mit auf dem Fensterrahmen aufgeschraubten Fensterbzw. Glasgeländer ist folgende Ausgangssituation gegeben: • Wohngebäude in Künzelsau (Postleitzahl 74653, Baden-Württemberg) • Gebäudehöhe ≤ 10 m • Lage des absturzsicherndes Fensterelements in Bezug auf die einwirkenden Windlasten: Mittenbereich des Gebäudes • Lichte Raumhöhe 2,50 m • Absturzsicherndes Fensterelement mit 3-fach-Isolierverglasung: • Fenstergröße: B x H » 1,2 m x 2,2 m • Drehkippflügel: b x h » 1,1 m x 2,1 m • Glasfläche Drehkippflügel: b x h » 1,0 m x 2,0 m • Fensterprofile aus Aluminium (Werkstoff EN AW 6060 T66 mit R m ≥ 215 N/ mm ² und t ≥ 1,5 mm) mit thermischer Trennung (Kunststoffteile der thermischen Trennung aus Polyamid PA) • ohne (Profil-) Verbreiterungen • Auf bau der Isolierverglasung: (von außen nach innen): 6 mm ESG-H/ 12 mm SZR/ 4 mm ESG/ 12 mm SZR/ 8 mm VSG (44.2) • Der Drehkippflügel wird auf der linken Ansichtsseite, nahe den Befestigungspunkten (1) und (11), angeschlagen (vgl. Bild-8). • Absturzsicherndes Glasgeländer mit Befestigung am Fensterrahmenprofil Typ BG015 der Firma IMB Rosenheim: • Einfachglas 10 mm VSG/ ESG (55.2), Kategorie A • zweiseitig linienförmige Glaslagerung aus Aluminiumprofil (Werkstoff EN AW 6060T66) zweiseitig an beiden Vertikalkanten • U-förmiges Kantenschutzprofil aus nichtrostendem Stahl auf der oberen Horizontalkante Hinweis: Das absturzsichernde Glasgeländer mit Befestigung am Fensterrahmenprofil Typ BG015 der Firma IMB Rosenheim (Glied- 1 der Nachweiskette gemäß Abschnitt 6.1) ist über ein allgemeines bauaufsichtliches Prüfzeugnis geregelt (vgl. abP Fenstergeländer, 2021). Zu diesem abP Fenstergeländer (2021) gibt es zugehörige abP Erläuterungen (2022), in denen die konstruktiven Randbedingungen (Achs- und Randabstände) des Fensterbzw. Glasgeländers ausgewiesen werden. Aus Gründen der Übersicht wird auf die Regelungen im abP Fenstergeländer (2021) und in den abP Erläuterun- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 75 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen gen (2022) nicht weiter eingegangen. Neben dem abP Fenstergeländer (2021) und den abP Erläuterungen (2022) wird vom Hersteller des Glasgeländers auch noch eine Systemstatik zur Verfügung gestellt, die die Bemessung von Glied 2 und 3 der Nachweiskette im Prinzip auf die Anwendung einer Bemessungstabelle vereinfacht. Diese Bemessung zeigt Abschnitt 6.5.4 (und Abschnitt 6.6). • Befestigungssystem BS 100 zur lastabtragenden und absturzsichernden Befestigung von Anbauteilen an Fensterrahmenprofilen nach abZ/ aBG BS 100 (2021); vgl. hier Abschnitt 4.3 • Der Höhenunterschied zwischen den Verkehrsflächen (OK FFB Wohnung und OK Gelände) bzw. die Absturzhöhe beträgt 1,00 < AH ≤ 12,00 m: Nach Musterbauordnung (2019), § 38 Abs. 1 Satz 1 ist daher eine Umwehrung (= Absturzsicherung) vorzusehen (vgl. Bild-2 und Bild-8: UH = 900 mm). Für Baden-Württemberg (Wohngebäude in Künzelsau) ist hier im konkreten Beispiel die Allgemeine Ausführungsverordnung zur Landesbauordnung zu beachten [LBOAVO, 2010 § 3, Absatz-(1), 1. und Absatz (3)]. • Verankerungsgrund Mauerwerk: • Planhochlochziegel „ThermoPlan MZ Ergänzung“ (vgl. Bild-9) Hersteller: Mein Ziegelhaus GmbH & Co. KG, Märkerstraße 44 D-63755 Alzenau • Format/ Steinabmessung: 6DF; L x B x H = 123-mm x 365 mm x 249 mm • Rohdichte: r ≥ 0,8 kg/ dm³ • Mittlere Steindruckfestigkeit nach DIN EN 771: ≥ 8,0 N/ mm² • Befestigung gemäß Bild-8 nur seitlich links und rechts in der Laibung mit je 6 Stück AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL nach abZ/ aBG AMO-Combi (2022) • Annahme: Es wird zur Vereinfachung angenommen, dass für die Lösung der Befestigungsaufgabe das Fenster derart in der Laibung liegt, dass das gewählte Dübel-System mittig in der Laibung (Mitte des Mauersteins) zu montieren ist. Für den Randabstand c der AMO- Combi Schraube mit der Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL in der Laibung gilt dann: c innen = c außen • Annahme: Maximale freie Schraubenlänge e f = 20 mm (siehe abZ/ aBG AMO-Combi, 2022, Anlage 7 bzw. vgl. hier Bild-10; beachte Abschnitt 6.7.2) Bild 9: Planhochlochziegel „ThermoPlan MZ Ergänzung“ (siehe abZ/ aBG AMO-Combi, 2022, Anlage 75) Bild 10: Freie Schraubenlänge e f für Fensterrahmenprofile aus Aluminium (siehe abZ/ aBG AMO-Combi, 2022, Anlage 7) 6.3 Einwirkungen 6.3.1 Stoßartige Lasten nach ETB-Richtlinie (Außergewöhnliche Einwirkung) Es sind 2 Einwirkungssituationen zu stoßartigen Lasten rechnerisch nachzuweisen: • Nachweis der Verankerung des Fensterbzw. Glasgeländers am Fensterprofil (Blendrahmen). Dieser Nachweis wird auf Grundlage der abZ/ aBG BS100 (2021) geführt. • Nachweis der Befestigung des Blendrahmens an der Laibung im geschlossenen Zustand des Fensterelementes. Für beide Einwirkungssituationen gilt (vgl. Abschnitt 5.2.2): 76 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen (3) F Ed = F Ek · g F = 2,8 · 1,0 = 2,8 kN mit: F Ek = 2,8 kN siehe in ETB (1985, Abschnitt 3.2.2.2.3) g F = 1,0 siehe in abZ/ aBG W-ABZ (2022, S. 11, Abschnitt 3.2.3.4) 6.3.2 Windlasten Das Wohngebäude, in das das absturzsicherndes Fensterelement eingebaut wird, steht nach Abschnitt 6.2 in Künzelsau. Im Verzeichnis „Windzonen nach Verwaltungsgrenzen“, DIBt (2022), wird für den „Regierungsbezirk Stuttgart“, zu dem Künzelsau gehört, die „Windzone 1“ ausgewiesen. Alternativ lassen sich unter dem Suchbegriff „Windzonen nach Postleitzahlen“ im Internet auch diverse Seiten finden, auf denen - lediglich unter der Eingabe der Postleitzahl für das konkrete Bauvorhaben - die entsprechend zugehörige Windzone ausgegeben wird. Nach DIN 18055, Tabelle A.1 ergibt sich für • die Windzone 1, • eine Gebäudehöhe ≤ 10m und • den Einbau des absturzsichernden Fensterelements im Mittenbereich des Wohngebäudes folgende charakteristische Windbelastung: q wd,k = 0,50 kN/ m² (Winddruck) q ws,k = 0,55 kN/ m² (Windsog) Die Bemessungswerte der Einwirkungen ergeben sich wie folgt: (4) q wd,d = q wd,k · g F = 0,50 · 1,5 = 0,75 kN/ m² Winddruck (5) q ws,d = q ws,k · g F = 0,55 · 1,5 = 0,83 kN/ m² Windsog Þ maßgebend mit: g F = 1,5 veränderliche Einwirkung (Windlast) Hinweis: Die Anwendung von DIN 18055, Tabelle A.1 beruht auf Berechnungen mit dem vereinfachten Verfahren nach DIN EN 1991-1-4 und DIN EN 1991-1-4/ NA. Diese praxisnahe Vorgehensweise liegt für übliche Gebäude auf der sicheren Seite. Sofern eine Abminderung der Werte aus Tabelle A.1 angestrebt wird, ist eine genaue Berechnung der Außendruckbeiwerte nach DIN EN 1991-1-4/ NA, Tabelle NA.1, bzw. eine genaue Windlastermittlung nach DIN EN 1991-1-4/ NA, NA.B.3.3, erforderlich. 6.3.3 Horizontale Nutzlast Die charakteristische horizontale Nutzlast - in Absturzrichtung nach außen - ergibt sich für ein Wohnhaus nach DIN EN 1991-1-1/ NA, Tabelle 6.12DE: Þ q k,außen = 0,5 kN/ m Der Bemessungswert der Einwirkungen ergibt sich wie folgt: (6) q kd,außen = q k,außen · g F = 0,5 · 1,5 = 0,75 kN/ m mit: g F = 1,5 veränderliche Einwirkung (horizontale Nutzlast) Gemäß Fußnote (2) zu Tabelle 6.12DE in DIN EN 1991- 1-1/ NA sind die horizontalen Nutzlasten in Absturzrichtung in voller Höhe und in Gegenrichtung - nach innen wirkend - mit 50 %, mindestens jedoch mit 0,5 kN/ m anzusetzen. Mit Hinweis auf Abschnitt 6.1.1 wird dieser Ansatz nicht weiter untersucht. 6.3.4 Eigengewicht aus Glasgeländer Typ BG015 Gemäß Abschnitt 6.2 besteht das Glasgeländer Typ BG015 aus 10 mm Einfachglas VSG/ ESG (55.2), Kategorie A. Dafür ergibt sich mit Bild-8 folgendes Eigengewicht: (7) G ,d = G ,k · g F = [10 mm · 2,5 kg/ (mm · m²) · 1,20 m · 0,90 m] · 1,35 = 36,5 kg » 0,37 kN mit: g k = 2,5 kg/ (mm · m²) Eigengewicht Glas (vgl. in RAL Gütegemeinschaft, 2020, S. 126, Tabelle 5.3) g F = 1,35 ständige Einwirkung (Eigengewicht) 6.3.5 Last aus 90° geöffnetem Fensterflügel Wird der im absturzsichernden Fensterelement angeordnete Drehkippflügel um 90° geöffnet, treten auf der Bandseite infolge des Eigengewichts des Fensterflügels zusätzliche Querlasten auf. Hierzu wird zunächst das Eigengewicht des Drehkippflügels ermittelt (vgl. Tabelle- 3; siehe auch in RAL-Gütegemeinschaft, 2020, S.-125-ff., Abschnitt 5.1.2.1 mit Tabelle 5.3). 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 77 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Tabelle 3: Praxisbeispiel: Ermittlung des Eigengewichts des Drehkippflügels Zeile Bauteil Rechenweg Ergebnis 1 Flügelrahmen (2 · 1,1 m + 2 · 2,1 m) · 2,5 kg/ m = 16,0 kg 2 Isolierverglasung 2,5 kg / (mm·m²) · (6-mm + 4-mm + 8-mm) · (1,0-m · 2,0-m) = 90,0 kg 3 Drehkippflügel (Zeile 1 + 2) = 106,0 kg 4 Eigenlast G Flügel 106 kg · 9,81 m/ s² = 1.039,9 N 1) 1,04 kN 1) 1 kg · m/ s² = 1 N = 0,001 kN Das resultierende Kräftepaar (Z = D) aus dem 90° in den Innenraum geöffneten Flügel wird auf der Bandseite oben durch den Befestigungspunkt (1) und unten durch den Befestigungspunkt (11) aufgenommen. Dabei wirkt die Einwirkung Z = Vfd,1 in Richtung des Innenraums und die Einwirkung D = Vfd,11 nach außen (vgl. Bild-8). Der Bemessungswert der Einwirkungen auf die Befestigungspunkte (1) und (11) durch den 90 ° geöffneten Fensterflügel ergibt sich nach RAL Gütegemeinschaft (2020, S. 125, Abschnitt 5.1.2.1) wie folgt: V fd,1 = Z V fd,11 = D (8) V fd,1 = V fd,11 = b/ h · [(G Flügel / 2) · g F ] = 1,10/ 2,1 · [(1,04/ 2) · 1,35] = 0,52 · 0,70 = 0,37 kN mit: b = 1,1 m vgl. Abschnitt 6.2 h = 2,1 m vgl. Abschnitt 6.2 (Beachte hierzu auch den folgenden Hinweis! ) G Flügel = 1,04 kN vgl. Tabelle-3 g F = 1,35 ständige Einwirkung (Eigengewicht) Hinweis: Der Abstand für die Lasteinleitung der horizontalen Lasten (Z und D) ist nach Bild-8 die Höhendifferenz zwischen den Befestigungspunkten (1) und (11): 3 · 0,4 + 2 · 0,3 = 1,80 m Mit Bezug auf RAL-Gütegemeinschaft (2020, S. 125, Abschnitt 5.1.2.1 mit Bild 5.8) werden in Gleichung (8) für die Ermittlung von V fd,1 und V fd,11 auch die Flügelaußenmaße (b/ h » 1,1 m / 2,1 m) angesetzt. Dieses Vorgehen stellt eine Vereinfachung für die Bemessungspraxis dar, da die reale Lasteinleitung aus dem Flügelrahmen über Scharniere, Bänder bzw. Scherenlager in den Blendrahmen bei jedem Fensterelement unterschiedlich ist. Diese Vereinfachung wird aus Übersichtsgründen übernommen. 6.4 Ermittlung der maßgebenden Schnittkräfte für Befestigungspunkt (7) bzw. (8) sowie (1) und (11) In Höhe der Befestigungspunkte (7) und (8) verläuft gemäß Bild-8 die Brüstungshöhe. Für diese beiden Befestigungspunkte müssen daher sowohl 1. der Nachweis für stoßartige Lasten als auch 2. der Nachweis für die Überlagerung der horizontalen Nutzlast mit der Windsoglast (beide Lasten nach außen wirkend) geführt werden. Deshalb und auf Grund der folgenden beiden Überlegungen sind diese beiden Befestigungspunkte (7) und (8) offenbar für die Bemessung maßgebend: • Die Befestigungspunkte (1) bis (4) müssten nur für Windsog nachgewiesen werden (Winddruck ist nicht maßgebend), da sie oberhalb der Auftrefffläche für den Pendelschlagversuch liegen (vgl. Bild-7 und siehe RAL-Gütegemeinschaft, 2020, S. 164, Bild 5.22). • Die Befestigungspunkte (5) bis (6) und (9) bis (12) müssten nur getrennt voneinander, d. h. ohne Überlagerung, a) für stoßartige Lasten und b) für Windsog nachgewiesen werden. Daher werden nachfolgend nur für die beiden Befestigungspunkte (7) und (8) für alle möglichen Lastfälle die Einwirkungen zusammengetragen und anschließend wiederum nur die maßgebenden statischen Nachweise geführt. Nur für die Befestigungspunkte (1) und (11) muss ergänzend der Lastfall 6 „Last aus 90° geöffnetem Fensterflügel“ untersucht bzw. überprüft werden. 6.4.1 Lastfall 1: Stoßartige Lasten Die Anpralllast wirkt auf das Befestigungssystem BS 100 als Zugkraft (N Ed,LF1 ), auf die Fensterbefestigung (AMO- Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10-XXL) allerdings als Querkraft (V Ed,LF1 ). Maßgebende Kraft (vgl. hierzu Abschnitt 6.3.1): 78 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen (9) N Ed,LF1 = V Ed,LF1 = F Ed = 2,8 kN Gemäß ETB (1985, Abschnitt 3.1) sind nur die horizontalen Nutzlasten mit den Windlasten zu überlagern. Die stoßartigen Lasten müssen also mit keinen anderen Lasten überlagert werden. 6.4.2 Lastfall 2: Windsoglast Beachte hierzu Abschnitt 6.1.1 und 6.1.2! 6.4.2.1 Ansatz 1 Die Windsoglast wirkt auf das Befestigungssystem BS- 100 als Zugkraft (N Ed,LF2 ), auf die Fensterbefestigung (AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) allerdings als Querkraft (V Ed,LF2 ). Maßgebende Kraft (vgl. hierzu Bild-8 und Abschnitt 6.3.2): (10) N Ed,LF2-1 = V Ed,LF2-1 = A Wind · q ws,d = [(1,2 · 0,9)/ 4] · 0,83 = 0,22 kN 6.4.2.2 Ansatz 2 Die in Abschnitt 6.4.2.1 auf das Fensterbzw. Glasgeländer einwirkende Windsogkraft wird nach Bild-8 und Bild-11 • im Abstand von 100 mm zu den Befestigungspunkten (7) und (8) bzw. • im Abstand von 200 mm zu den Befestigungspunkten (9) und (10) auf den Fenster-Blendrahmen übertragen. Oberhalb des Fensterbzw. Glasgeländer ist eine weitere Windangriffsfläche zu berücksichtigen, wobei der Abstand zwischen den Befestigungspunkten (5) und (7) bzw. (6) und (8) 300 mm beträgt (vgl. Bild-8). Als maßgebende Querkraft ergibt sich für die Fensterbefestigung (AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) folgende Querkraft: (11) V Ed,LF2-2 = [V Ed,LF2-1 · 200/ (100 + 200)] + (A Wind · q ws,d ) = [0,22 · 2/ 3] + [(1,20/ 2) · (0.30/ 2) · 0,83] = 0,22 6.4.3 Lastfall 3: Horizontale Nutzlast in ideeller Holmhöhe Die horizontale Nutzlast wirkt auf das Befestigungssystem BS 100 als Zugkraft (N Ed,LF3 ), auf die Fensterbefestigung (AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) allerdings als Querkraft (V Ed,LF3 ). Maßgebende Kraft (vgl. hierzu Bild-8, Bild-11 und Abschnitt 6.3.3): (12) N Ed,LF3 = V Ed,LF3 = q kd,außen · (1,20 m/ 2) · [(0,1 m + 0,7-m) / 0,7 m] = 0,75 kN/ m · 0,60 m · 1,14 = 0,51 kN Bild 11: Vermaßte Anordnung der Befestigungssysteme BS 100 (Bildquelle: Hermann Hamm); siehe hierzu auch Bild-8 6.4.4 Lastfall 4: Überlagerung horizontale Nutzlast plus Windsoglast (für Ansatz 2) Hier werden gemäß Abschnitt 6.1.2 die in Absturzrichtung nach außen wirkende Windsoglast und die horizontale Nutzlast (Holmlast) überlagert: (13) V Ed,Sog = V Ed,LF2-2 = 0,22 kN (vgl. Abschnitt 6.4.2.2) (14) V Ed,Holm = V Ed,LF3 = 0,51 kN (vgl. Abschnitt 6.4.3) Gemäß DIN EN 1990/ NA [siehe dort NCI zu 6.4.3.2(3) und Tabelle NA.A.1.1) werden zwei Lastfallkombinationen untersucht (vgl. hier auch Abschnitt 5.1.2). Lastfallkombination 1 Die Holmlast wird voll und die Windlast um den Faktor Ψ 0 = 0,6 reduziert angesetzt: (15) V Ed,LF4-1 = V Ed,Holm + (Ψ 0 · V Ed,Sog ) = 0,51 + (0,6 · 0,22) = 0,64 kN Þ maßgebend Lastfallkombination 2 Die Windlast wird voll und die Holmlast um den Faktor Ψ 0 = 0,7 reduziert angesetzt: (16) V Ed,LF4-2 = V Ed,Sog + (Ψ 0 · V Ed,Holm ) = 0,22 + (0,7 · 0,51) = 0,58 kN 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 79 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen 6.4.5 Lastfall 5: Eigengewicht aus Glasgeländer Typ BG015 Dieser Lastfall muss nur für Befestigungssystem BS 100 nachgewiesen werden, da das Eigengewicht des gesamten Fensterelements über die Tragklötze gemäß Bild-8 abgetragen wird. Siehe hierzu Abschnitt 6.3.4. Das Eigengewicht des Glasgeländer Typ BG015 wird auf der sicheren Seite nur auf die beiden Befestigungssysteme BS 100 in Höhe der Befestigungspunkte (7) und (8) verteilt. (17) V Ed,LF5 = G d / 2 = 0,37/ 2 = 0,19 kN 6.4.6 Lastfall 6: Last aus 90° geöffnetem Fensterflügel Dieser Lastfall muss nur für die Fensterbefestigung (AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) nachgewiesen werden. Siehe hierzu Abschnitt 6.3.5! (18) V Ed,LF6 = V fd,1 = V fd,11 = 0,37 kN 6.4.7 Übersicht der maßgebenden Kräfte für das Praxisbeispiel In Tabelle-4 werden alle maßgebenden Kräfte der einzelnen Lastfälle übersichtlich zusammengestellt. Für den Nachweis des Befestigungssystems BS 100 und des Fensterbefestigers (AMO-Combi Schrauben mit Kunststoffdübelhülse W-UR 10 XXL) werden danach nur noch die maßgebenden Lastfälle nachgewiesen (beachte Erläuterungen in Abschnitt 6.1). Tabelle 4: Übersicht der maßgebenden Kräfte für alle Lastfälle für die maßgebenden Befestigungspunkte (7) und (8) sowie (1) und (11) nach Bild-8 Lastfall Beschreibung Ermittlung N Ed bzw. V Ed siehe Abschnitt N Ed bzw. V Ed in kN Maß- Gebend in kN Bemessung vgl. Abschnitt 1 Stoßartige Lasten 6.4.1 (7) und (8) 2,80 2,80 6.5.1 6.6 6.7.1 2 Windsoglast 6.4.2 (7) und (8) N Ed = 0,22 V Ed = 0,22 N Ed = 0,51 V Ed = 0,51 6.5.2 6.5.4 (Ansatz 1 nach Abschn. 6.1.1) 3 Horizontale Nutzlast 6.4.3 (7) und (8) N Ed = 0,51 V Ed = 0,51 4 Überlagerung horizontale Nutzlast plus Windsoglast 6.4.4 V Ed = 0,64 nur Fensterbefestiger 6.7.2 (Ansatz 2 nach Abschn. 6.1.2) 5 Eigengewicht aus Glasgeländer Typ BG015 6.4.5 (7) und (8) V Ed = 0,19 nur Befestigungssystem BS 100 6.5.3/ 6.5.4 6 Last aus 90° geöffnetem Fensterflügel 6.4.6 (1) und (11) V Ed = 0,37 nur Fensterbefestiger 6.7.3 80 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen 6.5 Statische Nachweise für Glied 2 der Nachweiskette: Unmittelbare Glasbefestigung/ Glaslagerung des Fenstergeländers in Befestigungspunkt (7) und (8) Die Aluminiumprofile des absturzsichernden Fensterelements bestehen laut Angaben des Herstellers bzw. gemäß Abschnitt 6.2 aus dem Werkstoff EN AW 6060 T66 mit R m ≥ 215 N/ mm² und t ≥ 1,5 mm; die Kunststoffteile der thermischen Trennung bestehen aus Polyamid PA. Damit werden die Anforderungen der abZ/ aBG BS 100 (2021, Tabellen 5, 7 und 8) erfüllt. Die geometrischen Randbedingungen Überstand, Höhe und Breite sind zu beachten (siehe abZ/ aBG BS 100, 2021, Tabellen 7 und 8). 6.5.1 Nachweis Lastfall 1: Stoßartige Lasten Nach abZ/ aBG BS 100 (2022, S. 9, Abschnitt 3.2.1) gilt Folgendes: „Für die Befestigungssysteme gilt der Nachweis zur Aufnahme der Einwirkungen aus Personenanprall als erbracht, wenn diese Belastung planmäßig rechtwinklig zur Rahmenebene erfolgt.“ Die Belastung des Fenstergeländers erfolgt planmäßig rechtwinklig zur Rahmenebene, so dass keine weiteren Nachweise erforderlich sind. 6.5.2 Nachweis Lastfall 3 auf Grundlage abZ/ aBG: Horizontale Nutzlasten Der Nachweis ausreichender Tragfähigkeit des Glaslagerungsprofils aus Aluminium (einschließlich der Befestigung am Fensterrahmen, vgl. Abschnitt 6.6) ist für die Einwirkungen infolge Windsog und horizontaler Nutzlast zu führen. Eine Überlagerung von horizontaler Nutzlast und Windsoglast erfolgt nicht, da anzunehmen ist, dass bei voller Windsoglast (Sturm), dass Fenster nicht geöffnet wird und damit keine Personen an das Geländer herantreten (vgl. Abschnitt 6.1.1). Maßgebend ist offenbar der Lastfall 3 (vgl. Abschnitt 6.4.2.1 mit 6.4.3). Das Nachweisformat wird in abZ/ aBG BS 100 (2021, S. 9, Abschnitt 3.2.1) vorgegeben: Nachweis: (19) N Ed,LF3 / N Rd = 0,51/ 2,37 = 0,22 ≤ 1,0 Þ Nachweis erfüllt mit: N Ed,LF3 = 0,51 kN vgl. Abschnitt 6.4.3 bzw. Tabelle-4 N Rd = N Rk / g M = 2,96/ 1,25 = 2,37 kN N Rk = 2,96 kN siehe abZ/ aBG BS 100 (2021, Anlage 2.1, Tabelle 7) g M = 1,25 siehe abZ/ aBG BS 100 (2021, S. 10, Abschnitt 3.2.2) 6.5.3 Nachweis Lastfall 5 auf Grundlage abZ/ aBG: Eigengewicht aus Glasgeländer Typ BG015 Das Nachweisformat wird in abZ/ aBG BS 100 (2021, S.-9, Abschnitt 3.2.1) vorgegeben: Nachweis: (20) V Ed,LF5 / V Rd = 0,19/ 3,37 = 0,06 ≤ 1,0 Þ Nachweis erfüllt mit: V Ed,LF5 = 0,19 kN vgl. Abschnitt 6.4.5 bzw. Tabelle-4 V Rd = V Rk / g M = 4,21/ 1,25 = 3,37 kN N Rk = 4,21 kN siehe abZ/ aBG BS 100 (2021, Anlage 2.2, Tabelle 8) g M = 1,25 siehe abZ/ aBG BS 100 (2021, S. 10, Abschnitt 3.2.2) 6.5.4 Nachweis Lastfall 3 und Lastfall 5 auf Grundlage Systemstatik Alternativ zu Abschnitt 6.5.2 und 6.5.3 kann die Nachweisführung (nur) für das Glasgeländer Typ BG015 (Glasdicke 10 mm) auch über die Bemessungstabelle einer Systemstatik erfolgen, die der Hersteller des Befestigungssystems auf Grundlage der abZ/ aBG BS 100 (2021) zur Verfügung stellt (vgl. Bild-12 und Abschnitt 6.2): Bei den gegebenen Abmessungen des Fenstergeländers (Glasdicke 10 mm), mit einer Geländerbreite von ca. 1,2- m und einer Geländerhöhe von ca. 0,9 m, ergibt sich mit einer charakteristischen Holmlast q k,außen £ 0,5-kN/ m (vgl. Abschnitt 6.3.3) aus der Bemessungstabelle in Bild-12 eine maximal aufnehmbare charakteristische Windlast von 2,63 kN/ m² > 0,55 kN/ m² = q ws,k,vorhanden (vgl. Abschnitt 6.3.2). Damit ist ausreichende Tragfähigkeit für das Fenstergeländer (einschließlich der Befestigung am Fensterprofil) gegeben. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 81 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Bild 12: Systemstatik: Maximale charakteristische Windlast für das Befestigungssystem BS 100 in Kombination mit dem absturzsichernden Glasgeländer mit Befestigung am Fensterrahmenprofil Typ BG015 der Firma IMB Rosenheim; (nur) für horizontale Nutzlast q k = 0,5 kN/ m und Glasauf bau 10 mm VSG/ ESG 6.6 Statische Nachweise für Glied 3 der Nachweiskette: Verbindung des Geländers mit dem Fensterrahmen mit dem Befestigungssystem BS-100 in Befestigungspunkt (7) und (8) Siehe Abschnitt 6.5! Þ o.w.N. 6.7 Statische Nachweise für Glied 5 der Nachweiskette: Befestigung des Fensterrahmens mit dem Direktbefestiger im Mauerwerk Auf Grund der Annahme in Abschnitt 6.2, dass das Fensters derart in der Laibung liegt, dass das gewählte Dübel-System mittig in der Laibung (Mitte des Mauersteins) montiert wird, gilt für die vorhandenen Randabstände im vorhandenen Planhochlochziegel „ThermoPlan MZ Ergänzung“ Folgendes (vgl. Bild-9 und abZ/ aBG AMO- Combi, 2022, Anlage 75 Tabelle 35.2): c innen = c außen = 365/ 2 > 125 mm = c min Die Tragfähigkeit der AMO-Combi Schraube mit der Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XXL in dem in Abschnitt 6.2 ausgewiesenen Mauerstein kann der abZ/ aBG AMO- Combi (2022, Anlage 76, Tabellen 35.3) bzw. hier in diesem Beitrag Bild-13 (obere Tabelle) entnommen werden. 82 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Bild 13: Auszug aus abZ/ aBG AMO-Combi (2022, Anlage 76): Verankerung im Planhochlochziegel „ThermoPlan MZ Ergänzung“ 6.7.1 Nachweis Lastfall 1: Stoßartige Lasten Der Nachweis der stoßartigen Lasten muss grundsätzlich nur für die Befestigungspunkt (5) bis (12) geführt werden, da die Befestigungspunkte (1) bis (4) oberhalb der Auftreffflächen liegen (vgl. Bild-7, Bild-8 und siehe RAL Gütegemeinschaft, 2020, S. 164, Bild 5.22). Nachweis: (21) F Ed / F Rd = V Ed,LF1 / (F Rk / g M ) = 2,8/ (2,8/ 1,0) = 1,0 ≤ 1,0 Þ Nachweis erbracht mit: V Ed,LF1 = 2,80 kN vgl. Abschnitt 6.3.1 bzw. Tabelle-4 F Rk = 2,80 kN siehe abZ/ aBG AMO-Combi (2022, Anlage 76, Tabelle 35.4) bzw. Bild-13, untere Tabelle g M = 1,0 siehe abZ/ aBG AMO-Combi (2022, S. 6, Abschnitt 3.2.3) 6.7.2 Nachweis Lastfall 4: Überlagerung horizontale Nutzlast plus Windsoglast (für Ansatz 2) für die Befestigungspunkte (7) und (8) Das Nachweisformat ist in der abZ/ aBG AMO-Combi (2022, S. 5, Abschnitt 3.2.2) angegeben. In den Anlagen dieser „Zulassung“ werden bereits Bemessungswerte VRd ausgewiesen (vgl. Bild-13 obere Tabelle). Nachweis: (22) V Ed / V Rd = V Ed,LF4-1 / V Rd = 0,64/ 0,65 = 0,98 ≤ 1,0 Þ Nachweis erbracht mit: V Ed,LF5 = 0,64 kN vgl. Abschnitt 6.4.4 bzw. Tabelle-4 V Rd = 0,65 kN siehe abZ/ aBG AMO-Combi (2022, Anlage 76, Tabelle 35.4) bzw. hier Bild- 13; für mittlere Steindruckfestigkeit nach EN 771 ≥ 8,0 N/ mm² und e f = 20 mm (vgl. Abschnitt 6.2 mit Bild-10) 6.7.3 Nachweis Lastfall 5: 90° geöffneter Fensterflügel für die Befestigungspunkte (1) und (11) Das Nachweisformat ist in der abZ/ aBG AMO-Combi (2022, S. 5, Abschnitt 3.2.2) angegeben. In den Anlagen dieser „Zulassung“ werden bereits Bemessungswerte V Rd ausgewiesen (vgl. Bild-13 obere Tabelle). Nachweis: (23) V Ed / V Rd = V fd,11 / V Rd = 0,37/ 0,65 = 0,57 ≤ 1,0 Þ Nachweis erbracht 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 83 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen mit: V Ed,LF5 = 0,37 kN vgl. Abschnitt 6.3.5 V Rd = 0,65 kN siehe abZ/ aBG AMO-Combi (2022, Anlage 76, Tabelle 35.4) bzw. hier Bild- 13 obere Tabelle; für mittlere Steindruckfestigkeit nach EN 771 ≥ 8,0 N/ mm² und e f -= 20 mm (vgl. Abschnitt 6.2 mit Bild-10) 7. Zusammenfassung Dieser Beitrag zeigt aktuelle Neuerungen für die Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen. Danach ist es mittlerweile möglich, diese Fenster mit entsprechend dafür „zugelassenen“ Befestigungssystemen auch in Mauerwerk z. B. aus filigranen Lochsteinen und/ oder wärmedämmenden Mauersteinen mit geringer Rohdichte zu befestigen. Ein „französische Balkongeländer“, das vor ein absturzsicherndes Fenster direkt am Baukörper befestigt wird, kann heutzutage durch ein Fenster-bzw. Glasgeländer oder auch ein Stahlgeländer ersetzt werden, das direkt mit einem dafür „zugelassenen“ Befestigungssystem auf den Fensterrahmen des absturzsichernden Fensterelements aufgeschraubt wird. Damit kommt der Befestigung des Fensterrahmens die gleiche Bedeutung zu, wie bei absturzsichernden Fensterelementen, die „nur“ aus Rahmen und Scheibe (Festverglasung oder Fensterelemente mit Brüstungsriegel) ohne zusätzliches Geländer bestehen. Literatur 1. Veröffentlichungen (Fachbücher, Fachzeitschriften, u. a.) BVS (2015): b.v.S Standpunkt „Brüstungs- und Geländerhöhen“; Hrsg. Arbeitskreis „Brüstungs- und Geländerhöhen“ im Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e. V., Berlin August 2015, kostenlose Download-Möglichkeit unter URL: https: / / www. bvs-ev.de/ fileupload/ files/ 6177327493a54_BVS_ Standpunkt_Br ue stungs-und_Gela enderhoehen_2015_08.pdf (abgerufen am 30.03.2023). Küenzlen, J.; Scheller, E., Klatecki, M.; Becker, R., Kuhn,- T.; Stein, T. (2022): Befestigung und Abdichtung von Fenstern und Türen - Aktuelle Regelungen, Praxisbeispiele, bauphysikalische Gesichtspunkte, Verlag Ernst & Sohn, Berlin, 2022. RAL Gütegemeinschaft (2020): Leitfaden zur Planung und Ausführung der Montage von Fenstern und Haustüren für den Neubau und Renovierung. Ausarbeitung: RAL-Gütegemeinschaft Fenster und Haustüren e.V., ift Rosenheim. Hrsg.: RAL-Gütegemeinschaft Fenster und Haustüren e.V., Frankfurt. 2. Internetquellen DIBt (2022): Windzonen nach Verwaltungsgrenzen (Stand: 2. Juni 2022), URL: https: / / www.dibt.de/ fileadmin/ dibt-website/ Dokumente/ Referat/ P5/ Technische_Bestimmungen/ Windzonen_nach_Verwaltungsgrenzen.xlsx, abgerufen am 29.08.2022. 3. Europäische und internationale Normen (DIN EN, ISO) DIN EN 1990: 2010-12: Eurocode: Grundlagen der Tragwerksplanung. DIN EN 1990/ NA: 2010-12: Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode: Grundlagen der Tragwerksplanung. DIN EN 1991-1-1: 2010-12: Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 1-1: Allgemeine Einwirkungen auf Tragwerke - Wichten, Eigengewicht und Nutzlasten im Hochbau. DIN EN 1991-1-1/ NA: 2010-12: Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 1-1: Allgemeine Einwirkungen auf Tragwerke - Wichten, Eigengewicht und Nutzlasten im Hochbau. DIN EN 1991-1-4: 2010-12: Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 1-4: Allgemeine Einwirkungen - Windlasten. DIN EN 1991-1-4/ NA: 2010-12: Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke - Teil 1-4: Allgemeine Einwirkungen - Windlasten. 4. Deutsche Normen (DIN) DIN 18008-1: 2020-05: Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 1: Begriffe und allgemeine Grundlagen. DIN 18008-4: 2013-07: Glas im Bauwesen - Bemessungs- und Konstruktionsregeln - Teil 4: Zusatzanforderungen an absturzsichernde Verglasungen. DIN 18055: 2020-09: Kriterien für die Anwendung von Fenstern und Außentüren nach DIN EN 14351-1. 5. Gesetze - Richtlinien - Technische Regeln ASR A2.1 (2018): Technische Regeln für Arbeitsstätten - Schutz vor Absturz und herabfallenden Gegenstanden, Betreten von Gefahrenbereichen, Ausgabe November 2012, zuletzt geändert im März 2022, kostenlose Download-Möglichkeit z. B. unter https: / / www.baua.de/ DE/ Angebote/ Rechtstexteund-Technische-Regeln/ Regelwerk/ ASR/ ASR- A2-1.html, abgerufen am 29.08.2022. DIBt MVV TB (2021/ 1): Muster-Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen, Ausgabe 2020/ 1 mit Druckfehlerberichtigung vom 4. März 2022, DIBt Mitteilungen, 17.01.2022, kostenlose Download-Möglichkeit unter URL: https: / / www.dibt.de/ de/ wir-bieten/ technische-baubestimmungen (abgerufen am 29.08.2022). ETB (1985): ETB-Richtlinie - Bauteile, die gegen Absturz sichern, Ausschuß für Einheitliche Technische 84 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Rechnerischer Nachweis und baurechtliche Aspekte bei der Befestigung von absturzsichernden Fensterelementen Baubestimmungen (ETB), Fassung Juni 1985, Berlin: Beuth Verlag [abgedruckt auch in Mitteilungen IfBt 2/ 1987; URL: https: / / www.dibt.de/ fileadmin/ dibt-website/ Dokumente/ Referat/ I8/ ETB_Richtlinie.pdf (abgerufen am 29.08.2022)]. Musterbauordnung (2020): Musterbauordnung (MBO) - Fassung November 2002, zuletzt geändert durch Beschluss der Bauministerkonferenz vom 25.09.2020, Download z. B. unter URL: https: / / www.bauministerkonferenz.de/ Dokumente/ 42323530.pdf (abgerufen am 29.08.2022). LBOAVO (2010): Allgemeine Ausführungsverordnung des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen zur Landesbauordnung (LBOAVO) vom 5.-Februar 2010 Download z. B. unter URL: https: / / www.landesrecht-bw.de/ jportal/ portal/ t/ v62/ page/ bsbawueprod.psml/ screen/ JWPDFScreen/ f ilename/ BauOAV_BW_2010.pdf (abgerufen am 29.08.2022). 6. Deutsche „Zulassungen“ (abZ und abZ/ aBG) abZ AMO-Combi (2022): Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung - AMO ® -Combi Schraube mit Kunststoff-Dübelhülse W-UR 10 XS oder W-UR 10-XXL, Z-21.2-2017 vom 23. August 2022; kostenlose Download-Möglichkeit z. B. unter www.dibt.de/ de/ service/ zulassungsdownload/ suche abZ/ aBG BS100 (2021): Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung/ Allgemeine Bauartgenehmigung - Befestigungssysteme zur lastabtragenden und absturzsichernden Befestigung von Anbauteilen an Fensterrahmenprofilen, Z-14.4-884 vom 2. Juni 2021; kostenlose Download-Möglichkeit z. B. unter www. dibt.de/ de/ service/ zulassungsdownload/ suche 7. Allgemeine bauaufsichtliche Prüfzeugnisse (abP) abP Fenstergeländer (2021): Allgemeines bauaufsichtliches Prüfzeugnis P-2021-3081 vom 19.11.2021, Gegenstand: Linienförmig gelagerte Verbundsicherheitsverglasungen, Prüfstelle: Labor für Stahl- und Leichtmetallbau GmbH (LSL) an der Hochschule München, Fakultät 02, Bauingenieurwesen/ Stahlbau, Antragsteller: Inntaler Metallbau Vertrieb GmbH, kostenpflichtiger Download z. B. unter https: / / www. baufachinformation.de/ publikationen.jsp abP Erläuterungen (2022): Erläuterungen zu den allgemeinen bauaufsichtlichen Prüfzeugnissen P-2021- 3063 und P-2021-3081, Labor für Stahl- und Leichtmetallbau GmbH (LSL), Ausgabedatum: 27.01.2022. Planung, Normung, Verordnungen 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 87 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m Johannes Ruf, M. Eng. Hochschule Biberach Prof. Dr.-Ing. Patricia Hamm Hochschule Biberach Valentin Knöpfle, M. Eng. Hochschule Biberach Hinweis Diese Inhalte wurden in ähnlicher Form bereits im September 2023 im Rahmen der 5. Aachener Holzbautagung unter dem Titel «Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken; Versuche am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m» von P. Hamm, V. Knöpfle und J. Ruf veröffentlicht. Kurzfassung Die Projektpartner arbeiteten an der Entwicklung eines leichten, schwingungsoptimierten Deckensystems für Deckenspannweiten über 8 m. Der Fokus in diesem Projekt lag vor allem auf der Größe des untersuchten Systems. Bestehende Ansätze zur Beurteilung der Gebrauchstauglichkeit von Holzdecken stoßen bei weitgespannten Holzdecken mit Spannweiten über 8 m an ihre Grenzen. Deshalb wurde ein Prüfstand mit den Gesamtabmessungen von 12,5 m x 12,5 m im Maßstab 1: 1 gebaut. Es konnten unterschiedliche Deckensysteme mit Spannweiten von bis zu 12 m gemessen und bewertet werden. Die wesentlichen Erkenntnisse sind: Selbst eine einzelne Person kann diese große und schwere Decke zu deutlich spürbaren Schwingungen anregen. Ebenso hat eine Person auf der Decke Einfluss auf das Lehr´sche Dämpfungsmaß der Decke, wobei insgesamt eine eher geringe Dämpfung beobachtet wurde. Die mitschwingende Masse hat Einfluss auf das subjektive Empfinden der Schwingungen. Bei einer vierseitigen Lagerung konnte eine mitschwingende Masse von ca. 20-30 % ermittelt werden; bei einer zweiseitigen Lagerung waren es zwischen 30-45 %. 1. Einleitung Von Januar 2021 bis Juni 2023 arbeitete die Hochschule Biberach in Kooperation mit der PIRMIN JUNG Deutschland GmbH, Remagen, an der Entwicklung eines leichten, schwingungsoptimierten Holzdeckensystems mit Unterzügen für große Spannweiten. Vorangegangene Forschungsarbeiten haben bereits das Schwingungsverhalten von Holzdecken untersucht. Der neue Fokus in diesem Projekt liegt vor allem auf der Größe des untersuchten Systems. Bauwerke wie Schulen, Verwaltungs- und Bürogebäude erfordern Decken mit sehr großen Stützenabständen und daher sehr großen Spannweiten. Es wurden unterschiedliche Deckensysteme mit unterschiedlichen Auf bauten, Lagerungsbedingungen und Spannweiten gemessen und bewertet. Das Forschungsprojekt umfasste theoretische und praktische Betrachtungen des Schwingungs- und Dämpfungsverhalten von Holzdecken mit großen Spannweiten und Unterzügen. 2. Aktuelle Bemessungsregeln in Normen und Literatur 2.1 Frühere Forschungen Auf bauend auf dem schon lange im Eurocode 5 [1] existierenden Schwingungsnachweis wurde von 2007 bis 2009 ein Forschungsprojekt an der Technischen Universität München durchgeführt [2]. Das Forschungsprojekt zeigte, dass Decken mit Eigenfrequenzen unterhalb der Grenzfrequenz von f grenz = 8 Hz hinsichtlich ihrer Gebrauchstauglichkeit zufriedenstellend sind, wenn zwei Bedingungen gegeben sind: Die Frequenz muss größer als die Mindestfrequenz von f min = 4,5 Hz sein und die Beschleunigung beim Gehen in Resonanz mit der zweiten oder dritten Harmonischen muss kleiner als eine Grenzbeschleunigung a grenz sein. Der Nachweis der Beschleunigung gelingt jedoch nur bei schweren Decken, wie Holz-Beton-Verbundsystemen oder Systemen mit großen Spannweiten. Das folgende Flussdiagramm (vgl. Bild 1) zeigt den Nachweis von Schwingungen nach [2]. 88 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m Bild 1: Konstruktions- und Bemessungsregeln nach [2] 2.2 Entwurf Eurocode 5 Der Grundgedanke des neuen Entwurfs des Eurocode 5 [3] liegt darin, die Regeln so zu modifizieren, dass die menschliche Wahrnehmung maßgeblich in die Bemessung einfließt. Daher wurde der Response factor R eingeführt. Die Sensitivität der Wahrnehmung hängt - wie in der ISO 10137 [9] dargestellt - von der Eigenfrequenz der Decke ab. Somit werden die Grenzwerte bzw. Nachweise in Abhängigkeit der Eigenfrequenz und den Anforderungen durchgeführt (siehe hierzu Tabelle 1). Tabelle 1: Grenzwerte und Response factor R je nach Floor performance Level nach [3] Tabelle 1 zeigt den Response factor R jeweils in Abhängigkeit von einem zu wählenden Floor performance level, sowie die Grenzwerte der Durchbiegung infolge einer statischen Einzellast, der Beschleunigung und der Geschwindigkeit vgl. [3]. Bild 2 zeigt den prinzipiellen Weg und die wichtigsten Gleichungen des Nachweises (siehe auch [4]). Bild 2: Flussdiagramm und Gleichungen nach [3] 3. Motivation Werden die Nachweisverfahren aus Kapitel 2 näher betrachtet, ergeben sich die im folgende Ergebnisdiagramm zu erkennende Zusammenhänge. Bild 3: Bemessungsrelevanter Nachweis für Decken in Abhängigkeit von der Spannweite, basierend auf [2], entnommen aus [5]. Bei großen Spannweiten wird, wie in Bild 3 zu sehen, das Frequenzkriterium massgebend. Daher ist es von großer Bedeutung, Decken mit großen Spannweiten hinsichtlich ihres tatsächlichen Schwingungsverhaltens intensiver zu untersuchen. Dies soll mithilfe eines Prüfstands in dem Maßstab 1: 1, welcher im folgenden Kapitel 4 erläutert wird, erfolgen. 4. Aufbau des Prüfstands Der Schwingungsnachweis ist ein Nachweis im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit. Die Sicherheit und das Wohlbefinden der Nutzer der Decken stehen hierbei im Vordergrund. Um herauszufinden, wie sich Menschen auf der Decke fühlen, wird ein Prüfstand im Maßstab 1: 1 gebaut, so dass alle Auswirkungen gemessen und gefühlt werden können. Dieser Prüfstand hat die Abmessungen von 12,5 m x 12,5 m und besteht aus Kastenelementen. Der Auf bau des Prüfstandes ist in den Bildern 4 bis 7 dargestellt. Detaillierte Informationen zur Planung und zum Auf bau finden sich in [6]. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 89 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m Bild 4: Zusammenbau zu Elementen Bild 5: Rohdecke ohne Beplankung Bild 6: Rohdecke mit Beplankung Bild 7: Prüfstand mit Masse und Estrich 5. Messungen am Prüfstand 5.1 Änderungen in der Konstruktion Der Prüfstand wurde flexibel konzipiert, um unterschiedliche Deckenauf bauten und Lagersituationen abbilden zu können. Die verschiedenen Auf bauten und Kombinationen können den Bildern 8 und 9 entnommen werden. Bild 8: Unterschiedliche Konstruktionen und Auf bauten der Decke Type 1: Rohdecke. Die Tragkonstruktion sind Kastenelemente (1a) bzw. Rippen (1b). Type 2: Rohdecke mit Masse. Die Masse wird durch Pflastersteine realisiert. Type 3: Rohdecke mit Masse, Trittschalldämmung und Nassestrich. Type 4: Rohdecke, Trittschalldämmung und Nassstrich. Bild 9: Modifikationen der Konstruktion, der Spannweite und der Lagerung Mit Hilfe des Prüfstands konnte die Spannweite zwischen 8 m bis 12 m variiert werden. Eine weitere Besonderheit war die Veränderung der Lagersituation: Es ist möglich, sowohl eine zwei- (Zs) als auch vierseitige (Vs) Lagerung auf Wänden darzustellen. Zusätzlich kann eine elastische Lagerung durch einen Unterzug aus Holz (Uz) als auch durch einen Stahlunterzug dargestellt werden. 5.2 Anregung Zur Anregung der Decke wurden unterschiedliche Methoden angewendet. Zunächst wurde ein Heeldrop durchgeführt (siehe Bild 10), um die Eigenfrequenzen, Dämpfung und Geschwindigkeit zu messen. Die alltägliche Nutzung wurde mit einer gehenden Person abgebildet. Mit dieser Messung wird die Geschwindigkeit (v rms ) betrachtet. Neben dem Impuls und dem regellosen Gehen wurde die Decke durch Joggen in Eigenfrequenz zu Resonanzschwingungen angeregt. Ebenso kam ein Shaker (siehe Bild 11) zum Einsatz. Mit diesem Shaker kann eine definierte Kraft erzeugt werden und dadurch die mitschwingende Masse ermittelt werden. 90 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m Bild 10: Anregung Heeldrop Bild 11: Mechanischer Shaker 5.3 Subjektive Bewertung Einer der wichtigsten Punkte ist die subjektive Bewertung der Schwingungen. Die Schwingungen wurden von den Probanden JR und VK bewertet und mit Besuchergruppen und anderen Beteiligten abgeglichen. Die verwendeten Noten orientieren sich an dem Forschungsbericht [2] sowie an den Arbeiten vonKreuzinger/ Mohr [7]. 6. Ergebnisse der Messung Die Kombination der unterschiedlichen Aufbauten und Lagerungsbedingungen führt zu vielen Messsituationen: Tabelle 2: Übersicht über die Kombinationen bei der Kastendecke, Frequenz Dämpfungsmaß und Geschwindigkeit Konstruktionstypen Spannweite [m] Lagerung Unterzug gemessene Frequenz [Hz] Dämpfungsmaß inkl. Person [%] v rms [mm/ s] 1a 9 2-seitig Stahl 5,4 1,0 2,11 1a 10 4-seitig 9,3 1,7 1,00 1a 10 4-seitig Holz 7,5 1,3 1,24 1a 10 2-seitig 9,1 1,3 1,40 1a 10 2-seitig Holz 7,4 1,4 1,20 1a 12 4-seitig 7,2 1,4 1,48 1a 12 4-seitig Holz 6,1 1,6 1,21 1a 12 2-seitig Holz 6,0 2,4 1,38 2a 10 4-seitig 7,2 1,2 1,51 2a 10 4-seitig Holz 5,7 1,6 1,03 2a 10 2-seitig 7,0 1,1 2,33 2a 10 2-seitig Holz 5,5 1,3 1,18 2a 12 4-seitig 5,3 1,4 2,43 2a 12 2-seitig 5,1 1,1 2,13 2a 12 2-seitig Holz 4,4 1,3 1,20 2a 12 2-seitig Stahl 4,0 1,0 1,35 3a 10 4-seitig 6,2 1,8 0,61 3a 10 4-seitig Holz 4,9 1,8 0,90 3a 10 2-seitig 5,8 1,7 0,49 3a 10 2-seitig Holz 4,8 1,7 0,60 3a 10 2-seitig Stahl 4,1 1,3 0,64 3a 12 4-seitig 4,6 2,2 0,54 3a 12 4-seitig Holz 4,1 1,8 0,48 3a 12 2-seitig 4,4 1,7 0,51 3a 12 2-seitig Holz 3,9 1,6 0,50 4a 10 4-seitig 6,8 1,9 1,37 4a 10 4-seitig Holz 5,2 1,9 2,20 4a 10 2-seitig 6,6 1,6 1,03 4a 10 2-seitig Holz 5,2 1,7 2,01 4a 12 4-seitig 5,2 1,7 2,54 4a 12 4-seitig Holz 4,3 1,7 0,75 4a 12 2-seitig 4,9 1,4 1,15 4a 12 2-seitig Holz 4,2 1,5 0,61 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 91 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m 6.1 Frequenz, Dämpfung, Geschwindigkeit Tabelle 2 zeigt einige der Kombinationen, die Eigenfrequenz der ersten Schwingungsform, das Dämpfungsmaß und der quadratische Mittelwert der Geschwindigkeit v rms . Dieser Wert wird durch eine regellos gehende Person erzeugt und als Durchschnitt über mehrere Schritte gemessen. Die Eigenfrequenz wird deutlich von der Masse der Konstruktion, der Spannweite und der elastischen Lagerung beeinflusst. Das Dämpfungsmaß wird bei der Abklingkurve nach der Anregung in Resonanz gemessen. Die gemessenen Werte sind meist kleiner als 2 %. Üblicherweise sind die Werte höher, sie können aus [1], [2] oder [3] wie folgt entnommen werden: - 2,0 % für Holzbalkendecken - 2,5 % für Rippendecken (Type 1a) - 3,0 % für Holzbalkendecken mit einem schwimmenden Bodenbelag (Type 3 bzw. 4) Gründe für die geringe Dämpfung liegen vermutlich an der großen Spannweite, bzw. dem kleinen Verhältnis von Durchbiegung zu Spannweite. Als Hauptergebnis kann festgehalten werden, dass die Schwingungen trotz der großen Masse des Prüfstandes (ca. 57 to) spürbar und manchmal störend sind. Einer der Gründe kann in dem geringen Dämpfungsmaß gefunden werden. Daher wird die Möglichkeit geprüft, abgestimmte Massedämpfer zu installieren. 6.2 Geänderte Konstruktionen Zusätzlich zu den Konstruktionsänderungen (Typ 1a bis 4a) wurde auch Varianten ohne die zweite Drei-Schicht- Platten geprüft. Dies führte zu den Modifikationen Typ 1b bis 4b, vgl. Bild 8. Tabelle 3 zeigt einen Auszug aus den Ergebnissen der Messungen und einen Vergleich des Dämpfungsmaßes mit einer auf der Decke stehenden Person und ohne Person auf der Decke. In diesem Fall wurde die Decke durch den Shaker angeregt. Der Vergleich von Tabelle 2 und Tabelle 3 zeigt den Einfluss der zweiten Drei-Schicht- Platte auf die Eigenfrequenz. Die Konstruktion mit nur einer Platte hat eine geringere Steifigkeit. Dies führt zu geringeren Werten der Eigenfrequenzen. Tabelle 3: Auszug aus Kombinationen der Rippendecke und Ergebnisse Konstruktion Lagerung Unterzug Gemessene Frequenz [Hz] Dämpfungsmaß inkl. person [%] Dämpfungsmaß ohne person [%] v rms [mm/ s] R-Faktor Floor performance Level 1b 2-seitig 6,20 1,9 % 2b 2-seitig 4,56 1,2 % 2,62 26,0 V 3b 2-seitig 4,20 1,5 % 0,73 7,3 II 3b 2-seitig Holz 3,60 1,6 % 1,2 % 1,48 14,8 IV 3b 4-seitig 4,00 1,8 % 1,3 % 0,73 7,3 II 3b 4-seitig Holz 3,60 1,7 % 1,2 % 1,14 11,4 III Aus Tabelle 3 ist der Einfluss der anregenden Person auf das Lehr´sche Dämpfungsmaß ersichtlich: Das Dämpfungsmaß ist mit einer auf der Decke stehenden Person stets um 0,3 % bis 0,6 % höher als ohne Personen, da die Person unbewusst gegenschwingt bzw. versucht auszugleichen. Ebenso hat die Amplitude der Decke Einfluss auf das Dämpfungsmaß, wie in Bild 12 dargestellt ist. Bild 12: Einfluss der Personen sowie der anregenden Kraft auf das Dämpfungsmaß 6.3 Mitschwingende Masse Die mitschwingende oder auch modale Masse hat Einfluss auf die Schwingungsamplituden und auf das subjektive Empfinden der Schwingungen. Die mitschwingende Masse wird von den Lagerungsbedingungen und der Biegesteifigkeit in Querrichtung beeinflusst. Bei einer vierseitigen Lagerung konnte eine mitschwingende Masse von ca. 20-30 % ermittelt werden; bei einer zweiseitigen Lagerung waren es ca. 30-45 % (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Einflüsse auf die mitschwingende Masse Konstruktion Lagerung Nachgiebige Lagerung Estrich verbunden Queraussteifung Absolute Masse [to.] Modale Masse [to.] Anteil der Modalen Masse an der absoluten Masse [%] 2b 4-seitig - - - 31 7,6 24,4% 2b 4-seitig - - 2 Balken 31 8,6 27,8% 2b 4-seitig Holz - - 31 8,9 28,6% 2b 2-seitig - - 31 9,2 29,7% 2b 2-seitig - - 2 Balken 31 12,9 41,7% 3b 4-seitig - Ja - 57 14,7 25,8% 3b 4-seitig - Ja 3 Balken 57 15,4 27,1% 3b 4-seitig Holz Ja 3 Balken 57 18,0 31,7% 92 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m 3b 4-seitig - Nein 3 Balken 57 13,4 23,5% 3b 2-seitig - Ja - 57 20,6 36,1% 3b 2-seitig - Ja 3 Balken 57 25,8 45,3% 3b 2-seitig - Nein - 57 16,9 29,6% Wie zu erkennen ist, haben die zusätzlichen Balken zur Queraussteifung einen signifikanten Einfluss auf die mitschwingende Masse. Auch der Verbund der einzelnen Estrichelementen untereinander hat einen Einfluss. Es kann festgestellt werden, dass durch diese Maßnahmen die mitschwingende Masse ohne großen Aufwand erhöht werden kann, was zu geringeren Beschleunigungswerten führt und somit für den Nutzer angenehmer ist. 7. Berechnungen mit der Finite-Element-Methode Um die Messergebnisse auf die Berechnungen zukünftiger weitgespannter Holzdecken zu übertragen, muss sichergestellt werden, dass die gemessenen Werte mit der Berechnung übereinstimmen. Dies geschah mit Hilfe eines FE-Modells, siehe Bilder 13 und 14. Das Modell wurde schrittweise, analog zum Prüfstand, aufgebaut. Dadurch konnten alle individuellen Bedingungen wie E-Modul, Masse etc. berücksichtigt werden. Die Modellierung wurde mit dem Programm „Mechanical APDL“ der Firma „Ansys Inc.“ durchgeführt. Der Vorteil dieses Programms ist, dass eine Automatisierung ohne großen Aufwand möglich ist. Alle verwendeten Parameter werden als Variablen gespeichert und miteinander verknüpft. Wird ein Parameter geändert, passen sich die abhängigen Werte automatisch an. Es hat sich gezeigt, dass eine Simulation des Strukturverhaltens mit Hilfe von FE-Modellen, insbesondere unter speziellen Randbedingungen, sehr präzise durchgeführt werden kann (siehe Tabelle 5). In einem ersten Schritt wurde eine Kalibrierung an den Eigenfrequenzen vorgenommen. Um dieses Modell für eine Bewertung der Schwingungen von Decken zu verwenden, sind weitere Untersuchungen notwendig. Hierfür werden beispielsweise auch die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen durch gehende und laufende Personen im nummerischen Modell Berücksichtigung finden. Tabelle 5: Vergleich der gemessenen und berechneten Eigenfrequenzen der ersten Modi Konstruktion gemessene Frequenzen [Hz] Berechnete Frequenzen [Hz] Mode 1 Mode 2 Mode 3 Mode 1 Mode 2 Mode 3 Balken 7,32 - - 7,32 - - Ein Element 6,85 14,4 19,4 6,79 14,4 19,4 Rohdecke Type 1b 6,20 7,43 8,62 6,24 7,43 8,65 Type 2b 4,56 5,23 6,15 4,07 5,04 5,75 Type 3b 4,20 4,95 5,09 4,35 4,64 5,20 Bild 13: Erste Eigenform aus FE-Modell, Typ 3b Derartige kalibrierte Modelle ermöglichen es, das Schwingungsverhalten einer anderen (ähnlichen) Holzdecke im Modell zu bestimmen, ohne dass ein aufwändiger Prüfstand und Umbau vor Ort erforderlich sind. Ausführliche Informationen zum FE-Modell und zur Kalibrierung siehe [8]. Bild 14: Zweite Eigenform aus FE-Modell, Typ 3b Bild 15: Dritte Eigenform aus FE-Modell, Typ 3b 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 93 Schwingungsverhalten von weitgespannten Holzdecken - Versuche im Maßstab 1: 1 am Prüfstand mit 12,5 m x 12,5 m 8. Ergebnisse und Ausblick Ziel des Forschungsvorhaben ist, ein erweitertes Entwurfskonzept für weitgespannte Holzdecken zu entwickeln. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass weitgespannte Holzdecken trotz ihrer großen Masse zu Schwingungen angeregt werden können. Die subjektive Einschätzung und das neu eingeführte Floor performance level wurden erfasst. Genauere Werte zum Lehr´schen Dämpfungsmaß bei weit gespannten Decken, sowie Erkenntnisse zur modalen Masse konnten gewonnen werden. Die Möglichkeit, abgestimmte Massedämpfer einzubauen, wird weiterhin untersucht. 9. Danksagung Das Forschungsprojekt wurde vom 01.01.2021 bis 30.06.2023 an der Hochschule Biberach durchgeführt, in enger Zusammenarbeit mit M.Eng. Philipp Bacher, Dipl.-Ing. Tobias Götz und Dipl.-Ing. Tobias Riehle der PIRMIN JUNG Deutschland GmbH, Remagen. Es wurde vom ZIM finanziert. „ZIM“ steht für „Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand“ und ist ein Förderprogramm des Bundes für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Literatur [1] Eurocode 5: EN 1995-1-1: Eurocode 5: Bemessung und Konstruktion von Holzbauten - Teil 1-1: Allgemeines - Allgemeine Regeln und Regeln für den Hochbau. Deutsche Fassung. Dezember 2010. [2] Hamm, P., Richter, A., Winter, S.: Floor vibrations - new results. In: WCTE World Conference in Timber Engineering. 20. - 24. Juni 2010. Riva del Garda, Italy. [3] Eurocode 5: pr EN 1995-1-1: 20XX: Design of timber structures - Common rules and rules for buildings - Part 1-1: General. Noch nicht veröffentlicht. [4] Hamm, P., Marcroft, J., Toratti, T.: Vibrations of floors - Comparison of measured data and suggested design. In: INTER - International Network on Timber Engineering Research. 17.-19. August 2020, Kap. 53-20-1, 14 S. (http: / / holz.vaka.kit. edu/ 540.php), Planned to be held in Chile, because of Covid-19 held as an Online meeting. Editor: Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Holzbau und Baukonstruktionen, Karlsruhe. [5] Bender, M.: Bemessungsdiagramme für Holzbalkendecken bei unterschiedlichen Anforderungen an den Schwingungsnachweis. Masterthesis. Biberach University. 2016. [6] Ruf, J.: Planung, Aufbau und Durchführung eines Prüfstandes für weitgespannte Holzdecken zur Untersuchung des Schwingungsverhaltens. Masterthesis. Biberach University of Applied Sciences. 2022. [7] Kreuzinger, H., Mohr B.: Gebrauchstauglichkeit von Wohnungsdecken aus Holz; Abschlussbericht Januar 1999. TU München, Fachgebiet Holzbau. Forschungsvorhaben durchgeführt für die EGH in der DGfH. [8] Knöpfle, V.: Planung, FE-Modellierung und Kalibrierung einer weitgespannten Holzbalkendecke mittels Schwingungsmessungen. Masterthesis. Biberach University of Applied Scienes. 2023. [9] ISO 10137: Berechnungsgrundlagen für Bauten - Gebrauchstauglichkeit von Gebäuden und Stegen bei Vibrationen. 2007-11. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 95 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung Prof. Dr. Gerd Motzke Rechtsanwalt, Mering Mit dem Gebäudetyp E wird eine Planungs- und Realisierungsidee verfolgt, der unterschiedliche Vorstellungen zugrunde liegen können. 1. Der Gebäudetyp E - eine Idee Mit dem Gebäudetyp E soll nach der Auffassung der Bayerischen Architektenkammer der „gordische Knoten“ durchgeschlagen werden. Deren Präsidentin Prof. Lydia Haack hat in der im Dezember 2022 veröffentlichten Jahresbeilage der Bayerischen Staatszeitung einen Artikel mit dem Titel „Den gordischen Knoten durchschlagen“ verfasst. Eine „Diät“ sei erforderlich, um sich „vom Speckmantel aus Normen und Richtlinien zu befreien“, womit Freiräume geschaffen würden für kreatives Planen und Bauen. Bauen müsse sich „auf das Wesentliche reduzieren, suffizientes, nachhaltiges und qualitätsorientiertes Handeln“ sei geboten. Der „Gebäudetyp E“ wird gleichsam als Schlüsselbegriff verwendet, um fachkundigen Bauherrn die Möglichkeit zu bieten, eigen- und nicht fremdbestimmt den für das zu verwirklichende Objekt als geboten erachteten Qualitätsstandard zu verwirklichen. Damit verbunden ist, auf diese Weise den Zwang der bestehenden Technischen Regeln einschließlich des Bauordnungsrechts zumindest zu mildern, womit die Hoffnung verbunden wird, einen - durchaus notwendigen- - Lösungsweg auch im Werkvertragsrecht, nämlich insbesondere dem Sachmangelhaftungsrecht, zu finden. Der „Gebäudetyp E“ erweist sich damit als eine Art Katalysator, der „Bewegung“ im vielfältigen Technischen Normenwerk und im Rechtsrahmen auslösen soll. Das Ergebnis des mit den nachfolgenden Ausführungen beabsichtigten Überblicks ist die Erkenntnis, dass der „Gebäudetyp E“ den Rechtsrahmen „durchschüttelt“ und ein konzeptioneller Neuordnungsbedarf notwendig wird. Denn die Auswirkungen sind nicht auf den Bereich des Bauordnungsrechts beschränkt (vgl. Ziff. 2., 3), sondern führen zu grundhaften Eingriffen in das Werkvertragsrecht, dort insbesondere in das Bauvertragsrecht (Ziff. 4. bis 7.) und das Architekten-/ Ingenieurvertragsrecht einschließlich der HOAI. Um diese mit dem verfolgten Lösungsansatz „Gebäudetyp E“ zusammenhängenden Folgen überhaupt nachvollziehen zu können, bedarf es im Vorfeld einer Darstellung der Verknüpfung der Technik- und Rechtsregeln. Allerdings ist eine Klarstellung nötig, nämlich: Welches Ziel wird mit der Konzeption „Gebäudetyp E“ verfolgt? Geht es lediglich um die höchst individuelle Eigenbestimmung der Anforderungen an das konkret-individuelle Objekt, also ein mehr oder minder allseits abgesichertes objektspezifisches Bau-/ Erfolgssoll dieses konkret-individuellen Objekts, was begrifflich mit einem bestimmten „Gebäudetyp“ nichts zu tun hat, oder um die Schaffung eines Gebäudetyps, den generell maßgebliche Strukturen charakterisieren, was einen Typus begrifflich ausmacht (vgl. Ziff. 3.1; 4.5; 5.1-5.3)? 2. Zur Verknüpfung von Technikregeln und Rechtsregeln - Allgemein Ausgehend davon, dass der zu konzeptionierende „Gebäudetyp E“ den Technik- und Rechtsrahmen im Kern maßgeblich beeinflusst, bedarf es der Darlegung des gegenwärtigen Beziehungsverhältnisses, um darauf aufbauend die Konsequenzen für die notwendigerweise erforderliche Vertypung eines „Qualitätsstandards Gebäudetyp E“ im Bereich des Bauordnungsrechts und des privaten Baurechts einschließlich des Mietrechts und des Wohnungseigentumsrechts systematisch korrekt beschreiben zu können. 2.1 Ausgangssituation Ausgangspunkt des gegenwärtigen Zustands ist, dass das Bauordnungsrecht und das private Baurecht einschließlich Mietrecht und Wohnungseigentumsrecht an den „Technikrahmen“ völlig unterschiedlich anknüpfen, was für die Konzeptionierung des „Gebäudetyps E“ von erheblicher Bedeutung ist. Notwendig wird es sein, den bauordnungsrechtlichen Rahmen und den für das private Baurecht, das Mietrecht und das Wohnungseigentumsrecht maßgeblichen Rechtsrahmen für den „Gebäudetyp E“ passgenau zu formulieren. Die Verknüpfung von Technikregeln und Rechtsregeln weist Eigenheiten insofern auf, als das Recht generell keinen Zugriff auf bestimmte, also einzelne Technikregeln kennt, auch nicht auf überbetriebliche technische Regelwerke. Ausnahmen bestätigen diese Grundregel (vgl. §- 905 BGB mit Verweis auf Technische Regeln nach Maßgabe des § 48 BimSchG; § 2 Abs. 4 HOAI 2021). Allerdings ist zwischen dem öffentlichen Recht, insbesondere dem Bauordnungsrecht, einerseits und dem Werkvertragsrecht, dem Mietrecht und dem Wohnungseigentumsrecht, also wirtschaftlich bedeutenden Teilen des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB - zu unterscheiden. Denn das Bauordnungsrecht verweist auf konkrete Technikregeln, deren Einhaltung die Wahrung der Schutzziele gewährleisten soll. Ob damit notwendig eine Einschränkung für notwendig erachtete Freiräume für kreatives Planen und Bauen verbunden sein muss, ist je- 96 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung doch die Frage. Denn lässt das Bauordnungsrecht mit seinen Technischen Baubestimmungen durchaus Freiräume, erweist sich das Bauordnungsrecht nicht als Korsett, das zu sprengen ist. 2.2 Die Beziehungsbesonderheit im Bauordnungsrecht - Musterbauordnung (MBO) Das Bauordnungsrecht der Länder beruht auf der Musterbauordnung (MBO). Deren Regelungskonzept besteht im hier fraglichen Zusammenhang auf der sehr allgemein gehaltenen Schutzzielbestimmung des § 3. Der Verwirklichung dieser Schutzziele dient die Konkretisierung über Technische Baubestimmungen nach § 85a MBO. Ihre Einhaltung sichert zugleich die Umsetzung des §-3 MBO. Technische Baubestimmungen sind die technischen Regeln, auf die in der Liste der Technischen Baubestimmungen der jeweiligen Bundesländer verwiesen wird. 2.2.1 Allgemeine Anforderungen § 3 MBO Nach § 3 MBO sind Anlagen so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung. insbesondere Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden: dabei sind die Grundanforderungen an Bauwerke gemäß Anhang I der Verordnung (EU) Nr.-305/ 2011 zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Beseitigung von Anlagen und bei Änderung ihrer Nutzung.“ Bei der genannten Verordnung handelt es sich um die Bauproduktenverordnung, die im Anhang I die Grundanforderungen an Bauwerke - mechanische Festigkeit und Standsicherheit, Brandschutz, Hygiene, Gesundheit únd Umweltschutz, Sicherheit und Barrierefreiheit bei der Nutzung, Schallschutz, Energieeinsparung und Wärmeschutz sowie nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen - formuliert. Damit benennt § 3 MBO die mit der Regelung ganz allgemein verfolgten Schutzziele. 2.2.2 Konkretisierung durch Technische Baubestimmungen Die Besonderheit besteht in der Konkretisierung dieser allgemeinen Anforderungen des § 3 MBO durch eine Regelung über Technische Baubestimmungen, die in der MBO in § 85a enthalten ist und in den Länderbauordnungen an unterschiedlichen Stellen auch mit unterschiedlichen Formulierungen normiert wird. § 85a MBO lautet: „Die Anforderungen nach § 3 können durch Technische Baubestimmungen konkretisiert werden. Die Technischen Baubestimmungen sind zu beachten.“ Dann folgt ein ausformulierter Abweichungsvorbehalt, des Inhalts, dass Abweichungen möglich sind, wenn Abweichungen in den Technischen Baubestimmungen nicht ausgeschlossen sind und die verfolgten Anforderungen, also die in §-3 MBO formulierten Schutzziele, trotz der Abweichung erfüllt werden. Die Gliederung der Technischen Baubestimmungen erfolgt in Ausrichtung an den Grundanforderungen an Bauwerke (vgl. Ziff. 2.2.1). Das bedeutet: Das Bauordnungsrecht nimmt ganz konkret auf Technische Regeln Bezug, ordnet diese als Technische Baubestimmungen ein, fordert deren Beachtung und erklärt, bei deren Einhaltung werde den Anforderungen bzgl. der in §-3 MBO genannten Schutzgüter genügt. 2.2.3 Technische Baubestimmungen Diese Technischen Baubestimmungen gibt der Bund als Muster heraus, nämlich in den Musterverwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen (MVV TB). Deren Erarbeitung und Zusammenstellung liegt in den Händen des Deutschen Instituts für Bautechnik (DIBT) und kann im Internet abgerufen werden (gegenwärtig: Ausgabe 17. April 2023 mit 352 Seiten). Dort werden sämtliche Technischen Regeln für die einzelnen Bereiche, die aus der Sicht des DIBT zur Einführung in Betracht kommen, gelistet. Was die Bundesländer dann konkret einführen, ist Ländersache, also bestimmt jedes Land über die Einführung und damit „seine Technischen Baubestimmungen“. D.h.: Die Bauordnungen der Länder verweisen für das Bauordnungsrecht auf genau angeführte Technische Regelwerke. und erklären diese im Rahmen des Vollzugs des Bauordnungsrechts für verbindlich. Die eingeführten „Technischen Regelwerke“ werden „Technische Baubestimmungen“ und stellen nach der Vorstellung der MBO qualitativ Verwaltungsvorschriften dar. §-85a Abs. 5 MBO formuliert nämlich: „Das Deutsche Institut für Bautechnik macht nach Anhörung der beteiligten Kreise im Einvernehmen mit der obersten Bauaufsichtsbehörde zur Durchführung dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen die Technischen Baubestimmungen nach Abs.-1 als Verwaltungsvorschrift bekannt. Die nach Satz 1 bekannt gemachte Verwaltungsvorschrift gilt als Verwaltungsvorschrift des Landes, soweit die oberste Bauaufsichtsbehörde keine abweichende Verwaltungsvorschrift erlässt.“ D.h., diese Technischen Regelwerke, die als Technische Baubestimmungen (TB) eingeführt werden, werden aus der Sicht der MBO nicht zu Rechtsnormen mit Außenwirkung, sondern zu internen Verwaltungsvorschriften, die damit für die Verwaltung gelten. Sie gelten nicht für Gerichte, sie gelten nicht für den Bürger, weil ihnen die Außenwirkung fehlt. Die TB sind also normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, nicht mehr und nicht weniger. Im Detail kommt es für eine dennoch bestehende Außenwirkung dieser Eingeführten Technischen Baubestimmungen auf die jeweilige Formulierung in den einzelnen Länderbauordnungen wie auch auf die Gerichtspraxis im Umgang mit diesen Eingeführten Technischen Baubestimmungen als Verwaltungsvorschriften an. Denn verlangt die jeweilige Landesbauordnung in der §-85a MBO entsprechenden Vorschrift die Beachtung der Eingeführten Technischen Baubestimmungen (TB), dann entfalten diese im Rahmen der Rechtsanwendung Außenwirkung. So bestimmt §-75a der Baden-Württembergischen Bauordnung in Abs. 1 Satz 2: „Die Technischen Baubestimmungen sind zu beachten.“ Die Bauordnung für Berlin normiert Gleiches in § 86a Abs. 1 Satz 3 und regelt im Abs. 5: „Das Deutsche Institut für Bautechnik macht nach Anhörung der beteiligten Kreise im Einvernehmen 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 97 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung mit der für das Bauwesen zuständigen Senatsverwaltung ein Muster einer Verwaltungsvorschrift über Technische Baubestimmungen bekannt und hat das bekannt gemachte Muster dauerhaft allgemein zugänglich zu machen. Die für das Bauwesen zuständige Senatsverwaltung kann sich bei dem Erlass der Verwaltungsvorschrift über Technische Baubestimmungen auf das bekannt gemachte Muster beziehen.“ 2.3 Die Sachlage in Bayern Die Länderbauordnungen übernehmen den aufgezeigten Ansatz mit allgemeiner Schutzzielbestimmung und deren Konkretisierung mittels Technischer Baubestimmungen, 2.3.1 Allgemeine Anforderungen - Art. 3 BayBO Bayern macht aus § 3 MBO den Art. 3 BayBO mit seinen allgemeinen Anforderungen, dass der genannten Schutzziele wegen bei den genannten Maßnahmen die Baukultur, insbesondere die anerkannten Regeln der Baukunst zu beachten seien. Damit weicht die Regelung vom in §-3 MBO enthaltenen Muster ab, das eine Bezugnahme zu den anerkannten Regeln der Baukunst vermeidet. Die Norm lautet: „Bei der Anordnung, Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung, Instandhaltung und Beseitigung von Anlagen sind die Belange der Baukultur, insbesondere die anerkannten Regeln der Baukunst so zu berücksichtigen, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit, und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden, Anlagen müssen bei ordnungsgemäßer Instandhaltung die Anforderungen des Satzes 1 während einer dem Zweck entsprechenden angemessenen Zeitdauer erfüllen und ohne Missstände benutzbar sein.“ Auffällig ist, dass Art. BayBO nach dem formulierten allgemeinen Anforderungskatalog in erster Linie auf die Einhaltung der anerkannten Regeln der Baukunst abhebt, damit die angeführten Schutzziele nicht gefährdet werden. Diese Bezugnahme auf anerkannte Regeln der Baukunst oder der Technik weisen von den 16 Bundesländern neben Bayern nur die Bauordnung von Nordrhein-Westfalen und von Schleswig-Holstein auf. § 3 der Bauordnung von Nordrhein-Westfalen führt in Abs. 2 S. 1 aus: „Die der Wahrung der Belange nach Absatz 1 dienenden allgemein anerkannten Regeln der Technik sind zu beachten.“ Satz 2 formuliert einen Abweichungsvorbehalt von diesen Regeln und Satz 3 bestimmt: „Als allgemein anerkannte Regeln der Technik gelten auch die von der obersten Bauaufsichtsbehörde durch Verwaltungsvorschrift als Technische Baubestimmungen eingeführten technischen Regeln.“ Die Bestimmung des § 3 Abs.-3 der Bauordnung von Schleswig-Holstein entspricht § 3 Abs.-2 der Bauordnung von Nordrhein-Westfalen. 1 Z. B. Art. 81a BayBO; § 73a Landesbauordnung Baden-Württemberg; § 86a Berliner Bauordnung; § 85a Landesbauordnung von Sachsen- Anhalt; § 87a Landesbauordnung Thüringen. 2.3.2 Technische Baubestimmungen Die für das Bauordnungsrecht bedeutsame Konkretisierung erfolgt durch Art. 81a Abs. 1 BayBO mit folgendem Wortlaut: „Die vom Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr öffentlich bekannt gegebenen Technischen Baubestimmungen sind zu beachten. Von den Technischen Baubestimmungen kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die allgemeinen Anforderungen des Art. 3 Satz 1 erfüllt werden und in der Technischen Baubestimmung eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist; Art. 15 Abs. 2 und Art. 17 bleiben unberührt. Werden die allgemein anerkannten Regeln der Baukunst und Technik beachtet, gelten die entsprechenden bauaufsichtlichen Anforderungen dieses Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften als eingehalten.“ Im Wesentlichen gleichlautende und eigenständige Bestimmungen enthalten alle Länderbauordnungen an allerdings unterschiedlichen Stellen. Nur die Bauordnung von Sachsen macht davon eine Ausnahme, weil die Hinweise zu den Technischen Baubestimmungen nur in § 3 Abs.-3 erfolgen, aber die sonst vorhandenen detailreichen Konkretisierungen durch Bezugnahme auf technische Regeln zu näher bezeichneten Gegenständen unterlassen werden. 2.4 Zum rechtlichen Verständnis der Eingeführten Technischen Baubestimmungen im Rahmen des Bauordnungsrechts Entscheidend für den rechtlichen Stellenwert dieser normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, Eingeführte Technische Baubestimmungen (ETB), ist die im Gesetz in der jeweiligen Norm gleichlautend getroffene Aussage: „Die Technischen Baubestimmungen sind zu beachten.“ 1 Diese gesetzliche Aussage bewirkt die Außenwirkung der ETB, die als Verwaltungsvorschriften konzipiert sind und strukturell nur eine für die Verwaltung bindende Wirkung entfalten. Die Aussage, die - eingeführten - Technischen Baubestimmungen sind zu beachten, bewirkt die Verbindlichkeit für den Bauherrn und die sonstigen am Bau Beteiligten, wie z. B. Planer, Fachplaner und Ausführende. Damit sind die ETB der Länder aufgrund dieser gesetzlichen Anordnung von den Baubeteiligten zu beachten, soll eine Anlage bauordnungskonform geplant und ausgeführt werden. Die Bindungswirkung für Dritte, also den Bürger wie auch die Gerichte im verwaltungsgerichtlichen Bereich, entsteht also durch das Bauordnungsrecht, nämlich durch die jeweiligen Bestimmungen wie z. B. in Bayern Art. 81a Abs.-1 BayBO. Das heißt: Das Bauordnungsrecht greift auf eine geradezu Unmenge von eingeführten Technischen Regeln zu, was allerdings ausschließlich im Zusammenhang mit der Allgemeinregelung des Art. 3 BayBO und damit im Dienst dieser Schutzzielbestimmungen steht. Entscheidend ist, dass bauordnungsrechtlich die ETB zu beachten sind. Anerkannte Regeln der Technik, die nicht 98 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung als ETB eingeführt sind, müssen nicht beachtet werden. 2 Allerdings kann man von ETB abweichen, wenn das Schutzziel in gleicher Weise erreicht werden kann und eine Abweichung in den ETB nicht ausgeschlossen ist. 3. Ergebnis und Folgen für den „Gebäudetyp E“ im Bereich des Bauordnungsrechts Das Bauordnungsrecht greift über eine jeweils einschlägige Vorschrift - § 85a MBO als Muster, Art. 81a Bay- BO und entsprechende Regelungen in den Länderbauordnungen - auf Technische Regelwerke zu, führt diese als „Technische Baubestimmungen“ ein und erklärt diese kraft gesetzlicher Anordnung für verbindlich. Das normierte Beachtungsgebot bewirkt für die Verwaltungsvorschrift Eingeführte Technische Baubestimmungen eine Außenwirkung. 3.1 Zur Geltung der ETB - Auswirkungen auf den Gebäudetyp E Dadurch wird eine ETB nicht zum Gesetz, ist jedoch für die Zwecke des Bauordnungsrechts kraft gesetzlicher Anordnung zu beachten. Also „gelten“ im Bauordnungsrecht eine Vielzahl Technischer Regelwerke, die als ETB eingeführt sind. Wird ein „Gebäudetyp E“ etabliert, ist notwendig an diesen ETB anzusetzen, sie sind einem Läuterungsprozess zu unterwerfen, ausgerichtet an dem Ausgangspunkt wie auch am Ziel: „Was soll mit dem „Gebäudetyp E“ erreicht werden und wie ist mit den ETB umzugehen? Dabei muss jedoch klar sein, dass die TB der Länder grundsätzlich dazu bestimmt sind, der Schutzzielsicherstellung zu dienen. Das ist der Ansatz der TB, nämlich eine Konkretisierung mit dem Ziel zu gewährleisten, dass bei Umsetzung der TB die Wahrung der Schutzziele erreicht werden kann. Das eröffnet die Möglichkeit, die Eingeführten Technischen Baubestimmungen darauf hin zu überprüfen, ob sie über dieses Ziel hinausgehen. Ist das der Fall, kann die Einführung gleichsam limitiert werden, nämlich wenn die ETB der Schutzzielkonkretisierung tatsächlich dient, oder darüber hinaus geht. Als Beispiel ist auf die Schallschutznorm DIN 4109 zu verweisen, die sich hinsichtlich des Anforderungsniveaus deutlich von der Parallelregelung in der VDI 4100 unterscheidet, was dazu führt, dass nicht die VDI 4100, sondern die DIN 4109 eingeführt ist, die nach der Einleitung so konzipiert ist, dass unter Zugrundelegung eines Grundgeräuschpegels von 25 dB für schutzbedürftige Räume, z. B. Wohnungen, Wohnheimen, Hotels und Krankenhäusern, die Schutzziele Gesundheitsschutz, Vertraulichkeit bei normaler Sprechweise und Schutz vor unzumutbaren Belästigungen erreicht werden. Die Norm enthält keine Vorschläge für einen erhöhten Schallschutz zur Erzielung höherer Qualitäten. D.h., die als DIN 4109 Fassung 2018-01eingeführte ETB beschränkt sich eindeutig auf die Sicherstellung der Schutzziele und ist damit ein typisches Beispiel für die Ausrichtung als Technische Baubestimmungen eingeführte Technische Regeln am Schutzzielkanon des §-3 MBO. 2 Simon/ Busse/ Hofer, Art. 81a Rn. 27. Daran kann sich die geforderte Katharsis der gegenwärtig als ETB eingeführten Technischen Regeln ein Beispiel nehmen. Handlungsprinzip muss sein: Die Technische Regel muss sich auf Festlegungen und Verfahren beschränken, die der Schutzzielerreichung dienen. Ein Mehr ist überflüssig. 3.2 Die Katharsis der ETB Wird der „Gebäudetyp E“ z. B. als Bauart im Sinne von §-16a MBO und z. B. Art. 12 BayBO verstanden, dann ist es für dessen Etablierung im Hinblick auf das mit diesem „Gebäudetyp E“ verbundene Ziel notwendig, die vorhandenen ETB einer Prüfung zu unterziehen, ob sie über das Ziel hinausschießen und die Planungsfreiheit über den Maßen einschränken. Zu prüfen ist, ob Bedarf für eine eigenständige „ETB-Sammlung Gebäudetyp E“ besteht. Inhaltlich kann dies jedoch nicht bedeuten, das Anforderungsniveau unterhalb der „Grundanforderungen an Bauwerke“ abzusenken. Wenn diese Grundanforderungen an Bauwerke nämlich einzuhalten sind, damit eine Nutzung eines Bauwerks überhaupt in Frage kommt, scheidet eine Absenkung dieses Standards auch bei einen Gebäudetyp E aus. Die Schaffung einer solchen ETB-Sammlung Gebäudetyp E ist im Verhältnis zur Lösungsaufgabe im Bereich des Werkvertragsrechts, des Mietrechts und Wohnungseigentumsrecht eine wesentlich zielgerichtete Aufgabe deshalb, weil jeweils die Frage zu stellen ist: „Wegen des Schutzziels nötig oder nicht nötig oder nicht in dem Umfang nötig“? Ausgerichtet an den Grundanforderungen des Bauens gemäß der Bauproduktenrichtlinie/ Bauproduktenverordnung und den Schutzzielen wird nach Art eines Ausschlussverfahrens aussortiert und damit eine maßgeschneiderte „Bereinigung“ vorgenommen, was letztlich eine bauordnungsrechtliche Läuterung beinhaltet. Am Ende dieses Läuterungsprozesses kann eine „Sammlung ETB Gebäudetyp E“ stehen, wovon zur Aufrechterhaltung der gewollten Kreativität abgewichen werden kann, wenn das Schutzziel auf andere Weise gleichfalls erreicht werden kann. Entscheidend ist die Ausrichtung an der Schutzzielbestimmung der Grundregel in §- 3 MBO, die je länderspezifisch umgesetzt wird. Bauordnungsrechtlich könnte es am Ende des Prozesses eine „MVV - TB Gebäudetyp E“ geben. 3.2.1 Die kathartische Methode Die MVV -TB sind methodisch in Ausrichtung an den „Grundanforderungen an Bauwerke“ nach der Bauproduktenverordnung zu überprüfen, welche ETB für den Gebäudetyp E unter Berücksichtigung der Anforderungen an die mechanische Festigkeit und Standsicherheit, den Brandschutz, die Hygiene, die Gesundheit und den Umweltschutz, die Nutzungssicherheit einschließlich Barrierefreiheit, den Schallschutz, die Energieeinsparung, den Wärmeschutz und die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen einschlägig und zur Sicher- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 99 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung stellung der Grundanforderungen wie auch der Schutzziele unverzichtbar sind. Dieser Überprüfungsaufwand ist geboten. Im Ergebnis besteht demnach bauordnungsrechtlich ein Normierungsbedarf mit dem Ziel ein Bauordnungsrecht für den Gebäudetyp E zu schaffen, das sich in einer „MVV-TB Gebäudetyp E“ manifestiert und inhaltlich ausschließlich auf die Sicherstellung der Schutzziele ausgerichtet ist. Das bedingt eine einzelfallspezifische Auseinandersetzung mit den vorhandenen ETB, wobei die Ergebnisse insbesondere davon abhängen, welche Grundanforderung an Bauwerke - Mechanische Festigkeit und Standsicherheit, Brandschutz, Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz, Sicherheit und Barrierefreiheit, Schallschutz, Wärmeschutz - durch die ETB in welchem Ausmaß betroffen sind und ob konkret in welchem Umfang die vorhandenen ETB-Planungsspielräume lassen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die bestehenden ETB i. S. d. § 85a MBO das Ziel verfolgen, die Anforderungen nach § 3 MBO und damit die Grundanforderungen sicherzustellen. 3.3 Überprüfung und Feststellung bzgl. Normenflut und verbleibende Planungsfreiheit Das Ergebnis des nachfolgenden kurzen Überblicks ist, dass die Anzahl der eingeführten ETB, insbesondere bei Abstellung auf als ETB eingeführten DIN-Normen durchaus überschaubar ist. Hinzu kommt, dass das Normenwerk des DIN durchaus die Möglichkeiten einschließt, dass Planer insbesondere bei Beachtung festgestellter Prinzipien von Anwendungsregeln abweichen dürfen und auch Planungsalternativen angeboten werden. Ein gutes Beispiel ist die oben in der Ziff. 3.1 genannte DIN 4109, die diese Schutzzielausrichtung deutlich voranstellt. Hinsichtlich des Bereichs der Grundanforderungen an den Schallschutz wird im Abschnitt A 5 der Bayerischen Technischen Baubestimmungen (Bay TB) als ETB lediglich die DIN 4109-1: 2018-01 angeführt. Die informativen Anhänge A und B sind nicht anzuwenden. Für den Planer sind die Erläuterungen im Anhang A zu einer detaillierten Schallschutzplanung als Hinweis wertvoll. Gleiches gilt für den Hinweis auf höheren Schallschutz im Beiblatt 2 der vormaligen Fassung der DIN 4109 und auf die VDI 4100. Das verdeutlicht, dass es der DIN 4109 als ETB ausschließlich um die Sicherstellung der Grundanforderungen an Bauwerke im Sinne der Anlage A zu Bauproduktenverordnung geht. Auf Freiräume wird ausdrücklich hingewiesen Demgegenüber listet die BayTB im Abschnitt A1 - Mechanische Festigkeit und Standsicherheit - eine Vielzahl von DIN-Normen auf, was erkennbar der Grundanforderung „Mechanische Festigkeit und Standsicherheit“ geschuldet ist. Der Abschnitt A 1 verweist auf ca. 160 DIN- Normen, überwiegend DIN EN-Normen, und zusätzlich auf verschiedene Technische Regeln. Das vermittelt den Eindruck, dass Planer gleichsam „erdrückt“ werden und Raum für Eigenständigkeit verloren wäre. Dieser Eindruck trügt. Denn die angeführten DIN EN Normen folgen einem einheitlichen Gestaltungsprinzip, das zwischen Prinzipien und Anwendungsregeln unterscheidet. Die DIN EN 1990, Grundlagen der Tragwerksplanung (hier zitiert nach DIN EN 1990-2021-10, die BayTB führt als ETB die Fassung von 2010 ein) unterscheidet im Abschnitt 1.4 zwischen Prinzipien und Anwendungsregeln. Die Prinzipien werden im Normtext neben der in Klammer gesetzten Nummerierung durch „P“ nach der Nummerierung gekennzeichnet. Texte mit Nummern ohne P sind Anwendungsregeln. Die Prinzipien gelten grundsätzlich soweit die Möglichkeit von Alternativen nicht ausdrücklich genannt wird. Die Anwendungsregeln sind allgemein anerkannte Regeln, die den Prinzipien folgen und deren Anforderung erfüllen. Alternative Anwendungsregeln sind zulässig, wenn nachgewiesen werden kann, dass hierdurch die relevanten Anforderungen erfüllt werden und bzgl. Sicherheit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit, die bei Anwendung der DIN EN erreicht werden, gleichwertig ist. Hierdurch wird in einem gewissen Umfang in dem sensiblen Bereich der Standsicherheit für Planungsfreiheit gesorgt, was die einschlägigen Normen DIN EN 1990 bis 1999 auch sprachlich durch die entsprechenden Hilfszeitwörter zum Ausdruck bringen. Bei Prinzipien werden die Hilfsverben „ist“, „sind“ oder „muss“, bei Anwendungsregeln werden „sollen“ oder „können“ verwendet. Hingewiesen wird z. B. auf DIN EN 1990-2012-10 Abschnitt 3.2 Abs. 1 und 2, die jeweils neben der in Klammer gesetzten Nummer mit einem P und durch das Hilfszeitwort „sind“ markiert sind. Die in Klammer gesetzte Nummer 3 arbeitet mit dem Hilfszeitwort „müssen“. Die im Abschnitt 3.4 angeführte Nummer (3) ist ohne „P“ und damit eine Anwendungsregel; sprachlich wird mit dem Hilfszeitwort „sollte“ gearbeitet; dabei kommt hinzu, dass verschiedene Alternativen angeführt werden, auf die abgehoben werden kann. Dadurch wird Freiheit geschaffen. Im Abschnitt 3.5 Nr. (5) wird neben der Anwendungsregel in Nr. (4) eine Alternative angeführt, was wiederum Freiheit verschafft. Diese Grundsätze werden z. B. in folgenden DIN EN- Normen verwirklicht, die sämtlich in BayTB als ETB eingeführt sind: 1991-1-1: 2010-12 Abschn. 1.3; 1992-1- 1: 2011-01, Abschn. 1.4; 1993 -1-1: 2010-12 Abschn. 1.4; 1995-1-1: 2010-12 Teil 1 und Teil 2, je im Abschn. 1.4. So konzipierte Normen lassen planerische Freiräume, deren Absicherung freilich dann problematisch ist, wenn der Nachweis der Gleichwertigkeit zu führen ist. Wie das im Einzelfall zu bewerkstelligen ist und ob insoweit die Grundsätze gelten, die für die Erlangung einer Zulassung im Einzelfall gelten, bedarf der Erörterung. Soweit die Technische Regeln Instandhaltung von Betonbauwerken des Deutschen Instituts für Bautechnik (TR IH) Teile 1 und 2 als ETB eingeführt ist, werden dadurch geforderte Freiräume und Platz für kreatives Planen und Bauen von vornherein nicht eingeschränkt. Dieses Regelwerk liefert den Baubeteiligten, insbesondere den Sachkundigen Planer im Teil 1 Abschnitt 3 im Gegenteil durch die Benennung der einschlägigen Planungsgrundsätze im Bereich der Instandhaltung von Betonbauwerken eine entscheidende Hilfestellung. Freiräume und 100 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung Hilfestellungen für kreatives Planen und Bauen werden nicht eingeschränkt, sondern durch entsprechende Hinweise ermöglicht. Im Abschnitt A2 - Brandschutz - formuliert die Bay TB Allgemeine Anforderungen an Bauliche Anlagen aus Gründen des Brandschutzes und verweist in diesem mehrseitigen Text, der sich inhaltlich an einzelnen Bauteilen und Anlagenausrichtet, lediglich sporadisch auf die einschlägige DIN 4102-2. Im Abschnitt A 2.2 werden bzgl. Planung, Bemessung und Ausführung Richtlinien angeführt, die sich im Ergebnis als Planungs- und Ausführungshilfen erweisen (z. B. Holzbaurichtlinie mit Hinweis auf die Abweichungsmöglichkeit nach Art. 63 BayBO). Im Abschnitt A3 - Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz - verweist die Bay TB unter dem Abschnitt A3.2 bzgl. der Anforderungen an die Planung, Bemessung und Ausführung ausschließlich auf Richtlinien und nicht auf DIN-Normen. Der Abschnitt A4 der TB Bayern - Sicherheit und Barrierefreiheit - liefert ein gutes Beispiel für die Reduktion baurechtlicher Anforderungen durch ETB bzgl. der Grundanforderungen im Bereich Sicherheit und Barrierefreiheit bei der Nutzung. Zwar wird für Wohnungen die DIN 18040-2: 2011-09 als ETB eingeführt, jedoch werden in der Anlage A 4.2/ 3 Bay Ausnahmen formuliert und Spielräume gelassen. Technische Regeln, auf die in der Norm hingewiesen wird, werden von der Einführung als nicht erfasst bezeichnet. Damit lässt die ETB den Parteien Freiräume. Gleiches gilt nach obigen Ausführungen für die Anforderungen an den Schallschutz im Abschnitt A 5 der TB Bayern. Im Abschnitt A 6, Wärmeschutz, der TB Bayern wird auf die DIN 4108 Teile 2, 3, 4 und 8 in den je verschiedenen Ausgaben verwiesen. 3.4 Ergebnis Wenn die MVV-TB und die daran ausgerichteten Länder- TB mit einem Umfang von ca. 350 bis 370 Seiten auch den Eindruck machen, hiermit liege ein striktes bauordnungsrechtliches Regelwerk vor, das die Planungsfreiheit unverhältnismäßig einschränkt, bedarf dieser Eindruck der Korrektur. Den Technischen Baubestimmungen geht es um die Konkretisierung der Schutzziele des §-3 MBO und der Grundanforderungen an Bauwerke mit dem Ziel, diese Schutzziele zu verwirklichen. Zahlreiche als ETB eingeführte DIN-Normen verwirklichen ein feinsinniges Normierungskonzept, das den Planern noch Freiräume lässt. In Verweisung genommene Richtlinien und weitere zusätzliche Hinweise in Anlagen erweisen sich als Planungs- und Ausführungshilfen. Im Ergebnis wird die Katharsis der MVV-TB bzgl. des Gebäudetyps E nach hier vertretener Auffassung bescheiden ausfallen. 4. Die Beziehungsbesonderheit im Bereich des Bürgerlichen Rechts Im Bereich des Bürgerlichen Rechts - BGB und HOAI - wie auch im spezifischen Vertragsrecht stellt sich die Rechts- und Sachlage grundsätzlich völlig anders dar. Die Besonderheit besteht darin, dass die genannten Normbereiche wie auch die eventuell einschlägige Verdingungsordnung für Bauleistungen - jedenfalls im Teil der VOB/ B - grundsätzlich nicht an schriftlich niedergelegten überbetrieblichen oder sonstigen Technischen Regeln anbinden, sondern die Anknüpfung letztlich an dem unbestimmten Rechtsbegriff „anerkannte Regeln der Technik“ oder „allgemein anerkannte Regeln der Technik“ erfolgt. Das Werkvertragsrecht des BGB stellt in §-633 Abs.-2 Satz 2 Nr.2 bei Fehlen anderweitiger Mangelfreiheitsparameter - vereinbarte Beschaffenheit, vertraglich vorausgesetzte Verwendungseignung - auf die gewöhnliche Verwendungseignung ab, wobei diese Anforderung um zwei weitere Kriterien erweitert wird. Ergänzend muss das Werk nämlich eine Beschaffenheit aufweisen, die bei Werken der gleichen Art üblich ist und die der Besteller nach der Art des Werks erwarten kann. Was das für den Gebäudetyp E bedeutet, ist die entscheidende Frage. Denn es geht darum, die Anforderungen an die gewöhnliche Verwendungseignung des Gebäudetyps E in einer Weise zu konkretisieren, dass ein standardisierter Maßstab als Bewertungsrundlage entsteht, der sich gerade von dem Maßstab der anerkannten Regeln der Technik unterscheidet. Der „Gebäudetyp E“ repräsentiert einen abgesenkten, nämlich schlichteren Maßstab. Wollen die Vertragsschließenden Parteien einen höheren Standard, sind dem entsprechend Beschaffenheiten zu vereinbaren oder Verwendungseignungsanforderungen zu formulieren, die den Standard übertreffen, der durch den Gebäudetyp E als Programm und gleichzeitig als werkvertraglich geschuldeten Erfolg vorgegeben wird. Ein Vertrag, nach dessen Inhalt ein Bauwerk in Ausrichtung am „Gebäudetyp E“ zu planen und zu bauen ist, hat ein Bausoll zum Gegenstand, das sich vom nach §-633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB geschuldeten Bausoll unterscheidet. 4.1 Der „gordische Knoten“ Wenn die Konkretisierung dieser gewöhnlichen Verwendungseignung mittels der Verkehrssitte und deren nähere begriffliche Festlegung letztlich mittels der anerkannten Regeln der Technik erfolgt, wird der „gordische Knoten“ des Gebäudetyps E in der Beziehung zum Werkvertragsrecht des BGB wie auch der VOB/ B deutlich: Soll mit dem Gebäudetyp E einfaches, nachhaltiges und bezahlbares Bauen verwirklicht werden, kann das, was gewöhnlich geschuldet wird, gerade kein Maßstab für die Sachmangelfreiheit eines Gebäudes sein, das nach den Kriterien des Gebäudetyps E errichtet worden ist. Der Gebäudetyp E steht für eine Modellwechsel. Das „E“ steht für ein Programm, das sich von dem „gewöhnlichen Programm“ unterscheidet. Bestimmen die anerkannten Regeln der Technik das „gewöhnliche Programm“, muss praktisch gesehen, für den Gebäudetyp E ein „eigenstän- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 101 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung diges Programm“ als Bausoll/ Leistungssoll entwickelt werden. Der Rückgriff auf das „gewöhnliche Programm“ muss gleichsam ausgeschlossen werden, weil dieses auf den Gebäudetyp E nicht zugeschnitten ist. Denn wird mit dem Gebäudetyp E eine eigenständige, neue Bauart geschaffen, können die Sachmangelfreiheitskriterien des § 633 BGB oder § 13 Abs. 1 VOB/ B nicht unverändert zur Anwendung kommen. Entweder müssen die Vertragsparteien insoweit im Vertrag Besonderheiten vorsehen - gleichgültig ob Architekten-/ Ingenieurvertrag oder Bauvertrag - oder - was wohl geboten ist - § 633 BGB muss sich zu den Sachmangelfreiheitskriterien der Bauart „Gebäudetyp E“ gesondert verhalten. Wie dieser höchst allgemeine Ansatz in die Tat umgesetzt werden kann, ist die Frage und erweist sich als das entscheidende werkvertragliche Problem. 4.2 Individuelle oder generelle Lösung? Soll nach den Vorstellungen zum „einfacheren Bauen“ ein „Gebäudetyp E“ geschaffen werden, scheidet systemkonform eine individuelle Problemlösung aus. Wenn bauordnungsrechtlich und damit als Folge auch bautechnisch der „Gebäudetyp E“ strukturiert ist, bietet sich an, diese Struktur auf das Bauvertrags- und Architektenvertragsrecht zu übertragen. Zugespitzt bedeutet dies im Endergebnis den bürgerlich rechtlichen Normierungsbedarf für einen „Bauvertrag Gebäude Typ E“. Das hat selbstverständlich Auswirkungen auf Planerverträge, denn i.S. des § 650p Abs. 2 BGB wären dann notwendig mit dem „Gebäude Typ E“ entsprechende Planungs- und Überwachungsziele verbunden. Dieser Ansatz führt zu einer generellen Lösung deshalb, weil dann auch werkvertraglich mit einem Bau- oder Architektenvertrag, der ein Gebäude nach dem Gebäudetyp E zum Inhalt hat, der geschuldete Erfolg nach Maßgabe gleichsam des „Leitbilds Gebäude Typ E“ generell vorgegeben ist. 4.2.1 Radikale Umsetzung der generellen Lösung - Maßstab des Bauordnungsrechts auf Maßstab des Privatrechts Das insbesondere durch § 633 BGB begründete Problem, dass Mangelfreiheit die Eignung des Werks für die gewöhnliche Verwendungseignung voraussetzt, und das Werk die Beschaffenheiten aufweisen muss, die bei Werken der gleichen Art üblich sind und die der Besteller nach der Art des Werkes erwarten kann, kann äußerst radikal dadurch gelöst werden, dass die durch das „Bauordnungsrecht für den Gebäudetyp E und damit insbesondere die MVV-TB Gebäudetyp E“ geschaffenen Maßstäbe auch für das Werkvertragsrecht gelten. Im Ergebnis würde das bedeuten, dass mehr als die Grundanforderungen an Bauwerke nicht geschuldet sind. Das ist jedoch nach Sinn und Zweck von vorherein deshalb nicht zielführend, weil die Grundanforderungen nicht den gesamten Kanon baulicher Qualitätsanforderungen an die Leistung abdecken. 4.2.1.1 Identität der Maßstäbe Spricht man sich für eine Identität der Maßstäbe aus, wären die für den Gebäudetyp E geltenden bauordnungsrechtlichen Maßstäbe auch werkvertragsrechtlich einschlägig. Werkvertraglich wäre nicht mehr geschuldet als bauordnungsrechtlich. Für die Mangelfrage würde das bedeuten, dass sich der Erfolgsmaßstab aus dem Bauordnungsrecht und nicht aus den anerkannten Regeln der Technik, geschweige denn aus der VOB/ C ableitet. Diese Lösung wäre radikal, weil sie die Mangelbeurteilung entscheidend vereinfacht: Geht es um den Vorwurf der Verletzung von Brandschutzvorschriften, sind ausschließlich die diesbezüglich für den Gebäudetyp E eingeführten ETB maßgeblich. Werden Fliesenbeläge z. B. hinsichtlich der Fugenausbildung und der Ebenheit beanstandet, würde ausschließlich der Maßstab im Raum stehen, ob dadurch die Nutzung unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten eingeschränkt ist. Maßvorgaben in einschlägigen DIN-Normen oder VOB/ C-Regeln wären bedeutungslos. Diesbezüglich gibt es in den MVV-TB auch keine konkretisierenden Anforderungen. Geht es um die Anforderungen an textile Bodenbeläge oder Beläge aus Holz, wäre der Maßstab dem Bauordnungsrecht zu entnehmen und damit konkretisierend der Rückgriff auf die MVV-TB für den Gebäudetyp E. 4.2.1.2 Gewollte Defizite der MVV-TB Nicht nur im Bereich des Innenausbaus erweist sich der Regelungsinhalt der MVV-TB wegen der alleinigen Ausrichtung an den Grundanforderungen an Bauwerke und an den Schutzzielen als defizitär. Was z. B. die textilen Bodenbeläge betrifft, enthält der Anhang 9 der MVV- TB nur den Hinweis auf die technische Regel „Textile Bodenbeläge“ in Ergänzung zu den „Anforderungen an bauliche Anlagen bezüglich des Gesundheitsschutzes“, womit der textile Bodenbelag ausschließlich in Verbindung mit dem Gesundheitsschutz behandelt wird. Verlegeregeln und damit qualitative Anforderungen an die Ausführung fehlen. Dieses Defizit trifft auf verschiedene Gewerke des Innenausbaus zu, so z. B. für Fliesen, Bodenbelag aus Holz, das Malergewerk. Der Fokus des Bauordnungsrechts liegt in diesen und anderen Bereichen auf dem Gesundheitsschutz, der Verkehrssicherheit, dem Feuchte- und Wärmeschutz. Sonstige qualitative Anforderungen werden entsprechend der Ausrichtung am Schutzziel unterlassen. Dem entsprechend spielt auch der Bereich der optischen Anforderungen im Rahmen des Bauordnungsrechts und damit den MVV-TB keine Rolle. Diese Feststellung betrifft durchaus auch Rohbaumaßnahmen, also z. B. die Wärmedämmverbundsysteme. In der gegenwärtigen MVV-TB erfolgt in der Rubrik A 2.2 unter A 2.2.1.5 der Verweis auf die „WDVS mit EPS- Sockelbrandprüfverfahren: 2016-06 (s. Anhang 6), womit lediglich ein Zusammenhang mit dem Brandschutz geschaffen wird. Im Übrigen gelten nach der Rubrik A.6.2 die Mindestanforderungen an den Wärmeschutz nach der 102 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung DIN 4109-2: 2013-02 und die Anlage A 6.2/ 1. Würde nach dem unter Ziff. 2.2.1.1 genannten Konzept hierdurch der Maßstab für das werkvertragliche Bausoll vorgegeben, wäre damit ein Rückgriff auf die Technischen Richtlinien für die Planung und Verarbeitung von Wärmedämm- Verbundsystemen des Bundesausschusses für Farbe und Sachwertschutz, Merkblatt Nr. 21, ausgeschlossen. Die ohne weiteres erweiterungsfähigen Beispiele verdeutlichen: Die vorhandenen bauordnungsrechtlichen Regeln einschließlich deren Konkretisierung in den MVV- TB reichen nicht aus, um die Forderung nach einer Identität der Prüfungsmaßstäbe nach dem Bauordnungsrecht und dem werkvertraglichen Bausoll für einen Gebäudetyp E begründen zu können. Das Dilemma belegen auch z. B.: Gesprungene Fliesen, aufgehende Fugen in einem Bodenbelag, Risse im Putz, Putzabplatzungen, die Ausführung von Beschichtungsarbeiten ohne Ansätze und Streifen usw. sind nicht das Thema der bauordnungsrechtlichen Schutzziele. 4.2.1.3 Folgerung aus der Zielsetzung des Bauordnungsrechts Das Bauordnungsrechts stellt an die handwerkliche Tauglichkeit von Bauleistungen Anforderungen aus einem speziellen Blickwinkel, die sich aus dem Gebot ableiten, dass beim Bauen die öffentliche Sicherheit und Ordnung beachtet werden müssen. Das spiegelt sich in den „Grundanforderungen an Bauwerke“ wider, die in der Bauproduktenverordnung angeführt werden. Danach sind Risse in einer Wandscheibe aus Beton oder Mauerwerk nur dann von Bedeutung, wenn dies auf zu große Verformungen der tragenden Baukonstruktion zurückgehen, nicht aber dann, wenn davon keine Rede sein kann. Putzabplatzungen und aufgehende Fugen können bauordnungsrechtlich allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Grundanforderung an die Verkehrssicherheit bedeutsam sein. Ein Bauwerk nach Maßgabe des Gebäudetyps E darf sich jedoch nicht nur darin erschöpfen, den Qualitätsmaßstab „Sicherstellung der Grundanforderungen an Bauwerke“ nach Maßgabe des Bauordnungsrechts zu erreichen. Ein Bauwerk nach Maßgabe des Gebäudetyps E muss auch gewerkebezogen die Handwerklichen Anforderungen an ein Bauwerk erfüllen. 5. Handwerkliche Anforderungen an ein Bauwerk - Nutzungsanforderungen Das bedeutet: Neben den bauordnungsrechtlichen Anforderungen nach Maßgabe einer MVV-TB Gebäudetyp E ist eigenständig ein gewerkebezogener Maßstabskatalog zu entwickeln, der die handwerklichen Anforderungen definiert, wenn diese allein durch die „Grundanforderungen an ein Bauwerk“ nach dem Konzept eines Gebäudetyps E nicht abgebildet werden. Das bedeutet im Ergebnis und in Abgrenzung zu den „Grundanforderungen“ die Beschreibung von solchen Anforderungen, bei deren Erfüllung die Nutzungs- oder Verwendungstauglichkeit einer einfachen Bauweise sichergestellt ist. Sind die „Grundanforderungen“ so konzeptioniert, dass bei deren Verfehlung die Nutzung des Bauwerks angesichts dessen Zustands ausgeschlossen ist, geht es also um die Beschreibung von „Nutzungsanforderungen“, worunter solche verstanden werden sollen, bei deren Verfehlung die Nutzung des Bauwerks eingeschränkt und nicht aufgehoben ist. Diesbezüglich wird es Ansätze für die Ausbildung von „Klassen“, also „Nutzungsklassen“, geben, wie es Schallschutzklassen oder Effizienzklassen gibt. Und - so die These - mit dem Gebäudetyp E sollte, wenn dieser Typus für „einfaches Bauen“ steht, definitorisch eine Nutzungsklasse verbunden sein, z. B. die Nutzungsklasse I, die einschließt die Sicherstellung der Grundanforderungen an Bauwerke und die Nutzung auf einer zu beschreibenden Stufe/ Klasse. Als Beispiel: Im Bereich des Sichtbetons gibt es nach dem Merkblatt des Deutschen Beton- und Bautechnik- Vereins „Sichtbeton“ die Sichtbetonklassen SB 1 bis SB-4. Im Bereich Putz und Trockenbau gibt es die Klassen Q 1 bis Q 4. Hierbei handelt es sich um optische Qualitätsstufen als Anforderungsklassen. Sonstige Qualitätsanforderungen z. B. hinsichtlich der Zusammensetzung des Betons oder Putzes nach Maßgabe z. B. der Druckfestigkeit oder der Expositionsklasse sind damit nicht verbunden. Bei Putzen gibt es unter dem Gesichtspunkt der Druckfestigkeit sog. Druckfestigkeitskategorien CA I bis CS III. Abgesehen von der DIN 4109 als ETB für den Bereich Schallschutz gibt es für Gläser und Fenster die Schallschutzklassen 1 bis 3. 5.1 Ziel „Gebäudetyp E“- Ausdruck einer Nutzungsklasse als Baustandard Nicht zielführend dürfte sein, den Gebäudetyp E lediglich damit zu verbinden, dass Auftraggeber und Planer in die Lage versetzt werden, ein Bauwerk nach den höchst eigenen Vorstellungen zu errichten und dabei von den anerkannten Regeln der Technik z. B. in Gestalt von DIN- Normen oder sonstigen Regelwerken anerkannter Regelwerksetzer frei gestellt zu sein. Vorgeschlagen wird, den Gebäudetyp E als ein Bauwerk einer eigenständigen und zu definierenden Nutzungs- oder Qualitätsklasse zu qualifizieren. 5.2 Klassifizierung als ein möglicher Schlüssel Der Begriff „Klasse“ und damit der Ansatz einer Klassifizierung ist im Bereich des Bauens nicht unbekannt. Die Technische Regel Instandhaltung (TR IH), Fassung 2020 kennt im Abschnitt 5 des Teils 1 den Begriff „Altbetonklasse“, die DIN EN 335 und die DIN EN 459 arbeiten mit der Bezeichnung Gebrauchsklassen bei Holz und die DIN EN 338 formuliert Festigkeitsklassen für Bauholz. Einbruchhemmende Türen werden nach Widerstandsklassen eingeteilt (DIN EN 1627 und DIN V 18103); im Bereich Parkett kennt man Sortierungsklassen (DIN EN 13489, Tabelle 4). Sichtbeton wird in Sichtbetonklassen nach dem Sichtbeton-Merkblatt des Deutschen Beton- und Bautechnik-Vereins eingeteilt. Die DIN EN 350 kennt den Begriff Dauerhaftigkeitsklasse und die DIN EN 14411 unterscheidet Fliesen nach Klassen. Der Anhang 15 der BayTB wie auch die DIN 18531 verwenden den Begriff „Beanspruchungsklasse“. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 103 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung Es liegt nahe, den Gebäudetyp E als eine eigenständige Nutzungs- oder Qualitätsklasse zu verstehen, worunter ein „einfaches Bauen“ verstanden werden soll. Eine in diese Richtung weisende Typologie, die freilich mit Einzelkriterien zu konkretisieren ist, setzt sich von der Vorstellung ab, mit dem Gebäudetyp E ein höchst individuelles, mehr oder weniger techniknormfreies Bauwerk zu verbinden. Mit einer derartigen Klassifizierung gelingt es auch, dem Funktionalitätsgedanken, der geeignet ist, die Qualitätsansprüche über die beschriebenen Beschaffenheiten hinaus zu erstrecken 3 , aus praktischer und theoretischer Sicht Grenzen zu setzen. Wenn sich nämlich danach der vertraglich geschuldete Erfolg nicht allein nach der zu seiner Erreichung von den Parteien vereinbarten Leistung oder vereinbarten Leistungsart bestimmt, sondern auch danach, welche Funktion das Werk nach dem Willen der Parteien erfüllen soll, dann wird über eine zwischen den Parteien vereinbarte Qualitätsklassifizierung auch die Funktionserwartung und damit gewollte Funktionalität nach Inhalt und damit Funktionstauglichkeit bestimmt. Eine Klassifizierung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die funktionale Herstellungspflicht. 4 Eine Klassifizierung beeinflusst das Leistungs-/ Bausoll. Sie ist geeignet, eine Einschränkung der Funktionalität zu bewirken. 5 Die Klassifizierung als Skalierungsmethode ist geeignet, von vornherein zu einer Funktionalitätseinschränkung zu führen. 6 Die Klassifizierungsmöglichkeit erweist sich als ein Mittel zur plakativen Beschreibung der Funktionsanforderungen i.S.d. § 7a Abs.-2 Nr. 2 VOB/ A. Die Klassifizierung ist nicht ohne Einfluss auf die Funktionsgrade, also die Funktionsqualität. 7 5.3 Gebäudetyp E als Bauwerk nach den Vorstellungen des Auftraggebers? Um ein Bauwerk zu planen und erstellen, das der Auftraggeber unter Abkehr von praktizierten und bewährten Regeln geplant und errichtet wissen will, bedarf es eines solchen Typs nicht. Das lässt sich bereits nach gegenwärtiger Rechtslage unter Haftungsfreistellung von Planern, Unternehmern und Handwerkern erreichen, so diese Berufsgruppen nur mit Argusaugen ständig darauf achten, den Auftraggeber, der solches will, über die damit verbundenen Risiken und Folgen umfassend aufzuklären und diese Aufklärung zusätzlich noch ausreichend zu dokumentieren. Denn einfach und experimentierfreudig zu bauen, ist Sache des Auftraggebers mit der Folge, dass irgendwelche Haftungsansprüche gegen Baubeteiligte ausscheiden, wenn die gewollte Einfachheit und Experimentierfreude zu Nutzungsversagen oder -einschränkungen, also zu Mängeln im Vergleich zur gewöhnlichen Verwendungseignung führt. Die betroffenen Baubeteilig- 3 Vgl. BGH U.v. 16.7.1998 - VII ZR 350/ 96, BauR 1990, 37; BGH U.v. 29.9.2011 - VII ZR 87/ 11, BauR 2012, 115, 117; BGH U.v. 25.06.2015 - VII ZR 220/ 14, BAuR 2015, 1664 Rn. 33. 4 Vgl. OLG Hamm U.v. 13.7.2017 - 24 U 117/ 6; rechtskräftig nach BGH B.v.10.7.2019 - VII ZR 208/ 17, IBR 20,4. 5 Vgl. BGH U.v. 15.5.2013 - VII ZR 257/ 11, BauR 2013, 1468 Rn. 13. 6 Vgl. OLG Oldenburg U.v. 14.03.2021 - 2 U 122/ 20, IBR 2022, 59; BGH U.v. 15.5.2013 - VII ZR 257/ 11, BAuR 2013, 1468 Rn. 13. 7 Vgl. OLG Naumburg U.v. 30.7.2021 - 2 U 49/ 19, BAuR 2022, 926, 937. 8 OLG Hamm U.v. 4.4.2002 - 34 U 132/ 01,BauR 2003,1570, 1572. 9 OLG Hamm U.v. 4.4.2002 - 34 U 132/ 01,BauR 2003,1570, 1572. ten sind aber von der Haftung nur freigestellt, wenn beweiskräftig volle Aufklärung erfolgte und - noch besser - ein Haftungsverzicht schriftlich erklärt worden ist. Ohne eine solche Vorsichtsmaßnahme kommen Sachmängelansprüche in Betracht, wobei hinzukommt, dass nach den einschlägigen Versicherungsbedingungen eventuell jegliche Einstandspflicht der Berufshaftpflichtversicherung ausscheidet. Praktisch muss sichergestellt sein, dass ein solcher Auftraggeber auf die Geltendmachung von Sachmängelhaftungsansprüchen verzichtet. Jeder Baubeteiligte müsste in einer solchen absolut risikobehafteten Situation auf einen unterschriebenen Haftungsverzicht bestehen, denn ob die Aufklärung im gebotenen Umfang im konkreten Fall tatsächlich erfolgte, ist eine Frage des Einzelfalles. Solche Fallgestaltungen können systematisch auch nicht einem Gebäudetyp E zugeordnet werden, weil es keine allgemeinen typischen Merkmale gibt, sondern es geht um die Planung und Erstellung eines höchst individuellen Bauwerks, das ein Auftraggeber - teilweise - ohne Bindung und Einhaltung von Normen errichtet wissen will. Auftraggeber und Auftragnehmer können ohne weiteres vertraglich Beschaffenheiten vereinbaren, die im Ergebnis von einschlägigen Technikregeln - auch von anerkannten Regeln der Technik - abweichen. Beide Parteien können auch vereinbaren, sich bzgl. des zu planenden und auszuführenden Bauwerks auf ein Experiment einzulassen. 8 Ist sich der Auftraggeber dessen bewusst, bestehen nicht einmal Hinweispflichten des Auftragnehmers. 9 Die Auftragnehmer, die vertraglich jedoch auch gehalten sind, darüber hinaus darauf zu achten, dass das Werk den gewöhnlichen Verwendungsanforderungen entspricht, müssen „lediglich“ beweiskräftig dafür sorgen, dass sich der Auftraggeber der Risiken bewusst ist. Deshalb ist massive Aufklärung erforderlich. 5.4 Gebäudetyp E als Modell für „rechtssicheres einfaches Bauen“ Die Betonung liegt auf „einfaches Bauen“, also soll das Ziel ein „einfacher Bau“ sein. Der Einsatz kostenintensiver Standards, der gem. existierender Technikregeln nach Maßgabe heutiger Qualitätsvorstellungen technisch erwartet wird, soll rechtlich nicht geschuldet sein, wenn sich die Parteien auf die Planung und die Errichtung eines Bauwerks nach dem Gebäudetyp E geeinigt haben. Bauordnungsrechtich gesprochen soll danach der Gebäudetyp E eine Bauart sein, die in ihrer Grundstruktur bzgl. Rohbau, Innenausbau und technischer Gebäudeausrüstung durch Einfachheit der Bauweise charakterisiert und dadurch auch kostengünstiger wird. Das macht verschiedene Überlegungen notwendig: 104 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung 5.4.1 Tatsächliche Untersuchung Daraus folgt in einem ersten Schritt eine tatsächliche Untersuchung. Zu untersuchen ist, wo liegen im Bereich Rohbau, Innenausbau und technischer Gebäudeausrüstung die Kostentreiber? Was ist dabei an Maßnahmen notwendig dem Klimaschutz geschuldet und damit unverzichtbar und worauf kann verzichtet werden, wenn der gewöhnliche Maßstab unterschritten wird. 5.4.2 Ausgelöster Entscheidungsbedarf der Parteien bei Entscheidung für ein Bauwerk nach dem Gebäudetyp E Sind auf dem Markt in verschiedenen Gewerke gewerkeüblich Qualitätsstandards vorhanden, haben die Parteien die Aufgabe, eine Entscheidung hinsichtlich des gewünschten Standards zu treffen (z. B.: Trockenbau und Putz nach Q 2, Sichtbeton nach SB 3 gem. Sichtbeton- Merkblatt; vgl. oben Ziff. 5.2). 5.4.3 Typologische Vorentscheidung durch Beschreibung des Leistungssolls bei einem Bauwerk nach Maßgabe des Gebäudetyps E Im Bereich des Wohnungsbaus gibt es technische Regelwerke, die Leistungsstandards z. B. in Form von bestimmten Ausführungsregeln vorgeben und diese als Mindeststandard qualifizieren. Nach hier vertretener Auffassung sollte den Gebäudetyp E generell charakterisieren, dass dieses Mindest-Bausoll unmaßgeblich ist mit der Folge, dass insoweit auch keine Beratung und Aufklärung über einen höheren Komfort geboten ist. Das bedeutet z. B., dass den Gebäudetyp E typologisch kennzeichnen kann: Für die Planung und Errichtung des Objekts als Gebäudetyp E sind in überbetrieblichen und sonstigen Technikregeln anerkannter Regelwerksetzer enthaltene Aussagen über eine Mindestausstattung oder ähnlich lautende „Mindestanforderungen“ unerheblich. Beispiel: Die DIN 18015 -2: 2021-10 trifft die Aussage, dass die in dieser Norm festgelegte Anzahl der Stromkreise, Steckdosen, Auslässe und Anschlüsse die Mindestausstattung darstellt. Folgerung: Wer sich für den Gebäudetyp E entscheidet, kann sich unabhängig von Beratung nicht darauf berufen, dass diese Normvorgabe das werkvertragliche Bausoll bestimmt. Das setzt jedoch voraus, dass bzgl. gerade der elektrischen Anlagen in Wohngebäuden ein eigenständiger Maßstab entwickelt wird, der letztlich am tatsächlichen Leistungsstand auszurichten ist. Unter Sachmangelfreiheitsgesichtspunkte kann es dann nur darum gehen, ob dieser einvernehmlich so vereinbarte Leistungsstand sachgerecht und mangelfrei ausgeführt worden ist. Beispiel: Die DIN 18022 befasst sich mit den Planungsgrundsätzen für Küchen, Bäder und WCs und enthält z. B. in der Tabelle 3 und den Bildern 3 bis 9 Vorgaben über seitliche Mindestabstandsstellflächen in Bädern und WCs. Folgerung: Diese Normvorgabe gilt nicht für den Gebäudetyp E und ist damit nicht für das Bausoll maßgeblich. Praktisch sollte mit dem Begriff „Gebäudetyp E“ und folglich mit einem Vertrag über ein Bauwerk nach Maßgabe des Gebäudetyps E eine ganz bestimmte Vorstellung verbunden sein, wie das z. B. bei einem Schlüsselfertigvertrag der Fall ist, wonach das Bauwerk komplett zu erstellen ist. Mit einem Ausbauvertrag ist diese Komplettheit nicht verbunden. Mit dem Bauvertrag nach den Regeln des Gebäudetyps E sollte eine inhaltliche Vorstellung dahin verbunden sein, dass das Bauwerk im Vergleich zu sonstigen Bauwerken in abgesenkter Qualität, eben als „einfaches Bauwerk“ erstellt wird. Das wird im Ergebnis dazu führen, dass die vereinbarte Art und der vereinbarte Umfang der Leistung für die Mangelfreiheit maßgebend sind und nicht daran angesetzt wird, ob das Ausgeführte hätte besser gemacht werden können. 5.5 Aufgabe und Ziel Die werkvertragliche Aufgabe ist demnach nicht einfach zu erledigen und setzt wohl im Ergebnis voraus, dass es gelingt, hinsichtlich der werkvertraglichen Einstandsverpflichtung umsichtige vertragliche Formulierungen zu finden, die es ermöglicht, gleichsam der Haftung nach §-633 Abs.-2 BGB zu entrinnen. 5.5.1 Ziel Es gilt Formeln zu finden, dieses „einfache Bauen“, dem dann auch ein „einfaches Planen“ entspricht, so zu beschreiben, dass der geschuldete werkvertragliche Erfolg auch unter Gewährleistungsaspekten konkretisierbar ist. Der Gebäudetyp E sollte begrifflich als Aussage für ein bestimmtes Bausoll/ Erfolgssoll stehen. Letztlich erscheint es als erforderlich, bei einem Bauvertrag über ein Bauwerk nach Maßgabe des Gebäudetyps E die Benennung des Vertragsobjekts als „Gebäude nach Maßgabe des Gebäudetyps E“ rechtlich als eine Beschaffenheitsvereinbarung zu begreifen, was freilich voraussetzt, dass die diesen Gebäudetyp charakterisierenden Qualitäten beschrieben werden können. Ergänzend muss verhindert werden, dass insbesondere über § 633 BGB das Ziel eines einfachen Bauens unter Sachmängelhaftungsgesichtspunkten nicht ad absurdum geführt wird. Hierfür können verschiedene Stellschrauben hilfreich sein, so z. B. die Vereinbarung, das Objekt nach Maßgabe des Qualitätsstandard „Gebäudetyp E“ zu errichten, als eine Beschaffenheitsvereinbarung einzustufen. Insbesondere muss verhindert werden, dass die Mangelhaftigkeit des Objekts bejaht wird, wenn die anerkannten Regeln der Technik über die gewöhnliche Verwendungseignung i. S. d.§ 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB entscheiden, und die „typischen Beschaffenheiten“ des Gebäudetyps E von der durch die anerkannten Regeln der Technik geprägten gewöhnlichen Verwendungseignung abweichen. 5.5.2 Weg Wie das gelingen kann, ohne dass für die Klassifikation „Gebäudetyp E“ ein „Wust“ von gewerkespezifischen Aussagen notwendig ist, erweist sich als schwierig. Zwischen Einzelaussagen und generellen Aussagen wird zu unterscheiden sein. Das mit einem Gebäudetyp E verbundene Bausoll muss dermaßen tauglich sein, dass die 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 105 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung damit verwirklichte einfache Bauweise nicht am Maßstab der Verwendungseignung gemessen wird, die die anerkannten Regeln der Technik als die gewöhnliche Verwendungseignung bestimmen. 6. Der Konflikt mit den anerkannten Regeln der Technik Dieser Ansatz führt zu einem grundsätzlichen Konflikt mit den anerkannten Regeln der Technik und dem §-633 Abs- 2 Satz 2 Nr. 2 BGB zugrundeliegenden Bausoll, dass das versprochene Werk den Anforderungen einer gewöhnlichen Verwendungseignung zu genügen und damit Beschaffenheiten aufzuweisen hat, die bei Werken der gleichen Art üblich sind und vom Auftraggeber auch erwartet werden. Ein Auftraggeber, der zum Ausdruck bringt, ein Bauwerk geplant und umgesetzt haben zu wollen, das dem Qualitätsstandard Gebäudetyp E entspricht, will gerade nicht die Beschaffenheiten verwirklicht wissen, die bei Werken der gleichen Art üblich sind. Diese Beschaffenheiten erwartet er nicht, er will einfacher und damit auch kostengünstiger gebaut wissen. Die Vereinbarung, dass der Qualitätsstandard Gebäudetyp E maßgeblich ist, erweist sich dann als eine „Nein-Aussage“ zur Maßgeblichkeit der anerkannten Regeln der Technik, soweit dieser Qualitätsstandard gilt. Beispiel: Wird vereinbart, dass die Leitungen auf Putz verlegt werden, ist eine Norm, die die Verlegung der Leitungen unter Putz als anerkannte Regel der Technik ausweist, kein Maßstab für die Beurteilung der Mangelfreiheit und für die Antwort auf die Frage, ob damit eine Funktionalitätsvereinbarung verletzt wird und damit ein Mangel zu bejahen ist. Gleiches gilt, wenn vereinbart wird, keinen Unterputzspülkasten zu verwenden, sondern dieser Kasten sichtbar an der Wand befestigt wird. Schließen die Parteien einen Bauvertrag nach Maßgabe des Qualitätsstandards Gebäudetyp E ab, kann die Funktionalität keinen Vorrang gegenüber der Herstellungsvereinbarung haben, wie das sonst im Allgemeinen so angenommen wird. 10 Dann gilt auch kein Vorrang der anerkannten Regeln der Technik, denn die individuelle Vereinbarung, die als vereinbarte Beschaffenheit zu werten ist, schließt es aus, die Maßgeblichkeit der anerkannten Regeln der Technik als stillschweigend vereinbarte Beschaffenheit anzusehen. 11 6.1 Ausgangspunkt und § 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB Diese Beschaffenheitsvereinbarung „geschuldet wird eine einfache Bauweise gemäß dem Gebäudetyp E“ darf nicht durch das Sachmangelfreiheitkriterium § 633 Abs.- 2, Satz2, Nr. 2 BGB „überspielt“ und damit wirkungslos werden, also gleichsam daneben und zusätzlich 10 Grüneberg/ Retzlaff, BGB, 83. Aufl, § 633 Rn. 5. 11 BGH U.v. 7.3.2013 - VII ZR 134/ 12, NZBau 2013, 295 Rn. 12. 12 Grüneberg/ Retzlaff, BGB, 83. Aufl, § 633 Rn. 6; Leupertz/ Preussner/ Sienz/ Popescu, Bauvertragsrecht, 2. Aufl., 2021, § 633 Rn. 85; Kniffka/ Jurgeleit, Bauvertragsrecht, 4. Aufl., 2022, § 633 Rn. 37 (allerdings als stillschweigend vereinbarte Beschaffenheit). 13 BGH U.v. 24.5.2012 - V ZR 182/ 12, NZBau 2013, 697 Rn. 25BauR 2013, 1443; vgl. BVerwG U.v. 30.9.1996 - 4 B 175.96, BauR 1997, 290; OLG Brandenburg U.v. 18.6.2009 - 12 U 164/ 08, BauR 2010, 100. 14 Vgl. OLG Naumburg U.v. 30.7.2021 - 2 U 49/ 19, BauR 2022, 926, 937. einen Verwendungsmaßstab bilden. Denn der in § 633 Abs.-2 Satz 2 Nr. 2 BGB dreifach bestimmte Sachmangelfreiheitskatalog wird letztlich durch die Verkehrssitte und diese nach allgemeinem Verständnis durch die anerkannten Regeln der Technik bestimmt. 12 Da nach BGH DIN-Normen die - allerdings widerlegbare - Vermutung für sich haben, Ausdruck der anerkannten Regeln der Technik zu sein, 13 und damit ein durch DIN-Normen bestimmter Qualitätsmaßstab zum Mangelfreiheitsparameter wird, soweit nicht die DIN-Normen Abweichungen zulassen, ist für den Qualitätsstandard „Gebäudetyp E“ dafür zu sorgen, dass dieser Maßstab nicht gilt. 6.2 Umsetzungsmöglichkeit Der Hinweis auf Ausführungen des DIN in der DIN 820 Beiblatt 3: 2016-10 im Abschnitt 3, DIN-Normen seien nur eine Empfehlung, und im Abschnitt 5.1, eine Norm sei nur eine Erkenntnisquelle für technisch-ordnungsgemäßes Verhalten, ändert nichts an den Folgen der von der Rechtsprechung entwickelten Vermutungswirkung. Deren Folgen, dass damit die Regelwerke anerkannter Regelwerksetzer zum Mangelfreiheitsmaßstab werden, ist deshalb im Rahmen des vereinbarten Qualitätsstandard „Gebäude Typ E“ vorzubeugen. 6.2.1 Qualitätsstandard „Gebäude Typ E“ als Beschaffenheitsvereinbarung Als eine Möglichkeit kommt in Betracht, einem Bauvertrag an geeigneter Stelle voranzustellen, dass das fragliche Bauobjekt nach dem Qualitätsstandard „Gebäudetyp E“ geplant und umgesetzt wird, und sich deshalb der Verwendungszweck und die Funktionalität aus der Baubeschreibung und den sonstigen Vertragsunterlagen, insbesondere einem Leistungsverzeichnis ergeben, und ein Rückgriff auf den Sachmangelfreiheitsmaßstab der anerkannten Regeln der Technik mit der Folge eines abweichenden Zwecks oder Funktionalität ausgeschlossen ist. Im Ergebnis muss erreicht werden, dass der Funktionsgrad 14 oder das Funktionalitätsniveau durch die Baubeschreibung bestimmt wird. Das kann mit einer Beschaffenheitsvereinbarung erfolgen und im Ergebnis dazu führen, dass die Anwendbarkeit der Sachmangelfreiheitskriteriums nach § 633 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BGB ausgeschlossen wird. Diese Möglichkeit beeinflusst das Bausoll, weswegen der Vertragsschluss und der Vertragsinhalt zu bedenken sind. Zu überlegen ist, die im Verbraucherbauvertrag enthaltenen Regeln in § 650j und § 650j BGB wie auch Art. 249 §§-1,2 EGBGB fruchtbar zu machen. § 650k Abs.-2 BGB führt den Komfort- und Qualitätsstandard, der sich aus der Leistungsbeschreibung ergibt, ein. Dies könnte für den Gebäudetyp E folgende Vereinbarung als zulässig er- 106 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Der Gebäudetyp E - eine technische und rechtliche Herausforderung scheinen lassen: „Die Parteien vereinbaren als Beschaffenheit des Objekts, das nach Maßgabe des „Gebäudetyps E“ (einfaches bzw, experimentelles Bauen) zu planen und zu errichten ist, den Qualitätsstandard und die Funktionalität, der sich aus dem Vertrag, den Vertragsunterlagen und insbesondere der Leistungsbeschreibung ergibt. Bauordnungsrechtliche Anforderungen bleiben unberührt.“ 6.2.2 Nachträgliche Auseinandersetzung im Gewährleistungsfall Fehlt es an einer solchen vorbeugenden Lösung, könnte erwogen werden, den Umstand, dass die Parteien den Qualitätsstandard „Gebäudetyp E“ vereinbart haben, in den Sachmangelhaftungsstreit einzubringen. Beruft sich nämlich der Auftraggeber zur Mangelbegründung auf die Nichteinhaltung von Technikregeln anerkannter Regelwerksetzer und auf die Vermutung, damit seien die anerkannten Regeln der Technik verletzt worden, was auch die Vermutungswirkung hinsichtlich eines Mangels auslöst, 15 kann darauf verwiesen werden, dass diese Vermutung widerlegbar ist. Das Vorliegen des Mangels könnte damit widerlegt werden, dass die Parteien nicht den Qualitätsstandard „Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik“, sondern den Standard vereinbart haben, der sich aus den zur Ausführung vereinbarten Leistungen ergibt und Verwendungszweck sowie Funktionalität bestimmt. 6.3 Allgemein anerkannte Regeln für den Qualitätsstandard „Gebäudetyp E“? Die Entwicklung eines DIN-Normenwerks für „einfaches Bauen“ dürfte von vornherein ausscheiden. Dieses Ziel verträgt sich nicht mit den Grundsätzen der Normungsarbeit nach DIN 820-1: 2014-06. Nach deren Abschn. 7.7 ist der Inhalt der Normen an den Erfordernissen der Allgemeinheit zu orientieren. Darüber hinaus haben die Normen den jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik sowie die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Deren Regeln sind für eine allgemeine Anwendung bestimmt. Normen speziell für „Einfaches Bauen“ zu schaffen, scheitert an der Vielzahl von Möglichkeiten, „Einfaches Bauen“ zu verwirklichen und hat einen konkreten Einzelfall zum Gegenstand, berührt also nicht die Allgemeinheit. Der „Gebäudetyp E“, der „einfaches“ und „experimentelles“ Bauen ermöglichen soll, muss werkvertraglich so konzipiert werden, dass die jeweiligen Baubeteiligten fall- und damit objektbezogen die Möglichkeit haben, sich von dem gewöhnlichen Maßstab für sachmangelfreies Bauen zu dispensieren. Das schließt die Freiheit ein, Qualitäten und Funktionalitätsansprüche zu vereinbaren und damit den Rückgriff auf Funktionalitätsansprüche, die sich aus anerkannten Regeln der Technik und gewöhnlichen Beschaffenheiten üblicher Werke ergeben, zur Mangelbegründung auszuschließen. Die Frage ist, ob sich dieses Bedürfnis in der Fassung des §-633 BGB berücksichtigen lässt. 15 OLG Brandenburg U.v. 18.6.2009 - 12 U 164/ 08, BauR 2010, 100. 16 Vgl. OLG Hamm U.v. 13.7.2017 - 24 U 117/ 16, IBR 20,4, 7. Konsequenzen für die Fassung des § 633 BGB Das wirft auch die Frage auf, ob bzgl. des „Gebäudetyps E“ die Möglichkeit besteht, die Vorschrift § 633 BGB darauf hin abzustimmen und zu formulieren. Es kann sich anbieten, den Absatz 2, Satz 1 wie folgt zu formulieren: „Das Werk ist frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat und die daraus sich ergebende Funktionalität aufweist.“ Hintergrund des Vorschlags: Es soll verhindert werden, dass die sich aus der Beschaffenheitsvereinbarung ergebende Funktionalität oder der sich daraus ergebende Funktionsgrad mithilfe anderer Zwecke einer Veränderung mit der Folge der Mangelbegründung zugeführt werden kann. Dem Funktionsgedanken als Katalysator für Leistungspflichterweiterungen sollte Einhalt geboten werden. 16 Konsequent wäre es dann auch, den Abs.2 Satz 2 wie folgt zu formulieren: „Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist das Werk frei von Sachmängeln, 1. wenn es sich für die nach dem Vertragsinhalt vorausgesetzte, ……..“. Dann würde der Vertragszweck aus dem Vertragsinhalt abgeleitet werden, also wäre das Dach nur wasserundurchlässig zu erstellen und nicht wasserdicht, wenn eine Abdichtungsebene nicht im Leistungsverzeichnis ausgeschrieben ist. Bei der Nr. 2 verbliebe es, denn außerhalb des von der Beschaffenheitsvereinbarung und dem Vertragszweck nach dem Vertragsinhalt betroffenen Leistungsbereich bleibt es bei dem Maßstab der üblichen Verwendungseignung, auf dessen Einhaltung die Parteien vertrauen, weil insoweit Abweichendes nicht vorgesehen ist. 8. Zusammenfassung Die Arbeit am Bauordnungsrecht wird sich als machbar erweisen, wenn für das Gebäude Typ E bzgl. ETB darauf geachtet wird, dass deren Inhalt strikt an der Sicherstellung der Schutzziele und damit der Grundanforderungen an Bauwerke ausgerichtet ist und keine Überschreitung erfolgt. Werkvertraglich erscheint ein Zugriff als aussichtsreich, das „einfache Bauen nach dem Gebäudetyp E“ als Beschaffenheitsvereinbarung zu vereinbaren und in dieser Beschaffenheitsvereinbarung zugleich vorzusehen, dass die Verwendungstauglichkeit und Funktionalität der Leistung durch die Vertragsunterlagen und Vertragsbestandteilen, insbesondere das Leistungsverzeichnis, und den sich daraus ergebenden Qualitätsstandard bestimmt werden. Denn allgemeine Qualitätsstandards für „einfaches Bauen“ zu entwickeln, dürfte an der Komplexität der Aufgabenstellung und daran scheitern, dass überbetriebliche Normen der Sache nach der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sind und nicht dazu, individuellen Ansprüchen zu genügen. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 107 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen Marc Gutermann Institut für Experimentelle Statik, Hochschule Bremen Zusammenfassung Der rechnerische Tragfähigkeitsnachweis von Bestandsbauwerken setzt voraus, dass alle wesentlichen Parameter bekannt sind und die Ausführung den Bauvorschriften entspricht. Führen rein rechnerische Beurteilungen trotz umfassender Material- und Bauwerksuntersuchungen zu negativen Ergebnissen, kann der Nachweis ausreichender Tragsicherheit alternativ durch den Einsatz experimentell gestützter Verfahren gelingen. Diese können im Besonderen bei Mauerwerksbauten erfolgsversprechend sein, da die rechnerischen Annahmen aufgrund des inhomogenen Auf baus (Stein und Fuge) meist sehr auf der sicheren Seite liegen. 1. Grundlagen experimenteller Untersuchungen 1.1 Einführung Mehr als 60 % der Bauleistungen werden heute im Bestand umgesetzt ([1], S. 8). Die Bandbreite reicht vom Umbau moderner Stahlbetonskelettbauten bis zu historischen Unikaten mit baugeschichtlich interessanten Tragkonstruktionen. Eine wesentliche Voraussetzung für Nutzungs- und Investitionsentscheidungen ist der Nachweis ausreichender Tragsicherheit für die gewünschten Lastansätze. Die letzten Jahrzehnte waren gekennzeichnet durch einen eindrucksvollen Einzug der elektronischen Datenverarbeitung in alle Bereiche des Bauwesens. In der Statik lässt sich jedes Problem in immer besseren und umfangreicheren Rechenprogrammen modellieren und lösen. Umso detaillierter jedoch die Software, desto mehr Parameter müssen eingegeben, und damit Annahmen getroffen werden. Oftmals eine Herausforderung für den Tragwerksplaner, wenn trotz umfangreicher Materialprüfungen zuverlässige Daten über Baustoffe und -konstruktion fehlen oder Schäden eine zuverlässige Bewertung erschweren. Abschnitt 1.5 des WTA-Merkblatts „7-4“ [2] schlägt als Lösungsstrategie ein stufenweises Vorgehen vor: 1. Abschätzung der Tragsicherheit, z. B. aufgrund vorhandener Unterlagen 2. Überschlägige Berechnung der Tragsicherheit, z. B. mit einfachen Berechnungsmodellen und Prüfen von Materialproben 3. Genaue Berechnung der Tragsicherheit, z. B. mit komplexen FE-Berechnungsansätzen und -modellen und Zuverlässigkeitsbewertung der Ergebnisse 4. Messwertgestützte Ermittlung der Tragsicherheit (Kapitel 11 des WTA-Merkblatts „7-4“ [2]: In Situ Prüfverfahren) In Situ Prüfverfahren bieten als letzte Stufe eine Alternative zur konventionellen Verstärkung oder Abriss und Neubau, insbesondere, wenn diese nicht wirtschaftlich oder wie bei denkmalgeschützten Bauten nicht akzeptabel sind. Hier können über die Materialprüfung hinaus wesentliche Parameter für einen rechnerischen Nachweis ermittelt werden, oder Probebelastungen direkt nach Beendigung Planungssicherheit für den Baufortschritt bringen. Denn ein Rechenmodell bleibt immer ein Modell und kann die physikalische Wirklichkeit nur so gut beschreiben wie zutreffend seine Annahmen waren. Und letztere liegen selbstverständlich immer auf der sicheren Seite. Abb. 1: Last-Reaktionsbeziehung eines Bauwerks In Situ Prüfverfahren bewerten den aktuellen Tragwerkszustand inklusive aller realen Randbedingungen, sodass Unsicherheiten wegfallen und die Lasten deutlich über das rechnerisch nachgewiesene Lastniveau gesteigert werden können (Abb. 1). Die Bandbreite möglicher Einsatzgebiete ist nahezu unbegrenzt. Einige Beispiele aus dem Mauerwerksbau sind in Tabelle 1 aufgeführt und werden in den nachfolgenden Kapiteln exemplarisch vorgestellt. Planungs- und Ausführungsdetails einiger Projekte können der jeweils zitierten Literatur entnommen werden ([8]-[12] und [14]). 108 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen Tabelle 1: Beispiele erfolgreicher In Situ Prüfungen im Mauerwerksbau Belastungsversuche Systemmessung Überwachung Hochbau Kappendecken, Stahlsteindecken, Fassaden Austausch eines Kämpfersteines Erschütterungen (aus Zugverkehr) Ingenieurbau Gemauerte Abwassersysteme, Durchlässe - - Wasserbau Haltekreuze in Schleusen Anker von Spundwänden Kragstützwand Segmentwehr, Tordichtung Brückenbau Gewölbe- und Steinbogenbrücken (Straße u. Schiene) Gewölbebrücken (Schiene) Freischneidetechnik 1.2 Legalisierung Experimente sind Teil unserer Ingenieurgeschichte. Sie dienen der Absicherung neuer Bauweisen und helfen, theoretische Ansätze zu verstehen. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass nur durch Versuche und Erfahrung die komplexen Zusammenhänge der Werkstoffgesetze und Mechanik verständlich werden und Konstruktionsempfehlungen abgesichert werden können. Materialprüfungen liefern das Tragverhalten und den aufnehmbaren Widerstand an ausgesuchten Stellen. Soll darüber hinaus das Tragverhalten von Teilbereichen oder kompletten Tragstrukturen ausgelotet werden, können Belastungsversuche mit messtechnischer Ausstattung des Versuchskörpers sinnvoll sein (Abb. 6, 8, 9 und-11). Je nach Zielrichtung kann in drei unterschiedliche Verfahren unterschieden werden [3]: A) Tragsicherheitsbewertung B) Systemmessungen C) Tragfähigkeitsmessungen (Bruchversuche) Jedes Konzept hat seine prädestinierten Einsatzbereiche und ist gekennzeichnet durch unterschiedlich hohen Aufwand (C > A > B), so dass für jedes Objekt entschieden werden muss, ob das erwartete Ergebnis im Verhältnis zum Aufwand steht. Die Ergebnisqualität ist zudem von der Erfahrung der durchführenden Stelle abhängig, so dass bei komplexen Strukturen und aufwändigen Messverfahren ausschließlich erfahrene Fachleute eingesetzt werden sollten. Die experimentelle Tragsicherheitsbewertung ersetzt den rechnerischen Nachweis der Standsicherheit und wird nach unserer Erfahrung sowohl von den Prüfingenieuren als auch der Bauaufsicht der Länder akzeptiert. In Einzelfällen wurde eine Zulassung im Einzelfall verlangt, es ist daher sinnvoll alle Beteiligten schon im Planungsprozess zu involvieren. Die grundsätzliche Eignung und Zulässigkeit des die Rechnung begleitenden experimentellen Tragfähigkeitsnachweises auf der Grundlage der Regelungen der DAfStb-Richtlinie [2] wurde auch von der Fachkommission „Bautechnik“ der ARGEBAU bestätigt [4]. Die versuchsgestützte Bemessung ist auch im aktuellen Normenwerk der Eurocodes enthalten, z. B. in den Grundlagen der Tragwerksplanung [5]. 1.3 Auswahl einer Stichprobe Soll durch stichprobenartige Versuche an Bauteilen oder Gebäudeteilen auf die Gesamtheit einer Mauerwerkskonstruktion geschlossen werden, ist durch geeignete flächenhafte Verfahren nachzuweisen, dass die Stichprobe entweder gleichartig zu den nicht untersuchten Bereichen ist, oder den am höchsten beanspruchten Bereich mit dem schlechtesten Erhaltungszustand darstellt. Verbleibende Unwägbarkeiten werden durch einen Sicherheitsabschlag berücksichtigt, dessen Betrag von der Qualität und der Quantität der Stichprobe abhängt [3]. 2. In-Situ Prüfverfahren 2.1 Test von Mauerwerksteilbereichen 2.1.1 Schlitztechnik (Flat-Jack) Die Methodik und Technologie zur experimentellen Ermittlung vorhandener Eigengewichtsdehnungen wurde an Mauerwerks- und Betonprobekörpern erprobt. Seit Jahrzehnten wird die „Schlitztechnik“ zur Bestimmung von Spannungszuständen im Tunnelbau [6] und Mauerwerksbau angewendet ([7], Abb. 2): Quer zur Hauptdruckspannungsrichtung wird ein Schlitz gesägt, dessen Umgebung mit Sensoren ausgestattet ist. Danach wird in diesen Schlitz ein Hydraulikkissen geschoben und aufgepumpt, bis die Sensoren das Wiedererreichen des Ausgangszustands anzeigen. Die „eingefrorene“ Druckspannung, sowie Informationen über den E-Modul können aus dem Öldruck und der Kissengeometrie ermittelt werden. Abb. 2: Das „Flat-Jack“-Verfahren Dieses Verfahren liefert qualitativ brauchbare Ergebnisse, hat aber nach BINDA [7] für Mauerwerk wesentliche Grenzen, wenn • Zugspannungen (Dehnungen) eingetragen sind, • sich der Ausgangszustand nicht wiederherstellen lässt (Interpretationsprobleme), • das Gleichgewicht am oberen Schnitt wegen geringer Auflast fehlt (z. B. am oberen Rand einer Wand), 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 109 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen • kleine Dehnungen/ Beanspruchungen vorliegen (Zuverlässigkeit der Ergebnisse) und • das Mauerwerk sehr inhomogen ist oder sehr geringe Festigkeiten besitzt (Interpretation der Ergebnisse) Werden zur Dehnungsmessung Dehnungsmessstreifen (DMS) benutzt, bleibt ihr Messbereich örtlich begrenzt. Es können bei einem inhomogenen Strukturaufbau „Stein/ Fuge“ nur für einen Werkstoff Informationen gewonnen werden. Bei Belastungsversuchen an Mauerwerksbrücken und anderen Anwendungen hat sich die integrale Dehnungsmessung bewährt. Dabei wird über eine Basislänge l die Wegänderung ∆l gemessen. Über die Beziehung ε = ∆l/ l kann die Dehnung ermittelt werden. Die Messsensoren sind einfach und schnell anzubringen und sind auch bei gekrümmten und schroffen Oberflächen flexibel anzupassen. Weitere Möglichkeiten, effektive Werkstofffestigkeiten und -steifigkeiten zu bestimmen, reichen von zerstörungsfreien Methoden wie Rückprallhammerversuchen bis zu zerstörungsarmen Verfahren, wie Probenentnahmen. Aber auch letztere sind mit Unsicherheiten behaftet, da die damit erlangten Materialparameter nicht direkt für die maßgebende Lastrichtung gewonnen werden können und die Gefahr besteht, dass die Proben durch Entnahme und Transport gestört sind. 2.1.2 Freischeidetechnik (FreD) Bestehende Mauerwerksbauteile haben neben unbekannten Materialfestigkeiten einen unbekannten vorhandenen Dehnungszustand ε 0 (Abb. 1). Seine Abschätzung muss wegen vielfältiger Imponderabilien sehr konservativ erfolgen. Durch Weiterentwicklung bestehender Verfahren (Flat-Jack) wurde eine neue experimentelle Methode entwickelt, die in-situ nicht nur die aktuelle (ε 0 ), sondern auch die maximal zulässige Beanspruchung (Bruchdehnung ε u ) bestimmt (Abb. 3 und [8]). Mit der mobilen Prüfzange werden nebenbei Informationen über die Spannungs-Dehnungslinie und das Elastizitätsmodul E m = σ/ ε gewonnen. Das Anwendungsgebiet ist der Hoch- und Ingenieurbau. Besonders vielversprechend ist das Verfahren bei der Bewertung von denkmalgeschützten Bauteilen und Gewölbebrücken aus Mauerwerk. Das Verfahren ist jedoch noch nicht ausgereift. Um das Verfahren standardmäßig einsetzen zu können, müssen noch weitere Ergebnisse und Erfahrungen gesammelt werden. Abb. 3: Phasen der Freischneidetechnik (a und b) sowie der in situ Materialprüfung mittels FreDnip (c bis e, jeweils Ansicht und Querschnitt) [8] 2.2 Belastungsversuche von Tragwerken oder -teilen 2.2.1 Systemmessungen - Versuche zur Strukturidentifikation Systemmessungen überprüfen mit einem moderaten Aufwand das aktuelle Tragverhalten, um z. B. bekannte Schäden zu überwachen oder Berechnungsannahmen zu verifizieren. Die Belastung muss unterhalb des maximal Gebrauchslastniveaus (Abb. 1) dabei einerseits so hoch gewählt werden, dass das Tragverhalten der Konstruktion unter den planmäßig auftretenden Nutzlasten angemessen beurteilt werden kann und darf andererseits nicht so hoch sein, dass kritische Bauwerksreaktionen eintreten. Die Verformungen bleiben vorwiegend im linear-elastischen Bereich. Nichtlineare Untersuchungen bei höheren Beanspruchungszuständen können im Nachgang mit den entsprechenden Unsicherheiten an einem kalibrierten Berechnungsmodell durchgeführt werden. Wenn die Schwachstellen bekannt sind und konkrete Grenzwerte festgelegt werden können, taugen Langzeitmessungen auch zum Monitoring, das bei zuvor definierten Veränderungen Aktionen auslösen kann (Alarm, Information, Sperrung, …). 2.2.2 Tragsicherheitsbewertung - Belastungsversuche oberhalb der Gebrauchslast Tragsicherheitsbewertung bedeutet, dass das Tragwerk oberhalb der Gebrauchslast bis zur Versuchsziellast (Abb.-1) belastet wird, also inkl. dem Ansatz von Teilsicherheitsbeiwerten. Dadurch kann es ggf. auch nichtlineares Verformungsverhalten aufdecken. Der Aufwand für Belastungs- und Messtechnik ist jedoch groß. Die Versuchslasten müssen regelbar und selbstsichernd die Beanspruchungen im Tragwerk simulieren, denen es nach Normung widerstehen muss, ohne die Gebrauchstauglichkeit oder Dauerhaftigkeit negativ zu beeinflussen. Dazu ist das Bauteil zuvor mit der dafür notwendigen Belastungs- und Messtechnik auszustatten (z.-B. Kräfte, Verformungen, Dehnungen, …). Gängige Sensoren zur Zustandsbewertung von Bauwerken sind: • Kraftmessdosen zur Anzeige der eingeleiteten Kraft • Wegaufnehmer zur Analyse von Durchbiegungen, Verschiebungen, Rissweiten oder Dehnungen, die integral über die Beziehung ε = ∆l/ l bestimmt werden. • Dehnungsmessstreifen zur örtlichen Kontrolle von Beanspruchungen • Neigungssensoren zur örtlichen Analyse von Verdrehungen, z. B., um den Einspanngrad bei Auflagern oder Bauteilverbindungen zu bestimmen. • Schallsensoren zur Analyse besonderer Ereignisse, die Schall freisetzen, wie z.-B. Rissentstehung oder Rissuferreibung. Der aktuelle Bauteilzustand kann besser eingeschätzt werden, so dass Belastungen oberhalb des Gebrauchslastniveaus auch bei sprödem Materialverhalten möglich sind. • Bei jeder Messung, im Besonderen im Freien, sollten die Umweltbedingungen wie z.B. die Lufttemperatur [°C] oder Windgeschwindigkeit [m/ s] aufgezeichnet werden, um die äußeren Einflüsse auf die Messung zu dokumentieren. 110 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen Dabei ist bei der Planung Vorsicht geboten. „Wer viel misst, misst Mist“ ist ein geflügeltes Sprichwort und umschreibt zutreffend den Umstand, dass die gewonnenen Daten oft parallel auf Plausibilität geprüft sowie analysiert werden müssen. Dies setzt eine gewisse Erfahrung voraus. Die historische Methode, Versuchslasten durch Ballast aufzubringen, ist der modernen und regelbaren Technik gewichen, Lasten hydraulisch im Kräftekreislauf zu erzeugen. So werden selbstsichernd die Beanspruchungen im Tragwerk simuliert, denen es nach Normung widerstehen muss. Im Hochbau werden dazu mobile Belastungsvorrichtungen genutzt, die kleinteilig transportiert und individuell an jede Aufgabe anpasst werden können (vgl. Abb. 9). Die Technologie ermöglicht eine variable Anpassung an unterschiedliche Bauwerksgeometrien und ist für Versuchslasten bis zu F ≤ 750 kN pro Rahmen einsetzbar. Ein Tragwerk ist in der Regel in ca. 3 Tagen untersucht, wovon jeweils 1 Tag für Installation der Belastungs- und Messtechnik, für die Messungen und den Abbau benötigt wird. Für Brücken kommen besondere Fahrzeuge zum Einsatz (Straßenbrücken: Belastungsfahrzeug BELFA [9]; Eisenbahnbrücken: Belastungswaggon BELFA-DB), die an der Hochschule Bremen in kooperativen Forschungsprojekten mit der TU Dresden, der HTWK Leipzig und der BU Weimar entwickelt wurden. Das Potenzial von Probebelastungen ist groß: die gemessenen Reaktionen sind überwiegend kleiner als die rechnerisch prognostizierten (Abb. 1), und die Versuchsziellast wird ohne Überschreiten eines Grenzkriteriums erreicht. Als Konsequenz kann empfohlen werden, die nachgewiesenen Tragreserven z.-B. für eine Nutzlasterhöhung zu verwenden. Aus unserer langjährigen Erfahrung betragen die Zuwächse zum Beispiel bei Massivbauwerken mindestens 30-50 % und können in Ausnahmefällen auch über 100 % liegen (Abb. 4 und [10]). Das Ergebnis liegt direkt nach Beendigung der Versuche vor und ist so lange gültig, bis wiederkehrende Bauwerksprüfungen Anlass für weitere Untersuchungen geben - wie bei einem Neubau auch. Abb. 4: Steigerungspotenzial der Nutzlast durch Belastungsversuche (Torte = Gesamttragfähigkeit einer Massivdecke) 3. Erläuterungen an Beispielen (Möglichkeiten und Grenzen) 3.1 Gewölbebrücke Drimbornstraße in Aachen Gewölbebrücken besitzen oftmals enorme Tragreserven, die meist durch Hinterfüllung und Lagerungsbedingung zu erklären sind. Das Tragwerk ist rechnerisch nur schwer zutreffend zu beschreiben - insbesondere, wenn die Struktur vorgeschädigt ist. Anstelle von Belastungsversuchen, die die Tragsicherheit direkt nachweisen, können hybride Verfahren angewendet werden: wesentliche Bauwerksreaktionen werden unter Betriebslasten gemessen, um FE-Rechenmodelle auf der Grundlage der Ergebnisse anzupassen und den aktuellen Lastabtrag abzubilden. Materialkennwerte werden durch geeignete Verfahren (s. Abschnitt 2.1) gewonnen und ergänzen den rechnerischen Nachweis. Als Beispiel sei die Gewölbebrücke Drimbornstraße in Aachen aufgeführt (Abb. 5, Baujahr 1892). Sie überführt die mehrgleisige Bahnstrecke 2600 bei km 68.493 über eine zweispurige Straße. Das Bauwerk besteht aus Vollziegeln mit zwei vernachlässigbaren Langlöchern und Kalkzementmörtel. Die Lagerfugen sind luftseitig nachverfugt. Mittels Rückprallhammer wurde vorab eine gleichmäßige Festigkeitsverteilung in den Messortbereichen festgestellt. Das Bauwerk teilt sich über die Breite von B-=-34,6-m in insgesamt 3 Teilabschnitte mit unterschiedlicher Höhe auf. Es wurde hauptsächlich der südwestliche Bogen untersucht (max. L H = 8,94 m). Aufgrund des schlechten Bauwerkszustandes (Zustandsnote 3-4) sollte die aktuelle Tragsicherheit experimentell gestützt geführt werden. Dazu wurden • Materialproben entnommen und geprüft, • das Flat-Jack-Verfahren (Abb. 2) sowie die Freischneidetechnik eingesetzt (Abb. 5) und • Bauwerksreaktionen während Zugüberfahrten gemessen. Abb. 5: Messorte der Freischneidetechnik im Gewölbequerschnitt und FreDnip im Einsatz Mit den gewonnenen Daten wurden ein nichtlineares FE-Scheibenmodell kalibriert, so dass die maßgebenden Nachweise für die Lastbilder gemäß UIC 71 und RIL-805.0203 rechnerisch geführt werden konnten. Der Materialwiderstand war durch die Freischneidetechnik und ergänzende konventionelle Materialprüfungen zu f D,MW,d- =-2,16-N/ mm² abgeschätzt worden. Die eingetragene Dehnung ε 0 durch Eigengewicht wurde als zusätzliche Kontrolle und Validierung der getroffenen Annahmen überprüft und stimmte mit den experimentell gewonnenen Daten ausreichend gut überein (Ergebnisse Flat-Jack und Freischneidetechnik: ε 0- ~-50-µm/ m). Die Tragsicherheit der Gewölbebrücke wurde für die Lastmodelle der Vorschriften (Lastbilder nach UIC 71, bzw. nach RIL 805.0203) am kalibrierten FE-Modell in 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 111 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen maßgebender Position erfolgreich nachgewiesen. Sofern die erkennbaren Durchfeuchtungsschäden beseitigt und die Lastansätze eingehalten werden, gilt der Nachweis bis zur Feststellung weiterer Bauwerksschäden anlässlich der wiederkehrenden Bauwerksinspektion (i.d.R. alle 6 Jahre). 3.2 Belastungsversuche eines gemauerten Durchlasses (Hannover) In der Eilenriede der Landeshauptstadt Hannover befinden sich diverse Wegebrücken und Durchlässe mit Stützweiten l s ≤ 6,00 m, deren Original-Unterlagen nicht mehr vorlagen oder bei denen statische Berechnungen keine zufriedenstellenden Ergebnisse lieferten. Für die Bewirtschaftung des Forstes werden die Brücken jedoch mit schweren Fahrzeugen befahren. Es bot sich als alternative Nachweismethode an, Belastungsversuche durchzuführen. Aufgrund der unbefestigten, engen und zum Teil verschlungenen Wege wurde ein Konzept entwickelt, um unter Nutzung eines Mobilkrans als Gegengewicht Versuchslasten bis zu 330 kN wirtschaftlich und vor allem risikoarm zu erzeugen (Abb. 6). Dabei führt der Mobilkran (GMK 4100 mit G ~ 50 t) die Nachweise schrittweise an mehreren Positionen durch und prüft sich quasi selbst die gefahrlose Auffahrt. Das Verfahren ist in [11] ausführlich beschrieben und wurde unter der Nr. 10 2017 118 041.9 zum Patent eingetragen. Abb. 6: Mobilkran in Prüfposition über dem gemauerten Durchlass Die Tragfähigkeiten, definiert durch das statische System und den Bauteilwiderstand (Geometrie und Material), waren so groß, dass die Lasten bei allen Versuchen ohne Erreichen eines Grenzwertkriteriums bis zur Versuchsziellast F Ziel ≤ 330 kN gesteigert werden konnten. Die Brücken wurden daher für die gewünschte Nutzlast BK 30 bzw. BK 9 als gebrauchstauglich und tragsicher eingestuft. Die Tragwerke zeigten dabei ein sehr gutmütiges Verformungsverhalten. Für den gemauerten Gewölbedurchlass (l s -=-1,60-m, Überschüttung ca. 20 cm) wurden unter Gebrauchslast (BK 30) Scheiteldurchbiegungen von f V,Q -≤-0,05 mm notiert, selbst unter der Versuchsziellast blieb die Vertikalverformung unter f V,Ziel -≤-0,11-mm. Die horizontale Relativverschiebung der Kämpfer nach außen betrug weniger als f H,Ziel -≤-0,04-mm (Abb. 7). Die über Stein und Fuge integral gemessenen Dehnungen bzw. Stauchungen zeigten ebenfalls ein vorwiegend linearelastisches Verformungsverhalten und lagen für alle Lastpositionen im Wertebereich 99 µm/ m-≥-e exp -≥--207-µm/ m. Zum Vergleich: bei den bisher von uns durchgeführten In Situ Bruchversuchen (s. Abschnitt 2.1.2 und [8]) lag die Bruchdehnung bei ε u -≥--700 µm/ m, bei historischen Ziegeln sogar ε u -≥--1.000 µm/ m. Abb. 7: Messtechnische Ausstattung im gemauerten Durchlass Die technische Anwendungsgrenze der vorgestellten Belastungstechnik wurde in dem WiPaNo Forschungsvorhaben SyMoB (BMWI) untersucht und liegt bei Brücken mit Stützweiten bis l s - <- 8,0 m, bei denen der Lastfall „Schwere Einzelachse“ maßgebend ist. Bei größeren Brücken ist es zu empfehlen, auf bewährte Belastungssysteme wie das Belastungsfahrzeug BELFA [9] zurückzugreifen und letztendlich einen größeren technischen und damit auch finanziellen Aufwand in Kauf zu nehmen. 3.3 Systemmessung einer Eisenbahn-Stampf-betonbrücke mit Natursteinverblendung In Ehrwald, Österreich, überführt das Viadukt die Zugstrecke der Außerfernbahn eingleisig in einem leichten Linksbogen mit einem Radius R-=-200-m den Fluß Loisach sowie die Ehrwalder Straße B 187 (Abb. 8). Abb. 8: Südansicht Loisach-Viadukt „Ehrwald-Viadukt“, Tirol Die Gewölbebrücke besteht aus einem Stampf betonkern, der aufgrund der ortschaftsnahen Lage aus optischen Gründen mit Natursteinen aus der Umgebung verkleidet wurde. Ihre insgesamt 7 Öffnungen lassen sich in ein Hauptgewölbe (l w = 15 m), drei Nebengewölbe (l w -=-10-m) sowie 3 Spargewölbe (l w = 1,8 m) unterteilen (Abb.-8). Die Breite des Oberbaus mit dem Geländer beträgt ca. b o -=-5,2 m. Die Pfeilerbreite unten beträgt ca. b pu -=-5,6-m und oben ca. b po -=-4,5 m. Im Laufe der letzten Jahrzehnte 112 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen wurde das Objekt aufgrund von verschiedenen Schäden saniert und ertüchtigt. Im Jahr 1970 wurden die Stahlbetonkonsol- und Randsteine auf den Stirnwänden erneuert. Dabei wurden die Konsolen durch Stahlbetonquerträger im Abstand von 2,40-m miteinander gekoppelt und auf den Bestandsstirnwänden auf einer Mörtelfuge gelagert. Dadurch sind die Konsolen vom restlichen Bauwerk entkoppelt, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass über die Querträger auch Verkehrslasten direkt in die Stirnwände eingeleitet werden. Nachdem sich ein Längsriss zwischen Stirnwand und Gewölbebogen gebildet hatte und Steinfragmente des Verblenders aus dem Mauerwerksverbund herausgefallen waren wurde 2014 eine Sanierung des Natursteinmauerwerks veranlasst. Dabei wurden die Verblenderkalksteine neu eingemauert und verfugt. Das Verformungs- und Tragverhalten der Stampf betongewölbebrücke konnte in einem 2D-FE-Schalenmodell nachgebildet werden, indem das Rechenmodell anhand der experimentell ermittelten Bauwerksreaktionen aus Überfahrtsmessungen angepasst und kalibriert wurde [12]. Dabei konnte festgestellt werden, dass sich das Verblendmauerwerk am Lastabtrag beteiligt, das Bauwerk steifer ist als angenommen (mittragende Wirkung der Hinterfüllung) und die nachträglich eingebauten quer verlaufenden Stahlbetonriegel Lasten in die Stirnmauern einleiten. Die Berechnungen mit den maßgebenden Lastmodellen E4 ergaben, dass die Stampf betongewölbebrücke unter den angenommenen Bedingungen eine ausreichende Tragsicherheit bei einer Geschwindigkeit von 80 km/ h besitzt. Aufgrund der geringen Tragreserve (η-Werte) wurde folgende Nutzung vorgeschlagen: • regelhaft: Lastmodell D4 bei einer max. Geschwindigkeit von 80 km/ h • in Ausnahmen (z. B. Schwertransport): Lastmodell E4 bei einer maximalen Geschwindigkeit von 80 km/ h Dabei ist bei wiederkehrenden Bauwerksinspektionen ein besonderes Augenmerk auf eine sorgfältige Gleishaltung und auf Risse zu richten. Für die weitere Bauwerksüberwachung konnten die Stellen identifiziert werden, an denen weitere Rissbildung zuerst zu erwarten ist. 3.4 Baukunstarchiv Dortmund Das ehemalige Museum am Ostwall, 1947-1949 wiederaufgebaut, sollte 2016 zum Baukunstarchiv umgenutzt werden. Dadurch erhöhten sich die erforderlichen Nutzlasten der Kappendecken (Ziegelmauerwerk, halber Stein, Bj. 1872-1875) von bislang zulässigen 200-kg/ m² auf bis zu 500 kg/ m². Sie banden auf der einen Seite in Mauerwerk ein und auf der anderen, in Raummitte, diente ein Stahlträger als Auflager (Abb. 9). Die Kappendicken und Bogenstiche variierten stark. Die Belastungsversuche in einem maßgebenden Bereich (kleinster Bogenstich, größte Auf bauhöhe = Gewicht) ergaben zulässige Belastungen für 500-kg/ m². Maßgeblich verantwortlich dafür war sicherlich ein räumlicher Lastabtrag, in den auch der Stahlträger über Verbund eingebunden war - rechnerisch zwar nachzuvollziehen aber ohne Versuch nicht zu quantifizieren. Abb. 9: Querschnitt Lasteinleitung Kappendecke 3.5 Verblendziegelmauerwerk (Haftzugversuche nach Sanierung) Das Mauerwerk eines denkmalgeschützten Mehrfamilienhauses in Bremerhaven wurde im Jahre 1929 bereits mit Mängeln errichtet, so dass Feuchtigkeit in die Innenräume eindringen konnte. Es wurde bereits im Jahr 1938 saniert und seit 2007 weiter untersucht, um die Durchfeuchtung einzudämmen und die energetischen Eigenschaften zu verbessern. Dabei wurde eine ursprünglich bestehende Lastübertragung zwischen Fensterstürzen so verändert, dass dort nur noch (Wind-)Druckkräfte übertragen werden können. In der Windsogrichtung ist die Fassade auf einer Höhe von etwa 15,50 m (EG durchgemauert) nach der Sanierung nur noch durch Zuganker gehalten, deren Zustand nicht flächendeckend bestimmt werden konnte. Alle bestehenden Mängel ließen sich nach Aussage des Sachverständigen durch ein Verkleben der Hohlschicht mit Polyurethan-Schaum nach dem Everisol ® -Verfahren beseitigen [13]. Für eine Zulassung im Einzelfall war der Sanierungserfolg zu dokumentieren, insbesondere die sichere Übertragung von Schub- und Zugkräften zwischen Mauerwerk und PU-Schaum. Dazu wurden an insgesamt 6 Versuchsflächen stichprobenartig Haftzugversuche durchgeführt, um den Spannungsnachweis zu erbringen, und das Verformungsverhalten des PU-Schaumes zu dokumentieren. Die Versuche erfolgten in Bereichen, die anhand der folgenden Kriterien ausgewählt wurden: • Bewitterung (Mezzaningeschoss) • Mauerwerksqualität • Verputzung des Hohlschichtmauerwerks an der inneren Seite der äußeren Mauerwerksschicht. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 113 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen Abb. 10: Versuchsauf bau mit Messstand. Laststeuerung über Anziehen der Mutter Dabei wurde auf Kernbohrungen verzichtet, um die Klebefuge nicht bereits durch die Entnahme zu stören. Der Nachweis erfolgte in-situ durch Ziehen ganzer Steinbereiche (> 8 Ziegel), deren Fugen zuvor freigeschnitten worden waren (Abb. 10). Alle Bereiche zeigten sowohl bei den reinen Haftzugversuchen als auch bei den kombinierten Versuchen (eingetragene Vertikalverschiebung mit Haftzug) ausreichende Festigkeiten. Die Steifigkeiten variierten und wurden für Wiederholungsmessungen in den kommenden Jahren dokumentiert, um ggf. auf Materialveränderungen der Mauerwerksverfestigung schließen zu können. 3.6 Natursteingeländer In einem um die Jahrhundertwende errichteten Museumsbau sollte im Rahmen einer umfangreichen Sanierung das Natursteingeländer des Treppenhauses mit neuen Handläufen versehen werden, so dass die Holmhöhen den vorgeschriebenen Maßen entsprechen. Weil keine Konstruktionsunterlagen vorhanden waren, musste der Nachweis experimentell geführt werden (Abb. 11). Die Belastungsversuche wurden jedoch bereits bei geringen Lastniveaus wegen nichtlinearem und irreversiblen Kraft- Verformungsverhalten abgebrochen. Nur zwei Geländer erreichten annähernd die Tragfähigkeit historischer Berechnungsvorschriften. Ein eindrucksvoller Beleg, dass Schadensfreiheit während der Nutzung kein Garant für ausreichende Tragsicherheit ist. Zur Kompensation wurde ein vorgelagertes Stahlgeländer ergänzt. Abb. 11: Holmdruckprüfung Natursteingeländer 3.7 Unbewehrte Ziegeldecke (Försterdecke) Die „Kaiserliche Postdirektion“ wurde Anfang des 20. Jahrhunderts mit unbewehrten Ziegeldecken zwischen Stahlträgern errichtet (Abb. 12) und soll nun umgenutzt werden. Für den geplanten Schulbetrieb waren für die Decken Verkehrslasten von q k,min -=-3,00 bis q k,max.- =-5,00-kN/ m² (alt: q k -=-2 bis 4 kN/ m²) nachzuweisen. Ein zufriedenstellender rechnerischer Nachweis war auf der Grundlage der Unterlagen und Untersuchungsergebnisse nicht möglich. Insgesamt wurden 9 Försterdecken in 3 Gebäudeflügeln experimentell untersucht (Abb. 12). Die Kraft-Reaktions-Kurven zeigten ein vorwiegend linear-elastisches Verformungsverhalten. Nichtlineare Verformungen zeigten sich erst oberhalb der Gebrauchslast und waren hauptsächlich auf Gefügeveränderungen in den vermörtelten Hohlziegeln zurückzuführen. Anschließende Wiederholungsmessungen unter Gebrauchslast zeigten einen reproduzierbaren und reversiblen Kurvenverlauf. Die gemessenen Durchbiegungen unter Gebrauchslast (Abb. 1) lagen bei Stützenweiten von 1,10-≤-l s -≤-1,50-m zwischen 0,26-≤-f-≤-0,75 mm, wobei der Betrag nicht mit der Stützweite korrelierte. Die Ausführungsqualität war hier sicherlich das ausschlaggebende Kriterium. Abb. 12: Skizze der Belastungsvorrichtung einer zwischen Stahlträgern liegenden Försterdecke 4. Schlussfolgerungen und Ausblick In Situ Prüfverfahren loten die Tragwerksreserven bestehender Bauwerke aus und können selbst dann ein erfolgsversprechender Lösungsansatz sein, wenn rechnerische Analysen auf der Grundlage von Materialproben unbefriedigende Ergebnisse erzielt haben. Voranschreitender Computerhörigkeit trotzend bieten sie insbesondere bei Mauerwerksbauten eine wirtschaftlich attraktive Alternative zu Abriss und Neubau und leisten einen wichtigen Beitrag, um Baukultur zu bewahren. Die tatsächliche Tragfähigkeit wird neben der Ausführungsqualität und dem Erhaltungszustand von vielen Faktoren bestimmt, so dass dennoch im Einzelfall zu prüfen ist, inwiefern aufwändige experimentelle Untersuchungen wirtschaftlich sinnvoll sind. Hinweis Dieser Artikel wurde 2024 bereits anlässlich eines Sonderheftes des Fachzeitschrift Bausubstanz veröffentlicht [14] und erscheint hier in einer überarbeiteten sowie erweiterten Version. 114 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk - Möglichkeiten und Grenzen Literatur [1] Gorning, M.; Pagenhardt, L.: Bauvolumen dürfte erstmals seit der Finanzkrise nominal sinken-- Lage im Wohnungsbau spitzt sich zu. DIW Wochenbericht 1+2 (2024). DOI: https: / / doi.org/ 10.18723/ diw_wb: 2024-1-1 [2] Wissenschaftlich-Technische Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege e.V.: - - WTA (Hrsg.): WTA-Merkblatt 7-4 Ermittlung der Druckfestigkeit von Bestandsmauerwerk aus künstlichen kleinformatigen Steinen. Ausgabe 11.2021/ D [3] Deutscher Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb, Hrsg.): Richtlinie für Belastungsversuche an Betonbauwerken. Berlin: Beuth, Juli 2020.[4] Manleitner et al.: Belastungsversuche an Betonbauwerken. In: Beton- und Stahlbetonbau 96, 2011, Heft 7, S. 489. [5] DIN EN 1990 (2010-12): Eurocode 0 - Grundlagen der Tragwerksplanung, Anhang D (informativ). [6] Deutsche Gesellschaft für Erd- und Grundbau e.V. -DGEG-, Essen (Hrsg) Geotechnische Messungen in bestehenden Eisenbahntunneln. Essen: Verlag Glückauf GmbH, 1988 (Taschenbuch für den Tunnelbau; 22. Jahrgang). [7] Binda, L.; Tiraboschi, C.: Flat-Jack Test: A slightly destructive technique for the diagnosis of brick and stone masonry structures - Fraunhofer IRB - baufachinformation.de. Internationale Zeitschrift für Bauinstandsetzen und Baudenkmalpflege; 5-(1999), Nr. 5, S. 449-472. [8] Gutermann,- M.: Freischneidetechnik zur experimentellen Dehnungsermittlung an Mauerwerk zur Bausubstanzerhaltung und Ressourcen-schonung (FreD). Forschungsprojekt; Abschlussbericht. Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2012 (Reihe Wissenschaft; Bd. 28). [9] Gutermann, M.; Schröder, C.: 10 Jahre Belastungsfahrzeug BELFA. Bautechnik 88 (2011) 3, S. 199- 204. [10] Gutermann, M.; Schnieders, M.: Tragsicherheitsbewertung von historischen Deckentragwerken im Bestand - Hält das noch oder kann das weg? In: Bausubstanz. 13. Jahrgang, Ausgabe 1/ 2022, S.-36-43. Fraunhofer IRB Verlag, 2022. [11] Gutermann, M., Schröder, C., Böhme, C.: Nachweis von Straßenbrücken kleiner Stützweite am Beispiel von Wegebrücken in der Eilenriede, Hannover. In: Bautechnik 95 (2018), Heft 7. Berlin: Ernst & Sohn, 2018. S. 477-484. https: / / doi. org/ 10.1002/ bate.201800018 [12] Gutermann, M., Wasjuta, A., Tiefenthaler, K.: Experimentell gestützter Nachweis einer mit Naturstein verkleideten Eisenbahn-Stampfbetonbrücke. In: Patitz, G. (Hrsg.): Tagungsband 26. Natursteintagung, Karlsruhe: Fraunhofer IRB Verlag, 2020, S.-73-84. [13] Giffey, K.; Saxler, J.: Perfekter Halt für alle Wetterlagen. Verbesserung der Standsicherheit eines zweischaligen Mauerwerks. In: Bauen im Bestand-- Bautenschutz + Bausanierung, 40. Jahrgang, Nr. 6, 2017. Köln: Rudolf Müller Verlag, S.-20-25. [14] Gutermann, M.: „In-Situ-Prüfverfahren von Mauerwerk“. In Wigger, H. (Hrsg.): Mauerwerk aus künstlichen Steinen - Tragfähigkeit im Bestand bewerten. Bausubstanz Thema 3, Fraunhofer IRB Verlag, 01/ 2024, Seite 104-113, ISBN 9783738806434. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 115 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali Dipl.-Ing. Architektur Wieland Schmidt WSA Architekten, München Zusammenfassung Seit sieben Jahren entsteht in Mali für den CAAS ein Architekturprojekt, das den Anspruch erhebt, nicht nur die zunehmend komplexen funktionalen Anforderungen abzubilden, sondern auch den kulturellen Erwartungen und klimatischen Bedingungen des Landes gerecht zu werden. Die intensive Auseinandersetzung mit diesen Einflüssen erweist sich als Schlüssel für die Schaffung einer spezifisch an den Ort angepassten Architektur. Abb. 1: Der CAAS Campus vor den Ausläufern des Mandingo-Gebirges 1. Einführung 1.1 Ort Der Landstrich des „Mandé“ im Südwesten Malis umfasst zwanzig Kommunen, in denen rund 500.000 Menschen leben. In deren Mitte liegt auf halben Weg von Bamako nach Guinea die ländliche Kleinstadt Siby. Die Gemeinde Siby, die auch der Kleinstadt ihren Namen gibt, und das benachbarte Dorf Kalassa sind keine beliebigen Orte in Mali. Die Gegend zählt zu den malerischsten des Landes. Hier endet das Mandingo-Gebirge, ein ausgedehntes Hochplateau, in von weitem sichtbaren, steil abfallenden Felshängen. In diesen Gesteinsformationen finden sich nicht nur die ältesten Spuren menschlichen Lebens in Mali, sondern genau hier in Kalasssa fiel der Gründer des ersten Mali- Reiches im 13. Jahrhundert mit seinen Heerscharen aus der Höhe über die Feinde aus dem heutigen Guinea her. Die Gemeinde ist gleichsam die Keimzelle Malis. 116 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali Es war eine ungeschriebene Vorgabe für das Projekt, dass jede Architektur an diesem Ort dessen Bedeutung und der Dramatik der Landschaft gerecht werden muss. 1.2 Programm Hier, direkt an der Route Nationale Nr. 5, entsteht seit 2017 das Centre Agro-Alimentaire Siby, kurz: CAAS, eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für Mädchen und junge malische Frauen. Sie werden dort mit Methoden der Bodenverbesserung, modernen, produktiven und nachhaltigen landwirtschaftlichen Anbau- und Produktionstechniken, sowie Verfahren der Lebensmittelverarbeitung und -konservierung vertraut gemacht. Das Vorhaben setzt auf erneuerbare Energien, biologische Landwirtschaft und kleingewerbliche Verarbeitung. Für diese Zwecke hat das CAAS in Siby und Kalassa einen Unterrichts-Campus, einen Schulgarten (1ha) und einen landwirtschaftlichen Betrieb, die Farm (5 ha) errichtet. Eine Gesundheitsstation und Sportanlagen sind in Planung. Abb. 2: Übersichtsplan des Gesamtgebietes Im Unterschied zum Campus dient die Farm nicht allein der Ausbildung. Sie soll durch die Verarbeitung qualitativ hochwertiger Produkte die lokale Nachfrage beleben, die Wertschöpfung steigern, Frauen produktiv beschäftigen, beispielhaft in die Kommunen des Mandé hineinwirken und Wachstumseffekte auslösen, die aus der ländlichen Armut herausführen. Der Produktionsbetrieb hat Erdnuss, Karité und Maniok als die künftigen Schwerpunkte der Verarbeitung identifiziert. Die Viehzucht hat sich auf Fleisch- und Milchproduktion erweitert und der landwirtschaftliche Betrieb (complexe agricole) entwickelt sich schrittweise zu einem komplexen Vorhaben ökologischer Kreislaufwirtschaft. Das Projekt darf als ausgesprochen erfolgreich bezeichnet werden. Die Anzahl der Aus- und Fortzubildenden hat sich innerhalb weniger Jahre auf 70 verdoppelt, damit naturgemäß auch die Zahl der Betten und die Küchenkapazität. Die Anzahl der Frauengruppen von je 30 Teilnehmerinnen die zu mehrtägigen Fortbildungen anreisen, wächst ständig. 1.3 Umsetzung Das CAAS ist eine private Initiative von Menschen, die Mali seit langem besonders verbunden sind und die neben dem Charme des Landes auch dessen rechtsfreie Tücken kennen. Die Entscheidung, mit welchen vertrauenswürdigen Unternehmen man bauen würde, fiel deshalb vor dem Beginn der Zusammenarbeit und hat sich nie geändert. In vorangegangenen Projekten hatte sich das auf Metallbau spezialisierte Unternehmen Métal Soudan wegen der Qualität seiner Arbeit und wegen der kaufmännischen Seriosität seiner Geschäftsleitung bewährt. Für alle technischen Einrichtungen, die mit Strom und Wasser zu tun haben, insbesondere für die Produktion, Speicherung und Verteilung der Solarenergie fiel die Wahl auf das deutsch-malische Unternehmen Yandalux Solar mit Sitz in Hamburg. Die Leistungsfähigkeit beider Unternehmen haben die planmäßige und zügige Umsetzung der diversen durchaus anspruchsvollen Vorhaben garantiert. Die technischen Kenntnisse und Möglichkeiten beider Unternehmen haben im Laufe der Jahre das Spektrum erweitert und die Parameter der Planung verschoben. Drei Bohrbrunnen erschlossen Wasserquellen, die weit mehr als den Bedarf des CAAS allein decken, ebenso die beiden Solaranlagen mit insgesamt 300 kWp. So kam die Mo- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 117 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali dernisierung des Dorfes Kalassa hinzu: Gesundheitszentrum, Mittelschule, Straßenbeleuchtung, Wasserversorgung und Stromnetz für 50 Haushalte und zehn Kleinbetriebe. Finanziert wird das Vorhaben von der Klaus Tschira Stiftung einer der größten gemeinnützigen Stiftungen Deutschlands. 2. Zwei bauliche Schwerpunkte Das Gesamtprojekt konzentriert sich neben kleineren Einrichtungen auf zwei bauliche Schwerpunkte mit unterschiedlichen Aufgaben, die sich inhaltlich ergänzen und auch gemeinsamen konzeptionellen Richtlinien folgen. 2.1 Campus Siby Etwa zwei Kilometer südlich des Ortszentrums von Siby entstand zwischen 2018 und 2021 mit dem CAAS-Campus eine moderne Landwirtschaftsschule zur Vermittlung von vorwiegend theoretischen Grundlagen, aber auch praktischen Kompetenzen. Auf einem rautenförmigen Grundstück von ca. 100 Meter Kantenlänge vereint der Campus verschiedene Gebäude zum Übernachten und Wohnen, zum Kochen und Essen, für Unterricht ebenso wie separate Gästehäuser und untergeordnete technische Funktionen. Sie alle gruppieren sich ringförmig um eine zentrale offene Struktur die ursprünglich zur Lagerung von Feldfrüchten oder Baumaterial gedacht war. Aufgrund seiner Größe und der zentralen Lage ist dieser sogenannte „Hangar“ das Herz der gesamten Anlage geworden und wird zusätzlich für Unterricht, als Treffpunkt aber auch für größere Versammlungen genutzt. Ein ringförmiger Weg um den Hangar erschließt zugleich alle anderen Nutzungen und verbindet sie auf direktem Weg. Abb. 3: Künstlerische Darstellung des Campus Siby mit dem zentralen Hangar 2.2 Farm Kalassa Etwa einen Kilometer weiter südwestlich liegt die Farm Kalassa. Diese deutlich größere Einrichtung dient zwar ebenfalls Ausbildungszwecken, stellt aber einen vollwertigen landwirtschaftlichen Betrieb dar, auf dem ausschließlich Funktions- und Produktionsgebäude errichtet wurden. Die Planung für Kalassa begann etwas später als für den Campus, der Betrieb wurde vor wenigen Wochen eingeweiht. Auch hier gibt es einen zentralen großen Hangar, umgeben von Stallungen, Lager für Futter und landwirtschaftliche Produkte, eine Ölmühle, eine Schlachterei, Technikgebäude, eine Verwaltung sowie ein Markt- und Verkaufsgebäude direkt an der Straße. Alle Gebäude sind parallel ausgerichtet und werden durch eine senkrecht dazu verlaufende Achse verbunden. Diese zentrale Erschließung beginnt an der Straße und endet am für das Arbeiten in diesen Breitengraden unverzichtbaren Wasserturm. Abb. 4: Plan der Farm in Kalassa Während der Campus in der Gesamtschau das Bild eines zentral organisierten kleinen Dorfes zeigt, vermittelt die Farm einen deutlich strengeren, beinahe industriellen Charakter. Die städtebauliche Gestalt aber ist in beiden Fällen das Ergebnis eines Anspruchs an kulturelle Kontinuität und an eine sinnvolle Reaktion auf klimatische Vorgaben. Campus und Farm sollen nicht nur architektonisch ein Zeichen setzen, sondern auch inhaltlich „die Macht und Wirkung des Beispiels“ entfalten, von der Peter-Josef Lenné im 19. Jahrhundert gerne sprach. Die Transparenz der Einfriedungen lädt Vorbeifahrende ausdrücklich dazu ein, näher zu treten und zu schauen. 3. Städtebauliche Leitlinien 3.1 Bestand und Kontinuität Aus Sicht der Architekten stand am Anfang der konzeptuellen Überlegungen die Entwicklung einer flexiblen Ordnung, die als Richtschnur für alle folgenden Entwurfsschritte dienen sollte und die dennoch an die sich ändernden Wünsche des Bauherrn angepasst werden könnte. Schon frühzeitig wird dabei ein Leitthema erkennbar: Wenige, vertraute und einfache Maßnahmen sollen den vorgefundenen Ort nicht neu definieren, sondern im Einklang mit dem Bestand sanft transformieren. Die Integration in das Bestehende hat einerseits naheliegende Aspekte von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung aber ebenso die Akzeptanz der ortsansässigen Bevölkerung zum Ziel. Bei der Planung des Campusgeländes war eine der ersten Entscheidungen, die vorhandene Gruppe aus vier ehemaligen Büros der ehemaligen Straßenbaufirma in die Planung zu integrieren. Heute sind dort die Gästewohnungen 118 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali und ein Büro untergebracht. Auch eines der beiden Internatsgebäude und die Küche integrieren in unterschiedlichem Umfang bestehende Strukturen. Die neun auf dem Grundstück wachsenden Bäume konnten nicht immer perfekt in die städtebauliche Ordnung integriert werden. Da sie aber älter und ortsprägender sind als die maximal wenige Jahrzehnte alte Bebauung, war es unstrittiges Ziel, alle Bäume zu erhalten. Heute prägen sie den Campus als kostbare Schattenspender, Orte der Kommunikation und als natürliche Ergänzung zu den gebauten Artefakten. Abb. 5: Gebäude Mädchenseminar mit Bestandsbaum 3.2 Bauen mit dem Klima In Äquatornähe ist der Schutz vor Sonne und das Vermeiden von Überhitzung ein essenzielles Ziel städtebaulicher und architektonischer Planung. Das allzu häufig praktizierte Wiederholen moderner Gebäudeformen, die dann unter erheblichem Energieaufwand künstlich heruntergekühlt werden müssen, sollte hier von Beginn an unbedingt vermieden werden. Vor diesem Hintergrund ist ein so einfaches Kriterium wie die Ausrichtung der Gebäude von entscheidender Bedeutung. Um der tief stehenden, weit ins Innere der Gebäude dringenden Morgen- und Abendsonne möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, werden dorthin, nach Osten und Westen, die kurzen Fassaden ausgerichtet. Die lange Südfassade hingegen kann vor der steilen Mittagssonne durch ein weit auskragendes Dach geschützt werden. Dabei hilft es, das Dach nach Süden möglichst weit nach unten zu ziehen. Auf der Nordseite hingegen soll sich das Dach zur Hauptwindrichtung öffnen, um im Haus für Luftaustausch und Kühlung zu sorgen. Da ein Großteil der Dachflächen mit Photovoltaik-Anlagen ausgerüstet werden sollte, ist eine möglichst durchgehende, nach Süden geneigte Fläche ideal. Beim Campus konnte dieses Prinzip der O-W-Ausrichtung wegen der zentrischen städtebaulichen Figur und den Zwängen aus der Einbeziehung der Bestandsgebäude noch nicht vollständig durchgehalten werden. Im späteren Farmprojekt Kalassa aber ist die für alle Gebäude gleiche Ausrichtung das prägende Merkmal des Gesamtentwurfs. Während Anordnung und Ausbildung der Gebäude stark aus dem intelligenten Umgang mit den Naturphänomenen Sonne und Wind resultieren, korreliert das Thema der Freiraumgestaltung auf dem Campusgelände in erster Linie mit den seltenen, aber sehr ergiebigen Regenfällen. Das Regenwasser läuft von den Pultdächern teils direkt über die Traufe, teils über Regenrinnen in entsprechend angelegte, bepflanzte Auffangbecken, um die Überschwemmung der Wege zu verhindern und um das wertvolle Wasser auf dem Grundstück zu halten. Aus einzelnen dieser den Gebäuden zugeordneten bepflanzten Bassins entwickelten die Architekten schrittweise das heutige orthogonale Muster aus Grünbeeten. Mit Einfassungen aus Naturstein definieren sie das Erschließungsnetz und den landschaftlichen Raum zwischen den Gebäuden. Abb. 6: Regenauffangbecken und Sockel beim Hangar des Campus Die Gebäude selbst stehen als Schutz vor Regen und Überschwemmung alle auf einer angehobenen Betonplatte. Diese Sockel heben den Fußboden ein Stück weit aus dem Dreck der Straße. Sie sind aber ebenso eine Reaktion auf die Topografie und das spürbar abfallende Gelände. Mit dem Sockel wird ein ebener Untergrund geschaffen, der an der einen Gebäudeecke beinahe fließend ins höher gelegene Gelände übergeht und auf der gegenüberliegenden Seite je nach Ausdehnung des Gebäudes als einfache Stufe oder als Treppenanlage in Erscheinung tritt. Sockel, Grün-Bassins, Sitzmauern und Stufen schaffen auf dem gesamten Campus fein austarierte Übergänge zwischen Innen und Außen. Sie bieten reizvolle Orte für Aufenthalt und Begegnung und verknüpfen die Gebäude mit ihrer Umgebung zu einem stimmigen Ensemble. Abb. 7: Zusammenspiel von Architektur und Grünplanung 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 119 Konstruieren - Kultur - Klima - Ein Architekturprojekt in Mali 4. Architekturdetail: Der Bogolan-Sonnenschutz Weit auskragende Dächer bilden sowohl auf dem Campus als auch auf der Farm den primären Schutz vor der steilen Mittagssonne. Um auch die Ost- und Westfassaden der Gebäude noch besser zu verschatten wurde die Architektur der Gebäude auf dem Campus um ein gestaltprägendes Zusatzelement erweitert: Von den Traufen sind vertikale, allseitig umlaufende Blenden abgehängt, deren Unterkante horizontal etwa 2 ½ Meter oberhalb des Sockels verläuft. So entsteht eine räumlich definierte Übergangszone zwischen der Wand bzw. der überdachten Nutzfläche einerseits und dem freien Außenbereich andererseits. Gleichzeitig wird der Schutz vor Sonne und auch vor Regen weiter verbessert. Aufgrund der Geometrie der Pultdächer sind die Blenden an der höheren Nordseite breit, an der Südseite schmal und an den Ost- und Westseiten keilförmig zugeschnitten. Wegen der hohen Bedeutung dieser Bauteile für das Erscheinungsbild der Häuser experimentierten die Architekten mit verschiedenen Materialien, darunter Holz und Bambus. Aufgrund der besseren Langlebigkeit fiel die Wahl schließlich auf perforiertes Stahlblech von 1,5 bis 2,0 mm Stärke. Das Bild von den Dächern hängender Stoffbahnen lieferte zunächst die allgemeine Inspiration für einen textilen Charakter der Lochmuster und schließlich konkret für eine Interpretation der aus Westafrika stammenden Web- und Färbetechnik des Bogolan. Diese arbeitet mit einfachen, aus linearen Elementen zusammengesetzten Flächen. Aus Abbildungen traditioneller Teppiche und Decken entwickelten die Architekten über Skizzen, Figur-Grund-Diagramme und CAD-Studien im Maßstab 1: 1 verschiedene, auf die einzelnen Blechstreifen übertragbare Muster. Abb. 8: Entwicklung von der Inspiration zum Schnittmuster Versuche, die Ausschnitte mit einem vor Ort verfügbaren, aber in die Jahre gekommenen Plasmaschneider herzustellen verliefen zunächst wenig erfolgversprechend. Nach intensiver Wartung, einem Software-Update der Maschine und zahlreichen weiteren Abstimmungsrunden erreichte man schließlich die gewünschten, filigranen Ergebnisse und konnte die Bleche an Ort und Stelle produzieren. Nebeneinander in Rahmen aus Stahlprofilen montiert bilden die einzelnen Bleche ein repetitives Muster, das als filigrane Textur auf den grünen Stahlblechen die Gebäude subtil zusammenbindet und damit wesentlich zur baulichen Identität des Campus beiträgt. Aus dem Inneren der Gebäude, also aus größerer Nähe und im hohen Kontrast des Gegenlichts ist die Wirkung noch viel deutlicher spürbar - ein Effekt, der sich bei Nacht auf reizvolle Weise umkehrt. Zur ästhetischen Wirkung gehört schließlich auch der Schattenwurf auf die Wände, dessen kraftvolle Grafik ganz offensichtlich den Bezug zu den textilen Vorbildern herstellt. So ist der Sonnenschutz nicht nur ein funktionales Element der Architektur, sondern in gleichem Maße ein Ornament, das seine Schönheit aus dem kulturellen Erbe des Ortes bezieht und die moderne Architektur für die Menschen vertraut und lesbar macht. Abb. 9: Wirkung des Sonnenschutzes von außen und innen Abb. 10: Sonnenschutz und Schattenwurf 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 121 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Dipl.-Ing. Marius Pinkawa Ingenieurbüro Pinkawa - erdbebeningenieur.de, Aachen Zusammenfassung Derzeit konkurrieren die alte deutsche Erdbebennorm DIN 4149 und die neue Norm DIN EN 1998 (Eurocode-8) um den Platz der anzuwendenden Erdbebennorm für Bauvorhaben in deutschen Erdbebengebieten. Obwohl die DIN 4149 veraltet und vom Normgeber bereits zurückgezogen ist, wird sie von der Bauaufsicht weiterhin eingefordert. Demgegenüber gilt die DIN EN 1998 als Stand der Technik und ist aktuelle Norm. Unabhängig von bauordnungsrechtlichen Vorgaben sind aus privatrechtlicher Sicht die ‚allgemein anerkannten Regeln der Technik‘ im Sinne der Mangelfreiheit einzuhalten - und zwar zum Zeitpunkt der Bauabnahme. Damit ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen bauaufsichtlich und privatrechtlich erforderlichem Erdbebenstandard. Dieser Beitrag zeigt wesentliche Unterschiede zwischen der alten und der neuen deutschen Erdbebennorm auf. Es wird auf die Problematik bei alleiniger Anwendung der DIN 4149 eingegangen und diesbezüglich eine Empfehlung für die Vorgehensweise bei aktuellen Erdbebenprojekten gegeben. 1. Einleitung Deutschland ist im Vergleich zu Starkbebenländern wie Italien, Griechenland oder der Türkei von schwachen bis moderaten Erdbebenereignissen geprägt. Dennoch muss in deutschen Erdbebengebieten ein Erdbebennachweis geführt werden. Der Lastfall Erdbeben reiht sich dabei in die typischen Lastfälle wie Gravitation, Wind oder Schnee ein. Die anzusetzenden Erdbebenlasten, Berechnungs- und Nachweisverfahren sind dabei der nationalen Erdbebennorm zu entnehmen. In der deutschen Erdbebennormung herrscht jedoch seit längerer Zeit eine unbefriedigende Situation: Auf der einen Seite steht die veraltete und zurückgezogene Erdbebennorm DIN 4149: 2005-04 [1]. Und auf der anderen Seite steht die aktuelle Erdbebennorm DIN EN 1998, die zwar als Stand der Technik gilt, aber bauaufsichtlich nicht eingeführt ist. In den Verwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen der jeweiligen Bundesländer ist weiterhin die DIN 4149 gelistet. Somit ist die alte Norm bauordnungsrechtlich maßgebend und wird von der Bauaufsicht für die Genehmigungsfähigkeit gefordert. Die Situation in der deutschen Erdbebenbemessungspraxis ist im Hinblick auf einen möglichen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik problematisch: Soll die veraltete, womöglich nicht mehr korrekte und nicht mehr einer allgemein anerkannten Regel der Technik entsprechende DIN 4149 allein angewendet werden? Oder soll die neue, vielleicht noch nicht allgemein anerkannte DIN EN 1998 berücksichtigt werden? Aktuell lässt sich nicht eindeutig feststellen, welche der beiden Normen der allgemein anerkannten Regel der Technik in Bezug auf die Erdbebenbemessung entspricht. Der Autor dieses Beitrags vertritt die Meinung, dass es die DIN EN 1998 sein muss. Im Verlaufe des Beitrages soll deutlich werden, weshalb. Bis zur Aufnahme der DIN EN 1998 in die Liste der technischen Baubestimmungen befinden sich in Erdbebengebieten planende Ingenieure während der Übergangsphase in einer rechtlichen Grauzone. Die Übergangsphase besteht, weil die DIN 4149 durch die Norm DIN EN 1998 bauaufsichtlich ersetzt werden soll. Oder vielmehr durch das Normenwerk des Eurocode 8, denn damit sind folgende Dokumente gemeint: Teil 1 der DIN EN 1998, der das Basisdokument DIN EN 1998-1: 2010-12 [2] inklusive A1-Änderung DIN EN 1998-1/ A1: 2013-05 [3] sowie den nationalen Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 [4] umfasst. Der Teil 1 des Eurocode 8 behandelt den Hochbau und definiert unter anderem die Erdbebenbeanspruchung, erdbebengerechte Entwurfsprinzipien, Berechnungsverfahren, erforderliche Erdbebennachweise und bauartspezifische Anforderungen insbesondere konstruktiver Art. Hinzu kommt Teil 5 der DIN EN 1998, der sich mit der Geotechnik beschäftigt. Ein Themenfeld, das gegenüber der DIN 4149 nun in ein separates Dokument ausgegliedert ist. DIN EN 1998 Teil 5 besteht wiederum aus einem Basisdokument, der DIN EN 1998-5: 2010-12 [5] und dem nationalen Anhang DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 [6]. Die DIN 4149 soll also durch diese insgesamt fünf Dokumente ersetzt werden. Bis dahin stellt sich in der deutschen Erdbebenbemessungspraxis die Frage, welche Erdbebennorm bei aktuellen Bauvorhaben anzuwenden ist. Die DIN 4109: 2005-04 ist bauordnungsrechtliche Pflicht, solange die Bauaufsichtsbehörde keine Abweichung gewährt. Somit stellt sich vielmehr die Frage, ob das Einhalten bauaufsichtlicher Anforderungen allein ausreichend ist. Dieser Fragestellung wird in Abschnitt 4 und 5 dieses Beitrages nachgegangen. Zuvor werden in Abschnitt 3 die dafür relevanten Begrifflichkeiten der verschiedenen Technikstandards erläutert: ‚Allgemein anerkannte Regel der 122 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Technik‘, ‚Stand der Technik‘ und ‚Stand von Wissenschaft und Technik‘. Um die Tragweite der Entscheidung „DIN 4149 oder DIN EN 1998? “ abschätzen zu können, wird im folgenden Abschnitt 2 zunächst auf einige wesentliche Unterschiede zwischen der DIN 4149 und der DIN EN 1998 eingegangen. 2. Unterschiede DIN 4149 versus DIN EN 1998 2.1 Erdbebengefährdungskarte Der wesentlichste Unterschied der DIN- EN- 1998 zur DIN- 4149 ist unbestritten die neue Erdbebengefährdungskarte, die die bisherige Erdbebenzonenkarte der DIN-4149 ablöst (siehe Abb. 1). In einer normativen Erdbebengefährdungskarte findet sich eine ingenieurseismologische Kenngröße in Form einer Beschleunigung wieder. Diese Beschleunigung kann für die Bauwerksauslegung verwendet werden, denn die Erdbebenkraft entspricht dem Prinzip „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Während in der DIN 4149 die ingenieurseismologische Kenngröße der Bodenbeschleunigung a g entspricht, wird in der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 der Plateauwert des Antwortspektrums S aP,R wiedergegeben. Dieser Wert kann durch Division mit 2,5 in den Referenzwert der Spitzenbodenbeschleunigung a gR umgerechnet werden, der direkt mit dem a g -Wert der DIN 4149 vergleichbar ist. Auf den grundlegenden Unterschied - Einhängewert versus Plateauwert des Antwortspektrums - ist beim Vergleich der beiden Erdbebenkarten zu achten. Abb. 1: Erdbebenkarten: Alte Erdbebenzonenkarte links (DIN 4149: 2005-04 und DIN EN 1998-1/ NA: 2011-01) und neue Erdbebengefährdungskarte rechts (DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 und DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) Die neue Erdbebengefährdungskarte der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11, die bereits in der DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 veröffentlicht wurde, steht als digitaler Datensatz zur Verfügung (jeweils Anhang NA.I). Anhand der Standortkoordinaten kann die Erdbebengefährdung somit in Form des S aP,R -Wertes standortgenau interpoliert werden. Die Datenpunkte werden hierfür in einem Rasternetz von etwa sieben Kilometern in West-Ost- und elf Kilometern in Nord-Süd- Ausrichtung angegeben. In der DIN 4149 waren dagegen Erdbebenzonen definiert, die innerhalb der Verwaltungseinheit einer Gemarkung konstant waren und künstliche Sprünge an den Gemarkungsgrenzen verursachten. Die Beschleunigungen, die in den Erdbebenkarten der beiden Normen enthalten sind, sind in Tab. 1 wiedergegeben. Es ist ersichtlich, dass sich die Maximalbeschleunigung von ehemals 0,8-m/ s 2 auf nun 1,56 m/ s 2 nahezu verdoppelt hat. Vielerorts haben sich die anzusetzenden Beschleunigungen teils drastisch erhöht, doch auch Verringerungen sind vorhanden. Auch die Umrisslinien der erdbebengefährdeten Regionen werden nun etwas anders eingeschätzt. Tab. 1: Vergleich der Bodenbeschleunigung auf Fels DIN 4149: 2005-04 DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 Erdbebenzone ag [m/ s 2 ] S aP,R [m/ s 2 ] agR [m/ s 2 ] 0 0 1 0,4 0 bis 3,9 0 bis 1,56 2 0,6 3 0,8 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 123 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko 2.2 Karte der geologischen Untergrundklassen Da sich die erdbebengefährdeten Regionen in der neuen Erdbebengefährdungskarte im Ausmaß und in der Form gegenüber der alten Erdbebenzonenkarte verändert haben, war es sinnvoll, auch die Karte der geologischen Untergrundklassen neu zu erstellen. In diesem Zuge wurden die geologischen Untergrundklassen neu evaluiert (siehe [7] und Abb. 2). Die Karte ist nun wesentlich feiner aufgelöst, sodass Untergrundklassen in einem Rasternetz von 1 km × 1 km vorliegen. Ebenso wie bei der Erdbebengefährdungskarte ist somit keine künstliche Abhängigkeit von Gemarkungsgrenzen mehr gegeben, sondern eine standortgenaue Bestimmung möglich. Die Karte ist als digitaler Datensatz im Anhang NA.K der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 enthalten. Auf Änderungen bezüglich der Untergrundverhältnisse wird im nächsten Unterabschnitt eingegangen. Abb. 2: Karten der geologischen Untergrundklasse: Alte Karte links (DIN 4149: 2005-04 bis DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07) und neue Karte rechts (seit DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) 2.3 Standorteffekte Die in den Erdbebenkarten wiedergegebenen Beschleunigungen sind auf felsigen Untergrund bezogen. Die tatsächlichen Untergrundverhältnisse am Standort können davon deutlich abweichen. Die Untergrundverhältnisse haben einen starken Einfluss auf die für die Erdbebenauslegung anzusetzende Beschleunigung, da sie die Stärke der Erdbebenwellen, die Dauer von Bodenwellen und den Frequenzgehalt beeinflussen. Diese sogenannten Standorteffekte werden dadurch berücksichtigt, dass die Beschleunigung aus der Erdbebengefährdungskarte (siehe Abb. 1 und Tab. 1) mit dem Untergrundparameter S (DIN 4149: 2005-04) bzw. dem Bodenparameter S (DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) modifiziert wird. Der Parameter S ist dabei vom Baugrund und vom geologischen Untergrund abhängig. Beide Aspekte definieren in Kombination das Untergrundverhältnis. Der Baugrund bezeichnet die oberen Schichten, während der geologische Untergrund die darunter liegenden Schichten bis zu einer Tiefe von einigen hundert Metern bezeichnet. Die Grenze zwischen Baugrund und geologischem Untergrund ist nach DIN 4149: 2005-04 bei 20-m definiert, während sie nach DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 bei 30-m festgelegt ist. Baugrund und geologischer Untergrund werden jeweils in drei Klassen eingeteilt: Die Baugrundklassen A, B und C sowie die geologischen Untergrundklassen R, S, T. Während die Baugrundklasse lokal im Rahmen eines Baugrundgutachtens bestimmt werden muss, kann die geologische Untergrundklasse einer Deutschlandkarte entnommen werden (siehe Unterabschnitt 2.2 und Abb. 2). Aus der Kombination von Baugrundklasse und geologischer Untergrundklasse ergibt sich der Parameter S. Gegenüber der DIN 4149 haben sich zwei maßgebende Änderungen ergeben: Zum einen haben sich die Werte teils stark geändert. Zum anderen hängt der Untergrundparameter nun von der am Standort zu erwartenden Beschleunigungsamplitude ab. Bei höheren Beschleunigungswerten S aP,R kann ein kleinerer Untergrundparameter S angesetzt werden, da der Boden bei größeren Erdbebenereignissen mehr Energie dissipiert. Dieser günstige Effekt, der bisher in der DIN 4149 nicht berücksichtigt wurde, wird nun in der DIN EN 1998 abgebildet, um Konservativitäten zu reduzieren und somit den erhöhten Beschleunigungen entgegen zu wirken. 124 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Tab. 2 und Abb. 3 zeigen einen Vergleich des Parameters S zwischen der DIN 4149: 2005-04 und der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11. Die Werte haben teils deutlich zugenommen, teilweise aber auch moderat abgenommen. Insbesondere die Erhöhung des Parameters S für das Untergrundverhältnis C-S von 0,75 auf 0,95 bis 1,30 ist bemerkenswert. Der ehemals sehr niedrige Wert wird aus heutiger Sicht nicht mehr als vertretbar erachtet, sodass man von einer Fehlerkorrektur sprechen kann (siehe z. B. [8]). Der mit zunehmender Beschleunigung S aP,R abnehmende Bodenparameter S kann die gegenüber der DIN 4149 vielerorts erhöhten Bodenbeschleunigungen abmildern, indem nicht zusätzlich noch mit einem konservativen Bodenparameter multipliziert werden muss. Tab. 2: Vergleich des Parameters S für verschiedene Untergrundverhältnisse Untergrund DIN 4149: 2005-04 DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 S aP,R ≤ 1,0 S aP,R > 1,0 S aP,R ≤ 2,0 S aP,R > 2,0 A-R 1,00 1,00 1,00 1,00 B-R 1,25 1,25 1,20 1,20 C-R 1,50 1,50 1,30 1,15 B-T 1,00 1,05 1,00 1,00 C-T 1,25 1,45 1,25 1,10 B-S - 1,30 1,15 0,95 C-S 0,75 1,30 1,15 0,95 Abb. 3: Vergleich Untergrundparameter S (DIN 4149) und Bodenparameter S (DIN EN 1998) für verschiedene Untergrundverhältnisse 2.4 Berechnungsverfahren Mit der DIN EN 1998 sind in Deutschland erstmals nichtlineare Berechnungsverfahren normativ geregelt. Nichtlinear bedeutet in diesem Zusammenhang die direkte Berücksichtigung inelastischen Materialverhaltens bei der Berechnung. Zu diesen Verfahren gehören die nichtlineare statische Berechnung (Pushover-Analyse) und die nichtlineare dynamische Zeitschrittberechnung. Diese fortgeschrittenen Berechnungsverfahren werden in der DIN 4149 nicht behandelt. Für die Pushover-Berechnung bietet der nationale Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 einen besonders einfachen Ansatz für den Nachweis der Erdbebensicherheit, die durch Gegenüberstellung der statisch nichtlinearen Berechnung (= Kapazität bzw. Widerstand) mit dem Antwortspektrum (= Bedarf bzw. Beanspruchung) erfolgt. Der Erdbebennachweis kann unter bestimmten Voraussetzungen durch den Vergleich mit Wind geführt werden. Sind die Windlasten höher als die Erdbebenersatzlasten, so wird die für Wind ausgelegte horizontale Aussteifung auch für Erdbeben als ausreichend angesehen. Ein genauerer Erdbebennachweis ist damit nicht erforderlich. Nach DIN EN 1998 ist nun ein deutlich günstigerer Windvergleich möglich, da die Erdbebenersatzkraft stark reduziert in Ansatz gebracht werden darf (Division durch den Verhaltensbeiwert q-=-1,5), statt wie bisher nach DIN 4149 voll angesetzt werden zu müssen (q = 1,0). Die Zulässigkeit des Erdbebennachweises durch Vergleich mit Wind ist mit der DIN EN 1998 jedoch teilweise etwas restriktiver geregelt. 2.5 Bauartspezifische und weitere Unterschiede Neben den zuvor genannten bauartübergreifenden Unterschieden haben sich auch einige Dinge je nach Bauart geändert, von denen hier nur einige beispielhaft wiedergegeben werden. Die DIN EN 1998 ist im Vergleich zur DIN 4149 deutlich umfangreicher. Statt bisher etwa 60 Seiten bestehen die fünf Normendokumente zusammen aus mehr als 300 Seiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Eurocode 8 als europäische Norm allen Bedingungen von niedriger bis sehr hoher Seismizität Rechnung tragen muss. Mit dem normativen Anhang NA.D „Vereinfachte Auslegungsregeln für einfache Bauten des üblichen Hochbaus“ stellt der nationale Anhang NA: 2023 jedoch einen unter bestimmten Randbedingungen anwendbaren, stark komprimierten Abschnitt zum Erdbebennachweis zur Verfügung. Bei Stahlbetonbauten ist in der DIN EN 1998 der aus der DIN 4149 bekannte Faktor von 1,2 zur Erhöhung der Erdbebenlasten für Stützen und Wände entfallen. Dieser war erforderlich, um in Erdbebenzonen 1 und 2 bei elastischer Auslegung auf einige Anforderungen an die Duktilität verzichten zu dürfen. Die Modellierung der Steifigkeiten von Betonbauten ist in den beiden Normen unterschiedlich geregelt. Statt ungerissenen Betons nach DIN 4149 ist nach DIN EN 1998 von gerissenem Beton auszugehen. Somit verringert sich die Steifigkeit, was aufgrund der Verschiebung im Antwortspektrum hin zu höheren Perioden in stark reduzierten Erdbebenlasten resultieren kann. Bei Mauerwerk wurden die Möglichkeiten für den konstruktiven Erdbebennachweis - also den Nachweis der Erdbebensicherheit ohne explizite Berechnung - deutlich erweitert. Der Nachweis erfolgt durch Vergleich der im Gebäude vorhandenen Wandschubfläche mit einer aus Tabellen zu entnehmenden Mindestwandschubfläche (siehe normativer Anhang NA.H zu Regeln für einfache Mauerwerksbauten). Der Nachweis kann mit den neuen Tabellen unter Berücksichtigung der Wandeinspannung günstiger ausfallen. Zudem ist die Nachweiszulässigkeit von ehemals 4 auf 5 Geschosse erhöht worden. Bezüglich Mauerwerks ist zudem der maximal ansetzbare Verhaltensbeiwert q heraufgesetzt worden. Somit 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 125 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko können die gegenüber der DIN 4149 meist erhöhten Beschleunigungen stärker abgemindert werden. Der in die DIN EN 1998-5 ausgegliederte Bereich der Geotechnik ist deutlich erweitert. Aufgrund der erhöhten Beschleunigungswerte ist nun auch ein Nachweis gegen Bodenverflüssigung möglich. Hierfür wird im nationalen Anhang DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 ein vereinfachtes Nachweisverfahren zur Verfügung gestellt (siehe Anhang NA.H „Vereinfachter Nachweis gegen Bodenverflüssigung“). Verbundbauten aus Stahl und Beton werden in der DIN EN 1998 nun mit einem eigenen Abschnitt bedacht. Ebenso widmet sich die DIN EN 1998 der Basisisolierung von Bauwerken nun auch mit einem eigenen Kapitel. Die bisher aufgeführten Beispiele stellen nur einen kleinen Überblick über die wesentlichen Neuerungen dar, zeigen aber, dass sie zu erheblichen Unterschieden zwischen der alten und der neuen Erdbebennorm führen können. Es wird zudem deutlich, dass die neue Erdbebennorm trotz vielerorts höherer Beschleunigungen durch einige Gegenmaßnahmen zu ähnlichen und sogar günstigeren Bemessungslasten bzw. Nachweisen führen kann. Einige Aspekte werden in der DIN EN 1998 zum ersten Mal behandelt, so dass nun eine gute Hilfestellung für diese Bereiche zur Verfügung steht. 3. Technikstandards Wie im vorherigen Abschnitt 2 dargestellt, können die Änderungen zwischen alter und neuer Erdbebennorm so bedeutend sein, dass abhängig von der verwendeten Norm sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden. Umso wichtiger ist es, sich im Klaren darüber zu sein, welche Erdbebennorm zur Anwendung kommen sollte. Im nächsten Abschnitt 4 folgt eine Einschätzung und Empfehlung diesbezüglich. Als Vorbereitung darauf werden in diesem Abschnitt 3 die in der deutschen Rechtsprechung etablierten Technikstandards erläutert: ‚Allgemein anerkannte Regel der Technik‘, ‚Stand der Technik‘ und ‚Stand von Wissenschaft und Technik‘ (siehe Abb. 4). Näheres zum rechtlichen Sachverhalt von Technikstandards findet sich beispielsweise in [9] und [10]. Abschließend beschäftigt sich dieser Abschnitt mit der Fragestellung, welchem Technikstandard die DIN 4149 und die DIN EN 1998 zugeordnet werden können. Abb. 4: Die drei Technikstandards in der deutschen Rechtsprechung 3.1 Allgemein anerkannte Regeln der Technik Der Begriff ‚allgemein anerkannte Regeln der Technik‘, oder synonym auch ‚anerkannte Regeln der Technik‘ (siehe [10]), bezeichnet den Technikstandard, der in einem Werkvertrag nach BGB bzw. einem Vertrag nach VOB eingehalten werden muss: Mangelfreiheit erfordert die Einhaltung zumindest der allgemein anerkannten Regeln der Technik. Dabei muss eine allgemein anerkannte Regel der Technik drei wesentliche Kriterien erfüllen: 1. Theoretische Richtigkeit, 2. Bekanntheit in Fachkreisen und 3. Praxisbewährung. Entgegen einer weit verbreiteten Fehlannahme sind Normen nicht automatisch allgemein anerkannte Regeln der Technik. Jedoch tragen Sie eine Vermutung inne, diesen zu entsprechen. Dies bedeutet, dass in der Rechtsprechung häufig von einer „Unschuldsvermutung“ ausgegangen wird, so lange Normen eingehalten wurden. Bei einer Abweichung zu Normen muss hingegen nachgewiesen werden, dass es sich dennoch um eine allgemein anerkannte Regel der Technik handelte. Die Berücksichtigung aktueller Normen gibt also Rechtssicherheit. In der DIN 820 zur Normungsarbeit steht hierzu beispielsweise folgendes (siehe [11]): „Bei sicherheitstechnischen Festlegungen in DIN-Normen […] besteht eine konkrete Vermutung dafür, dass sie fachgerecht, d. h., dass sie anerkannte Regeln der Technik sind. […] Die Normen bilden einen Maßstab für einwandfreies technisches Verhalten; dieser Maßstab ist auch im Rahmen der Rechtsordnung von Bedeutung.“ Eine solche Sichtweise hat sich bereits vielfach in der deutschen Rechtsprechung realisiert. 3.2 Stand der Technik Laut DIN spiegeln aktuelle Normen den Stand der Technik wider. Aktuelle Normen sind also nicht per se anerkannte Regeln der Technik, sollen sich aber als solche etablieren. Sie müssen erst in der Praxis als solche angenommen werden. Den Stand der Technik macht aus, dass er neueste technische Entwicklungen berücksichtigt, eine allgemeine und weitläufige Anerkennung jedoch noch aussteht. Eine weitreichende Praxisanwendung muss somit noch nicht erfolgt sein, jedoch hat eine Praxiserprobung bereits stattgefunden und die Praxistauglichkeit wurde somit bewiesen. Der Stand der Technik ist im üblichen Hochbau anders als die anerkannten Regeln der Technik nicht generell gefordert. Aus beispielsweise Umweltschutzgesetzen oder der Störfallverordnung kann sich die Notwendigkeit zum Einhalten des Standes der Technik jedoch ergeben. 3.3 Stand von Wissenschaft und Technik Der Stand von Wissenschaft und Technik ist der innovativste Technikstandard. Er gibt den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand wieder. Zweifel über die praktische Anwendbarkeit hat er bereits überwunden und kritische Prüfungen überstanden. Die praktische Umsetz- 126 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko barkeit muss aber noch nicht in großem Umfang erprobt, sondern nur als theoretisch möglich prognostiziert sein. Der Stand von Wissenschaft und Technik gilt für hoch sicherheitsrelevante kritische Infrastrukturen wie z. B. Kernkraftwerke als Anforderung. Im üblichen Hochbau findet er in der Regel keine Anwendung. 3.4 Einordnung DIN 4149 und DIN EN 1998 Grundsätzlich sind für die Genehmigungsfähigkeit die bauaufsichtlich eingeführten Bestimmungen zu berücksichtigen, die in den Verwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen (VV-TB) des jeweiligen Bundeslandes aufgeführt sind. Für die Genehmigung des Bauvorhabens ist somit zunächst die DIN 4149 einzuhalten. Die Bauaufsicht kann auch einer Abweichung von den technischen Baubestimmungen zustimmen, so dass nach vorheriger Abstimmung die Anwendung der DIN EN 1998 möglich ist. Während die bauordnungsrechtlichen Anforderungen zum Zeitpunkt der Baugenehmigung relevant sind, muss in Hinsicht auf den zivilrechtlichen Bauwerkvertrag die Mangelfreiheit zum Zeitpunkt der Bauabnahme gegeben sein. Mangelfreiheit setzt die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik voraus. Dies gilt sowohl für einen Werkvertrag nach BGB (siehe §-633 BGB) als auch für einen VOB-Vertrag (siehe §-13 Nr. 1 VOB/ B). Für die zivilrechtliche Beurteilung der Mangelhaftigkeit ist es im Übrigen unerheblich, ob die Regel öffentlichrechtlich einzuhalten war oder nicht. Ein Mangel besteht zudem nicht nur dann, wenn ein Schaden bereits eingetreten ist. Ein Mangel liegt auch dann vor, wenn ein Schaden erst in der Zukunft zu erwarten ist (siehe [9]). Die DIN EN 1998 entspricht zweifelsohne dem Stand der Technik. Ob die DIN EN 1998 bereits jetzt auch als allgemein anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann, ist nicht eindeutig feststellbar. Im Streitfall werden Gerichte darüber entscheiden, wann die DIN EN 1998 zur allgemein anerkannten Regel der Technik geworden ist. Hierbei sei noch angemerkt, dass theoretisch nicht ein Regelwerk als Ganzes, sondern im konkreten Streitfall jede relevante Passage einzeln darauf hin überprüft werden müsste, ob sie jeweils einer allgemein anerkannten Regel der Technik entspricht (siehe [9]). Diese differenzierte Betrachtung obliegt den Gerichten und kann hier nicht im Detail verfolgt werden. Es stellt sich die Frage, was zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Planung oder der Bauabnahme anerkannte Regel der Technik sein wird. Aus Sicht des Autors dieses Beitrags ist die DIN EN 1998 schon heute anerkannte Regel der Technik. Einige Argumente dafür seien im Folgenden aufgeführt. Die DIN EN 1998 sowie die Problematik der veralteten DIN 4149 sollten jedem in der Erdbebenauslegung tätigen Ingenieur bekannt sein. Er muss sich ohnehin bezüglich der Normung auf dem aktuellen Stand halten und dabei auch zukünftige Änderungen im Blick behalten. Der Übergang der DIN 4149 zur DIN EN 1998 wird schon seit Jahren thematisiert. Eine Unbekanntheit der DIN EN 1998 und auch der aktuellen Problematik des zähen Normenübergangs ist damit ausgeschlossen. Die DIN EN 1998 ist in der Praxis seit langem weit verbreitet. So wird in Praxisseminaren und praxisbezogenen Fachbüchern schon seit Jahren die DIN EN 1998 behandelt. Die DIN 4149 wird hierbei meist nur noch für Vergleichszwecke herangezogen. Bautabellenklassiker wie die „Schneider-Bautabellen“ [12] richten sich zweifelsohne an die Baupraxis und verweisen schon lange nicht mehr auf die DIN 4149. Auch in den gängigen Statikprogrammen ist die DIN EN 1998 längst implementiert. Die Frage nach der allgemeinen Anerkennung ist nach [9] schwer zu beantworten. Umfragen unter Fachleuten sollten hier eine Antwort geben. Aus Umfragen des Verfassers in sozialen Netzwerken [13] mit bis zu 132 Teilnehmern geht hervor, dass die DIN EN 1998 bereits von bis zu 90 % der an der Umfrage teilnehmenden Statiker und Ingenieure in aktuellen Projekten angewendet wird. Wie aus Abb. 5 hervorgeht, nimmt der Anteil derjenigen, die ausschließlich die DIN 4149 anwenden, stetig ab: Von 26 % im Februar 2023 auf nur noch 9 % im April 2024. Ein großer Teil berücksichtigt aus den hier dargestellten Gründen beide Erdbebennormen. Auch wenn diese Umfragen nicht repräsentativ für die Vielzahl der in der Tragwerksplanung tätigen Ingenieure sind, so liefern sie doch ein belastbares Indiz dafür, dass die DIN EN 1998 längst in der Praxis angekommen ist und angewendet wird. Auch der zeitliche Trend ist eindeutig: Die DIN 4149 wird mehr und mehr von der DIN EN 1998 verdrängt. Abb. 5: Umfragen des Autors zur in der Praxis angewendeten Erdbebennorm im Verlaufe der Zeit von Februar 2023 bis April 2024. [13] Stellen wir uns nun die umgekehrte Frage: Kann die DIN 4149: 2005-04 in ihrer Gesamtheit noch als anerkannte Regel der Technik angesehen werden? Aus Sicht des Verfassers ist dies nicht mehr der Fall, denn eine anerkannte Regel der Technik muss als zwingende Grundvoraussetzung wissenschaftlich korrekt sein. Und einige Aspekte, wie die nachfolgend diskutierten, sind es eben nicht mehr. Das GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ), das für die Gefährdungsanalyse sowohl der alten als auch der neuen Erdbebengefährdungskarte verantwortlich ist, äußert sich zur alten Erdbebenzonenkarte der DIN 4149: 2005- 04 wie folgt: 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 127 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko „Die Berechnung der Erdbebengefährdung für die Erdbebenzonenkarte stammt von 1995 und wurde 1996 vom entsprechenden DIN-Normungsausschuss angenommen. Obwohl in einer nachfolgenden Erdbebengefährdungsanalyse von 1998 bestätigt, entspricht die Gefährdungsberechnung nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik.“ [14] Die der Erdbebenzonenkarte der DIN 4149 zugrundeliegende Gefährdungsberechnung aus den 90er Jahren entspricht somit nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik. Nun ist dieser Technikstandard der innovativste und im üblichen Hochbau nicht gefordert, was der Aussage etwas die Schärfe nimmt. Dennoch positionieren sich die Verantwortlichen für die Erdbebengefährdungskarten damit klar. Die drastische Korrektur des inzwischen als zu gering eingestuften Bodenparameters S für das Untergrundverhältnis C-S ist bereits oben angesprochen worden (siehe Tab. 2 und Abb. 3). Bei Anwendung der DIN 4149 bei einem solchen Untergrund wird somit ein inzwischen als falsch erkannter, zu kleiner Untergrundparameter S angesetzt. Die Korrektur des Bodenparameters S muss dem in Erdbebenprojekten tätigen Ingenieur aus der Fachliteratur oder aus dem Vergleich der neuen mit den alten Werten bekannt sein. Darüber hinaus wurde die DIN 4149: 2005-04 bereits vor längerer Zeit vom Normengeber zurückgezogen und ist somit als historische Norm anzusehen. Die Zurückziehung einer Norm erfolgt laut DIN unter anderem dann, wenn sie wissenschaftlich, technisch oder aus anderen Gründen nicht mehr vertretbar ist. Auch zum Zwecke der internationalen Harmonisierung - in diesem Fall der Ersatz der nationalen Erdbebennorm durch den europäischen Eurocode 8 - können Normen zurückgezogen werden. Die DIN EN 1998 gilt somit in Deutschland seitens des Normengebers als aktuelle Erdbebennorm und somit mindestens als Stand der Technik. Ein weiteres Problem - und damit ein Indiz dafür, dass die DIN 4149 nicht mehr allgemein anerkannte Regel der Technik ist - ergibt sich bei der Anwendung anderer aktueller Normen, die auf die DIN EN 1998 Bezug nehmen. So verweist die bauaufsichtlich eingeführte DIN EN 1992-4 [15] für die Erdbebenbemessung von Befestigungen in Beton auf die DIN EN 1998. Damit wird bauordnungsrechtlich einerseits direkt die DIN 4149 gefordert, andererseits indirekt die DIN EN 1998. Ein Widerspruch, der erst aufgelöst werden kann, wenn die DIN EN 1998 bauaufsichtlich eingeführt ist. 4. DIN 4149 oder DIN EN 1998? - Empfehlung für aktuelle und zukünftige Projekte Die bauordnungsrechtliche Verpflichtung zur Anwendung der DIN 4149 und die zivilrechtliche Anforderung zur Berücksichtigung der anerkannten Regeln der Technik führen zu einer rechtlich und praktisch komplizierten Situation. Es folgen Empfehlungen, wie aus Sicht des Autors in der Übergangszeit bis zur bauaufsichtlichen Einführung der DIN EN 1998 bei aktuellen und zukünftigen Projekten mit Erdbebenanforderungen zu verfahren ist. Zunächst gilt es, alle relevanten Entscheidungsträger der am Bau Beteiligten, insbesondere den Bauherren bzw. Auftraggeber, über die derzeit problematische Übergangsphase in der deutschen Erdbebenbemessung aufzuklären. Eine sinnvolle Aussage hierbei wäre, dass in Bezug auf die Erdbebennormung aktuell nicht zweifelsfrei festzustellen ist, was allgemein anerkannte Regel der Technik ist. Es sollte erwähnt werden, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die DIN EN 1998 bereits heute allgemein anerkannte Regel der Technik ist. Mit noch höherer Wahrscheinlichkeit wird sie dies zum Zeitpunkt der Fertigstellung sein. Im Hinblick auf die zivilrechtliche Fragestellung der Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik sollte der planende Ingenieur die DIN EN 1998 berücksichtigen, um Haftungsrisiken zu reduzieren. Da der Aspekt der Mangelfreiheit im Gegensatz zu den bauordnungsrechtlichen Anforderungen nicht zum Zeitpunkt der Genehmigung, sondern zum Zeitpunkt der Bauabnahme relevant ist, sind Änderungen der allgemein anerkannten Regeln der Technik während der Planungs- und Ausführungsphase im Auge zu behalten und dem Auftraggeber zu melden. Aus Sicht des Verfassers entspricht die DIN EN 1998 zwar bereits jetzt den allgemein anerkannten Regeln der Technik. Ein Zweifel hierüber wird aber umso geringer, je weiter die Bauabnahme oder Fertigstellung der Planung in der Zukunft liegt. Sollte die DIN EN 1998 zwischenzeitlich bauaufsichtlich eingeführt sein, erübrigt sich auch der letzte Restzweifel. Grundsätzlich kann der Auftraggeber auf die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik verzichten und somit unter diesen Mindestanforderungen zurückbleiben. Verlangt der Auftraggeber also beispielsweise aus Kostengründen die ausschließliche Berücksichtigung der DIN 4149, so ist dies durchaus möglich. Der Planer hat in einem solchen Fall die Pflicht, den Auftraggeber über die Folgen einer solchen Entscheidung umfassend aufzuklären. Der Auftraggeber muss in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung im Bewusstsein der Konsequenzen zu treffen. Je geringer die Sachkunde des Auftraggebers, desto höher sind die Anforderungen an die Aufklärung. Auf eine rechtssichere schriftliche Dokumentation ist dabei zu achten. Eine Enthaftung für mögliche Folgeschäden wäre ebenso möglich, in der Praxis jedoch schwierig zu erreichen. Eine anwaltliche Beratung ist anzuraten, um Haftungsrisiken zu minimieren. Von einer Mischung beider Normen ist abzuraten. In der Praxis ist häufig zu beobachten, dass die erhöhten Beschleunigungen der DIN EN 1998 angesetzt werden, der grundsätzliche Nachweis aber nach DIN 4149 erfolgt. Dabei werden die an vielen Stellen günstigen Gegenmaßnahmen im nationalen Anhang der DIN EN 1998, die bewusst zur Kompensation der erhöhten Beschleunigungen eingeführt wurden, nicht berücksichtigt. Insofern kann sich ein unnötig unwirtschaftliches Vorgehen ergeben. Ein Vergleich der beiden Normen sollte unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte erfolgen. Dies hat zur Folge, dass die Erdbebenbemessung, insbesondere bei duktiler Auslegung, parallel nach beiden Normen 128 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko durchgeführt werden sollte, um die finalen Auswirkungen korrekt vergleichen zu können. 5. Zusammenfassung Die Unterschiede zwischen den beiden Erdbebennormen DIN 4149 und DIN EN 1998 können im Detail so groß sein, dass Sie zu erheblichen Unterschieden bei der Erdbebenauslegung führen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, bei aktuellen Bauvorhaben mit Erdbebenanforderungen die richtige Entscheidung über die anzuwendende Norm zu treffen. Die Ausführungen zu den allgemein anerkannten Regeln der Technik zeigen, dass aus zivilrechtlicher Sicht nicht nur die bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen zu beachten sind. Es wurde begründet, warum die DIN EN 1998 bereits als anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann, die veraltete DIN 4149 aber eben nicht mehr. Es folgten Empfehlungen, was bei aktuellen Erdbebenprojekten bezüglich der bauordnungsrechtlich geforderten, aber veralteten Erdbebennorm DIN 4149 und der neuen, aktuellen Norm DIN EN 1998 zu beachten ist. Eine Berücksichtigung der DIN EN 1998 als mutmaßliche anerkannte Regel der Technik ist in aktuellen Projekten zwingend anzuraten. Die Frage nach der anzuwendenden Erdbebennorm in deutschen Erdbebengebieten erübrigt sich, sobald die DIN EN 1998 bauaufsichtlich eingeführt ist. Es bleibt zu hoffen, dass dies möglichst bald geschieht, um den unangenehmen Übergangszustand und die damit verbundene Rechtsunsicherheit endlich aufzulösen. Literatur [1] DIN 4149: 2005-04 - Bauten in deutschen Erdbebengebieten - Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten, 2005. [2] DIN EN 1998-1: 2010-12 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten, 2010. [3] DIN EN 1998-1/ A1: 2013-05 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten - Änderung A1, 2013. [4] DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 - Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten, 2023. [5] DIN EN 1998-5: 2010-12 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 5: Gründungen, Stützbauwerke und geotechnische Aspekte, 2010. [6] DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 - Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 5: Gründungen, Stützbauwerke und geotechnische Aspekte, 2023. [7] BGR - Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Ausweisung der geologischen Untergrundklassen nach DIN EN 1998-1/ NA (Eurocode-8) auf der Basis von geologischen 3D-Modellen, Abschlussbericht, Hannover, Juli 2022. [8] E. Fehling, S. Schwarz, Nationales Anwendungsdokument zu EN 1998-1 - Meilensteine der Entwicklung, Bauingenieur, Band 94, April 2019. [9] Antje Boldt, Matthias Zöller, Anerkannte Regeln der Technik - Inhalt eines unbestimmten Rechtsbegriffs, Der Bausachverständige, Baurechtliche und -technische Themensammlung, Arbeitshefte für Baujuristen und Sachverständige, Heft 8, 2017. [10] Mark Seibel, Baumängel und anerkannte Regeln der Technik, Handbuch für Baujuristen, Verlag C.H. Beck, München, 2009. [11] DIN 820-1: 2022-12 - Normungsarbeit - Teil 1: Grundsätze, 2022. [12] Schneider - Bautabellen für Ingenieure, 26. Auflage, Andrej Albert (Herausgeber), Reguvis, Köln, 2024. [13] Umfrageergebnisse auf die Frage „Welche Erdbebennorm wenden Sie in Ihren aktuellen Projekten an? “, LinkedIn, https: / / www.linkedin.com/ in/ mariuspinkawa, 22.02.2024. [14] Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam, https: / / www.gfz-potsdam. de/ din4149_erdbebenzonenabfrage, Zugriff am 20.04.2024. [15] DIN EN 1992-4: 2019-04 - Eurocode 2: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken - Teil 4: Bemessung der Verankerung von Befestigungen in Beton, 2019. Material Holz 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 131 BIM2Field bei vorgefertigten Elementen im Holz- und Stahlbau Rainer Abt cadwork informatik Software GmbH, Sindelfingen Das Bauen mit vorgefertigten Elementen ist weitgehend digitalisiert. Aus dem produktionsorientierten 3D-Gebäudemodell werden Daten für die Beschaffung, die Produktion, die Vorfertigung und die Logistik abgeleitet. Hingegen hat sich die Montage seit Jahrzehnten kaum verändert. Mit der vorgestellten Technik und entsprechenden Verfahren wird diese Lücke geschlossen. BIM2Field in einer bislang unerreichten Präzision und Geschwindigkeit. Maße sind am Bau zu prüfen Dieser Spruch „ziert“ viele Pläne, passt aber in mehrfacher Hinsicht nicht mehr in die heutige Zeit.- Zum einen arbeiten sowohl Holzals auch Stahlbauer mit vorgefertigten Elementen, deren Planung und Produktion lange vor dem Zeitpunkt beginnt, an dem man ein Maß auf der Baustelle prüfen kann. Erst kurz vor der Montage werden die Vorgewerke fertig. Die wesentliche Aufgabe bei der Montage ist also, die maßhaltigen Elemente auf der vorhandenen Betonbasis zu vermitteln und millimetergenau zu platzieren Zum anderen widerspricht es dem Ziel im BIM-basierten Planungsprozess, dass Planungsentscheidungen früh getroffen und nicht mehr geändert werden. Man stützt daher die eigene Detailplanung und Fertigung auf die Planungsgrundlagen der anderen Gewerke. Schlussendlich ist man darauf angewiesen, dass die Vorgewerke ihre Bauteile nach genau diesen Planungsgrundlagen in der Realität herstellen. Bauwerke werden im cadwork detailliert geplant. Die Grundlage dieser Planung können BIM-Modelle sein oder, speziell beim Bauen im Bestand, die aufgemessene, vorhandene Geometrie. Dieses Aufmaß hat cadwork im Jahre 2008 durch eine Kooperation mit Leica revolutioniert. Das Koordinatensystem eines Leica-Tachymeters und das Koordinatensystem vom cadwork 3D wird dazu synchronisiert. So können Sie den Bestand schon auf der Baustelle im 3D konstruieren, während die erforderlichen Maße live vom Tachymeter erfasst werden. Das Ergebnis ist ein präzises, virtuelles Modell der vorhandenen Geometrie. Anschließend erfolgt die weitere 3D-Planung des zu erstellenden Gebäudes im Büro. Aus diesem virtuellen Gebäudemodell werden Pläne, Listen und Maschinendaten abgeleitet und es entstehen äußerst präzise Bauelemente, die auf der Baustelle zusammengefügt werden. Bleibt noch die Frage, wie die präzise geplanten und gefertigten Bauelemente ihren Platz auf der vorhandenen Ist-Geometrie der Vorgewerke finden. In den meisten Fällen kommen dafür Bandmaß, Meterstab, Wasserwaage und Nivelliergerät zum Einsatz. Diese seit Jahrzehnten verwendeten Verfahren sind zeitaufwändig, ungenau und teuer, bei entsprechender Größe und Komplexität des Gebäudes unbrauchbar. Die Lösung bringt moderne Vermessungstechnik in Kombination mit passenden Montagekonzepten und Verbindungsmitteln. Das Vermessungswesen kennt zwei Verfahren: Mit einem Aufmaß wird die reale Geometrie in ein virtuelles Gebäudemodell übertragen und mittels Absteckung die geplante Sollgeometrie auf die vorhandene Ist-Situation übertragen. Dafür werden Tachymeter verwendet, die man in zwei Kategorien einteilen kann: Manuelle und automatische Tachymeter. Beiden ist gemein, dass die Messgenauigkeiten auf hohem Niveau liegen. Die Genauigkeit der Entfernungsmessung beträgt ungefähr 1-mm auf 100-m, die Winkelgenauigkeit zwischen 1 und 2,5-mm auf 100-m. Manuelle Tachymeter, beispielsweise die Leica Builder iCB50 und iCB70, werden beim Aufmaß von Hand auf den erforderlichen Punkt gerichtet, bevor die Messung des Punktes dreidimensional erfolgt. Gemessen wird die X, Y und Z-Koordinate der Punkte, ergänzt durch weitere Attribute. So können auch schwer zugängliche Punkte, beispielsweise in großer Höhe, ohne Hilfsmittel erfasst werden. Automatische Tachymeter, beispielsweise die Leica Robotic-Totalstationen iCR70 oder iCR80, fahren motorisch auf den gewählten Punkt. Entweder reflektorlos auf einer beliebigen Oberfläche oder durch die Verfolgung eines Prismas. Damit kann man im Ein-Mann-Betrieb Geometrie aufmessen und Punkte abstecken, beispielsweise die Außenkanten von Wänden oder die Lage von Stützen. Das vereinfacht und beschleunigt die Montage enorm und erhöht die Präzision erheblich. Passend zu diesen Möglichkeiten gibt es seit wenigen Jahren Steckverbinder von verschiedenen Herstellern. Das vorgefertigte Element enthält die Verbinder, beispielsweise in der Schwelle einer Wand. Auf der Baustelle wird nicht mehr die Außenkante des Bauelementes abgesteckt, sondern die exakte Position des Bolzenankers, auf den das Bauelement mit den Verbindern in der Schwelle aufgesteckt wird. Damit erhält das Bauelement millimetergenau die korrekte Lage und Höhe. Insgesamt schließt man mit dieser Technik die letzte Lücke im sonst rein digitalen Planungs- und Bauprozess von Holz- und Stahlbaukonstruktionen und kann die Präzision der Vorfertigung auf die Baustelle übertragen. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 133 Holzbaugerecht planen - Wirtschaftliche Holzbauten erfordern ein Umdenken in der traditionellen Planungskultur Philipp Bacher, M. Eng. PIRMIN JUNG Deutschland GmbH, Metzingen Prof. Tobias Götz PIRMIN JUNG Deutschland GmbH, Remagen Zusammenfassung Der moderne Holzbau wächst unauf haltsam. Die Projekte erreichen eine Größe, von der wir vor 10 Jahren noch alle geträumt haben. Das erfordert ein Umdenken in der Planungskultur. Die traditionelle Herangehensweise, wie Massivbauten geplant werden, funktioniert im Holzbau nicht. Essenziell ist eine hohe Detaillierung in frühen Phasen, sowie eine Integrale Planung aller Beteiligten. Wie passt das zur HOAI? Das Planungsteam muss umdenken, es braucht Spezialisten, welche sich im Holzbau auskennen. Nur so sind wirtschaftliche Lösungen möglich. 1. Einführung Der moderne mehrgeschossige Holzbau befindet sich seit gut einem Jahrzehnt in Deutschland im Aufwind. Zunehmend werden Architekten, Bauingenieure, TGA- und Elektroplaner sowie gleichermaßen Projektsteuerer mit der Planung moderner Holzgebäude beauftragt. Aufgrund der sehr jungen Bauweise fehlt vielen Beteiligten allerdings die nötige Erfahrung, um „holzbaugerecht“ die Planung im Sinne einer reibungslosen Ausführung erstellen zu können. Die heutige HOAI stimmt die Planungsleistungen auf die konstruktive Planung eines Massivgebäudes ab. Dies bedeutet, dass vor allem in der Tragwerksplanung ein Großteil der Planung - 70 % - in den Leistungsphasen 4 und 5 zu bewerkstelligen sind. Die Leistungsphasen 1 bis 3 von der Grundlagenermittlung bis zur Entwurfsplanung spielen im HOAI-Gedanken eher eine untergeordnete Rolle und nehmen nur 28 % der geforderten Leistung in Anspruch. Diese Denkweise hat sich über Jahrzehnte nicht nur bei Tragwerksplanern, sondern auch bei TGA- und Elektroplanern manifestiert. In den späten Planungsphasen steckt das meiste Honorar, genau an diesen Stellen wird dann auch erst „richtig“ in die Planung eingestiegen. Als dezenter Hinweis und Spiegelung dieser Einstellung, die sicher jeder Bau-/ Planungsbeteiligte schon mal irgendwo gehört hat, sei der nachfolgende Satz in irgendeiner Art und Weise genannt: „Das klären wir dann in der Ausführungsplanung oder auf der Baustelle“. Die Klärung wichtiger konstruktiver Details des Holzbaus muss vor der Ausführungsplanung erfolgen, eine Klärung sämtlicher Details auf irgendeine Art und Weise auf der Baustelle bedeutet bei einem maximal vorgefertigten Holzbau meistens große Eingriffe in die Bauteile und damit einhergehende immense Qualitätsverluste. Der Baustoff Holz „lebt“ wie kein anderer Baustoff von frühzeitiger Planung und steht damit diametral zu den Anforderungen der HOAI und den Planungskulturen der am Bau beteiligten Fachplaner. Die besondere Herausforderung des versierten Holzbau-Tragwerksplaners - in Fachkreisen auch als Holzbauingenieur bezeichnet - liegt in der Darstellung, der Erklärung und dem Moderieren dieser neuartigen Bauweise und der sich damit verändernden Planungsgewohnheiten. Als Vergleich sei an dieser Stelle die Planung eines Elektroautos im Vergleich zu einem herkömmlichen Verbrennungsmotor genannt. Bei der neuartigen Elektrotechnologie werden sicher andere Planungsansätze und andere fachliche Qualitäten verlangt als beim konventionellen Benzin- oder Dieselmotor. Das Erscheinungsbild des Elektroautos allerdings unterscheidet sich nahezu gar nicht von dem des konventionell betriebenen Fahrzeugs. Abbildung 1/ 2: Volkwagen GmbH mit ID.3 und Golf VIII (Quelle: Volkswagen AG) 2. Lösungsansätze 2.1 Tabellarischer Projektablauf Der Ingenieur denkt gerne in Spalten und Zeilen, um v.a. Zahlen besser und übersichtlicher darstellen zu können. Gleiches hat sich im Hinblick auf die Darstellung des holzbaugerechten Projektablaufs bewährt. In der nachfolgenden Grafik wird auszugweise dargestellt, welche Aufgaben von welchen Planungsbeteiligten in welchen Leistungsphasen mit welchen Ergebnissen und welchen Verantwortlichkeiten zu liefern sind. 134 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Holzbaugerecht planen - Wirtschaftliche Holzbauten erfordern ein Umdenken in der traditionellen Planungskultur Abbildung 3: Planungsablauf mehrgeschossiger Holzbau Es mag insbesondere auffallen, dass in der Leistungsphase 2 sehr viele und doch schon konkrete Aussagen zur Tragwerksplanung, zum Wärmeschutz, zur Bauakustik und zum Brandschutz erfolgen müssen. Gleichermaßen ist es vielen TGA- und Elektroplanern völlig ungewohnt, dass in dieser frühen Phase bereits so dezidiert nach Leitungsquerschnitten, Leitungsführung uvm. gefragt wird. Erledigt sich in der Massivbauplanung sehr vieles dieser Themen durch eine entsprechende Beton- oder Mauerwerksdicke relativ einfach, so zeichnet sich der Holzbau durch sehr unterschiedliche Bausysteme mit sehr weit gestreuten Qualitäten aus. 2.2 Schulung Fachplaner Aus der Vergangenheit muss festgestellt werden, dass nahezu alle Fachplaner v. a. im Hinblick auf Holzbaukonstruktionen und Tragwerksausbildung massive Defizite haben. Den beteiligten Fachplanern sollte zunächst ein Grundverständnis für statische Holzbausysteme im Sinne von Primärtragwerk (z. B. Unterzug) und Sekundärtragwerk (z. B. Decke) gegeben werden. Im Vergleich zum Massivbau setzt der Holzbau äußerst selten zweiachsig gespannte Flachdecken ein. Diese Tatsache muss den Fachplanern dargestellt und erläutert werden, da dies natürlich einen erheblichen Einfluss auf Architektur, Leitungsführung, Bauakustik usw. haben kann. Abbildung 4: Gewerbeschule Paul Müller - Baar/ CH; Darstellung des Primärtragwerks (Stützen/ Unterzüge) in blauer Farbe, Darstellung des Sekundärtragwerks (Decke) in roter Farbe Darüber hinaus ist schon mehrfach erwähnt worden, dass die Leitungsführung im Holzbau von erheblicher Bedeutung ist. Es bietet sich an, in dieser frühen Phase die beteiligten Fachplaner auf die Notwendigkeit einer intensiven Planungsabstimmung hinzuweisen. Im Gegensatz zum Massivbau verzeiht der Holzbau im Hinblick auf Durchbruchsöffnungen und Leitungsquerungen nur sehr wenig. Kleinste Leckagen in der Außenwand können zu Kondensat führen, Querschnittschwächungen zur Leitungsdurchführung von Kabeln oder Rohrleitungen können schnell zu einem Versagen des Tragwerks führen. Aufgrund der häufig schlanken und sensiblen Holz-Bauteile muss gleichermaßen eine Sensibilisierung der Fachplaner vorgenommen werden. Abbildung 5: „Leitungsführung“ auf Decke 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 135 Holzbaugerecht planen - Wirtschaftliche Holzbauten erfordern ein Umdenken in der traditionellen Planungskultur Abbildung 6: Nachträglicher Stützendurchbruch 2.3 Kommunikation & Dokumentation der Ergebnisse Aufgrund der neuartigen Bauweise und der damit verbundenen, ausführlichen Kommunikation empfiehlt es sich, dass in allen Leistungsphasen entsprechende Leistungsstände gegenseitig ausgetauscht und abgefragt werden. Die Umsetzung und Einhaltung eines verbindlichen Terminplans als Grundlage der Planung sollte grundsätzlich sehr stringent eingefordert werden. Insbesondere im Hinblick auf das Ende der Leistungsphasen empfiehlt sich einerseits eine sehr ausführliche Dokumentation und Darstellung der jeweiligen Fachplanerleistungen in der gesamten Planungsrunde. Parallel dazu muss von allen Beteiligten eine Offenheit und Ehrlichkeit an den Tag gelegt werden, die klar und deutlich anzeigt, wenn es nicht erbrachte Planungsleistungen gibt. Eine Verschiebung solch fehlender Leistungen in eine spätere Planungsphase („Abdriften in die Massivbau- Planungsschiene“) werden unweigerlich zu ungewollten Mehraufwendungen, möglichen Planungsfehlern oder sogar Ausführungsfehlern wie in den Abb. 4/ 6 führen. 2.4 Aufwand Holzbauplanung vs. Massivbauplanung Es stellt sich abschließend die Frage, wie groß der Aufwand seitens eines versierten Holzbauingenieurs in solch einem Prozess ist. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass der Holzbau im Hinblick auf die HOAI im Normalfall niemals unter der Honorarzone III ins Rennen gehen sollte. Vom Planungsaufwand her benötigt der Tragwerksplaner im Normalfall auch nicht unbedingt mehr als die 100 %, die in der HOAI veranschlagt werden. Allerdings sieht die Verteilung der Prozentpunkte deutlich anders aus als in der HOAI beschrieben. Wie eingangs schon erwähnt, werden in der Honorarordnung dem Massivbau in den Leistungsphasen 4 und-5 jeweils 30 % bzw. 40 % der Leistung zugesprochen. Die statische Detailbemessung im Holzbau ist sicher auch aufwändig, sie ist allerdings bei entsprechend frühzeitiger Detailplanung in den Leistungsphasen 2 und 3 beherrschbar. Ausgehend von den Erfahrungen der letzten Jahre zeigt sich, dass der Aufwand in der Tragwerksplanung in der Leistungsphase 2 mit ca. 12-16 % anzusiedeln ist und in der Leistungsphase 3 mit ca. 18-22 %. Damit liegt die Holzbauplanung in diesen beiden Phasen anstatt bei nur 25 % bei ca. 30-38 %. Die Verschiebung um diese 5-13-% gleicht sich allerdings in der Genehmigungs- und Ausführungsplanung wieder aus. Abbildung 7: Effektive Leistungsaufwände im Vergleich zur HOAI Auch termintechnisch bleibt die gesamte Planungsdauer im Vergleich zum Massivbau in etwa gleich. Es dauert allerdings etwas länger, bis alle Unterlagen für die Genehmigungsphase erstellt werden können. Dies bereitet v. a. manchen Architekten immer mal wieder Bauchschmerzen, da in vielen Köpfen immer noch die Denkweise der „schnellen“ Bauantragseinreichung vorhanden ist. Einerseits ist ein frühzeitiges Einreichen der Genehmigungsunterlagen im Hinblick auf die Bearbeitungsfristen an deutschen Bauämtern nachvollziehbar - andererseits schiebt auch gerne der ein oder andere Architekt die intensive, detaillierte Planung gerne von sich weg. 3. Fazit Holzbau ist ein Stück Zukunft Die Gesellschaft wird um den Baustoff Holz in Zukunft nicht herumkommen. Die zunehmende Anzahl an Projekten und die vor allem zunehmenden Projektgrößen lassen erahnen, welches Potenzial im Holzbau steckt. War es vor zehn Jahren schon ein Erfolg, wenn mit einem Architekturbüro oder einem Holzbaubetrieb ein mehrgeschossiges Gebäude in Holzbauweise geplant werden durfte, so sprechen wir heute bereits teilweise von ganzen Quartieren oder Siedlungen, die in mehrgeschossiger Holzbauweise ausgeführt werden. Die Planungsbeteiligten werden sich an veränderte Planungsabläufe gewöhnen (müssen). Die Hochschulen müssen gleichermaßen in der Ausbildung der jungen Architekten und Ingenieure einen viel größeren Fokus auf diese veränderte Planung im Sinne integraler Planungsgedanken legen und hierfür entsprechende Unterrichtsstunden auflegen. Architektonische und ingenieurstechnische Lösungen für den Holzbau gibt es massenhaft, es liegt ausschließlich an uns Menschen und am Umgang miteinander, was wir aus unseren Möglichkeiten machen! 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 137 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen Franz Hägele knippershelbig GmbH, Stuttgart Matthias Oppe, Juliane Deubel knippershelbig GmbH, Stuttgart Zusammenfassung In Wendlingen am Neckar entsteht ein neues Parkhaus in Holz-Hybrid-Bauweise. Entworfen von herrmann+bosch Architekten, präsentiert sich das Parkhaus in prominenter Lage als Aushängeschild des Otto-Quartiers in direkter Anbindung von Bahnhof, Autobahn und Hauptverkehrsstraße. Der besondere Grundriss des Parkhauses mit seinen abgerundeten Ecken spart sowohl bebaute Grundfläche als auch Baumaterial und zeichnet das fertige Parkhaus später durch eine größere Nutzerfreundlichkeit aus. Um der Kreislauffähigkeit des Gebäudes Rechnung zu tragen, werden keine Verbundmaterialien verwendet und nahezu alle Verbindungen verschraubt ausgeführt. So werden ein einfacher Rückbau, eine sortenreine Trennung und damit die Wiederverwendbarkeit der Materialien garantiert. Die geringen Eigengewichtslasten des Holzbaus ermöglichen die Wahl eines einfachen Tragwerkskonzepts mit praktikabler Umsetzung. 1. Einführung Unter einem Parkhaus wird in der Regel ein reiner Zweckbau aus Stahl verstanden. In Wendlingen entsteht ein Parkhaus in Holzbauweise, welches als Blickfang und Auftakt zur Stadt fungiert. Das Ingenieurbüro knippershelbig war für die Tragwerksplanung der Konstruktion verantwortlich. Der folgende Beitrag soll Aufschluss darüber geben, wie sich ein konventioneller Zweckbau gleichermaßen ästhetisch und klimagerecht gestalten lässt. 2. Allgemeine Projektbeschreibung 2.1 Ausgangslage Die Stadt Wendlingen am Neckar hat 2020 einen Architekturwettbewerb für den Neubau eines Parkhauses im Schwanenweg ausgelobt. Als Gewinner des Wettbewerbs ging der Entwurf des Stuttgarter Architekturbüros herrmann+bosch hervor (Abb. 1). Das Parkhaus wurde zudem als Projekt für die IBA 2027 der Stadtregion Stuttgart ausgewählt. In unmittelbarer Nähe zum Bahnhof am Ortseingang der Stadt Wendlingen gelegen fungiert es als Blickfang und Auftakt zur Stadt (Abb. 2). Da der Bahnhof Wendlingen an das Nahverkehrsnetz der Stadt Stuttgart angeschlossen ist, hat das Parkhaus eine wichtige Park-&-Ride-Funktion und fördert somit umweltfreundliche Mobilität. Abb. 1: Architektonische Darstellung der Außenansicht (Herrmann+Bosch) Abb. 2: Luftbild des Parkhauses im Vordergrund (knippershelbig) 138 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen Nordseitig des Gebäudes befindet sich ein historisches Ensemble aus denkmalgeschützten Industriegebäuden, bestehend aus einem Wasserturbinenhaus aus dem Jahre 1886, einer Weberei und einem Kesselhaus. In einem Entwicklungsvorhaben soll hier zukünftig ein urbanes Quartier mit einer Mischbebauung aus Wohnen und Gewerbe entstehen. Für dieses Vorhaben wurde zudem die Forderung gestellt, dass das Parkhaus Schwanenweg als eine 18m hohe Lärmschutzwand agieren soll, sodass die Geräusch- Emissionen von der angrenzenden Bahntrasse und der Straßenbrücke abgeschirmt werden können. 2.2 Architektonischer Entwurf Beim neuen zukunftsweisenden Parkhaus handelt es sich um einen fünfgeschossigen Holzhybridbau mit Treppenhauskernen und einer Gründung aus Stahlbeton. Das Parkhaus mit seinem ovalen Grundriss besteht aus einem Erdgeschoss, vier Obergeschossen sowie einem zentralen Rampensystem (Abb. 3 und Abb. 4). Die ovale Form wurde aufgrund der beengten örtlichen Verhältnisse ausgewählt, und bietet den Vorteil, dass die Grundrissfläche besser ausgenutzt und alle Parkplätze einfach angefahren werden können. Abb. 3: Grundriss EG (Herrmann+Bosch) Bei Außenabmessungen von ca. 57 x 42 m stehen Stellplätze für ca. 350 PKW zur Verfügung. Darüber hinaus befinden sich im Erdgeschoss ein Fahrradparkhaus mit Stellplätzen für ca. 100 Fahrräder, Ladestationen für Elektro-PKW und Elektro-Fahrräder sowie ein Technikraum. Um eine Nachnutzung des Gebäudes zu gewährleisten, wurden die Geschosshöhen mit einer lichten Höhe von 2,35-m, einem konventionellen Parkhaus sind 2,10-m üblich, geplant. Die lichte Geschosshöhe und Stützenfreiheit ermöglichen einen einfachen Umbau des Parkhauses in eine Wohn- oder Gewerbenutzung mit einem natürlich belichteten Innenhof anstelle der mittig angeordneten Fahrrampen. Abb. 4: Gebäudelängsschnitt (Herrmann+Bosch) Das Parkhaus wurde als offene Großgarage in Holzbauweise geplant. Das Dach erhält eine extensive Dachbegründung und eine PV-Anlage, mit der die Elektroladesäulen gespeist werden können. Nordseitig ist das Parkhaus mit einer Schallschutzfassade aus Profilglas geschlossen, um seiner Funktion als Lärmschutzwand gerecht zu werden. Südseitig ist eine Fassadenbegrünung mit Edelstahl-Ranknetzen vorgesehen. Um eine Querlüftung zu gewährleisten, bleiben die Fassadenflächen an der West- und Ostseite geöffnet. Die Geschossdeckenplatten werden mit einem Gefälle von 2-% ausgebildet, um anfallendes Regen- und Spritzwasser nach außen zu leiten. Das Regenwasser wird in einer Zisterne gesammelt und kann zur Bewässerung der begrünten Südfassade genutzt werden. 3. Konstruktion 3.1 Tragwerk Von Beginn der Planung an wurde angestrebt ein Tragsystem zu verwenden, welches sich an ein gängiges Parkhaussystemen aus Stahl anlehnt. Demzufolge wurde eine stützenfreie Konstruktion vorgesehen, um den heutigen Anforderungen an Fahrkomfort, Sicherheit und freie Anordnung der Stellplätze gerecht zu werden. Ausgehend von einer 6- m breiten Fahrbahn mit Stellplätzen von 2,5-x-5 m auf beiden Seiten ergibt sich eine freie Spannweite von 16 m. Die Grundkonstruktion besteht aus Brettschichtholzträgern (BSH), die als Einfeldträger zwischen den Außen- und Innenstützen 16- m stützenfrei spannen. Die aufliegenden Decken aus Brettsperrholz (BSP) können aufgrund des Trägerabstands von 2,5- m auf eine Stärke von 12- cm optimiert werden. Im Radialbereich des Grundrisses werden die Holzträger von innen nach außen aufgefächert (Abb. 5). Um die Spannweite der Decke von 2,5- m nicht zu überschreiten, werden hier zusätzliche Wechselträger benötigt. Die Brettschichtholzträger mit der Höhe von 108-cm und einer Breite von 24-cm verleihen dem Deckensystem ein filigranes Erscheinungsbild. Zudem wirkt sich die Tragwerkshöhe günstig auf das architektonische Konzept aus, da das Parkhaus als Lärmschutzriegel fungieren soll. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 139 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen Abb. 5: Tragenden Holzstruktur im EG (ohne Decke), Treppenhauskerne und Gründung (knippershelbig) Die Rampen im Gebäudezentrum werden als Stahlbetonfertigteile ausgeführt, welche auf den Rampenträgern aus BSH liegen. Die Außen- und Innenstützen, ebenfalls aus BSH, werden mehrgeschossig ausgeführt und sind auf Streifenfundamenten gegründet. Abb. 6: Schematische Darstellung des Trägeranschluss mithilfe eines Steckverbinders (knippershelbig) Der Anschluss der Holzträger an die Stützen erfolgt über Steckverbinder (Abb.-6). Diese Verbindung weist einen hohen Vorfertigungsgrad auf und lässt sich auf der Baustelle schneller montieren. Über einen Anschluss können bis zu 180 kN Bemessungslast übertragen werden. Des Weiteren stellt die ovale Grundrissform eine sowohl statische als auch geometrische Besonderheit dar. In den Radialbereichen laufen die BSH-Träger an den Rampenecken in einem Punkt zusammen. Damit alle Trägeranschlüsse Platz finden, wurde hierfür eine L-Stütze aus blockverleimten BSH entwickelt. Vier von den acht BSH-Trägern schließen direkt über Steckverbinder an die L-Stütze an. Abb. 7: Anschluss der Träger im Radialbereich an L-Stütze (knippershelbig) Die vier Träger im Radialbereich werden an einen Sammelträger angeschlossen, der zwischen den beiden L-Schenkeln spannt. Für den Sammelträger kommt das Furnierschichtholz BauBuche zum Einsatz, da dies eine höhere Festigkeit als BSH aufweist. Die anschließenden Träger werden unterseitig ausgeklinkt und mit einer Querdruckverstärkung auf den Sammelträger aufgelegt (Abb. 7). Ein Sammelträger aus Stahl würde zwar dieselbe Funktion erzielen, erfordert aber zusätzliche Brandschutzbekleidung/ -beschichtung. Die Aussteifung erfolgt über die beiden Treppenhaustürme, welche in die jeweilige lokale Bodenplatte eingespannt sind. Somit entsteht für die Horizontalaussteifung ein klares System ohne weitere Verbände oder sonstige Aussteifungselemente. Horizontalkräfte in den Deckenscheiben werden über die an den Treppenhauskern anschließenden Holzträger eingeleitet. 3.2 Konstruktiver Holzschutz Auf der Oberseite der Holzdecken werden zwei Bitumenbahnlagen verlegt, die Erste vernagelt, die Zweite verschweißt. Anschließend wird als Fahrbahnbelag eine 40-mm dicke Gussasphaltschicht aufgebracht. Die Entstehung von Wasserpfützen wird vermieden, indem die Deckenkonstruktion mit einem Gefälle von 2 % nach außen ausgebildet wird. Durch eine Flüssigabdichtung mit eingelegtem Gewebestreifen wird die Abdichtung der Decke übergangsweise mit den aufgehenden Stützen verbunden. Auf diese Weise sind die Stützen bis zu 25 cm oberhalb des Fertigfußbodens geschützt. Die Stützen werden so gestoßen da- 140 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen mit das empfindliche Hirnholz der Stützenstöße nicht in der Deckenebene, sondern oberhalb des Spritzwasserbereichs liegt. Die direkt bewitterten Außenstützen werden mit einer hinterlüfteten Verkleidung aus Lärchenholz versehen. Somit sind alle tragenden Holzbauteile nicht direkt bewittert. 3.3 Brandschutz Für die brandschutztechnische Beurteilung wurden die Ausführungsverordnung zur Landesverordnung (LBOAVO) und die Garagenverordnung (GaVO) herangezogen [1], [2]. Im Rahmen des Brandschutzkonzeptes, aufgestellt von brandschutz plus, wurde hier eine Abweichung von der GaVO beantragt [3]. In Diskussion mit der Feuerwehr und dem Landratsamt wurde eine Feuerwiderstandsdauer von 60 Minuten (hochfeuerhemmend) festgelegt. Der Brandschutz des Holztragwerks wird rechnerisch über die Abbrandrate sichergestellt, sodass nach dem Brandereignis der verbleibende Restquerschnitt tragfähig bleibt. Für das Parkhaus wird von einer normalen Brandgefahr und von einer normalen Brandbelastung ausgegangen. Zur Verifizierung dieser Annahme wurde eine Brandsimulation durchgeführt, um die zu erwartende Temperatur in Folge eines PKW-Brandes zu bestimmen. Die durchgeführte Simulation des Brandverlaufes im Parkhaus Schwanenweg diente dem Nachweis, dass diese rechnerische Ermittlung der Abbrandtiefe in Holz durch einen simulierten realen Brandverlauf nicht überschritten wird. Die Simulation zeigt, dass nach ca. 21min die Temperatur nicht mehr ansteigt, da ein thermodynamisches Gleichgewicht mit Brand an den Öffnungen/ Aufgang eintritt (Abb.-8). Die Ergebnisse decken sich mit der Einheitstemperaturkurve und bestätigen für die Holzkonstruktion eine Tragfähigkeit für mindestens 60 Minuten. Abb. 8: Temperaturverläufe an einigen ausgewählten Oberflächen im Parkhaus sowie Einheitstemperaturkurve (ETK), Auszug aus [3] 4. Montage Der Spatenstich für den Rohbau hat am 19.01.2023 stattgefunden. Die Gründung setzt sich aus Einzel- und Streifenfundamenten, zwei lokale Bodenplatten unter den Treppenhaustürmen und Tiefergründungen in Teilbereichen zusammen. Die beiden aussteifenden Kerne, welche zwei Treppenhäuser und einen Aufzug beinhalten sind, ebenso in Massivbauweise hergestellt. Die Montage der Holzbaukonstruktion begann Mitte Juli 2023. Das Richtfest konnte nach nur 3,5 Monate Bauzeit Ende Oktober 2023 gefeiert werden. Abb. 9: Aufrichtung der dreigeschossigen L-Stütze mittels zwei Kränen (knippershelbig) Da der Holzbauanschluss mit dem Steckverbinder eine hohe Präzision bei der Herstellung erfordert, wurde vor der Holzmontage ein Aufmaß der Stützenfußpunkte vor Ort durchgeführt, um die erforderliche Genauigkeit zu erreichen. Zunächst wurden die dreigeschossigen L-Stützen in den Rampenecken gestellt (Abb. 9). Im nächsten Montageschritt wurden die zweigeschossigen Außen- und Rampenstützen montiert. Im Montagezustand wurde das Hirnholz der Stützenköpfe und die Sammelträger aus BauBuche aufgrund ihrer Feuchteempfindlichkeit in Folie eingepackt (Abb. 10). Abb. 10: Eingepackte Stützenköpfe im Montagezustand (knippershelbig) Im Anschluss wurden dann die Holzträger geschossweise eingebaut (Abb. 11). Der Einschub des Steckverbinders wird durch das hohe Eigengewicht der 16m langen Holzträger begünstigt. Im Holzparkhaus Schwanenweg 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 141 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen kommen insgesamt ca. 850 Steckverbinder zum Einsatz. Abb.- 12 zeigt die auf den Sammelträger aufliegenden, ausgeklinkten Träger an der L-Stütze. Abb. 11: Einbau der Holzträger (knippershelbig) Abb. 12: Träger in Radialbereich auf Sammelträger aus BauBuche aufgelegt (knippershelbig) Der Holzträgeranschluss an die Aussteifungskerne wurde über im Rohbau vorgesehene Aussparungen realisiert, die nachträglich kraftschlüssig vergossen wurden (Abb.-13). Sowohl Vertikalals auch Horizontalkräfte aus den BSH- Trägern werden über die Schlitzblechkonstruktion mit Stabdübeln an den Massivbau weitergeleitet. Somit konnte auf aufwendige Baustellenschweißung verzichtet und zugleich ein möglichst großer Toleranzausgleich gewährleistet werden. Abb. 13: Anschluss der Holzträger an den Rohbau (knippershelbig) Insgesamt wurden ca. 100 LKW-Ladungen mit Holzelementen auf die Baustelle geliefert, teilweise wurden zwei LKW-Lieferungen pro Tag verbaut. Ein Kreissegment des Parkhauses wurde montagebedingt freigelassen, um die Anlieferung zur vereinfachen und um mit nur einem Kran die ganze Baustelle erreichen zu können (Abb. 14). Abb. 14: Luftbild des Holzparkhauses während der Montage (knippershelbig) Eine ästhetische Besonderheit eines Holzparkhauses ist, dass die vollständige Holzkonstruktion mit Ausnahme der Deckenoberseite im Endzustand sichtbar bleibt (Abb. 15). Dagegen ist in einem mehrgeschossigen Hoch- 142 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen bau durch Abhangdecken, Leitungsführungen und Trennwände in der Regel nur ein kleiner Anteil der Konstruktion im Endzustand sichtbar. Abb. 15: Ansicht der Dachdecke im Rampenbereich mit Oberlichtern (knippershelbig) 5. Nachhaltigkeitsbetrachtung 5.1 Ökobilanzierung Der Bausektor ist mit einem Anteil von 40 % der größte Verursacher von Treibhausemissionen weltweit. Diese Emissionen entstehen nicht nur in Nutzung und Betrieb von Bauwerken, sondern bei deren Herstellung und bei der Produktion der Baumaterialen als graue Emissionen. Auf dem Weg zum klimaneutralen Bauen ist Planung von emissionseffizienten Bauwerken essenziell. Bereits in der Vorentwurfsphase wurde die erste Ökobilanzierung durchgeführt und diese einem konventionellen Stahlparkhaus gegenübergestellt. Berücksichtigt wurden die Emissionen aus der Herstellungs- und Entsorgungsphase. Zur Quantifizierung sämtlicher verursachter Treibhausgasemissionen, die innerhalb des gesamten Lebenszyklus des Bauwerks entstehen, wird der Umweltindikator „Treibhauspotenzial“ (Global Warming Potential = GWP) erfasst und in CO 2 -Äquivalenten (CO 2 e) angegeben. Daraus ergibt sich bei der Holzvariante eine Einsparung von ca. 1.350 to CO 2 e gegenüber der Stahlvariante (Abb. 16). Abb. 16: Ökobilanzierungsvergleich zwischen Holz- und Stahlparkhaus in der Vorentwurfsphase (knippershelbig, herrmann+bosch) Nach Fertigstellung des Tragwerks wurde eine präzisere Ökobilanzierung durchgeführt. Berücksichtigt wurden die folgenden Lebenszyklusphasen: Herstellung (A1-A3), Transport (A4), Abfallbewirtschaftung und Deponierung (C3, C4). Eine Zusammenfassung des Ergebnisses kann Tab. 1 und Abb. 17 entnommen werden. Beton und Stahlbewehrung machen knapp 40 % des gesamten GWP aus. Zusätzlich ist zu erkennen, dass die Verbindungsmittel ebenfalls einen hohen Einfluss auf das GWP ausüben können, in diesem Fall fast 15 % des gesamten Tragwerks. Tab. 1: Treibhauspotenzial in den Lebenszyklusphasen A1-A4 und C3-C4, sortiert nach Material, in to. CO 2 e Material Phase Summe A1-A3 A4 C3, C4 Holz -1617 26 1969 379 Beton 224 7 22 253 Bewehrung 60 3 0 63 Verbindung 115 - - 115 Summe -1218 36 1991 809 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 143 Kreislaufgerechtes Parkhaus in Holzbauweise - Neubau Parkhaus Schwanenweg Wendlingen Abb. 17: Anteile der Materialien am gesamten GWP in den Phasen A1-A4, C3, C4 (knippershelbig) Basierend auf dem SCORS-Bewertungssystem (Structural Carbon Rating Scheme) kann das Holzparkhaus Wendlingen mit einer flächenbezogenen GWP von 84-kgCO 2 / m² als A+. eingestuft werden [4]. 5.2 Parkhaus als Materiallager der Zukunft Cradle-to-Cradle ist ein Konzept, auf das in der Kreislaufwirtschaft häufig Bezug genommen wird. Dabei wird die Abfallphase (C3, C4) im Lebenszyklus des Gebäudes durch den Wiederverwendungsprozess (D) ersetzt. Einzelbauteile, aus denen ein Gebäude entsteht, werden für ein anderes Produkt wiederverwendet, und kehren somit in einen neuen Lebenszyklus zurück. Um als Materiallager der Zukunft zu fungieren, muss jedes Bauteil leicht und rückstandsfrei demontierbar und hinsichtlich der mechanischen und konstruktiven Eigenschaften eindeutig identifizierbar sein. Während der Projektentwicklung wurde angestrebt, das Tragwerk möglichst leicht montierbar und zerstörungsfrei demontierbar zu konstruieren. Somit wurde das Parkhaus als sortenreine Konstruktion ohne die Verwendung von Verbundmaterialien entworfen (Abb. 18). Darüber hinaus wurden die meisten Verbindungen entweder gesteckt oder geschraubt ausgeführt. Nach der Erstnutzung am Erstellungsort könnte das Tragwerk an einem anderen Ort ggf. in variierter Konfiguration wieder errichtet werden. Gegenwärtig befindet sich der Markt und die Technologien zur Wiederverwendung von Bauteilen noch in der jungen Entwicklungsphase. Hier sind jedoch Fortschritte zu erwarten, um das Potential in Zukunft vollständig ausschöpfen zu können. Abb. 18: Sortentrennung der tragenden Bauteile (knippershelbig) 6. Fazit Parkhäuser sind häufig Zweckbauten ohne Anspruch auf Ästhetik. Hier in Wendlingen ist es gelungen, ein Parkhaus mit einem hohen Anspruch an Gestaltung, Nutzerfreundlichkeit und Nachhaltigkeit umzusetzen. Als Teil der Quartiersentwicklung bildet das Holzparkhaus Wendlingen mit seiner attraktiven und nachhaltigen Konstruktion eine identitätsstiftende, städtebauliche Marke. 7. Projektbeteiligte Bauherr Stadt Wendlingen am Neckar Architekt herrmann+bosch, Stuttgart Tragwerksplanung knippershelbig, Stuttgart Brandschutz brandschutz plus, Berlin HLS-Planung H+H Planung, Uhingen Beratung Holzbau Design-to-Production, Zürich Rohbau Brodbeck, Metzingen Holzbau Pletschacher, Dasing Holzbau Montage dieholzbox, Gyhum-Hesedorf 8. Verweise [1] Allgemeine Ausführungsverordnung des Wirtschaftsministeriums zur Landesbauordnung, 2010. [2] Verordnung des Wirtschaftsministeriums über Garagen und Stellplätze (Garagenverordnung), 2020. [3] „Brandschutznachweis Parkhaus Schwanenweg Gutachten Nr. 412200,“ brandschutzplus GmbH, 2022. [4] „Setting carbon targets: an introduction to the proposed SCORS rating scheme,“ The Structural Engineer, Bd. 98, Nr. 10, 2020. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 145 Bauen mit Rohholz - Entwurfs- und Konstruktionsmethoden Kevin Moreno Gata RWTH Aachen University Denis Grizmann, Univ.-Prof. Dr.-Ing. Martin Trautz RWTH Aachen University Zusammenfassung Der Holzbau entwickelt sich weiter, passt sich an seine mögliche Zukunft an, integriert mehr Holzarten und schlägt neue Bauweisen vor. Überlegungen über zukünftige Verfügbarkeit ausreichender Ressourcen für das Bauen führen dazu, dass die Verwendung von mehr Laubholzarten vermehrt erforscht wird. Dies stellt jedoch eine Herausforderung für das Standardbauholz dar, denn die derzeitigen Methoden konzentrieren sich auf standardisierte Produktionselemente wie Bretter, Latten oder die Kombination mit Brettschichtholz, Brettsperrholz usw., die hauptsächlich aus schnellwachsenden Nadelhölzern gewonnen werden. In diesem Zusammenhang werden neue Ansätze für den Tragwerksentwurf vorgeschlagen, um diese unregelmäßigeren Hölzer, wie z. B. die Kronen von Laubbäumen, die ca. 50 % des Baumes ausmachen, in Tragwerken verwenden zu können. In diesem Beitrag werden verschiedene Ansätze für Konstruktionsmethoden vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung von Stabstrukturen in Kombination mit Astgabeln sowie auf einem neuen Ansatz für die Entwicklung zusammengesetzter Sandwichplatten liegt. Mit Hilfe von Digitalisierungsmethoden, wie der bildbasierten Modellierung und angepassten Fertigungstechniken, werden Methoden entwickelt, die die Materialeffizienz erhöhen und die strukturelle Nutzung von natürlich geformtem Holz ermöglichen. Ziel dieser Arbeit ist es, im Hinblick auf die Anforderungen einer sich verändernden globalen Umwelt zu einer nachhaltigeren Bauweise beizutragen und die Ressourcennutzung im Bausektor zu verbessern. 1. Einführung Der moderne Holzbau passt sich kontinuierlich an zukünftige Herausforderungen an, indem er neue Holzarten integriert und innovative Bauweisen entwickelt. Aufgrund der begrenzten Ressourcen wird zunehmend erforscht, wie Laubholz und unregelmäßige Holzstrukturen effizient genutzt werden können. Neue Tragwerksentwürfe zielen darauf ab, die oft ungenutzten Kronen von Laubbäumen in Konstruktionen zu integrieren. Durch digitale Modellierung und angepasste Fertigungstechniken werden effiziente Methoden entwickelt, um natürlich geformtes Holz in tragfähigen Strukturen zu nutzen. Diese Ansätze sollen die Nachhaltigkeit im Bauwesen fördern und die Ressourcennutzung im Hinblick auf die globale Umwelt verbessern. Die Verwendung von natürlich gewachsenem Holz in der Architektur gewinnt im Rahmen eines Kreislaufmaterialkonzeptes an Popularität. In der Regel werden Teile der Baumkronen vor allem als Industrieholz, Energieholz, [1] d. h. zur Energiegewinnung oder zum Zerkleinern und zur Herstellung von Holzfaserplatten oder Papier genutzt oder sie verbleiben im Wald, wo sie sich mit der Zeit auf dem Waldboden zersetzen (siehe Abb. 1). Die Verwendung von Laubbaumarten oder dünnerem Holz bietet ökologische Vorteile, da die Ressourcen für die Verwendung als Massivholz im Bauwesen aufgewertet und in ihrem natürlichen Zustand mit minimaler Bearbeitung verwendet werden können. Die unregelmäßigen Formen und die Variabilität des Materials stellen jedoch Herausforderungen dar, weshalb präzise Simulationsmethoden erforderlich sind, um sicherzustellen, dass das verwendete Holz den technischen Anforderungen genügt. Abb. 1: Foto des Waldes in der Stadt Aachen. Links: Rundholz mit kleinerem Radius, das als Industrieholz oder zur Verbrennung verwendet wird; rechts: unregelmäßige Äste, die zur Zersetzung im Waldboden verbleiben. Digitale Werkzeuge und fortschrittliche Fertigungs-methoden sind für die Realisierung dieser Bauprojekte unerlässlich. Durch den Einsatz von digitaler Photogrammetrie und Struktursimulationsmodellen [2] können die einzigartigen Formen und Eigenschaften des Holzes präzise analysiert werden. Dies ermöglicht eine effizientere Nutzung der Ressourcen und führt zu innovativen Konstruktionstechniken, die das natürliche Potenzial des Holzes in seinen gewachsenen, verzweigten oder gekrümmten Geometrien nutzen und gleichzeitig seine strukturelle Integrität gewährleisten. Fortschritte 146 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Bauen mit Rohholz - Entwurfs- und Konstruktionsmethoden in der „Scaled Boundary Isogeometric Analysis“ [3] such as naturally shaped tree trunks, have been used in construction since ancient times. Wood is primarily processed as a long, thin product due to its growth and structure, leaving many parts unused. These neglected parts, like branches, can be used for load-bearing structures. However, they require a new parametric description due to material and geometric behaviour differences. It‘s crucial to transfer these geometries into the calculation model accurately. The surface is described using NURBS based on image data to realise this. Applying the Scaled Boundary Isogeometric Analysis (SBIGA verbessern diese Simulationen und ermöglichen eine effektive Integration von natürlich geformtem Holz in strukturelle Anwendungen. 2. Rohholz in Bauanwendungen In früheren Arbeiten wurden verschiedene Baumethoden entwickelt, bei denen natürlich gewachsenes Holz (oder Rohholz) verwendet werden kann. Dabei wurden vor allem zwei Typologien experimentell untersucht: Stabtragwerke und Scheibentragwerke in Form von Platten oder Wänden. 2.1 Stabstrukturen Die am häufigsten angewandte Methode ist die Verwendung von Stabsystemen für die Montage von Fachwerken [2]. Die montierten statischen Systeme zeichnen sich durch starre Verbindungen aus (Abb. 2) , die mittels Off- Knoten-Verbindungen realisiert werden [2], [4]. Die Verbindungen der Äste werden als gelenke Verbindungen angenommen. Abb. 2: a) Stabtragwerk mit natürlich gewachsenen Holzelementen: flache, gebogene Stäbe und Gabelungen, b) Entwicklung von Konstruktionsdetails c) Baumgabelung als „Off-Knot“ Element. 2.2 Scheiben und Platten Ein weiteres angewandtes Verfahren ist die Konfiguration von Scheiben bzw. Platten für Wände oder Decken [5]. Hierbei wird die Verwendung der unregelmäßigen Geometrien in der Umsetzung von Sandwichpaneelen genutzt. Die Elemente weisen eine flache Oberfläche auf und können in Kombination mit anderen Tragelementen wie Rahmen oder Stützen verwendet werden. Die Sandwichpaneele enthalten im Inneren das Rohholz, welches geometrisch so angeordnet wird, dass es sich an die statischen Anforderungen oder notwendigen Aussteifungen in regulären Konstruktionen anpasst (Abb. 3) [6]. Abb. 3: Beispiel für die Implementierung von Sandwichplatten in Decken oder Wänden als Scheiben- und Plattenstrukturen. Abb. 4: 3D-Geometrieerfassung: Digitale Aufnahme und Rekonstruktion eines Baumes zur Katalogisierung der gewachsenen Elemente eines Baumes. 3. Digitale Prozesse 3.1 Methoden der 3D-Geometrieerfassung Der Prozess beginnt mit einer Datenerfassung, die eine korrekte Interpretation und Untersuchung des Rohholzes ermöglicht. Dieser Prozess wird auf verschiedene Weise durchgeführt, abhängig von der Komplexität des Astes oder davon, ob er direkt am Baum vor dem Beschneiden stattfindet. Die gängigsten Methoden basieren auf der Photogrammetrie oder der Implementierung von 3D-Laserscans. Weitere Verfahren wie die Computertomographie können ebenfalls genutzt werden. Dieses Standardverfahren in Sägewerken dient dazu, das Sägen von geraden Stämmen zu optimieren. Die Datenerfassung führt zu einer geometrischen Entwicklung, bei der die Grundgeometrie erfasst wird. Dieser Prozess beinhaltet die Bestimmung von NURBS-Oberflächen (Non-Uniform Rational B-Splines) sowie die Identifizierung der Mittellinie des Astes. Dadurch kann festgestellt werden, wie und wo diese Elemente in den geplanten Strukturen angewendet werden können. Ebenfalls können die notwendigen Bearbeitungsschritte abgeleitet werden, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung mit anderen Ästen oder strukturellen Elementen. Anschließend können die digitalisierten Geometrien für die spätere Verwendung mit den der isostatischen Analyse weiterentwickelt werden [7]. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 147 Bauen mit Rohholz - Entwurfs- und Konstruktionsmethoden 3.2 Geometrische Verfahren Nach der geometrischen Dokumentation werden Methoden angewendet, die eine genaue Klassifizierung und Segmentierung der Äste ermöglichen. Dies dient dazu, die geometrischen Ebenen zu bestimmen, in denen die Äste beschrieben werden können, um sie vereinfacht in Strukturen zu integrieren (siehe Abb. 5). Wie in [8] beschrieben, kann diese Bibliothek von Ästen durch ihre geometrischen Eigenschaften (Radius, Länge), aber auch durch ihre Materialeigenschaften gebildet werden. Dies bietet einen Ausgangspunkt für spätere Entwicklungen in der Konstruktion, aber auch für nummerische Simulationen. Abb. 5: (Oben) Bildbasierte 3D-Modellierungsmethode, vom 3D-Netz zu NURBS und Wachstumspfaden. (Unten) Analyse der Elemente basierend auf der bildbasierten Methode. Abb. 6: (oben) Beispiel eines biegesteifen Knotens in Form einer Astgabel mit ausgelösten Schnittgrößen. (unten) Biegesteifer Knoten durch Stahlring und Vollgewindeschrauben. Abb. 7: Fräsen oder Hobeln von Ästen zur Verwendung in einer Scheibenstruktur. 3.3 Fertigungsverfahren Die 3D-Geometrien können mit einfachen Verfahren hergestellt werden. Für die Integration in Konstruktionen ist lediglich die Bearbeitung oder sogar nur das Hobeln der Stirnseiten notwendig. Die Definition der Fertigungszeichnungen erfolgt automatisiert durch die Verwendung einer definierten Bibliothek und der Anwendung von Konstruktionsmethoden aus der Literatur. Für Fachwerkstrukturen erfolgt das Fräsen der Stirnseiten am Anschluss, wie in Abb. 6 dargestellt, während für Scheiben lediglich das Hobeln, wie in der Abb. 7 ersichtlich, erforderlich ist. Der Prozess umfasst auch die Behandlung des Holzes. Abb. 8: (oben) Ausstellung der Fußgängerbrücke an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen, September 2023. (unten) Detail einer formschlüssigen Verbindung 4. Durchgeführte konstruktive Demonstrationen 4.1 Growing Bridge Im Anschluss an die in Abschnitt 2.1 definierten Strukturen erfolgt eine konstruktive Demonstration auf der Grundlage starrer Verbindungen in Form einer Fußgängerbrücke für den Wald (vgl. Abb. 8 oben). Die Konstruktion umfasst insgesamt 16 Knotenpunkte, die mit insgesamt 25 Gabeln und gekrümmten Ästen ausgeführt wurden. Bei der Montage wurden zwei Treppenaufgänge ergänzt, um die Konstruktion vorübergehend auszustellen. Die konstruktiven Verbindungen wurden 148 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Bauen mit Rohholz - Entwurfs- und Konstruktionsmethoden durch CNC-Fertigung in Form von „Gerber-Verbindungen” ausgeführt, welche die Gabeln entlang der Länge des Abzweigs verbinden. Diese Verbindung überträgt die axialen Druckkräfte korrekt und ist an den Nullmomentpunkten positioniert. Für asymmetrische Belastungen werden Vollgewindeschrauben eingesetzt, um die Verbindungen in Position zu halten (siehe Abb. 8 unten). 4.2 ReGrowth Im Gegensatz zu Fachwerkkonstruktionen zielt dieses Projekt darauf ab, die Integration von Ästen in den Kern von Sandwichplatten zu fördern, um strukturelle Scheiben zu erzeugen, die auf standardisierte Weise, beispielsweise im Flachdachbau, verwendet werden können. Der Einsatz dieses Verfahrens fördert eine direkte und praktische Anwendung im Bauwesen. Für eine erste Demonstration (siehe Abb. 9) wurde ein Ausstellungspavillon entworfen, bei dem die Äste in Richtung der Lastpfade angeordnet wurden [6]. Im Rahmen der Montage wurden insgesamt 36 Äste auf eine Dicke von 5,5 cm gehobelt und in eine Sandwichplatte integriert. Abb. 9: Grafik zum Konzept der Sandwichplatte und ihrer Ausstellung auf dem BBSR Zukunft Bau Pop-up Campus. 5. Zusammenfassung und Ausblick Das Paper gibt einen Überblick über verschiedene Forschungsarbeiten zu strukturellen Demonstrationen mit gewachsenem Rohholz Elementen. Der Fokus liegt auf der Erläuterung spezifischer Herausforderungen und potenzieller Beispiele der Verwendung von Rohholz, um die Dringlichkeit dieser Forschung hervorzuheben. In diesem Rahmen wird gezeigt, wie welche digitalen Prozesse und Fertigungstechniken zur Umsetzung der prototypischen Anwendungen angewendet werden. Die Zusammenarbeit mit Industriepartnern und anderen Forschungseinrichtungen veranschaulicht die Reichweite und Vernetzung der Studie. Dadurch wird ersichtlich, wie sich die Forschungsergebnisse auf die Bauindustrie anwenden lassen. Die strategische Auseinandersetzung mit langfristigen Zielen und potenziellen Auswirkungen zielt darauf ab, die nachhaltige Nutzung von Ressourcen zu fördern. Danksagung Diese Arbeit wurde im Rahmen des aktuellen Forschungsprojektes der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Projekt Nr. 512769030,), welches in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Baustatik und Baudynamik durchgeführt wird teilweise gefördert. Literatur [1] Plattform Forst & Holz, “Rahmenvereinbarung für den Rohholzhandel in Deutschland (RVR),” Deutschen Forstwirtschaftsrates e.V, Dezember 2023. [Online]. Available: https: / / rvr-deutschland.de/ downloads/ [2] K. Moreno Gata, A. Seiter, D. Grizmann, and M. Trautz, “Development of construction methods with naturally grown timber and bending-resistant joints,” in Proceedings of World Conference on Timber Engineering, Oslo, 2023. [3] F. Spahn, K. Moreno Gata, M. Trautz, and S. Klinkel, “Generalised scaled boundary isogeometric analysis - a method for structural analysis of naturally shaped timber structures,” Wood Mater. Sci. Eng., vol. 0, no. 0, pp. 1-13, 2024, doi: 10.1080/ 17480272.2024.2323590. [4] M. Trautz, K. Moreno Gata, F. Spahn, and S. Klinkel, “Bauen mit Rohholz,” presented at the Baustatik - Baupraxis 15, Technische Universität Hamburg: Institut für Baustatik, 2024, pp. 447-455. [Online]. Available: https: / / www.bb15.baustatik-baupraxis.de/ Anmeldung/ Upload/ PDF/ 945879d9.pdf [5] K. Moreno Gata, F. Amtsberg, A. Menges, and M. Trautz, “reGrowth — Tragkonstruktionen aus ungenutzten Holzabschnitten,” in Zukunft Bau Pop-up Campus Aachen, vol. 1, Bundesinstitut für Bau-, Stadt-, und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), 2023, pp. 210-213. Accessed: Nov. 13, 2023. [6] K. Moreno Gata, F. Amtsberg, S. W. Stephens, A. Menges, and M. Trautz, “Integrating Naturally Grown Timber in Sandwich Timber Panels (under review for Design Modelling Symposium 2024 at time of press),” 2024. [7] F. Spahn, K. Moreno Gata, M. Trautz, and S. Klinkel, “Einsatz von Rohholzelementen für tragende Strukturen und mechanische Analyse mittels bildbasierter Simulationsverfahren/ Application of raw wood elements for load-bearing structures and mechanical analysis using image-based simulation methods,” Bauingenieur, vol. 99, pp. 109-116, Jan. 2024, doi: 10.37544/ 0005-6650-2024-04-41. [8] K. Moreno Gata, F. Spahn, S. Klinkel, and M.- Trautz, “Geometrical analysis of naturally grown timber for the design of load-bearing structures (under review for Research Directions: Biotechnology Design at time of press).” Jan. 05, 2024. Material Mauerwerk 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 151 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts Dipl.-Ing. Claudia Neuwald-Burg Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB, Stuttgart Zusammenfassung Die Materialeigenschaften von Mauerwerk verändern sich im Laufe der Zeit. Feuchte, Salze und mechanische Beanspruchungen zerstören partiell das Gefüge von Mauersteinen und Mörteln und setzten ihre Festigkeiten herab. Auch Konstruktionsfehler aus der Bauzeit, spätere Umbauten oder Reparaturen mit ungeeigneten Materialien können sich auf Dauer auf die Tragfähigkeit von Bauteilen aus Mauerwerk auswirken. An Beispielen zeigt der Beitrag besonders kritische Punkte auf, die bei der Bewertung verschiedener Mauerwerkarten des 19. und 20. Jahrhunderts besonders berücksichtigt werden müssen. 1. Erhalten oder Abreißen Das Bauen im und mit dem Bestand ist heute ein wichtiges Aufgabenfeld. Die technologischen Grundlagen für die Erhaltung und Instandsetzung historischer Bausubstanz wurden in großen Forschungsprojekten zwischen 1980 und 2000 erforscht. Der Fokus lag damals auf denkmalgeschützten Bauwerken. Heute gelten Bestandsgebäude generell als erhaltenswert, weil ein nachhaltiger Umgang mit dem Gebäudebestand einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung der CO 2 -Emissionen leisten kann. Dennoch spielt das Themenfeld in der Ausbildung von Architekten und Ingenieuren noch keine sehr große Rolle und Fachplaner mit Kenntnissen sind rar. Der einzige Masterstudiengang zur Altbauinstandsetzung in Baden-Württemberg am KIT wurde kürzlich eingestellt. Auch die Forschung konzentriert sich auf neue Themen. Dabei sind auch beim Bauen im Bestand viele neue Fragen zu klären, wenn Gebäude erhalten, umgeplant und weiterentwickelt werden sollen. An einigen Beispielen soll im Folgenden gezeigt werden, dass schon der Baustoff Mauerwerk viele Facetten hat. Fast drei Viertel aller Gebäude und Wohnungen in Deutschland entstanden erst nach 1950, die meisten davon in den 1960er und 1970er-Jahren [1]. Dennoch betreffen Bauaufgaben im Bestand vielfach auch Gebäude aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, weil deren kultureller Wert in der Öffentlichkeit als besonders hoch eingeschätzt wird [2]. Obwohl gerade Wohngebäude aus der sogenannten Gründerzeit eine Reihe von konstruktiven Schwächen haben, steht ein Abriss selbst bei nicht denkmalgeschützten Gebäuden nicht so schnell zur Debatte wie bei Gebäuden jüngeren Datums mit ähnlichem Erhaltungszustand. (Abb. 1), [2, S. 23]. Abb. 1: Schwachstellen an den Außenwänden von Wohngebäuden aus der Gründerzeit: Sockel, Fassadenschmuck, Balkone. 2. Mauerwerk der Gründerzeit Viele heute erhaltene Gebäude aus der Gründerzeit haben einen repräsentativen Charakter. Ihrer Planung, der Bauausführung und der Auswahl der Baustoffe wurde große Aufmerksamkeit gewidmet. Gebäude aus dieser Zeit sind dennoch von altersbedingten Schäden betroffen sein, die durch lange Nutzung und mangelnden Bauunterhalt entstanden sind. Einen Eindruck von den typischen Schwachstellen dieser Gebäude vermittelt ein 2002 verfasster Bericht der Kultusministerkonferenz über die Instandsetzung von zehn gründerzeitlichen Schulgebäuden [3]. Zwischen 1860 und 1920 wurden in ganz Deutschland vielerorts relativ ähnliche Schulgebäudetypen errichtet, regional unterschiedlich auch in Bruchstein, hauptsächlich als massive Ziegelbauten oder als Ziegelbauten mit Außenwänden aus Hohlmauerwerk. Die Wandstärken variierten je nach Ziegelformat (z. B. Reichsformat 25/ 12/ 6,5 cm) und den statischen Vorschriften. Im Erdgeschoss betrugen die Außenmauerwerkstärken etwa 64 bis 51 cm, darüber 51 bis 38 cm. Die tragenden Innenwände hatten eine Stärke von 38 bis 25 cm. Nichttragende Innenwände wurden aus Ziegelmauerwerk mit einer Stär- 152 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts ke von 12 cm oder mehr gebaut, teilweise wurden dafür auch ungebrannte Ziegel verwendet. Auch leichte Wände aus Drahtputz oder Gipsdielen (ca. 7 bis 12-cm) waren üblich. Natursteinmauerwerk wurde in den Fundamenten und für die Bauzier verwendet. Beliebte Schmuckelemente zur Fassadengliederung waren auch Putzflächen, die mit regional unterschiedlichen Techniken ausgeführt wurden. Bei allen Sanierungsbeispielen stellten die Außenwände Schadenschwerpunkte dar. Ihre Instandsetzung bildete mit 27-42 % der Gesamtbaukosten die größte Kostengruppe [2, S. 84]. Die meisten Instandsetzungsmaßnahmen an Mauerwerk betrafen feuchtebedingte Schäden: • In einem Fall hatte Wasserzutritt durch schadhafte Dachanschlüsse zu Feuchteschäden und Schwammbildung im Mauerwerk geführt, was besondere konservatorische Maßnahmen erforderlich machte. • Bei einem der zehn Modellbeispiele waren Maßnahmen zur Trocknung und Salzreduktion notwendig. • In einem Fall musste die Außenabdichtung des Kellermauerwerks komplett erneut und eine Horizontalsperre eingebaut werden. • In allen Fällen waren Fassadensanierungen erforderlich. Dabei sollte das historische Erscheinungsbild erhalten bleiben. Die Maßnahmen umfassten immer auch eine Reinigung. Bei den Fassaden mit Naturstein waren Natursteinersatz, steinkonservatorische Arbeiten, Festigungen und Hydrophobierungen durchzuführen. • Verwitterte Putzflächen mussten instandgesetzt werden. • Zum Feuchteschutz waren Blechabdeckungen nötig. Statische Ertüchtigung bzw. ingenieurtechnische Sicherungen, z. B. durch Vernadeln und Injizieren, waren an den zehn Modellbeispielen nicht notwendig. Die Wandauf bauten sind in der Regel robust. Schäden werden teilweise durch Lastumlagerungen ausgeglichen. Mitunter kommt es dabei zu Rissen. Ein solches Beispiel zeigt das umfassend modernisierte Wohnhaus in Abb. 2. Zur Anpassung an modernen Wohnkomfort wurden Balkone und ein Aufzug installiert. Für die neuen Austritte und zwei Fenster in der ursprünglich fensterlosen Südfassade wurden das Mauerwerk der Außenwände durchbrochen. Der verwendete Sandstein ist nicht sehr witterungsbeständig, ein Außenputz deshalb von Vorteil. Die rückseitigen Fassaden waren deshalb bereits zur Bauzeit verputzt. Im Zuge des Umbaus wurde der Putz stellenweise erneuert. Bald nach Fertigstellung des Umbaus traten jedoch Risse im Bereich der Balkone auf (Abb. 2). Ein Jahr später entstanden auch an der Südfassade Risse. Diese Risse verliefen unregelmäßig horizontal und diagonal über die Fassade und hatten ihren Ursprung an den Ecken der neuen Fensteröffnungen. Die vertikalen Risse betrafen die gesamte Gebäudehöhe an der südlichen Ecke der Westfassade und lagen in etwa an der Stelle, an der die Giebelwand einbindet. Vertikale Risse an den Ecken einer Giebelwand können ein Hinweis auf eine Gefahrensituation sein und sollten immer abgeklärt werden. Die Aussteifung bzw. der Zustand der Verankerung des Giebels sollte auf jeden Fall überprüft werden. Besteht der Verdacht, dass Verankerungen fehlen oder schadhaft sind, muss dem nachgegangen werden. Abb. 2: Wohnhaus von 1906 mit vertikalen Rissen an der südlichen Gebäudeecke (Risse nachgezeichnet). Hier erfolgte zur Untersuchung der Rissursachen zunächst durch Inaugenscheinnahme des Rissverlaufes, eine einfache Rissbreitenmessung mit einer Rissschablone sowie ein Abklopfen des Putzes auf Hohllagen. Da die vertikalen Risse bereits kurz nach Fertigstellung des Umbaus reklamiert worden waren, lagen bereits Rissbreitenmessungen vor. Im Vergleich zu diesen, ein Jahr zurückliegenden Messungen, hatten sich die Rissbreiten nicht verändert. Im gerissenen Bereich lag der Putz an vielen Stellen hohl. Raumseitig war die Außenwand in allen Geschossen zugänglich. Da sie nicht verputzt, sondern mit einer dünnen Schlämme gestrichen war, konnte der Mauerverband gut untersucht werden und es konnte festgestellt werden, dass West- und Südwand an der Ecke gut verzahnt und rissfrei waren. Es gab keine Anzeichen für eine Ablösung. Das Außenmauerwerk bestand aus Bruchsteinen sehr unterschiedlicher Größe mit dicken, unregelmäßigen Mörtelfugen. Aufgrund ungünstiger Steinformate war das Überbindemaß stellenweise gering und es ergaben sich über mehrere Lagen durchgehende Stoßfugen. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 153 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts Wegen der bruchrauen Steinoberflächen und dem unregelmäßigen Fugenschluss war die Wandoberfläche sehr uneben. Am südlichsten Mauerpfeiler befand sich zudem ein Bereich aus Ziegelmauerwerk. Möglicherweise wurde ein Teil der Wand an der Gebäudeecke nach einer Zerstörung in der Vergangenheit mit Ziegelmauerwerk repariert. Ein ungleichmäßiges Mauerwerk bildet einen ungünstigen Putzgrund: Ziegelmauerwerk verformt sich anders als Bruchsteinmauerwerk, fehlendes Überbindemaß oder durchgehende Stoßfugen begünstigen Rissbildung, weil Spannungen nicht gleichmäßig verteilt werden. Auf unebenen Bruchsteinflächen mit unregelmäßigem Fugenschluss treten zudem zwangsläufig sprunghafte Änderungen der Putzdicke auf, an denen Spannungen schlecht abgebaut werden können. An der Außenecke war die Wand im Verband mit der rechtwinklig angrenzenden Wand gemauert und daher in dieser Wandstärke (ca. 50 cm) steifer als im übrigen Bereich. Aufgrund dieser Steifigkeitsverteilung und der ungleichmäßigen Belastung kam es bereits bei der Errichtung des Gebäudes zu Setzungsunterschieden im Mauerwerk. Die Deckenlasten werden über die Wandpfeiler der Westwand abgetragen, während die Südwand im Wesentlichen nur das Eigengewicht trägt. Bei der letzten Sanierung wurde das Brüstungsmauerwerk unter den Fenstern zur Schaffung der Austritte auf die Balkone entfernt. In der Folge fanden noch einmal Spannungsumlagerungen statt, die zu vertikalen Verformungen im Mauerwerk geführt haben. Mauerwerk kann Verformungen normalerweise gut aufnehmen, wenn es in einem guten Verband ausgeführt wurde. Fehlt hingegen eine gute Verzahnung, kommt es innerhalb der Wand zu ungleichmäßigen Setzungen. Im Putz sind diese Verformungen sofort sichtbar. Abb. 3: Südfassade (Hauptrisse nachgezeichnet). Auch die Risse in der Südfassade wurden untersucht. Hier waren im oberen Fassadenabschnitt (3. OG) keine Risse sichtbar. Im 2. OG verlief ein auffälliger Vertikalriss fast mittig unter der Fensteröffnung. Im Putz waren beidseitig von den Ecken der Maueröffnung ausgehende Putzüberarbeitungen erkennbar (Abb. 3]. Am unteren Fenster gingen von den Ecken der Maueröffnung Kerbspannungsrisse aus, die sich als Fugenrisse horizontal und vertikal fortsetzten. Die größte Rissbreite (0,8 mm) wurde an dem vertikalen Rissfortsatz neben dem unteren Fenster gemessen. Der Putz hat sich im gerissenen Bereich vom Untergrund gelöst. Des Weiteren waren in der Putzfläche zahlreiche Haarrisse zu finden, die meist dem vermuteten Fugenverlauf folgen. Schäden durch Feuchteeintrag waren noch nicht zu erkennen. Die Risse in der Südfassade stehen nicht im Zusammenhang mit den Rissen an der Westwand, sondern sind auf eine Kombination aus thermischen Verformungen und Unregelmäßigkeiten im Putzgrund zurückzuführen. Eine rissfreie ebene Putzoberfläche auf einer größeren Bruchsteinoberfläche nur durch eine sehr aufwendige Untergrundvorbereitung oder durch eine vollständige Entkopplung des Putzes vom Mauerwerk zu erreichen. Günstiger als ebene Putzflächen verhalten sich gleichmäßig dick aufgebrachte Putzschichten oder Schlämmen, die den Verformungen des Untergrundes besser folgen. Zur Herstellung einer ebenen Putzoberfläche müssten die unebenen Steinoberflächen und die unregelmäßigen, oft nicht bündig verfüllten Stoß- und Lagerfugen vorher mit einem passenden Mörtel ausgeglichen werden. Das ist mit dem vorhandenen Putzauf bau nicht gelungen. Der Putz kann Verformungen nicht ausgleichen und reißt an empfindlichen Stellen wie den Maueröffnungen, Änderungen in der Dicke der Putzschicht an nicht ausgefüllten oder dicken Fugen sowie an Hohllagen, an denen die Verformungen nicht kontinuierlich über die Fläche in den Putz eingeleitet werden. Arbeiten an denkmalgeschützten Gebäuden werden idealerweise von Fachleuten begleitet und ausgeführt. Besondere Sorgfalt ist bei der Auswahl der Instandsetzungsmaterialien geboten. Dies gilt nicht nur für stark verzierte Schmuckfassaden, sondern für jedes Mauerwerk. Neue Baustoffe müssen in ihren Materialeigenschaften auf den Bestand abgestimmt sein, sonst sind Reparaturen bestenfalls nicht dauerhaft, schlimmstenfalls schädlich. 3. Siedlungsbauten der 1930er-Jahre Der Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit war durch einen Mangel an Baumaterialien gekennzeichnet. Zwar waren die Baustoffe inzwischen genormt, aber es musste verbaut werden, was vorhanden war. Auch Ziegelreste und Abbruchmaterial wurden verwendet. Dennoch sind viele dieser Bauten bis heute erhalten geblieben und werden weiter genutzt. Im Zuge der notwendigen energetischen Sanierung werden sie vielerorts umfassend umgebaut und aufgestockt. Im Idealfall werden die zusätzlichen Lasten bei ausreichender Tragfähigkeit vom bestehenden Mauerwerk aufgenommen. Gegenüber einer additiven Tragkonstruktion können in diesem Fall er- 154 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts hebliche Kosten eingespart werden. Für den Tragfähigkeitsnachweis müssen die Materialfestigkeiten überprüft werden. Es ist ratsam, sich nicht allein auf eventuell vorhandene Bauakten zu verlassen, sondern die tatsächlichen Materialfestigkeiten und Wandkonstruktionen ausreichend genau zu überprüfen. Abb. 4: Teil einer Wohnanlage aus den 1930er-Jahren. Am Außenmauerwerk der Wohnanlage in Abb. 4 zeigten Bauteilöffnungen eine handwerkliche Ausführung, die nicht der heutigen Norm entsprach. Auffällig waren die sehr dicken Lagerfugen und die Verwendung unterschiedlicher Ziegelarten (Abb. 6). Unklar war zunächst der Verband. Im Erdgeschoss und Keller fanden sich durchgemauerte Querschnitte, aber im 2. OG lag zumindest punktuell ein Hohlmauerwerk vor (Abb. 7). Diese Mauerwerksart wird in [3] beschrieben, ohne weitere, größere Bauteilöffnungen konnte am Bauwerk jedoch nicht festgestellt werden, wie viele Bindersteine die Schalen verbanden und welche Bereiche der Außenwände als Hohlmauer ausgeführt waren. Abb. 5: Bauteilöffnung zur Materialentnahme und Untersuchung des Mauerverbands Abb. 6: Dicke Lagerfugen und verschiedene Ziegelarten Abb. 7: Hohlmauerwerk mit 6 cm Spalt in Teilen der Fassade Um genauer zu verstehen, wie die Außenwände aufgebaut und die Schalen miteinander verbunden waren, entschied man sich, eine flächige Erkundung mittels Georadar durchzuführen [5]. Die Untersuchungen führten das Ingenieurbüro Patitz und die Gesellschaft für Geophysikalische Untersuchungen Karlsruhe aus. Folgende Fragestellungen sollten beantwortet werden: • Kontrolle der Schalenanbindung im Bereich des Hohlmauerwerks, • Anzahl und Lage der Binder und deren Einbindetiefe • Lage/ Geschossebene des Übergangs vom Blockzum Hohlmauerwerk? • konstruktive Unterschiede in den untersuchten Wandbereichen. Zusätzlich bot sich an, auch die Einbindung der Geschossdecken und Treppenpodeste zu untersuchen sowie die Lage und die Ausbildung von Ringbalken. Vom Tragwerksplaner wurden zwei Messfelder vorgegeben. Zusätzlich wurde eine Referenzfläche im EG untersucht, deren Auf bau in aus den Voruntersuchungen bekannt war. Die Untersuchung der Messfelder durch erfolgte vom Gerüst aus mit einer hochauflösenden Anten- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 155 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts ne, die händisch an vertikalen und horizontalen Messprofilen über die Wandoberfläche geführt wurde. Insgesamt wurden auf diese Weise 60-m² Außenmauerwerk untersucht. Für die Ermittlung der Bindersteine wurden auf einer Fläche von ca. 2-m² horizontale Messlinien im Abstand von 5-cm aufgenommen. Abb. 8: Handgeführte, hochfrequente Radarantenne Die Radardaten wurden punktuell mit Probebohrungen und Endoskop-Untersuchungen verglichen, sodass sich daraus sehr eindeutige Aussagen ableiten ließen. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, dass in den Erdgeschossen regelmäßige, durchgemauerte Ziegelverbände vorlagen. Im 1. OG war bei Voruntersuchungen im Treppenhausbereich Hohlmauerwerk festgestellt worden. Im Bereich der Messfelder konnte Hohlmauerwerk durch die Radaruntersuchung jedoch mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Im 2. OG lag nach den Voruntersuchungen kein durchgehender Mauerwerksverband vor. In den Radardaten war jedoch auch nicht die erwartete Luftschicht zu erkennen. Die Wand bestand aus zwei Schalen aus Ziegelmauerwerk im Läuferverband und einer mineralischen Verfüllung (Ziegelstücke und Mörtel). Aufgrund der mineralischen Verfüllung des Spaltes konnten in den Radargrammen keine Bindersteine nachgewiesen werden. Das Ziel der Untersuchung, die Anbindung der Schalen zerstörungsfrei zu verifizieren, konnte nicht erreicht werden, es mussten dazu weitere Probefelder geöffnet werden. Nachgewiesen werden konnte hingegen, dass in den Deckenebenen keine Randbalken vorhanden waren. Beim Umbau von Bestandsbauten dieser Größe können Voruntersuchungen nicht alle Bauteile lückenlos abdecken. Untersucht wurden exemplarische Bauteile, die nach Augenschein repräsentativ für das tragende Mauerwerk waren. Äußerlich gab es an den übrigen Häusern der Siedlung keine Hinweise auf unterschiedliche Bauarten oder Materialien. Allerdings lagen widersprüchliche Aussagen von Zeitzeugen zu Beschädigungen durch Bombenangriffe während des Krieges vor. Es ist zumindest nicht vollständig auszuschließen, dass Reparaturen mit Trümmerziegeln oder minderwertigem Ersatzmaterial erfolgt sind. Auch bauzeitlicher „Pfusch“ oder nachträglich angelegte Leitungsschlitze können die tragenden Querschnitte beeinträchtigen. Um sicherzustellen, dass die Bausubstanz einheitlich ist, wurden im Laufe der weiteren Arbeiten kleine Probefenster oder besser „Gucklöcher“ von 5-cm Durchmesser mithilfe einer Bohrkrone freigelegt (Abb. 9) und die Qualität der Mauersteine durch Messungen mit dem Schmidthammer überprüft. Auf diese Weise konnten sehr schnell viele Stichproben erfolgen. Es wurden ausschließlich Ziegel als Mauersteine vorgefunden. Die Prüfwerte gaben keine Hinweise auf stark unterschiedliche Steinfestigkeiten. Das Verfahren wurde jedoch nur für qualitative Untersuchungen verwendet. Zur Bestimmung der Steindruckfestigkeitsklasse wurden systematisch Ziegel entnommen und im Labor geprüft. Abb. 9: „Putzfenster“ und freigelegte Stoßfuge zur Prüfung des Verbands 4. Kellermauerwerk Ein wesentlicher Problempunkt bei alten Bestandsgebäuden sind die Keller. Sie dienten ursprünglich der Lagerung von Lebensmitteln und waren gut belüftet. Das Mauerwerk war unverputzt oder mit Kalkputz versehen. Feuchte aus fehlender Abdichtung, und Kondenswasser konnte abtrocknen Abb. 10. Heute werden diese Keller bisweilen ohne bauphysikalische Überlegungen für die unterschiedlichsten Aktivitäten genutzt und ausgebaut. Dabei werden oft ungeeignete Putze verwendet, dichte Fenster eingebaut usw. Abb. 11. Vor Aufstockungen muss oft daher unbedingt das Kellermauerwerk untersucht und instandgesetzt werden. Bei der Häuserzeile in Abb. 12 lässt sich von der Straße aus sehen, welche Keller ausgebaut wurden. Über den unverputzten Kellern ist der Außenputz intakt. In den verputzten Wänden wird Feuchte transportiert und führt über dem Sperrputz der Außenwand zur Ablösung von Farb- und Putzschichten. 156 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts Abb. 10: Bei diesem Keller mit unverputzter Außenwand ist das Ziegelmauerwerk in gutem Zustand. Abb. 11: Kellermauerwerk mit Feuchte und Salzschäden unter Kalkzementputz Abb. 12: An den Putzschäden (Pfeile) war ablesbar, wo Kelleraußenwände verputzt und wo unverputzt waren. 5. Verblendmauerwerk der 1960er-Jahre Ein Beispiel für Schäden an Verblendmauerwerk der 1960er Jahre haben Burkert und Sieb in [7] ausführlich vorgestellt. Eher durch Zufall kam bei der energetischen Instandsetzung eines Geschosswohnungsbaus ein Mischmauerwerk mit schweren handwerklichen Ausführungsmängeln zutage (Abb. 13 und Abb. 14). Solche Fälle sind eher die Ausnahme, aber offensichtlich nicht auszuschließen. Nichts in den bauzeitlichen Bauunterlagen hatte auf einen solchen Befund hingedeutet, er kam erst bei der Ausführung zutage. Die Sanierungsmaßnahme musste abgebrochen und völlig neu geplant werden. Hier musste die Verblendschale vollständig abgenommen werden und zuerst ein Teilaustausch der Hintermauerung erfolgen, bevor ein Wärmedämmsystem aufgebracht werden konnte. Das Beispiel zeigt deutlich, dass eine Beurteilung der Bauwerksqualität allein aus den Bauakten auch bei neueren Bestandsbauten nicht möglich ist. Jedes Bauwerk ist individuell zu untersuchen, vor Ort und nicht nur vom Schreibtisch aus. Die Untersuchungen sollten frühzeitig erfolgen. Übereilt geplante Maßnahmen verstellen den Blick auf die Bauwerksituation. Abb. 13: Wohnhochhaus aus den 1960er-Jahren mit hinterlüfteter Klinkerfassade [6] Abb. 14 [6]: Nach den Bauunterlagen sollte hier nur Kalksandstein vermauert sein. Das Beispiel verdeutlicht die Bedeutung sorgfältiger Voruntersuchungen für effiziente Bauabläufe. Beim Bauen im Bestand lassen sich Kosten sparen: Transport- und Materialkosten sowie die Kosten für Abbruch und Entsorgung entfallen, wenn Altbauten erhalten und umge- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 157 Erkennen und Beurteilen typischer Schwachstellen und Schadensbilder von Mauerwerk des 19. und 20. Jahrhunderts baut werden. Diesen Kostenvorteilen stehen allerdings höhere Aufwendungen für die Planung einschließlich der Voruntersuchungen gegenüber, die aufgewendet werden müssen, um vermeintlich unvorhersehbare Risiken zu minimieren. Dafür ist nicht nur bei Bauherren ein Umdenken nötig. In einer Kommunalumfrage und Umfrage bei den planenden Berufen zum Baukulturbericht gaben nur 17 % der Kommunen Risiken durch Unvorhergesehenes als möglichen Grund für Abriss an, aber 41 % der Planer. Mehr Umbau wäre zu wünschen, denn Studien legen nahe, dass sich allein durch Aufstockung von Wohngebäuden aus den 1950er bis 1980 Ger Jahren in Deutschland mehr als eine Millionen Wohneinheiten schaffen ließen [2, S. 69]. Literatur [1] Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hg): Zensus 2011. Gebäude- und Wohnungsbestand in Deutschland. Endgültige Ergebnisse. URL: https: / / ergebnisse2011.zensus2022.de/ (abgerufen am 20.04.2024). [2] Bundesstiftung Baukultur (Hg.): Baukultur Bericht 2022/ 23. Neue Umbaukultur (2022). 1. Auflage. Berlin: (Baukulturbericht, 2022/ 23). PDF Download von www.bundesstiftung-baukultur.de am 24.04.2024. [3] Sekretariat der Kultusministerkonferenz; Zentralstelle für Normungsfragen und Wirtschaftlichkeit im Bildungswesen: Modernisierung von Schulbauten der Baujahre 1860-1920. Beispiele und Planungshinweise. Berlin, 2002. [4] Ahnert,- R.; Krause,- K.- H.: Typische Baukonstruktionen von 1860 bis 1960. Zur Beurteilung der vorhandenen Bausubstanz. Berlin: Verl. Bauwesen; Huss; Beuth, 2000. [5] Patitz,- G.: Altes Mauerwerk zerstörungsarm mit Radar und Ultraschall erkunden und bewerten. Bauphysik-Kalender 2012, Verlag Ernst & Sohn Berlin. [6] Burkert, T.; Ziep, S.: Bewertung und Instandsetzung von Verblendmauerwerk an einem Wohnhochhaus der 1960er-Jahre. In: Wigger, H. (Hg.) (2024): Mauerwerk aus künstlichen Steinen. Tragfähigkeit im Bestand bewerten. Wissenschaftlich-Technische Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege; (BAUSUBSTANZ Thema, 3), S.-80-95. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 159 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Dr.-Ing. Andreas Hasenstab Ingenieurbüro Dr. Hasenstab GmbH, Augsburg Zusammenfassung Trotz neue Entwicklungen wie Beton und Spannbeton stellt Mauerwerk weiterhin einen sehr wichtigen Baustoff dar. Auch bei einer Kombination von Stahlbetonskelettbau mit Mauerwerksgefachen kommt den Baustoff, vor allem beim Bestandsbau, eine „tragende“ Bedeutung zu. So ist es sehr wichtig, bei einer Umnutzung/ Weiternutzung von Bestandsbauten auch die Mauerwerkstruktur genau zu untersuchen, um diesen vorhandenen Bauelementen Lasten zuweisen zu können. Um belastbare Daten für die weitere Planung und Statik zu erhalten sind so zerstörungsfrei Untersuchungen mit Radar in Kombination mit zerstörenden Druckfestigkeitsprüfungen an Proben zielführend. Dabei können der Bauteilzustand dokumentiert sowie Schäden frühzeitig erkannt und eingegrenzt werden. Dies führt bei Instandsetzung zu einer besseren Kostenabschätzung. Anhand von mehreren Beispielen an Bauwerken aus Mauerwerk werden die zerstörungsfreien Prüferverfahren vorgestellt und die Möglichkeiten und Grenzen der Verfahren aufgezeigt. 1. Zerstörungsfeie Prüfung im Bauwesen Seit einigen Jahren werden unterschiedliche zerstörungsfreie Prüfverfahren zur Untersuchung von Bauwerken eingesetzt. Hierbei könne die Baustoffe Beton, Holz, Stahl oder Mauerwerk untersucht werden. Das Ziel einer Anwendung der Zf PBau-Verfahren ist: zerstörungsfreie Bauwerksuntersuchung (Erkundung wenn Pläne fehlen etc. ) • frühes Erkennen und Eingrenzung von Schäden • Kostenabschätzung bei Instandsetzung durch Kenntnisse über das Bauwerk • zerstörungsfreie Dokumentation und Integritätsprüfung des Bauteilzustandes 2. Messverfahren Zur zerstörungsfreien Prüfung im Bauwesen werden unterschiedliche Verfahren eingesetzt. Einen groben Überblick der Verfahren kann der folgenden Tabelle entnommen werden. Tabelle 1: zerstörungsfreie Prüfverfahren im Bauwesen (ZfPBau) Elektromagnetische Verfahren: Radar Thermographie (passiv/ aktiv) Röntgen/ Durchstrahlung Wirbelstrom, Induktion Remanenzmagnetismus Akustische Verfahren: Ultraschallecho Impact Echo Sonstige Verfahren: Bohrwiderstand Rückprallhammer Endoskopie Potentialfeldmethode Bohrkerne Unter-Wasser- Drohne Ein geübter Umgang mit den Verfahren ist unbedingt erforderlich - nur so können gute Messergebnisse erzielt werden. 2.1 Messverfahren Ultraschallecho Die Ultraschall-Echotechnik beruht auf der Reflexion von Schallwellen an Diskontinuitäten wie Werkstoffinhomogenitäten, Grenzflächen, Hohlstellen oder der Bauteilrückwand. Eine direkte Ankopplung am Bauteil ist physikalisch erforderlich. Anwendungsbereiche Ziele Bestimmung von Bauteilabmessungen Gleichmäßige Dicke von nur einseitig zugänglichen Balken, Unterzügen, Fundamenten Lage von nicht sichtbaren Aussparungen, Nischen etc. Lage von Holzdübelverbindungen Ortung von Schäden/ stofflichen Inhomogenitäten Hohlstellen Fäulnis Verdichtungsmängeln (Kiesnester) Ablösungen, Rissen parallel zur Oberfläche Äste Ortung von Schichtwechseln, stofflichen Inhomogenitäten Verbund von unterschiedlichen Schichten aufeinander 160 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Abb 1: Ultraschallechomessung an Betondecke; Holzbindern, mehrschalige Betonwand; Stahl; Bei Vorhandensein eines Echosignals von der Bauteilrückseite kann davon ausgegangen werden, dass das Bauteil ungeschädigt ist und sich keine inneren Schäden wie Risse, Kiesnester, Fäulnis etc. im Bauteil befinden. So können Bauteile als „schadensfrei“ oder „gesundgeprüft“ werden. Wenn die Bauteile „sicher schadensfrei“ sind - können ihnen „sicher“ Lasten zugeordnet werden. Grenzen von Ultraschallecho: Bauteil nicht erreichbar (z. B. Estrich und Folie auf der Betonplatte) 2.2 Messverfahren Radar (auch Impulsradar, Georadar) Das Radarverfahren ist ein elektromagnetisches Verfahren und ist vielfältig einsetzbar (siehe folgende Tabelle). Besonders können Metallbauteile, aber auch Strukturen im Inneren von Mauerwerk oder unter Bodenplatten etc. untersucht werden und die Anzahl der zerstörenden Sondagen stark reduziert werden. Eine Optimierung der Untersuchungstiefe und Messauflösung ist auch durch eine Kombination von unterschiedlichen Radarantennen mit unterschiedlichen Messfrequenzen möglich. Anwendungsbereiche Ziele an historischen Bauwerk aus Mauerwerk, Steinen strukturellen Auf bau (Schalen, Dicken), Einbauteile (Klammern, Dübel, Anker, Hölzer), Schadstellen (Risse, Ablösungen), Feuchte- und Salzverteilung, Sanierungskontrolle aus Holz [3] Einbauteile, Anker, Klammern im Beton- und Stahlbetonbauten (Hochbauten, Brücken) Bewehrung, Spannglieder, struktureller Auf bau Verkehrswege, Erdbauwerke struktureller Auf bau, gestörter Auf bau, Schadstellen, Schichtdicken Archäologie/ Baugrund Bauwerksreste, Objektdetektion, verborgene bauliche Situationen, Hohlräume, Leitungen Tabelle 2: Anwendungsmöglichkeiten des Radarverfahrens Die physikalischen Grenzen des Radarverfahrens werden durch eine zu hohe Materialfeuchte oder Abschirmung durch Metall (Alufolie in Dämmung/ zu enge Bewehrung) definiert. Abb 2: Radarmessungen; Stahlteile in Holz; Strukturuntersuchung Betonplatte oder Bodenauf bau unter Schwimmbad (niederfrequente Antenne mit größerer Tiefenreichweite) 2.3 Rissmonitoring Um zu Untersuchen, ob sich ein Riss „in Ruhe“ befindet und z. B. nur kleine Verformungen durch eine thermische Beanspruchung vorliegen, ist ein digitales Rissmonitoring sehr sinnvoll. Neben der Lufttemperatur und Luftfeuchte der Umgebung wird die Rissbewegung aufgezeichnet. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 161 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Auch für Untersuchungen, ob eine gezielt aufgebrachte Belastung eine Verformung am Riss zur Folge hat, ist eine digitale Rissuntersuchung von großer Bedeutung. Abb 3: Rissmonitoring (links Messeinheit; mitte: Messsensor am Riss; rechts Belastungsversuch um Verformungen zu verursachen) 2.4 Thermografie Abb. 4: Thermografiemessung - links an Beschichtung mit Hohllage; rechts an Bauwerk mit Mauerwerk Die Thermografie unterscheidet sich zwischen der • passiven Thermografie (Gebäudediagnostik, Wärmeverluste, Ortung von Fussbodenheizungen, Leckagen, Bauwerksuntersuchung von Mauerwerk), und der • aktiven Thermografie (mit einem Erwärmen des zu untersuchenden Bauteils vor der Thermografiemessung für Ablösungen von Putz, Hohllagen) unterschieden werden. 2.5 Feuchtemessung Die Bauteilfeuchte ist oft von großer Bedeutung, um Schadensmechanismen besser verstehen zu können. Bei Holz kann es bei einer zu hohen Materialfeuchte zu Fäulnis kommen. Die Feuchtemessung am Material erfolgt über eine • direkte Widerstandsmessung mittels Schlagelektroden in die Bauteiloberfläche bzw. Bohrungen • indirekt kapazitiv mittels Vergleichmessugnen • direkt durch Bohrmehlentnahme und Darrmethode Abb. 5: Feuchtemessung: oben links: über Widerstand; rechts und darunter: kapazitiv, unten: Darrmethode an Materialproben (Bohrmehlentnahme) von Mauerwerk 162 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik 3. Anwendungsbeispiele 3.1 Historisches Ofenhaus des Gaswerkes Augsburg (1913) wird zu Staatstheater Abb. 6: Ofenhaus; Außenansich Abb. 7: Ofenhaus Innenansicht; erbaut 1913-1915; Beherbergte bis 1956 Öfen zur Stadtgasgewinnung aus Kohle; Nach Abbau der Ofenanlage (1969/ 70) lagerte bis 2007 das Stadttheater Bühnenkulissen Fragestellung:  Bodenplatte und Fundamente? (Abmessungen und Bewehrung)  Auf bau der Wände und Zustand der Stützen? Lösung:  Stärke und Homogenität der Betonstruktur (Bodenplatte, Stützen) -> Ultraschallecho  Lage und Art der Fundamente unter Bodenplatte unter Stahlstützen/ Betonstützen -> Radar  Auf bau der Wände (Mauerwerk/ Beton)? -> Radar Abb. 8: oben: Untersuchungen des Bodenauf baus; unten: Ultraschallechomessung; Abb. 9: Radarmessung Ergebnis Bodenaufbau: • Bodenplatte teils homogen und bewehrt • Ofenfundamente in der Tiefe nicht identisch mit alten Plänen • Fundamente der Stützen und Wände den Plänen entsprechend Untersuchung des Wandaufbaus Der Wandauf bau ist besonders wichtig, da das Mauerwerk für die Aussteifung von großer Bedeutung ist. So müssen verdeckte Hohlräume etc. ausgeschlossen werden. Abb. 10: Radarmessung an den Gebäudewänden 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 163 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Abb. 11: Ergebnis der Radarmessung: Betonstützen (blaue Pfeile) unbekannte Metallstreben (orange Pfeile) Mauerwerk im Plan angegeben Abb. 12: Innenansicht als Theater Abb. 13: Aussenansicht Nutzen für den Auftraggeber Ohne Schädigungen am Bauwerk im Vorfeld:  Lage von Fundamenten unter einer Bodenplatte,  Struktur von Betonplatte und Stützen  Wandauf bau unter dem Putz genau untersucht Dadurch konnten Umfang, Zeit und Kosten der Umbaumaßnahmen für das neue Theater wirksam optimiert werden. 3.2 Untersuchung der Mauerwerkswand auf Hohlräume bei historischem Schulgebäude Bei dem Bauwerk handelt es sich um eine Schule aus dem Jahre 1890 in Bayern, welche saniert wird. Hierbei muss das Mauerwerk teils umfangreich ertüchtigt werden, wobei die Struktur mit Zementsuspension verpresst wird. Fragestellung: Gibt es Hohlbzw. Fehlstellen oder andere Störungen im Mauerwerk? Bestandsituation im Bereich um mögliche die Lüftungsschächte? Einbindung des Gebäudes in das Nachbargebäude? Lösungsansatz: flächige Strukturuntersuchungen mit Radar, Strukturuntersuchung der Baumaterialien an Sondagen Abb. 14: links: Eingang der Schule; rechts: Mauerwerksertüchtigung Abb. 15: links: horizontale Radarmessungen am Bauwerk; rechts: Ergebnis einer Radarmessung in horizontaler Richtung; hellblauer Kasten: Signale von Ebene mit Tiefe etwa 25-30cm (Signale von den Schächten); dunkelblauer Kasten: Signale von der Rückseite der Wand aus ca. 0,5-0,6m Tiefe (homogene Wand), schwarze Kasten: Signale von Stahlbetonstütze 21 x 30 hinter der Wand Abb. 16: Ansicht der Kommunwand, Lage der Radarmesslinien schematisch dargestellt 164 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Abb. 17: Auswertung der Radarmessungen an der Kommunwand; grün: homogene Struktur bis etwa 50-60-cm Tiefe; rot: Reflexe in einer Tiefe von etwa 25-30-cm; orange; Signale aus Tiefe von Wandstärke minus etwa 5-cm bis 10-cm; Die Radarmessungen ergaben, dass zusätzlich zum bereits bekannten homogenen Bereich in einem Bereich Reflexe an den Schächten in der Wand auffallen. Weiter kann die Stahlbetonstütze hinter der Wand erkannt werden. Abb. 18: Untersuchung der Mauerwerks- und Mörtelfugenstruktur; links: Inhomogenitäten in den Ziegelsteinen; rechts: Mörtel aus relativ grober Sieblinie (größere Steinchen) Ergebnisse der Messungen: Durch die Radarmessungen wurde die reale Lage von Schächten im Mauerwerk bestimmt. Weiter zeigte sich, dass das das Gebäude mit dem Nachbargebäude in der Kommunwand verbunden ist. Die Untersuchung des Mauerwerks und der Fugen ergab, dass die Struktur teils sich als sehr inhomogen darstellt und so beim Verpressen in den Fugen erhöhte Vorsicht geboten ist. Nutzen für den Auftraggeber: Mit dem Wissen aus den Untersuchungen waren Bereiche bekannt, wo kein Verpressen der Mauer zur Strukturverbesserung möglich war (da an Stelle des Mauerwerks nur Schächte vorhanden sind). So musste bei der Tragwerksplanung zum Abtragen der Lasten eine andere Lösung erarbeitet werden. Die erheblichen strukturellen Inhomogenitäten von Mauerwerk und Mörtel hatten ein angepasstes Bohrraster zur Folge, um Ausbrüche beim Verpressen zu verhindern. 3.3 Weitere Nutzung von Bestandsbau mit Schaden an der Fassade Hohllagen unter Fassadenklinken führten zu einem Abklopfen der kompletten Fassade vom Hubsteiger aus mit zugehöriger Schadenskartierung. An Sondagen zur Untersuchung des Schadensursache für eine mögliche Sanierung zeigte sich eine deutliche Zerstörung der Mauerwerkstruktur unter den Fassadenklingen bzw. dem Zwischenmörtel. Abb. 19: oben: Hohllage der Fasadenklinker am Bauwerk; untens: Sondageöffnung mit Schäden am Mauerwerk Da das Bauwerk in den 50er Jahren recht „schlank bemessen“ wurde und keine Unterlagen mehr Vorlagen, war für eine weitere Nutzung eine Vergleichsstatik erforderlich. Um diese erstellen zu können, war eine Untersuchung der Ziegel und des Mauerwerks erforderlich. Weiter mussten die Querschnittsreduktion und das Schadensausmaß am tragenden Mauerwerk stimmt werden. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 165 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Abb. 20: Sondage für Mauerwerkssteinerkundung und Bohrkern zur Restquerschnittbestimmung Sondagen ergaben das Steinformat und Dichte. Mittels Bohrkernen wurde die Querschnittsreduktion bestimmt. Mit den Messergebnissen war eine Nachrechnung möglich entgegen der ursprünglichen Annahme wird das Bauwerk mit einer gesicherten Fassade weiter genutzt. Grundlegende Sanierung von Bestandsbau in Süddeutschland, Ein Bestandsbauwerk aus den 60er Jahren soll in „gehobene Wohnungen“ umgebaut werden. Für das fünfstöckige Mauerwerksgebäude mit Stahlbeton-decken und einzelnen Betonwänden lag keine Statik mehr vor. Zu Beginn wurde ein Aufmaß als Grundlage vorgenommen. Weiter wurden zerstörungsfrei Voruntersuchungen durchgeführt die durch Sondagen am Bauwerk ergänzt wurden. Bei den Untersuchungen stellte sich nach einem Messtag heraus, dass zwischen den dem Aufmaß der Bauteile und den statisch tragenden Bauteilabmessungen gewisse „Differenzen“ Vorlagen. Abb. 21: Bauwerk aus den 60er Jahren Abb. 22: Bauwerk und Sondagen an Stützen (tragfähige Bauteile geringer als ursprüngliche Annahme Weiter sind für die statischen Berechnungen Mauerwerks und Mörtelfestigkeiten erforderlich. Vorbereitend wurde visuell an mehreren Sichtfenstern das pro Etage das Mauerwerk geprüft, ob an allen Stellen identische Ziegel verbaut wurden. Da dies der Fall war, konnte die Anzahl der Steinproben reduziert werden. So wurden an mehreren Stellen Stein- und Mörtelproben entnommen. 166 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Mauerwerk zerstörungsfrei untersuchen - belastbare Bestandserfassung für sichere Planung und Statik Abb. 23: Sondage zur Entnahme von Stein- und Mörtelproben Mit den bei der KIWA in Gersthofen bestimmten Materialfestigkeiten waren die statischen Berechnungen möglich. Weiter wurde die Lage der Eisen in den Decken mit Radar bestimmt - die Betonstruktur wurde oberflächlich mit dem Rückprallhammer, im Inneren auf Schäden hin mit Ultraschall Echo untersucht. Zusammenfassung Allgemein ist Mauerwerk viel mehr als nur „ein paar Steine zusammen“. Besonders bei historischem Mauerwerk ist ein umfassendes Wissen von Vorteil. Sehr informativ ist neben den Veranstaltungen an der TAE auch die Fachtagung „Natursteinsanierung“ unter der langjährigen Leitung von Frau Dr.-Ing. Patitz in Karlsruhe. Mittels zerstörungsfreien Prüfverfahren kann die Struktur eines Bauwerks aus Mauerwerk sehr gut untersucht werden. So kann besonders mit Radar auch der innere Auf bau dickerer Konstruktionen auf Hohlräume, metallische Einbauteile oder hohe Feuchte hin untersucht werden. Eine schnelle vergleichende oberflächennahe Feuchtemessung ist mit kapazitiven Feuchtemessgeräten möglich. Die genaue Bauteilfeuchte - auch in der Tiefe, kann nur mittels Bohrmehlentnahme und Darrmethode bestimmt werden. Druckfestigkeiten der Steine und des Mörtels für statische Berechnungen kann nur an entnommenen Bauteilproben im Prüflabor zerstörend bestimmt werden. Die Lage der punktuellen Bauteilöffnungen kann mittels zerstörungsfreien Messungen optimiert werden. Literatur Hasenstab, A. et al.: Zerstörungsfreie Prüfung in der Baudenkmalpflege. Teil 1: Theoretische Grundlagen. Restauro 1/ 2011, S. 33-39. Hasenstab, A., Jost, G., Taffe, A., Wiggenhauser, H.: Zerstörungsfreie Prüfung im Bauwesen - angewandte Forschung und Praxis. Tagungsband der DGzfP- Jahrestagung 2008, St. Gallen, 28.04.-30.04.2008. Walter, A. und A. Hasenstab: Zerstörungsfreie Prüfverfahren zur Bestimmung von Materialparametern im Stahl- und Spannbetonbau in: Fouad N. (Hrsg.); Bauphysik-Kalender 2012, Berlin: Ernst und Sohn (2012). Patitz, G: Einsatzmöglichkeiten des Radarverfahrens bei der Bewertung von Mauerwerk In: BAUSUBS- TANZ Thema Band 3/ 2023 Mauerwerk aus künstlichen Steinen Fraunhofer IRB Verlag. Patitz, G: Injektionskontrolle mit Bauradar am Natursteinmauerwerk einer Eisenbahnbrücke.In: BAU- SUBSTANZ 3/ 2020 Fraunhofer IRB Verlag, Seite-57-62. www.zfp-hasenstab.de -> Verfahren Material Beton 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 169 Geklebte Verstärkungen - Brandschutz und hohe Temperaturen - CFK-Lamellen im Brandfall und unter Asphalt Dipl.-Ing. (FH) Florian Eberth Simpson Strong-Tie GmbH, Bad Nauheim Zusammenfassung Die Glasübergangstemperatur von Epoxidharzklebstoffen für die CFK-Verstärkung liegt bei ca. 50 °C-60 °C. Ab dieser Temperatur beginnt der Festigkeitsverlust der Klebstoffe und die CFK-Verstärkung verliert ihre statische Wirkung. Diese Temperaturen werden im Brandfall und beim Überbau mit Asphalt deutlich überschritten und auch die direkte Sonneneinstrahlung auf die Asphaltdecke kann eine erhöhte Temperatur verursachen. Über eine Heißbemessung lässt sich in den allermeisten Fällen eine ausreichende Tragfähigkeit der Bauteile ohne Verstärkung im Brandfall nachweisen. Je nach Gegebenheit kann das Bauteil durch einen dünnen baulichen Brandschutz zusätzlich geschützt werden. Dicke Beplankungen, um die CFK Lamellen zu schützen, sind meist nicht erforderlich. Forschungsvorhaben [1],[2],[3] der Eidgenössischen Materialprüfanstalt (Empa) in der Schweiz zeigen, dass der Überbau mit Asphalt, das Auf bringen einer Bitumendichtbahn und auch die erhöhte Temperatur durch Sonneneinstrahlung bedenkenlos möglich sind. 1. Einführung Das Verstärken von Betonbauteilen mit geklebter Bewehrung wie CFK-Lamellen ist Stand der Technik. Mit der Richtlinie des DAfStb ergeben sich viele Möglichkeiten der Bemessung und Nachweisverfahren. Auch die Verbundfestigkeit (Verbundkrafterhöhung durch Bügelumschließung) von aufgeklebten CFK-Lamellen lässt sich durch geeignete Mittel z. T. deutlich erhöhen. Im Brandfall bzw. bei höheren Temperaturen (direkte Sonneneinstrahlung) ist die Glasübergangstemperatur des Klebstoffes der CFK-Lamellen maßgebend, welche bei ca. 50 °C-60 °C liegt. Ab dieser Temperatur beginnt der Klebstoff seine Festigkeit zu verlieren und die CFK - Lamellen fallen rechnerisch aus. Im Idealfall werden die CFK-Lamellen im Brandfall aber gar nicht benötigt. Im Brückenbau ist eine häufig angewendete Methode die oberseitige Verstärkung der Kragarme. Hier werden die CFK-Lamellen i. d. R. anschließend mit Asphalt überbaut. Zu den statischen Nachweisen gesellen sich somit zwei Fragestellungen: • Wie verhält sich der Verbund im Zusammenspiel von Klebestoff und dem heißen Gussasphalt? • Und wie verhält sich das Verbundsystem im Hinblick auf die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen? 2. Brandschutzanforderungen bei CFK-Verstärkungen Eine immer wiederkehrende Angelegenheit sind die Anforderungen an die geklebten CFK-Lamellen im Brandfall. Sind CFK-Lamellen im Brandfall überhaupt einsetzbar bzw. müssen oder können die Lamellen brandschutztechnisch verkleidet werden? Brandschutzsysteme für CFK- Verstärkungen existieren und haben entsprechende gutachterliche Stellungnahmen. Diese Systeme tragen jedoch ca. 90-mm stark auf (R90) und allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen wurden bisher noch nicht erteilt. Dies liegt auch daran, dass Brandschutzsysteme für CFK-Lamellen in den meisten Fällen nicht erforderlich sind und sich eine bauaufsichtliche Zulassung nicht lohnt. Durch eine Heiß- oder auch Brandbemessung kann die Tragfähigkeit im Brandfall nachgewiesen werden. In ca. 80 %-90 % der Bauvorhaben kann somit auf die Wirkung der Verstärkung im Brandfall verzichtet werden. Somit ist auch eine Beplankung der CFK-Lamellen nicht erforderlich. In vielen Bemessungsprogrammen wird eine solche Heißbemessung angeboten. Bemessen wird mit charakteristischen Lasten, wobei die Nutzlasten zusätzlich mehr oder weniger über die Ψ 2,1 -Faktoren abgemindert werden dürfen. Im Gegenzug muss jedoch die Zugfestigkeit des Stahls in Abhängigkeit von der Temperatur abgemindert werden. Die Temperatur im Stahl wird wiederum beeinflusst durch den Stahlrandabstand (neutrale Achse der Bewehrung bis beflammte Oberfläche) und somit durch die Betondeckung und die Beflammungsdauer. Der Stahlrandabstand spielt daher eine entscheidende Rolle. Ist dieser zu gering, steigt die Temperatur im Stahl unter hohem Festigkeitsverslust. Gerade bei alten Bauteilen mit geringer Betondeckung kann das zu Problemen beim Brandschutz bzw. der Brandbemessung führen. Der Stahlrandabstand kann jedoch durch eine Brandschutzbeplankung nach Verkleben der CFK- Lamellen erhöht werden. Die Brandschutzeigenschaften einer solchen Brandschutzbeplankung sind bei gleicher Dicke zweifach höher als die des Betons und das Eigengewicht ist zudem noch ca. 3-4-mal geringer [4]. Rein wärmebzw. brandschutztechnisch ersetzt eine 10-mm dicke Brandschutzbeplankung somit 20-mm Betondeckung bzw. Stahlrandabstand. Eine solche Erhöhung hat bereits einen deutlichen Einfluss auf die Tragfähigkeit im Brandfall. Um dies zu verdeutlichen, wird das folgende Beispiel dargestellt: Eine 20-cm starke Bestandsdecke mit 6,5-m Spannweite (B35) mit 1-kN/ m 2 Ausbaulast und 1,5-kN/ m 2 Nutzlast hat eine vorhandene erforderliche Bewehrung 170 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Geklebte Verstärkungen - Brandschutz und hohe Temperaturen - CFK-Lamellen im Brandfall und unter Asphalt von 9-cm 2 / m (BSt 420). Durch Umnutzung und Aufstockung wird die Nutzlast auf 3,5-kN/ m 2 erhöht, was eine erforderliche Bewehrung von nun 11,8 cm 2 / m zu Folge hat. Eine Verstärkung von ca. 31-% kann in diesem Fall mit 80-mm-×-1,4-mm CFK-Lamellen im Achsabstand von 100 cm erreicht werden (bemessen mit S&P FRP Lamella [6]). Das einwirkende Moment im Brandfall beträgt bei Nutzlast für Wohn- und Büroräume 37,2-kNm. Bei planmäßig vorhanden 10 mm Betondeckung besteht ein Stahlrandabstand von ca. 15 mm. Die erforderliche Bewehrung im Brandfall liegt in diesem Fall bei 21,7-cm 2 / m, bei einer Stahltemperatur von ca. 700 °C. (bemessen mit 4H-DU- LAB [5]). Eine Brandschutzbeplankung von 10-mm erhöht den Stahlrandabstand wärmetechnisch um 20-mm [4] und das einwirkende Moment erhöht sich hier um ca. 0,5-kNm. Durch diese Beplankung kann die erforderliche Bewehrung im Brandfall auf 6,6-cm 2 / m bei noch ca. 465 °C Stahltemperatur reduziert werden. Die Tragfähigkeit im Brandfall wäre gegeben. Die Verstärkung ist im Brandfall nicht erforderlich und die CFK-Lamellen müssen nicht für den Brandfall geschützt werden. Die Brandschutzbeplankung von 10-mm dient im vorliegenden Fall dem baulichen Brandschutz der Decke selbst, und wird im Anschluss der CFK-Verstärkung montiert. 3. Temperaturstabilität von geklebten CFK-Lamellen im Brückenbau Um die Fragen hinsichtlich des Überbaus mit Asphalt und der Auswirkungen der jahreszeitlichen Temperaturschwankungen zu untersuchen und zu beantworten, wurde ein Forschungsvorhaben [1] an der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in der Schweiz durchgeführt. Im Bereich der Brücke erfolgt der übliche Auf bau der Fahrbahn in drei Arbeitsschritten: • Einbau der CFK-Klebelamellen mit dem Epoxitharzklebstoff direkt auf den Rohbeton oder in Schlitze verklebte CFK-Lamellen. • Darüber wird eine Polymerbitumen-Dichtungsbahn (PBD) verlegt. • Anschließend wird der heiße Gussasphalt (ca. 220-°C --240°C im Fahrmischer) aufgebracht. In einem ersten Teil des Forschungsprojekts wurden in Bauteilversuchen die Temperaturen in der Ebene der Klebstofffuge gemessen, beim Einbau der PBD (Abb 1), sowie beim Einbau des Gussasphaltes (Abb 2). Im Nachgang wurde die Haftzugfestigkeit der verklebten CFK-Lamellen untersucht und mit den Referenzproben verglichen. Abb. 1: Auf bringen der PBD [1] Abb. 2: Einbau des Gussasphaltes [1] Aufgrund der hohen Einbautemperatur von Gussasphalt war zu erwarten, dass die Temperaturen im Bereich der CFK-Verstärkung die Glasübergangstemperatur des Klebstoffs übersteigen. Die Untersuchungen zur Temperaturentwicklung lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Die Temperaturen während des Auf bringens der PBD sind vernachlässigbar. Zwar ist die Temperatur hoch, jedoch ist die Einwirkungsdauer sehr kurz, so dass sich die Klebstofffuge kaum erwärmt. • Beim Auf bringen des Gussasphaltes, kann die Temperatur in der Epoxidharzschicht bis zu 80 °C betragen. Während des Asphalteinbaus können die CFK- Lamellen also nicht statisch berücksichtigt werden. Die Abkühlphase bis die Temperatur wieder auf die maximal zulässige Dauerbauteiltemperatur (gemäß Zulassungen und Richtlinien) von 40-°C sinkt, beträgt ca. 3 h. Nach dieser Zeit können die CFK-Lamellen wieder voll angesetzt werden. Versuche an den CFK- Lamellen ergaben keine Änderung der Festigkeiten. • Die anschließend durchgeführte Prüfung der Haftzugfestigkeit zeigt nur eine minimale Beeinflussung des Verbundes. Diese Restfestigkeit ist jedoch höher als die durch die Bemessung ansetzbare Verbundfestigkeit. Die Bemessung bzw. Bemessungsfestigkeiten müssen somit nicht angepasst werden. • Durch das beschleunigte Erhärten (i. d. R. wird ein Versuchsalter von 28 Tagen für die Glasübergangstem- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 171 Geklebte Verstärkungen - Brandschutz und hohe Temperaturen - CFK-Lamellen im Brandfall und unter Asphalt peratur herangezogen) steigt die Glasübergangstemperatur durch Nacherhärtungseffekte nachträglich an. Eine untergeordnete Rolle spielt lediglich die Kontaktfläche zwischen CFK-Lamelle und PDB. Aufgrund möglicher Diffusion von Weichmachern aus der CFK-Lamelle konnten hier teilweise kleinflächige Verbundstörungen beobachtet werden. Bei zusätzlichem Asphaltauf bau kann dies aufgrund des Eigengewichts des Asphalts jedoch vernachlässigt werden. Sofern es zu CFK-Verstärkungen und anschließender PBD, ohne Auflast durch Asphalt o. ä. kommt, kann auf der sicheren Seite eine dünne Schutzbzw. Trennschicht (Bodenbeschichtung oder Epoxidharz) auf die CFK -Lamellen aufgebracht werden. Versuche zeigen, dass geringfügige Blasenbildung somit verhindert werden kann. 4. Dauerhaftigkeit von geklebten CFK-Lamellen unter Temperatureinfluss In einem zweiten Teil der Studie wurden Langzeitüberwachungen an CFK verstärkten Kragträgern durchgeführt [2], [3]. Die mit Asphalt überbauten verstärkten Platten wurden unter Gebrauchslast und jahreszeitlichen Umwelt- und Temperatureinflüssen über vier Jahre beobachtet (Abb. - 3) [2]. Um den Einfluss der Temperatur auf den Grenzzustand der Tragfähigkeit zu untersuchen, wurden die Probekörper anschließend im Labor zum Versagen unter Bruchlast gebracht [3]. Abb. 3: Probekörper unter Umwelteinfluss [1] Über den gesamten Versuchszeitraum wurde der Temperaturverlauf in und auf den Probekörpern festgehalten. Die maximale Lufttemperatur betrug dabei ca. 38-°C. Aufgrund der direkten Sonneneinstrahlung auf die Probekörper wurde eine maximale gemessene Temperatur in der Klebstofffuge von 42 °C festgestellt. Die in den Bemessungsrichtlinien festgesetzte maximale Temperatur von 40 °C, wurde somit leicht überschritten. Diese ist als Dauerbauteiltemperatur definiert. Somit kann diese Grenze auch hier als intakt angesehen werden, aufgrund der nächtlichen Abkühlung. Im Laufe der Zeit, konnte bei höheren Temperaturen im Probekörper eine größere Dehnung festgestellt werden. Bei geringeren Temperaturen war die viskoelastische Verformung des Klebstoffs deutlich verringert. Der Anstieg der Dehnungen war im Vergleich zur Bemessungsdehnung jedoch moderat. Gleichzeitig war das Verhalten des Klebstoffs zu jeder Zeit stabil, ohne Anzeichen einer Delamination. Ein Zusammenhang von Dehnungszunahme der CFK-Lamellen und Kriechen des Betons aufgrund des viskoelastischen Klebstoffverhaltens konnte durch eine MLR-Modellanalyse festgestellt werden. Die Reserve von ca. 10 °C-20 °C von Glasübergangstemperatur zu der in den Richtlinien festgesetzten max. Dauerbauteiltemperatur ist somit eine sinnvolle Vorgabe. Bei den anschließenden Versuchen im Labor [3], bei welchen die Probekörper zum Bruch gebracht wurden, konnte zunächst eine etwas verringerte Biegesteifigkeit festgestellt werden (Abb. 4). Abb. 4: Bruchversuche im Labor [1] Das Versagen der Probekörper erfolgte aufgrund von Betonquetschungen, ohne sichtbares Delaminieren der CFK-Lamellen. Die Biegetragfähigkeit der mit Asphalt überbauten Platten übersteigt die der Referenzversuche ohne Asphalt. Dies wird auf den Asphalteinschluss (Auflast) der CFK-Lamellen zurückgeführt, wodurch höhere Dehnungen ermöglicht werden. Bei den Bruchversuchen konnte jedoch bereits ab Gebrauchslastniveau ein deutlicher Schlupf zwischen Asphalt und Beton beobachtet werden. Somit kann auch aufgrund der geringen Steifigkeit des Asphalts ausgeschlossen werden, dass dieser zur Biegetragfähigkeit beiträgt. Die Langzeitversuche zeigen, dass die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen oder der Überbau mit Asphalt keinen Einfluss auf die Tragfähigkeit von CF verstärkten Bauteilen haben. Die Zunahme der Dehnungen in den CFK-Lamellen betrifft lediglich die Gebrauchstauglichkeit. Die Auswertung der Restfestigkeit von mit Asphalt überbauten und mit CFK-Lamellen verstärkten Platten zeigt, dass die gleichzeitige Beanspruchung bei höheren Temperaturen keine kritische Anwendung im Hinblick auf den Grenzzustand der Tragfähigkeit darstellt [3]. Literatur [1] Czaderski, C./ Gallego, J.M./ Michels, J. (2017): Temperature stability and durability of Externally Bonded CFRP strips in bridge construction (Forschungsprojekt AGB 2012/ 001). Zürich, Schweiz. 172 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Geklebte Verstärkungen - Brandschutz und hohe Temperaturen - CFK-Lamellen im Brandfall und unter Asphalt Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. [2] Breveglieri, M./ Czaderski, C. (2022): Reinforced concrete slabs strengthened with externally bonded carbon fibre-reinforced polymer strips under long-term environmental exposure and sustained loading. Part 1: Outdoor experiments. Zürich, Schweiz. Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. [3] Breveglieri, M./ Czaderski, C. (2021): RC slabs strengthened with externally bonded CFRP strips under long-term environmental exposure and sustained loading. Part 2: Laboratory experiments. Zürich, Schweiz. Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt. [4] Nause, P. (2017): Gutachterliche Stellungnahme Nr. GD 3.2/ 12-190-2. Gutachterliche Stellungnahme zum Brandverahalten von Aestuver Brandschutzplatten-Bekleidungen als wärmetechnischen Ersatz bzw. Ergänzung für den brandschutztechnischen erforderlichen Mindestabstand a der Bewehrung. Deutschland Fermacell GmbH. [5] 4H-DULAB [Software] (2024): pcae Gesellschaft für Programmvertrieb und Computer Aided Engineering mbH. https: / / www.pcae.de [6] S&P FRP Lamella 6.0 [Software]: S&P Clever Reinforcement Company AG, Schweiz. https: / / www.sp-reinforcement.ch/ ZUKUNFT NACHHALTIG BAUEN Foto: Arnim Kilgus Holcim entwickelt passgenaue Lösungen für innovative und nachhaltige Bauprodukte in den Bereichen Hochbau, Tiefbau und Infrastruktur - verbunden mit einem klaren Blick für nachhaltiges und CO 2 -reduziertes Bauen, Ressourceneffizienz und Stoff-Kreisläufe. Mit Zement, Gesteinskörnungen und Transportbeton liefern wir Lösungen und Produkte für einige der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft: Schaffung von Räumen zum Leben und Arbeiten, Aufbau von Infrastruktur, Erleichterung von Mobilität, Sichern der Energieversorgung und der Realisierung von Innovationen. Unsere Mission: BESSER BAUEN MIT WENIGER. www.holcim-sued.de holcim_sued Holcim Süddeutschland GmbH 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 173 Besser bauen mit weniger - Zement und Beton - altbewährt und neu gedacht Matthias Howald, Bauingenieur Holcim (Süddeutschland) GmbH Zusammenfassung Zement und Beton zählen zu den ältesten Baustoffen - vom Pantheon in Rom bis zur Elbphilharmonie gibt es in allen Städten berühmte Bauwerke aus diesen Materialien. Über viele Jahrhunderte waren sie kaum verändert. Aber auch in der Bauwelt sind die Zeiten des Wandels angekommen. Veränderte Ansprüche an die Materialien, Ressourcenknappheit, Energiewende, Klimawandel und das Bevölkerungswachstum spielen dabei eine entscheidende Rolle. Eine Herangehensweise, um den Herausforderungen unserer Zeit entgegen zu treten ist es, besser zu bauen mit weniger Material. 1. Einführung Die Nachhaltigkeit bestimmt das Handeln von Gesellschaft und Unternehmen. Auch im Bauwesen bewegt sich sehr viel unter dem Aspekt die Lebensräume der Zukunft für die nachfolgenden Generationen besser zu bauen - sei es beim Neubau oder im Bestand. Gesellschaftlich und ökologisch verantwortungsvoll zu handeln treibt uns alle an. Das Ziel in der Welt des Bauens sind klimaneutrale und rezyklierbare Baustoffe. Dazu kommt, Ressourcen zu schonen und mit weniger Material besser zu bauen. 2. Auf dem Weg zu Netto-Null Zukunftsfähige Lösungen und umweltverträgliches Bauen bedeuten nachhaltige Produkte zu verwenden, natürliche Ressourcen zu schonen und Stoffkreisläufe zu schließen. Die Vision bei vielen Unternehmen ist es, klimaneutral zu werden. Der Zement- und Betonhersteller Holcim hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, bis 2050 Netto-Null zu erreichen. Wie ist diese Transformation in der Zement- und Betonindustrie erreichbar? Nur wenn unter anderem folgende Bereiche aktiv einbezogen werden: Kreislaufwirtschaft, Dekarbonisierung, nachhaltige Logistik, Wasser, erneuerbare Energie, Produkte mit weniger CO 2 sowie generell neue Produkte und Produktions- und Bauweisen. 2.1 Industrie und Bauen 4.0 - Technologien und Baustoffe der nächsten Generation Betriebsabläufe in Zement- und Betonwerken sind automatisiert. Es wird mit datengesteuerten Lösungen gearbeitet, um Betriebsabläufe effizienter und nachhaltiger zu gestalten - von der Robotik bis zur Instandhaltung oder Elektroflotten, die Rohstoffe in Steinbrüchen autonom transportieren. Betriebsabläufe und Digitalisierung sind das eine. Ein anderes wesentliches Thema mit dem Blick auf Klimawandel und Ressourcenschonung stellen der CO 2 -Fußabdruck der Baustoffe sowie deren Kreislauffähigkeit dar. An der Spitze innovativer Baulösungen steht das materialeffiziente Bauen. Eine Möglichkeit ist der Einsatz von CPC-Elementen - im Folgenden veranschaulicht an einem Beispiel aus der Schweiz. Die „Bridge to the Future“ ist das erste Bauwerk, das durch eine einmalige Kombination von klinkerfreiem Zement in hochfestem Beton mit der Verwendung von vorgespannten Carbon Litzen maximal CO 2 reduziert ist. Dieses Bauwerk ist eine filigrane und zugleich funktionale Plattform für die Annahme von Aushubmaterial im Holcim Werk Hüntwangen. 2.2 Komplett neuer Umgang mit Beton Holcim entwickelte für dieses Projekt einen maßgeschneiderten Beton. Dazu wurde erstmals ein klinkerfreier Zement eingesetzt, der im Vergleich zu einem herkömmlichen Zement 63- % weniger CO 2 -Emissionen aufweist. Aus diesem Zement und hochwertig auf bereiteter Gesteinskörnung aus Rückbauprojekten hat Holcim einen hochfesten Recyclingbeton entwickelt. Die rezyklierte Gesteins-körnung wurde vor ihrer Verwendung künstlich karbonatisiert, um deren CO 2 -Bindevermögen auszu-nutzen. Der CO 2 -Fußabdruck des Recyclingbetons konnte so von typischerweise über 210- kg CO 2 / m 3 auf 138-kg CO 2 / m 3 Beton deutlich reduziert werden. Aus diesem hochfesten Beton wurden mithilfe der CPC- Technologie sehr filigrane, nur 6-cm dicke und dennoch hoch belastbare Betonplatten hergestellt. Diese sind mit dünnen vorgespannten Carbon Drähten bewehrt. 174 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Besser bauen mit weniger - Zement und Beton - altbewährt und neu gedacht Abb. 1: „Bridge to the Future“ - maximal CO 2 reduziert durch eine einmalige Kombination von klinkerfreiem Zement in hochfestem Beton mit der Verwendung von vorgespannten Carbon Litzen Da Carbon eine sehr hohe Zugfestigkeit aufweist und nicht korrodiert, kann gänzlich auf Korrosionsschutz verzichtet werden, wie er im klassischen Stahlbetonbau erforderlich ist. So können tragfähige, dünne und langlebige Betonplatten hergestellt werden. Mit CPC-Platten sind Materialeinsparungen von rund 75 % möglich. Die Fachgruppe Faserverbundkonstruktionen FVK der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW unterstützt die Entwicklung der CPC-Bauweise im Rahmen eines Innosuisse-Projekts. Für die “Bridge to the Future” erarbeite die FVK mittels Machbarkeits- und Traglastversuchen die ingenieurtechnischen Randbedingungen für die Herstellung der Platten sowie die materialtechnischen Grundlagendaten für die statische Dimensionierung der Brücke. Die Brücke spiegelt auf einmalige Art die optimale Ausnutzung der Materialeigenschaften wider. 2.3 Die Zukunft der Gebäude erforschen Von grundlegender Bedeutung bei der Erforschung von Technologien, Materialien und Systemen im Bauwesen ist die enge Zusammenarbeit von Industrie, Forschung und dem öffentlichen Sektor. Nur so gelingt es, innovative Bau- und Energietechnologien schneller auf den Markt zu bringen. Ein Beispiel aus der Praxis ist EMPA NEST - ein modulares Forschungs- und Innovationsgebäude der Empa und der eawag. Unter realen Bedingungen werden neue Technologien und Systeme getestet, erforscht, weiterentwickelt und validiert. Ein weiteres Feld ist der Einsatz von neuen Bindemitteln für die Energie- und Ressourceneffizienz. Aus rezyklierten Abbruchmaterialien werden auf bereitete Beton- und Mischgranulate für die Zement- und Betonproduktion. Der Zement heißt SUSTENO und in der Schweiz sind bereits 650.000 Tonnen - was dem Zementbedarf von 30.000 Einfamilienhäusern entspricht verbaut. An der Spitze innovativer Baulösungen steht schließlich das materialeffiziente Bauen. Also mehr und besser zu bauen mit weniger Material. Material kommt nur dort zum Einsatz, wo es tatsächlich benötigt wird. Fachleute sprechen von „Gradientenbeton“ - smartes Design ermöglicht eine deutliche Reduktion bei der verwendeten Betonmenge. Aus der Produktwelt ist die filigrane Deckenelementstruktur des Rippmann Floor Systems ein Beispiel dafür. In Zukunft wird es noch viele Beispiele dafür aus anderen Bereichen geben - denn Bauen bedeutet künftig besser bauen mit weniger Material. Abb. 2: EMPA NEST - ein modulares Forschungs- und Innovationsgebäude der Empa und der eawag. Unter realen Bedingungen werden neue Technologien und Systeme getestet, erforscht, weiterentwickelt und validiert. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 175 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen Prof. Dr.-Ing. Alexander Schumann CARBOCON GMBH/ IU Internationale Hochschule, Dresden Dipl.-Ing. Anett Ignatiadis Deutscher Ausschuss für Stahlbeton e. V. Dr.-Ing. Norbert Will Lehrstuhl und Institut für Massivbau, RWTH Aachen University Dr.-Ing. Jan Bielak Lehrstuhl und Institut für Massivbau, RWTH Aachen University Zusammenfassung Die vorliegende Veröffentlichung beleuchtet die Fortschritte und Entwicklungen im Bereich der nichtmetallischen Bewehrungen im Betonbau, konkretisiert durch die 2024 erstmals veröffentlichte DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“. Die Richtlinie, koordiniert vom Deutschen Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb) unter Mitwirkung vieler Akteure aus Wissenschaft und Praxis, stellt einen Wendepunkt in der Anwendung nichtmetallischer Bewehrungen dar, indem sie vorhandenes Wissen für Bemessung, Konstruktion, Ausführung und Prüfverfahren als Regelwerk bündelt. Mit ihrem detaillierten Auf bau in fünf Hauptteilen - von der Bemessung und Konstruktion über Bewehrungsprodukte bis hin zu Ausführungsregeln und Verwendbarkeitsnachweisen - adressiert sie umfassend die wesentlichen Aspekte für die Anwendung im Baugewerbe. Die Richtlinie hebt die besondere Rolle von nichtmetallischer Bewehrung in der Förderung von Effizienz, Dauerhaftigkeit und Ressourcenschonung in Betonkonstruktionen hervor. Das begleitend erarbeitete DAfStb-Heft 660 ergänzt Erläuterungen, Anwendungshinweise und praktische Bemessungsbeispiele und fördert damit die breite Akzeptanz der Bauweise. Der Ausblick dieses Beitrags stellt den zukünftigen Fokus auf die Erweiterung der Richtlinie in den Vordergrund, um neue Forschungserkenntnisse und Anwendungsgebiete zu integrieren und somit den Weg für innovative Bauweisen mit nichtmetallischer Bewehrung weiter zu ebnen. 1. Einführung Nichtmetallische Bewehrungen aus Glas- (GFK), Carbon- (CFK) oder Basaltfaserverbundkunststoff (BFK) finden in den letzten Jahren nicht nur in der Verstärkung [1]-[3] von bestehenden Gebäuden, sondern auch bei Neubauten [4],[5] immer häufiger Anwendung. Die Vielzahl an bereits ausgeführten Projekten im Bereich des Neubaus, u. a. [6],[7], zeigen das Potential auf. Jedoch musste bei den bereits ausgeführten Projekten auf projektbezogene Zustimmungen (Zustimmungen im Einzelfall/ vorhabenbezogene Bauartgenehmigung) oder auf bestehende allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen/ allgemeine Bauartgenehmigungen (soweit vorhanden) zurückgegriffen werden, da kein Regelwerk vorlag. Im Unterausschuss „Nichtmetallische Bewehrung“ des Deutschen Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb) wurde seit 2018, flankiert durch vom BMBF geförderte Forschungsvorhaben, an der Erarbeitung von validierten und im Konsens der beteiligten Akteure abgestimmten Regelungen für eine Richtlinie gearbeitet. Durch die im Januar 2024 erfolgte Veröffentlichung und angestrebte zeitnahe bauaufsichtliche Einführung der neuen DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ kann die größte Hürde - die Regelungslücke - für den Einsatz von nichtmetallischer Bewehrung im Hochbau überwunden werden [8]-[10], wodurch z. B. die in Bild 1 dargestellten Konstruktionen bemessen werden können. Abb. 1: Betonfassade mit nichtmetallischer Bewehrung, Foto: Hentschke Bau GmbH Im Rahmen dieser Veröffentlichung wird die Richtlinie vorgestellt und ein Ausblick auf die zukünftigen Ent- 176 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen wicklungen sowie das parallel erarbeitete DAfStb-Heft 660, welches weiterführende Hintergrund-informationen zur Richtlinie gibt und einfache Berechnungsbeispiele vorstellt, gegeben. 2. DAfStb-Richtlinie 2.1 Aufbau der Richtlinie Die im Januar 2024 veröffentlichte DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ ist in fünf Hauptteile gegliedert, die verschiedene Aspekte des Einsatzes von nichtmetallischer Bewehrung im Betonbau abdecken: - Teil 1: Bemessung und Konstruktion, - Teil 2: Bewehrungsprodukte, - Teil 3: Hinweise zur Bauausführung, - Teil 4: Empfehlungen für Prüfverfahren, - Teil 5: Hinweise zu den erforderlichen Nachweisen für die Verwendbarkeit der Bauprodukte (nichtmetallische Bewehrung) und der Anwendbarkeit der Bauart. Die Struktur zeigt, dass alle Themenbereiche, von der Planung und Bemessung bis hin zur Ausführung und Überprüfung, für die Nutzenden zusammengestellt und behandelt wurden. Der Schwerpunkt der DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ liegt auf der Festlegung der Bemessungsrichtlinien (Teil 1) sowie den Prüfkonzepten (Teil 4) für Stab- und Gitterbewehrungen. Wichtig für die praktisch tätigen Planenden sind die präzisen Vorgaben für den statischen Nachweis und für die konstruktive Ausführung im Rahmen der Tragwerksplanung. Angesichts der großen Vielfalt möglicher Bewehrungsprodukte im Anwendungsbereich der Richtline ist die reproduzierbare und vergleichbare Prüfung der Materialeigenschaften nicht trivial. Teil 4 der Richtlinie beinhaltet dafür wertvolle Empfehlungen zu Prüfverfahren, die zur Bestimmung der erforderlichen Informationen und Kennwerte für die Bewehrungs-produkte erforderlich sind. Die weiteren Teilen runden die Richtline für eine umfassende Abdeckung aller wesentlichen Aspekte ab: Die aus den statischen und prüftechnischen Randbedingungen resultierenden Anforderungen und Spezifikationen für die Bewehrungsprodukte (Teil 2), die Regeln zur Ausführung (Teil 3) und die Kriterien für die Ver- und Anwendbarkeitsnachweise der Bewehrungen (Teil 5) gewährleisten, dass die in der Planungsphase getroffenen Annahmen realitätstreu umgesetzt und alle erforderlichen Kennwerte der Bewehrungsprodukte bereitgestellt werden. Teil 3 der Richtlinie orientiert sich inhaltlich an der DIN EN 13670, ergänzt um Aspekte der DIN 1045-3, was eine konsistente und normenkonforme Umsetzung von Bauvorhaben unter Einsatz von nichtmetallischen Bewehrungen ermöglicht. 2.2 Anwendungsbereich Die neue Richtlinie legt umfassende Anforderungen an die Tragfähigkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit von Betontragwerken fest, die mit nichtmetallischen Bewehrungselementen bewehrt sind. Sie konzentriert sich dabei ausschließlich auf die Tragfähigkeit, Gebrauchstauglichkeit und Dauerhaftigkeit der Tragwerke, zunächst ohne weitere bauphysikalische Aspekte wie Wärmeschutz, Brandschutz oder Schallschutz zu berücksichtigen. Die strukturelle Grundlage des ersten Teils orientiert sich eng an der DIN EN 1992-1-1, erweitert diese jedoch um spezielle Anforderungen, die durch den Einsatz von nichtmetallischen Bewehrungen entstehen. Zusätzlich bleiben die übrigen relevanten Abschnitte der DIN EN 1992-1-1 und ihres nationalen Anhangs bestehen. Der Geltungsbereich der Richtlinie wurde in der ersten Fassung bewusst eingeschränkt, um eine praxisgerechte Anwendung für standardisierte Einsatzfälle zu ermöglichen und die Richtlinie zügig veröffentlichen zu können. Im Konkreten setzt sich der Anwendungsbereich wie folgt zusammen: - Neubauteile, die mit „schlaffer“ nicht-metallischer Bewehrung aus Stäben oder Gittern bewehrt sind, - die Beschränkung auf Bauteile mit Quer-kraftbewehrung aus stabförmigen Elementen mit einer Bauteilhöhe größer 200-mm und den Ausschluss von Gitterbewehrungen als Quer-kraftbewehrung, - die Anwendung von Beton gemäß EN 206-1 in Verbindung mit DIN 1045-2, unter Ausschluss von Leichtbetonen, - Betonbauteile unter quasi-statischer Be-anspruchung, - Flachgründungen. Folgende Anwendungen sind aktuell nicht durch die Richtlinie abgedeckt: - Stabmatten (außer im Teil 2), - nachträglich eingemörtelte Stäbe, - vorgespannte nichtmetallische Bewehrung, - der Einsatz der nichtmetallischen Bewehrung als Druckbewehrung, - kombinierte Bewehrung aus Betonstahl, Spannstahl und nichtmetallischer Bewehrung (sofern in den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen nicht explizit geregelt), - Ermüdung. Durch die gezielte Definition des Anwendungsbereichs stellt die Richtlinie einen wichtigen Schritt dar, um die Integration von nichtmetallischen Bewehrungen in die Bauindustrie zu fördern und gleichzeitig eine hohe Sicherheit und Leistungsfähigkeit der konstruierten Bauwerke zu gewährleisten. Auch für die derzeit nicht abgedeckten Anwendungen sind viele Regelungen der Richtlinie grundsätzlich anwendbar, müssen aber in den vorhabenbezogenen oder allgemeinen Bauart-genehmigungen für den speziellen Anwendungsfall erweitert und ggf. angepasst werden. Hier existiert in vielen Bereichen bereits ein breites Wissen aus zahlreichen Forschungsvorhaben, welches bis dato aber noch nicht in allgemeingültige Regelungen überführt werden konnte. Die maßgeblichen Anpassungen, die durch die Regelungen der Richtlinie gegenüber DIN EN 1992-1-1 mit Nationalem Anhang vorgenommen werden, berücksichtigen 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 177 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen das vom Stahlbeton abweichende Zug- und Drucktragverhalten mit der großen Bandbreite an möglichen Zugtragfähigkeiten und Elastizitätsmoduln sowie die unterschiedlichen Verbundeigenschaften der nichtmetallischen Bewehrungen. Zudem werden die Langzeitauswirkungen auf die Materialkennwerte, die Ermittlung der Schnittgrößen, die Bemessung für Biegung und Querkraft sowie die Festlegungen zur Bewehrung thematisiert. Das Sicherheitskonzept der Richtlinie lehnt sich weitgehend an den Stahlbetonbau an, wobei die Teilsicherheitsbeiwerte für die Bewehrung neu definiert wurden, um den spezifischen Eigenschaften und Verhaltensweisen der nichtmetallischen Bewehrungen gerecht zu werden. Grundlage für die Verwendung und die Bemessung nach Teil 1 der Richtlinie ist das Vorliegen der erforderlichen Nachweise für die Verwendbarkeit der Bauprodukte (nichtmetallische Bewehrung) und der Anwendbarkeit der Bauart (Ver- und Anwendbarkeitsnachweise). Ausdrücklich sei hier angemerkt, dass die Richtlinie die Hersteller von nichtmetallischen Bewehrungen nicht davon entbindet, Zulassungen zu erwirken. Der Zulassungsprozess wird aber mit den vorgeschlagenen Prüfverfahren nach Teil 4 deutlich besser planbar und Produkte untereinander vergleichbar. Hinweise zu den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen sind im Teil 5 der Richtlinie aufgeführt. Die erforderlichen Informationen für nichtmetallische Bewehrungsgitter, Bewehrungsstäbe und Stabmatten, die durch zugehörige Ver- und Anwendbar-keitsnachweise notwendig sind, sind in Teil 2 (Bewehrungsprodukte) der Richtlinie geregelt. 2.3 Begrifflichkeiten und Vorstellung ausgewählter Inhalte Im Zuge der Richtlinie werden zu Beginn wesentliche Begrifflichkeiten einheitlich festgelegt. Nachfolgend werden ausgewählte gezeigt, die einheitlich für die Richtlinie und dementsprechend für nichtmetallische Bewehrungen gelten (Hinweis: in der Vergangenheit wurden einige Begrifflichkeiten anders oder modifiziert bezeichnet). Begrifflichkeiten der Richtlinie: Faserstrang: „Sammelbegriff für getränkte Einzelrovings bzw. Rovingbündel, die das Bewehrungsgitter bilden“. Bewehrungsgitter: „Textile Flächenstruktur als Gelege aus gestreckt vorliegenden Fasersträngen, die in Längs- und Querrichtung in bestimmten Abständen zueinander, gitterartig angeordnet sind“. Abb. 2: Darstellung eines CFK-Gitters und in Rot umrandet, einzelner Faserstrang in einem Gitter, Foto: Alexander Schumann Nichtmetallische Bewehrung: „Gitterartige oder stabförmige Bewehrung aus Faserverbundwerkstoff“. Hierbei können die Fasern z. B. aus Carbon, Glas oder Basalt bestehen. Nennquerschnittsfläche: „Der Nennquerschnitt beschreibt die Komposit-Querschnittsfläche (Fasern und Tränkungsmittel), die als Bezugsgröße zur Ermittlung von festigkeits- und steifigkeitsbezogenen Bewehrungseigenschaften herangezogen wird. Dies gilt für Stäbe und für Gitter“. Somit ist für alle nichtmetallischen Bewehrungen nach der DAfStb-Richtlinie eine eindeutige Kennzeichnung festgelegt, wodurch auch eine Vergleichbarkeit zwischen Gittern und Stäben besteht. An dieser Stelle ist zu beachten, dass in der Vergangenheit die Eigenschaften von Bewehrungsgittern (u. a. Festigkeit, Steifigkeit) auf den reinen Faserquerschnitt bezogen wurden (ohne den Anteil der Tränkung), weshalb sich durch die Festlegung auf den Nennquerschnitt bei Gittern tendenziell niedrigere Nenn-Festigkeiten und Nenn-Steifigkeiten ergeben. Bei GFK-Stäben wurde die Bezugsgröße Nennquerschnittsfläche als Komposit-fläche auch bisher schon verwendet. Ausgewählte Aspekte aus der Richtlinie: Im Folgenden werden einige Kernaspekte der Richtlinie bezüglich der Festigkeiten der Bewehrung, der Langzeitbeanspruchungen sowie der Bemessung im Grenzzustand der Tragfähigkeit und Gebrauchs-tauglichkeit beschrieben. Das Sicherheitskonzept der DAfStb-Richtlinie orientiert sich größtenteils an den etablierten Prinzipien des Stahlbetonbaus, wobei der Teilsicherheitsbeiwert für die nichtmetallische Bewehrung aufgrund des linear-elastischen Materialverhaltens und im Vergleich zum Betonstahl fehlenden Reserve durch das Fließen der Bewehrung höher 178 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen als beim Betonstahl definiert wurde. Anstelle der bekannten 1,15 für Betonstahl auf Zug beträgt der Teilsicherheitsbeiwert der nichtmetallischen Bewehrung für die ständige und vorübergehende Bemessungssituation 1,3 (siehe Abb. 3). Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass umgeformte Bewehrungen aus nichtmetallischer Bewehrung derzeit mit einem Teilsicherheitsbeiwert von 1,5 beaufschlagt werden sollten, sofern in den entsprechenden Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen keine geringen Teil-sicherheitsbeiwerte zugelassen sind. Abb. 3: Teilsicherheitsbeiwerte aus [11] Die anzusetzenden Materialfestigkeiten der nichtmetallischen Bewehrungen sind in den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen festgelegt. Die Bestimmung der Bemessungszugfestigkeit der Bewehrung, fnm,d, folgt der Formel: f nm,d -=-α nm -∙-f nm,k / g nm (1) Hierbei sind die charakteristische Zugfestigkeit und ein Faktor, der Langzeiteffekte berücksichtigt. Beide Größen, die in Teil 2 festgelegt und unter Berücksichtigung der Prüfverfahren in Teil 4 geprüft werden, sind produktabhängig. Zusätzlich ist zu beachten, dass die charakteristische Zugfestigkeit die Eigenschaften der nichtmetallischen Bewehrungen im Gebrauchstemperaturbereich festlegt. Die Gebrauchstemperaturbereiche der Bewehrungen sind in den entsprechenden Ver- und Anwend-barkeitsnachweisen beschrieben und sind produkt-abhängig. Die Spannungs-Dehnungs-Beziehung wird aus-schließlich im Zugbereich angenommen und weist für vollständig getränkte nichtmetallische Bewehrungen einen typischen linear-elastischen Verlauf auf. Obwohl die FVK-Bewehrung auch unter Druck Spannungen übertragen kann und ein elastisches Verhalten aufweist, wird zum aktuellen Zeitpunkt vereinfachend in der Richtlinie festgelegt, dass die Bewehrung keine Druckspannungen aufnimmt. Eine wichtige Festlegung der Richtline betrifft allerdings das Drucktragverhalten: Es ist zu prüfen, ob für die Betondruckzone ab einem höheren Bewehrungsgrad die Betondruckfestigkeit abgemindert werden muss. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass durch die innere Umlenkung Querzugspannungen im Beton um die in Querrichtung druckweichen FVK-Bewehrungen entstehen, gleichsam „Fehlstellen“. Diese Querzugspannungen senken die Drucktragfähigkeit des Betons ab [12], [13]. Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit wurden ebenfalls Anpassungen zum Stahlbeton vorgenommen. Ein direkter Kontakt zwischen Carbonbewehrung und metallischen Komponenten ist aufgrund der Gefahr der Kontaktkorrosion auszuschließen. Die nichtmetallischen Bewehrungen müssen bezüglich der Beständigkeit der Bewehrung im Beton (Alkaliresistenz) sowie des geplanten Einsatzbereiches (Expositionsklassen, z. B. bei Chloriden) geprüft sein und die zulässigen Expositionen müssen in den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen verankert sein. Anforderungen an die Betondeckung bei der nichtmetallischen Bewehrung ergeben sich deshalb nicht aus der Dauerhaftigkeit, sondern nur aus der Verbundkraftübertragung; die Mindestbetondeckungen für Gitter und Stäbe sind produktabhängig in den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen festgelegt. Erfahrungsgemäß ergibt sich damit insbesondere im Außenbereich und bei Chloridexposition eine im Vergleich zum Stahlbetonbau geringere Betondeckung. Für die Schnittgrößenermittlung sind derzeit ausschließlich linear-elastische Verfahren vollständig durch die Regelungen der Richtlinie abgedeckt. Methoden, die eine Umlagerung der Schnittgrößen oder nichtlineare Berechnungen voraussetzen, sind prinzipiell zugelassen. Die Anwendung dieser Verfahren ist aber nicht allgemein geregelt, da dies detailliertere Angaben zu den Verbundeigenschaften der Bewehrung im Gebrauchszustand sowie im Grenzzustand der Tragfähigkeit voraussetzen würde, was über die durch den Teil 4 abgedeckten Prüfverfahren hinausgehende Untersuchungen erfordert. Die Bemessung für Biegung orientiert sich grundsätzlich an den Verfahren des Stahlbetonbaus, wobei speziell die hohen Zugfestigkeiten der Bewehrung berücksichtigt werden müssen. Dies bedingt eine Überprüfung sowohl des Versagens der Betondruckzone als auch des Zugversagens der Bewehrung. Zusätzlich muss zur Sicherstellung eines ausreichenden Sicherheitsniveaus die statische Nutzhöhe bei dünnen Bauteilen angepasst werden. Die Querkraftbemessung wurde weitestgehend neu definiert, als additives Modell aus Beton- und Bewehrungstraganteil. Dies folgt dem Vorgehen in anderen international etablierten Regelwerken, z. B. aus Kanada, den USA oder Japan. Aktuell sind Bauteile ohne Querkraftbewehrung für alle Bewehrungsarten geregelt. Bauteile mit erforderlicher Querkraft-bewehrung dürfen aktuell nur mit Querkraftbewehrung aus Stäben ausgeführt werden. Gitterförmige Bewehrungen dürfen noch nicht für den Querkraftabtrag herangezogen werden, auch wenn hier in der Forschung bereits Bemessungsvorschläge existieren Für Bauteile ohne Querkraftbewehrung wird der Betontraganteil dem Querkraftwiderstand gleichgesetzt. Dabei wurde das semiempirische Modell des aktuellen Eurocodes über einen empirischen Vorfaktor, einen angepassten Faktor für den Maßstabseffekt, einen Vorfaktor für die Berücksichtigung der Schub-schlankheit und die Steifigkeit der Längsbewehrung modifiziert. Insbesondere die explizite Berücksichtigung der Schubschlankheit im Querkraft-nachweis ist im Gegensatz zum Stahlbetonbau auf-wendig, wegen der großen Bandbreite an möglichen Materialeigenschaften aber notwendig um eine wirtschaftliche Bemessung zu ermöglichen. Die Nachweisführung im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit hängt signifikant vom Verbundverhalten 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 179 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen der Bewehrung ab. Die Anpassung der Modelle aus dem Stahlbetonbau ermöglicht es, durch die Angabe einer mittleren charakteristischen Verbundspannung, welche in den Ver- und Anwendbarkeitsnachweisen der nichtmetallischen Bewehrung für die entsprechende Rissbreite festgelegt wird, einen adäquaten Nachweis zu erbringen. Ebenfalls werden Regelungen für die Spannungsnachweise und die Nachweise zur Begrenzung der Verformung gegeben. Im Bereich der baulichen Durchbildung wirken sich die Verankerungstechniken und die Stoßausbildung der Bewehrungen entscheidend auf die Bewehrungsführung aus. Im Unterschied zu konventionellem Betonstahl sind bei nichtmetallischen Bewehrungen derzeit keine Reduktionen der notwendigen Verankerungs- und Stoßlängen durch zusätzliche Verankerungselemente wie Haken oder Winkelhaken gestattet. Dies begründet sich durch die bislang unzureichend untersuchten Auswirkungen von lokalen Querpressungen auf das Zugverhalten der nichtmetallischen Bewehrung, die durch diese Verankerungselemente induziert werden. Weiterführende Regelungen sind entsprechend in der Richtlinie [11] aufgeführt und werden an dieser Stelle nicht vertieft beschrieben. 2.4 DAfStb-Heft 660 Um die Anwendung der DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ in der Baupraxis zu erleichtern und ein tieferes Verständnis für die erarbeiteten Richtlinientexte zu fördern, wurde das begleitende DAfStb-Heft 660 entwickelt. Dieses Heft ist in zwei Teile gegliedert und dient als Verbindung zwischen der Theorie und der praktischen Anwendung der Richtlinie. Die Ausführungen im ersten Teil des Heftes 660 wurde ebenso wie die Richtlinie durch die Mitglieder des DAfStb-Unterausschusses „Nichtmetallische Be-wehrung“ im Konsens erarbeitet und abgestimmt. Dieser erste Teil des Heftes ist als Nachschlagewerk aufgebaut, in dem der Richtlinientext auf der linken Seite und entsprechende Erläuterungen sowie Anwendungshinweise auf der rechten Seite präsentiert ist. Diese Gliederung ermöglicht es den Nutzern, die theoretischen Grundlagen, Hintergründe und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Richtlinie unmittelbar neben dem eigentlichen Text zu erhalten. Ergänzt wird dies durch weiterführende Literaturhinweise, die eine vertiefte Auseinander-setzung mit den behandelten Themen erlauben und Ansatzpunkte für mögliche Abweichungen von der Richtlinie für Einzelfallzustimmungen liefern. Unklarheiten und Verständnisfragen, die im Rahmen des Einspruchsverfahrens zur Richtlinie auftauchten, wurden ebenfalls berücksichtigt. Zur klaren Unterscheidung der Informationen im Heft von den Regelungen in der Richtlinie selbst, wurden die Bild-, Tabellen- und Gleichungsnummern sowie Seitennummern der Erläuterungen mit einem „E“ für Erläuterung gekennzeichnet. Der zweite Teil des Heftes 660 widmet sich der praktischen Umsetzung der Richtlinie und enthält zwei exemplarische Bemessungsbeispiele. Diese Beispiele, verfasst von Mitgliedern des DAfStb-Unterausschusses „Nichtmetallische Bewehrung“, zeigen konkret, wie die Richtlinie bei der Planung und Ausführung von Betonbauteilen mit nichtmetallischer Bewehrung angewendet werden kann. Die Bemessungsbeispiele sind dabei mit einem „B“ für Beispiele gekennzeichnet, um sie eindeutig zuordnen zu können. Im ersten Beispiel wird eine Carbonbetonplatte untersucht, die als Fertigteil für ein Parkhaus konzipiert ist und auf Betonträgern aufliegt. Triebfeder für den Einsatz von FVK ist deren Chloridbeständigkeit und der mögliche Verzicht auf eine im Stahlbetonbau notwendige Abdichtung. Die Platte weist ein Raster von 2,50-m zwischen den Hauptträgern auf, mit einer lichten Weite von 2,30-m und einer Plattendicke von 13-cm. Für die Untersuchung wird eine Breite von einem Meter betrachtet. Die Platte ist direkt befahrbar, ohne zusätzlichen Belag oder Abdichtung, und ist frei bewittert. Als Bewehrung ist ein CFK- Gitter auf der Unterseite der Platte vorgesehen, um die Nachweise nach der Richtlinie führen zu können. Abb. 4: Berechnungsbeispiel 1: Parkhausplatte mit nichtmetallischer Bewehrung, Grafik: Jan Bielak Das zweite Beispiel behandelt einen Betonbalken mit nichtmetallischer Bewehrung, der als Teil einer Parkhauskonstruktion zwischen Stahlbetonstützen als Einfeldträger spannt und eine aufgelagerte Fertigteildecke aus Carbonbeton trägt. Der Balken, hergestellt in Fertigteilbauweise, besitzt eine Länge von 8,2-m und ist in regelmäßigen Abständen von 2,50- m angeordnet. Die Balken ruhen auf Stahlbetonstützen, wobei die konstruktive Verbindung zwischen den Stützen und dem Balken nicht Teil dieses Beispiels ist. Die aufgelagerte Carbonbetonplatte hat dieselben Abmessungen wie in Beispiel 1. Die Balken weisen einen Rechteckquerschnitt mit den 180 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen Abmessungen 70-cm-×-20-cm auf und sind intern mit geraden sowie gebogen hergestellten Stäben aus Glasfaserverbundkunststoff bewehrt, um die strukturellen Anforderungen zu erfüllen. Abb. 5: Berechnungsbeispiel 2: Balken mit nichtmetallischer Bewehrung, Grafik: Alexander Schumann Diese beiden Beispiele illustrieren die Anwendungsmöglichkeiten und die Effektivität der DAfStb-Richtlinie bei der Konstruktion und Bemessung von Betonbauteilen mit nichtmetallischer Bewehrung. Durch die detaillierte Darstellung der spezifischen Herausforderungen und Lösungsansätze bieten sie praktische Orientierungshilfen für Ingenieurinnen und Ingenieure und Bauunternehmen. Gleichzeitig verdeutlichen sie die Flexibilität und das Innovationspotential, das nichtmetallische Bewehrungen in modernen Bauvorhaben bieten. Das Heft 660 und die darin enthaltenen Beispiele sollen somit einen Beitrag zur Förderung der breiten Akzeptanz und sicheren Anwendung der Richtlinie in der Baupraxis leisten. 3. Fazit und Ausblick Mit der Veröffentlichung der DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ und dem begleitenden DAfStb-Heft 660 ist ein bedeutender Schritt für die breite Nutzung und Akzeptanz nichtmetallischer Bewehrungen im Betonbau vollbracht. Diese Dokumente markieren den Übergang von der Forschung und Pilotprojekten hin zu standardisierten und regelkonformen Anwendungen im Bauwesen. Sie bieten eine verlässliche Grundlage für die Planung, Bemessung und Ausführung von Betonbauteilen mit nichtmetallischer Bewehrung und erleichtern so den Wissenstransfer in der Praxis. Die Richtlinie und das Heft 660 verdeutlichen das große Potential nichtmetallischer Bewehrungen, die Effizienz und Dauerhaftigkeit von Betonkonstruktionen zu steigern, während gleichzeitig Ressourcen geschont werden. Die Bemessungsbeispiele im Heft 660 bieten konkrete Anleitungen für die Anwendung der Richtlinie in realen Bauvorhaben und tragen wesentlich zum Verständnis und zur sicheren Umsetzung der neuen Richtlinie bei. Die Zukunft der Bauindustrie mit nichtmetallischer Bewehrung bietet hohes Potenzial. Die Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ wird kontinuierlich weiterentwickelt (aktuell wird bereits an der 2.- Fassung gearbeitet), um neue Erkenntnisse aus Forschung und Praxis zu integrieren und den Anwendungsbereich zu erweitern. U. a. wird der weitere Fokus auf folgende Aspekte gelegt: - Erweiterung des Geltungsbereichs auf vor-gespannte Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung, - Erweiterung um den Anwendungsfall der Ermüdung, - Erweiterung der Konstruktionsregeln, - Ansatz der nichtmetallischen Bewehrung als Druckbewehrung, - Integration von Schubbewehrung aus nicht-metallischen Gittern, - Erweiterung des Geltungsbereiches auf Bau-teile mit erhöhter Torsionsbeanspruchung, - Durchstanzen von Bauteilen ohne Durch-stanzbewehrung, - Bemessung für den Brandfall. Des Weiteren erfolgt die Anpassung der 2. Fassung der Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ an den zukünftigen Eurocode 2 mit nationalem Anhang für Deutschland und die neue DIN 1045-Reihe. Damit sind die Regelungen konform zu neuen Entwicklungen des Stahlbetonbaus, um auch zukünftig eine geringe Hürde für die Anwendung in der Praxis zu gewährleisten. 4. Dank Neben dem Dank an die Mittelgeber (öffentliche Hand und Industrie), ohne deren finanzielle Förderung die umfangreichen erforderlichen Forschungsarbeiten nicht möglich gewesen wären, sei hier den Mitgliedern des DAfStb-Unterausschusses „Nichtmetallische Be-wehrung“ für ihre kontinuierliche Breitschaft der Mitarbeit bei der Zusammenstellung, fachlichen Diskussion und Überarbeitung des umfangreichen Richtlinientextes sowie Frau Anett Ignatiadis und Herrn Christoph Alfes vom Deutschen Ausschuss für Stahlbeton e.V. für die fachlichen Gespräche und die umfangreiche redaktionelle Betreuung des Ausschusses gedankt. Zusätzlich sei auch allen Autoren, Mitarbeitern und Mitgliedern für ihren Einsatz und ihre wertvollen Beiträge zur Erarbeitung des Heftes 660 gedankt. Ihr Engagement trägt entscheidend dazu bei, das Verständnis und die Anwendung der Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetal- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 181 DAfStb-Richtlinie - Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - Aktueller Stand und zukünftige Entwicklungen lischer Bewehrung“ in der Baupraxis zu verbessern und ihre Akzeptanz zu fördern. Literatur [1] Schumann, A.; Schöffel, J.; May S.; Schladitz, F.; Curbach M.: Ressourceneinsparung mit Carbonbeton am Beispiel der Verstärkung der Hyparschale in Magdeburg. In: Hauke, B. (Hrsg.) Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Klimaschutz. Institut Bauen und Umwelt e. V., DGNB e. V., 2021, S. 282-286. [2] Rempel, S. et al.: Die Sanierung des Mariendomdaches in Neviges mit carbonbewehrtem Spritzmörtel, Beton- und Stahlbetonbau 113 (2018) 7, S.-543-550, DOI: 10.1002/ best.201800016 . [3] Müller, E.; Schmidt, A.; Schumann, A.; May, S.; Curbach, M.: Biegeverstärkung mit Carbonbeton - Neue Carbonbewehrung im Anwendungstest. Beton- und Stahlbetonbau- 115- (2020) 10, S. 758-767 - DOI: 10.1002/ best.202000012 . [4] Bielak, J., Bergmann, S., Hegger, J.: Querkrafttragfähigkeit von Carbonbetonplatten mit C-förmiger Querkraftbewehrung. Beton und Stahlbetonbau 114 (2019) 7, S. 465-475. DOI: 10.1002/ best.201900001 . [5] May, M. et al.: Carbonstäbe im Bauwesen - Teil 3: Bestimmung der Zugtragfähigkeit. Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021) 7, S. 508-517. DOI: 10.1002/ best.202100031 . [6] Zavadski, V.; Frenzel, M.: Aufbau, Bemessung und Planung der TWIST-Carbonbetonschalen. Beton- und Stahlbetonbau-118-(2023) S2, S. 71-81. DOI: 10.1002/ best.202300009 . [7] Bielak, J. et al.: Zwei Praxisbeispiele zur Querkrafttragfähigkeit von Brückenplatten aus Carbonbeton. Bautechnik 97 (2020) 7, S. 499-507. DOI: 10.1002/ bate.202000037 . [8] Will, N.: DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung“ - Von Forschung und Pilotprojekten zum Regelwerk. Tagungsband vom 61. Forschungskolloquium mit 9. Jahrestagung, 26.-27. September 2022, Dresden, S.-157-162. [9] Alfes, C.; Schumann, A.; Zobel, R.: Normen und Richtlinien. Kapitel 14; Curbach, M.; Hegger, J.; Schladitz, F.; Tietze, M.; Lieboldt, M. [Hrsg.]. (2023) Handbuch Carbonbeton - Einsatz nichtmetallischer Bewehrung, 1. Auflage. Ernst & Sohn GmbH. [10] Aldermann, K.; Schumann, A.; Rudloff, T.; Zernsdorf, K.; Wiel, R.; Michler, H.: Industriestandard Carbonbeton - durch Standards in eine ressourcenschonende Art des Bauens. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023) 10, S. 757-765. DOI: 10.1002/ best.202300052. [11] Deutscher Ausschuss für Stahlbeton: DAfStb-Richtlinie „Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung; 2024. [12] Bosbach, S.; Bielak, J.; Schmidt, C.; Hegger, J.; Claßen, M.: Influence of transverse tension on the compressive strength of carbon reinforced concrete. In: Proceedings of 11 th International Conference on Fiber-Reinforced Polymer (FRP) Composites in Civil Engineering (CICE 2023). 11th International Conference on Fiber-Reinforced Polymer (FRP) Composites in Civil Engineering (CICE 2023). Rio de Janeiro, Brazil, 23.07-26.07. [13] Bochmann, J.; Curbach, M.; Jesse, F.: Influence of artificial discontinuities in concrete under compression load-A literature review. Struct Concrete 19 (2018) 2, S. 559-567. DOI: 10.1002/ suco.201700041 . 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 183 CUBE - Das Carbonbetongebäude David Sandmann, M. Sc. Technische Universität Dresden Institut für Massivbau Dipl.-Ing. Enrico Baumgärtel Technische Universität Dresden Institut für Massivbau Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E. h. Manfred Curbach Technische Universität Dresden Institut für Massivbau Zusammenfassung Bei der Realisierung des Carbonbetongebäudes CUBE haben sich zahlreiche Partner aus Wissenschaft und Industrie zusammengeschlossen, um das außergewöhnliche Anwendungspotenzial von Carbonbeton zu demonstrieren. Bei diesem Forschungsgebäude wurden weltweit erstmals alle Betonbauteile ausschließlich mit nichtmetallischer Bewehrung hergestellt. Dabei wurden alle Phasen der Herstellung, Planung und Ausführung erfolgreich durchlaufen und gezeigt, wie übliche Problemstellungen vom gestalterischen Grundkonzept über die Bemessung bis hin zu Details wie der Bewehrungsführung gelöst werden können. Die für den Bau notwendigen Forschungsarbeiten haben die Carbonbetonbauweise entscheidend vorangebracht und zur Markteinführung beigetragen. Der Gebäudeteil BOX besteht aus (Halb-)Fertigteilen und demonstriert die Massentauglichkeit und damit die Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitig geringerem Betonverbrauch im Vergleich zur konventionellen Stahlbetonbauweise. Umgeben wird die BOX von zwei TWIST-Schalenelementen, die in Spritzbetonbauweise hergestellt wurden und durch ihre Formgebung die architektonische Vielfalt der Anwendung demonstrieren. Der Beitrag beleuchtet die Besonderheiten bei der Planung und Ausführung des Gebäudes. 1. Einführung Die größte aktuelle und auch langfristige gesellschaftliche Aufgabe ist der Umgang mit dem Klimawandel und die damit verbundene, unbedingte Forderung nach Nachhaltigkeit in allen Bereichen unseres Lebens. Die Ressourcen für Baustoffe sind begrenzt und teilweise bereits knapp [1; 2]. Der Bau, Betrieb und letztendlich auch der Abriss von Bauwerken emittiert große Mengen an CO 2 . Allerdings ist weniger oder Nicht-Bauen keine nachhaltige Option. Allein die zunehmende Wohnraumknappheit infolge weltweit steigender Bevölkerungszahlen und die in Deutschland nicht selten maroden Infrastrukturbauwerke stehen dem entgegen [3; 4]. Der größtmögliche und langfristige Erhalt vorhandener Bausubstanz und die Entwicklung zukunftsorientierter Bauweisen sind klimaschutztechnisch verantwortungsvollere Ansätze. Die Bauwirtschaft stellt aufgrund des hohen Anteils am Klimawandel ein großes Potenzial für eine effektive Veränderung dar. Mit der Substitution üblicher Betonstahlbewehrung durch eine inerte, leichte und hochzugfeste Carbonbewehrung in Kombination mit Entwurf, Konstruktion und Realisierung effizienter und filigraner Bauelemente wird verdeutlicht, wie signifikante Betonmengen eingespart und der CO 2 -Ausstoß deutlich reduziert werden können. Der CUBE in Dresden ist für diese Ansätze ein gutes, baupraktisches Beispiel. Der CUBE ist das weltweit erste Gebäude, bei dem ausschließlich Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung - dabei hauptsächlich aus Carbonfasern - verwendet wurden. Es verkörpert einen Meilenstein in der Etablierung des Werkstoffs Carbonbeton in der Baupraxis, welcher den Grundstein für unzählige weitere Projekte im Neubau sowie in der Sanierung legen soll. Das Objekt dient als Forschungsbau zur langfristigen Untersuchung des Materialverhaltens im großen Maßstab. Das Bauwerk ist das Ergebnishaus des Großforschungsvorhabens „C3 - Carbon Concrete Composite“, gefördert als Teil der Forschungsinitiative „Zwanzig20 - Partnerschaft für Innovation“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) [5]. In die Entwicklung, Planung und Umsetzung sind Erkenntnisse aus dem C3- Vorhaben selbst, aber auch aus jahrzehntelanger vorangegangener Forschung eingeflossen. Die Planungsphase begann im September 2017. Nach der Grundsteinlegung im Januar 2021 erfolgte die Eröffnung 21 Monate später im September 2022. Neben der baupraktischen Umsetzung der Carbonbetonbauweise war die Grundidee zu demonstrieren, dass die gesamte Prozesskette zur Errichtung eines voll funktionsfähigen Gebäudes vollständig durchlaufen werden kann. Darin inbegriffen sind Konzeption, Planung, Ausschreibung, Konstruktion und Betrieb. Die Umsetzung dieser Idee war erfolgreich. 2. Die Carbonbetonbauweise Beton ist der weltweit am meisten eingesetzte Baustoff [6]. Er ist universell einsetzbar, günstig und einfach her- 184 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 CUBE - Das Carbonbetongebäude zustellen. Aufgrund seiner hohen Druckfestigkeit in Verbindung mit der Zugtragfähigkeit des Bewehrungsstahls eignet er sich für nahezu alle Bauteilarten. Beton hat aber auch entscheidende Nachteile. Dazu gehören der enorme Ressourcenverbrauch an Gesteinskörnungen und Wasser sowie die hohen CO 2 -Emissionen, die vor allem durch die Herstellung des Zements und die damit verbundenen prozessbedingten Emissionen entstehen. Zudem kann der Bewehrungsstahl korrodieren, was die Lebensdauer des Tragwerks einschränkt. Diese wird für Stahlbeton üblicherweise mit ca. 80 bis 100 Jahren angenommen. Diese Nachteile werden mit der Carbonbetonbauweise adressiert, um eine nachhaltigere und letztlich auch umweltverträglichere Bauweise zu entwickeln. Die nichtmetallische Carbonbewehrung ist chemisch inert und korrodiert nicht [7]. Dadurch kann zum einen die Betondeckung auf das statisch notwendige Minimum reduziert werden, die für den Korrosionsschutz erforderliche Betondeckung entfällt. Zum anderen wird die Lebensdauer des Bauteils und damit die Dauerhaftigkeit des Bauwerks deutlich erhöht. Die Dichte des Bewehrungsmaterials ist etwa fünfmal geringer als bei Betonstahl, was den Transport und vor allem die Handhabung und Montage auf der Baustelle erheblich erleichtert. Ein weiterer Vorteil aus statisch-konstruktiver Sicht ist die gegenüber Betonstahl deutlich höhere Zugfestigkeit der Carbonbewehrung. Sie ist, bezogen auf den Mittelwert, etwa sechsbis siebenmal höher. Die Bewehrung besteht aus mehreren Tausend Endlosfasern bzw. Filamenten, die zu Faserbündeln oder Garnen zusammengefasst werden. Es können unterschiedliche Fasermaterialien wie beispielsweise Carbon, Glas, Aramid oder Basalt eingesetzt werden. Anschließend erfolgt die Tränkung mit einer Kunststoffmatrix, z. B. mit Epoxidharz oder Acrylat. Damit wird der innere Verbund zwischen den Filamenten sichergestellt sowie der äußere Verbund zum Beton verbessert. Die Garne können flächig und mattenartig zu Carbongittern weiterverarbeitet werden. Mit dem Zusammenführen mehrerer Faserbündel lassen sich auch stabförmige Bewehrungen herstellen. Beispielhaft ist in Abbildung 1 eine Auswahl typischer Carbonbewehrungselemente dargestellt. Abbildung 1: Exemplarische Auswahl typischer Carbonbewehrungen. Foto: Matthias Lieboldt (Bauhaus- Universität Weimar) 3. Konstruktion des Gebäudes Das Gebäude ist öffentlichkeitswirksam an einer der größten Straßenkreuzungen in der Dresdner Innenstadt direkt am Campus der Technischen Universität Dresden gelegen. Auf dem 2390 m 2 großen Grundstück ist eine große Grünfläche angelegt sowie Verkehrsbereiche, die ausschließlich für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen sind. Die Grundfläche des Gebäudes beträgt ca. 24,4-m-×-7,8-m-=-190 m 2 , die Höhe variiert von 6,0-m bis 7,0-m in Gebäudemitte. Der CUBE selbst lässt sich in drei wesentliche Teile gliedern: die quaderförmige, zweigeschossige BOX, zwei geometrisch identische TWIST-Schalen und eine raumabschließende Stahl-Glass-Fassade. Die Gebäudeteile sind in Abbildung 2 abgebildet. Durch ihre Verwindung bilden die TWIST-Elemente gleichzeitig sowohl die Dachfläche als auch einen Teil der Außenwände. In der Dachfläche sind die Schalen durch ein Lichtband verbunden. Für ihr Erscheinungsbild sind sie bewusst mit kurzem Dachüberstand konzipiert und aus architektonischen Gründen zudem nicht mit Entwässerungsrinnen oder Blitzschutz-Fangleinen ausgerüstet. Die Entwässerung erfolgt über Tropfkanten an der Unterseite des Dachüberstandes und über erdbodengleiche Rinnen. Die Blitzableitung ist über zwei gebäudenahe Schutzmasten sichergestellt. Die vertikalen Abschnitte der TWIST-Elemente ragen als Flügel ca. 8,0 m über die Grundfläche des Gebäudes hinaus. Stirnseitig weisen diese lediglich eine Dicke von 6,0 cm auf. Abbildung 2: Blick von Südosten auf das Gebäude. Foto: Stefan Gröschel (IMB TUD) In Abbildung 2 ist in der südöstlichen Ecke des Gebäudes der (Halb-)Fertigteilkomplex BOX zu sehen. Dieser dunkel gefärbte, quaderförmige Gebäudeteil ist 6,8-m hoch und hat eine Grundfläche von 4,9-×-10,7-m 2 . Er besteht aus 23 Außen- und zwei Innenwänden aus Halbfertigteilen. Diese sind maximal 4,9-m breit und 2,9-m hoch. Hinzu kommen neun vorgefertigte Deckenplatten mit 5,7-m Länge und 2,6-m Breite. Die Gründung des gesamten Bauwerks erfolgte auf wärmegedämmten Streifenfundamenten und Bodenplatten. 3.1 Gebäudeteil BOX Mit der BOX wird gezeigt, wie die im Stahlbetonbau übliche Halb- und Fertigteilbauweise auf den Carbonbeton übertragen werden kann. Die wichtigen Punkte einer besonders hohen Fertigungsqualität und einer wirtschaftlichen Herstellung konnten erreicht werden. Für den Car- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 185 CUBE - Das Carbonbetongebäude bonbeton stand dabei vor allem eine ressourceneffiziente Konstruktion im Vordergrund, sodass eine möglichst hohe Materialeinsparung erreicht wird. In dem zweigeschossigen Komplex befinden sich im Obergeschoss drei identische Messräume mit austauschbaren Fenstereinheiten in der Außenwand. Diese dienen zur Untersuchung verschiedener Fenster- und Wandauf bauten mit unterschiedlichen Dämmmaterialien unter realen Temperatur-, Feuchte- und Witterungsbedingungen [8]. Im Untergeschoss befindet sich die Haustechnik sowie ein Laborbereich zur Installation von Versuchsständen, Laborgeräten und Maschinen. Für die Wände wurden Doppelwandelemente mit innenliegender Wärmedämmung und einem Betonkern hergestellt. Die Wandschalen mit der Betonfestigkeitsklasse C50/ 60 weisen dabei nur eine Dicke von 4,0-cm auf. Die Gesamtwanddicke beträgt 27,0- cm. Je nach statischer Anforderung enthalten die Schalen eine oder zwei Lagen Carbonbewehrung und der Kern eine oder keine Bewehrungslage. Für die 12,0-cm starke Kernbetonschicht ist die Betonfestigkeitsklasse C35/ 45 verwendet worden. Die beiden Schalen sind mit Ankern aus Glasfaserverbundwerkstoff (GFK) verbunden, die im Vergleich zu metallischen Lösungen eine geringe Wärmeleitfähigkeit aufweisen. Durch die großen Öffnungen für Türen und Fenster sind neben den reinen Wandelementen auch stützen- und balkenartige Tragelementbereiche vorhanden. Daraus ergibt sich die Problematik die Stabilitätsanforderungen an die Betondruckglieder zu erfüllen, für die die Carbonbewehrung nur bedingt geeignet ist. Der hauptsächliche Lastabtrag erfolgt über die 16,0-cm dicke Betonschicht aus Carbonbetoninnenschale und Kernbeton. Die Wandelemente im Untergeschoss der BOX liegen teilweise unterhalb der Geländeoberkante, so dass zusätzlich der Lastfall Erddruck in der Bemessung zu berücksichtigen war. Die Deckenplatten wurden als einachsig spannende Einfeldträger mit jeweils maximal 4,5- m Länge und 2,6- m Breite konzipiert. Sie wurden vollständig vorgefertigt auf die Baustelle transportiert und montiert. Um die Entwurfsziele hohe Materialeffizienz und einfache Montage bei gleichzeitig einfacher Vorfertigung zu erreichen, wurden verschiedene Deckenquerschnitte untersucht. Rein rechnerisch wären aufgrund der hohen Zugfestigkeit der Carbonbewehrung deutlich geringere Deckenhöhen als bei vergleichbaren Stahlbetonvollplatten möglich. Im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit (GZG) würde dies jedoch zu großen und nicht vertretbaren Verformungen führen. Das Planungsteam entschied sich daher für einen Hohlquerschnitt. Die Hohlräume wurden mit Holz-OSB-Aussparungskörper realisiert, sodass sich statisch gesehen mehrfach nebeneinander angeordnete Doppel-T-Querschnitte ergeben. Diese haben eine Konstruktionshöhe von 25,0-cm, wobei die Gurte lediglich 3,0 dünn sind und die unbewehrten Stege eine Dicke von 6,0-cm aufweisen. Der Querschnitt ist in Abbildung 3 dargestellt. Abbildung 3: Querschnitt der Hohlkörperdeckenplatten. Grafik: Hendrik Ritter (ASSMANN BERATEN + PLANEN GmbH) und Silke Scheerer (IMB TUD) Die drei Deckenplatten über dem Untergeschoss der BOX erhielten in Spannrichtung zusätzlich eine 16,0-cm dicke Kragplatte. Diese Kragplatte ist ebenfalls als Hohlkörperquerschnitt ausgeführt, siehe Abbildung 4, und dient als Zugang zu den drei Messräumen. Je Gurt ist eine Lage Carbonbewehrung eingelegt. Diese besteht aus einem quadratischen Carbongitter mit einer Bewehrungsquerschnittsfläche von 95-mm 2 / m und einer Bemessungszugfestigkeit von 1600-N/ mm 2 . Zur effizienten Ausnutzung der Zugfestigkeit wurde für den Bauteilbeton die Druckfestigkeitsklasse C50/ 60 gewählt. Der Biegetragfähigkeitsnachweis kann rechnerisch analog zur Stahlbetonbauweise geführt werden. Dazu werden die Widerstände der Druckzone und der Carbongitter angesetzt. Die Materialeigenschaften der Carbonbewehrung wurden experimentell ermittelt und verifiziert. Der Nachweis ausreichender Querkrafttragfähigkeit stellte ein größeres Problem dar, da hierzu kein Bemessungsmodell zur Verfügung stand. Daher wurde ein experimentell gestütztes Nachweisverfahren gewählt, mit dem der Lastabtrag ohne erforderliche Querkraftbewehrung nachgewiesen wurde. Dazu wurden Bauteilversuche durchgeführt und mit dem semi-empirischen Formelapparat der Mindestquerkrafttragfähigkeit für Stahlbetonbauteile nachgerechnet. Die Bauteile wurden als Deckenausschnitte im Maßstab 1 : 1 konzipiert. Die Nachrechnung ergab eine sehr gute Übereinstimmung mit den experimentellen Ergebnissen. Abbildung 4: Hohlkörperdeckenplatten im Werk. Foto: Birgit Zocher (Betonwerk Oschatz GmbH) Durch die Leichtbauweise mit der Hohlkörperkonstruktion konnten gegenüber einem konventionellen Stahlbeton-Vollquerschnitt rund 60 Prozent der Betonmenge 186 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 CUBE - Das Carbonbetongebäude eingespart werden, was einen deutlich verantwortungsvolleren Umgang mit den benötigten Ressourcen ermöglicht. Das Fertigteilsortiment für die BOX und die effiziente Vorfertigung im Fertigteilwerk zeigen, dass bereits heute wirtschaftlich mit Carbonbeton gebaut werden kann. Durch standardisierte Bauteile und Prozesse sowie eingeführte Regelwerke können in Zukunft noch deutlich mehr Kosten eingespart werden. 3.2 Gebäudeteil TWIST Im Gegensatz zur vorgefertigten BOX wurden die TWIST-Elemente vor Ort in Spritzbetonbauweise hergestellt. Dies ermöglichte eine fugenlose Ausführung der Schalen über eine Gesamtlänge von ca. 40,0-m. Der Entwurf für die ästhetisch anspruchsvolle, geschwungene Form stammt vom Architekten Prof. Gunther Henn. Die Schalen haben eine maximale Breite von 7,8- m in der horizontalen Dachfläche und eine minimale Breite von 3,1-m in der Gebäudemitte, wo der Bereich der stärksten Krümmung liegt. Der Querschnitt besteht aus einem mehrschichtigen Aufbau mit einer innenliegenden Tragschale und einer äußeren Wetterschale. Die 25,0-cm dicke Tragschale besteht aus statischer Sicht aus einem Hohlkörperquerschnitt ähnlich den BOX-Deckenplatten, s. Abbildung 5. Die jeweils nur 3,0-cm dünnen Unter- und Obergurte sind mit einer Lage eines quadratischen Carbongitters mit einer Querschnittsfläche von 85-mm 2 / m bewehrt. In Bereichen höherer Biegebeanspruchung, z. B. in den horizontalen Flächen, wurde eine zweite Lage eingelegt. Die Schalen wurden mit einem speziellen Feinkorn-Spritzbeton mit einem geringen Schwindmaß hergestellt. Die Druckfestigkeit beträgt mehr als 50,0-N/ mm 2 . Die Stege zwischen den Gurten sind unbewehrt ausgeführt und wurden entsprechend den statischen Erfordernissen dimensioniert. In Bereichen geringerer Querkraftbeanspruchung reichten 6,0-cm Breite aus und in solchen mit starker Belastung, z. B. lokal in den Randbereichen, waren bis zu 13,0-cm Breite erforderlich. Um lokale Spannungskonzentrationen zu vermeiden sind die Stege am Übergang zu den Gurten aufgeweitet. Abbildung 5: Regelquerschnitt der TWIST-Carbonbetonschalen. Grafik: Michael Frenzel (IMB TUD) Anders als bei den BOX-Deckenplatten sind keine Hohlräume im Querschnitt der Tragschale vorhanden, sondern es wurden Verdrängungskörper aus EPS-Dämmblöcken angeordnet. So wurde mit möglichst geringem Betoneinsatz eine tragfähige und gleichzeitig wärmedämmende Dach-Wand-Konstruktion errichtet. Es wurden insgesamt 676-Blöcke benötigt, die individuell an die Form der Schalen angepasst wurden. Einige Blöcke mussten daher eine starke Krümmung aufweisen. Der Bereich zwischen den Blöcken wurde mit Beton für die Stege ausgespritzt. Die Randbereiche der Schalen sind mit nichtmetallisch bewehrten Randbalken ausgesteift. Der Vollquerschnitt hat eine Breite von 40,0-cm und eine Höhe von 25,0-cm bzw. 33,0-cm. Die Abmessungen wurden der Schalengeometrie angepasst. Dazu wurden Bewehrungskörbe mit Bügeln aus umgeformten GFK-Stäben und GFK-Längsbewehrung analog einem konventionellen Bügelkorb aus dem Stahlbetonbau hergestellt. Als besonders anspruchsvoll erwies sich die Bewehrungsführung im gekrümmten Bereich der Träger in Gebäudemitte. Die Randbalken sind mit Kopf bolzendübeln an die Stahlunterkonstruktion angeschlossen. Auf die Tragschale ist eine ca. 20,0-mm dicke, bituminöse Abdichtungsschicht aufgebracht. Darüber befindet sich eine 13,0-cm dicke Schicht aus XPS-Wärmedämmung. Die TWIST-Schale wird durch eine 4,0-cm dicke, äußere Carbonbeton-Wetterschale dauerhaft wasserdicht und witterungsbeständig abgeschlossen. Diese enthält zwei Lagen an Carbongittern mit besandeter Oberfläche, um den Verbund zum Beton zu verbessern und damit die Rissabstände und -weiten zu minimieren. Die Verbindung der Wetterschale mit der Tragschale erfolgt über GFK-Pins mit geringer Wärmeleitfähigkeit, s.- Abbildung-5. Die Pins wurden nach Fertigstellung in die Stege der Tragschale eingeklebt und nachträglich mit Manschetten und Flüssigkunststoff abgedichtet. Die vertikalen Carbonbeton-Flügelwände sind mit den TWIST-Elementen über GFK-Anker und XPS-Dämmung zur thermischen Entkopplung verbunden. An der Verbindungsstelle sind die Flügel 6,7-m hoch und an der Gebäudespitze 5,7-m. Der Querschnitt mit zwei Gurten und den Betonstegen sowie innenliegenden Verdrängungskörpern aus Dämmblöcken ist ähnlich dem der Tragschale aufgebaut. Die Gurte sind zweilagig mit Carbongittern bewehrt. Da sich der Querschnitt ausgehend von der Verbindung zum TWIST von 44,0-cm auf 6,0-cm an der Spitze verjüngt, sind auch die Dämmblöcke mit linear veränderlichen Dicken zugeschnitten. Von großem Vorteil hat sich die iterative parametrische Modellierung der TWIST-Elemente in Rhino 3D und Grasshopper erwiesen. Dies ermöglichte für die komplexe Struktur die Integration aller geometrischen Daten und Bestandteile in das Hauptmodell und die Entwicklung des Bewehrungs- und Schalungskonzeptes. Detaillierte Informationen mit Erläuterungen zur Modellierung sind in [9] enthalten. 4. Zustimmung im Einzelfall Für viele der neuartigen Werkstoffe und Bauteile im Forschungsbau CUBE lagen noch keine allgemeingültigen, normativen Regelungen vor oder es wurde von den Anwendungsbereichen der erteilten allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassungen maßgeblich abgewichen. Für 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 187 CUBE - Das Carbonbetongebäude den CUBE war daher eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) und eine vorhabenbezogene Bauartgenehmigung zu erwirken, um eine genehmigungsfähige Planung zu erstellen. Aufgrund der Komplexität des Gesamtprojektes wurde dieser Prozess in drei Teile gegliedert. Für die BOX wurde Teil I der ZiE erstellt. Inhalt sind Festlegungen zu den verwendeten Materialien, zur Vorgabe von Berechnungsansätzen sowie zu den Bau- und Montageprozessen. Dabei wurden die Materialeigenschaften und Kennwerte experimentell ermittelt und Großbauteilversuche durchgeführt. Der Teil II der ZiE betraf die TWIST-Schalen. Darin sind die Ergebnisse der kleinteiligen Versuche zum Materialverhalten enthalten sowie Untersuchungen zum Schwindverhalten der Betone und das Zusammenwirken der Wetterschale mit der Dämmschicht. Der Teil III regelte die Herstellung der inneren Trennwände aus Carbonbeton. Das Konzept für die Zustimmung im Einzelfall wurde in enger Abstimmung von den für die Tragwerksplanung zuständigen Partnern und der Landesstelle für Bautechnik in mehreren Runden überarbeitet und ergänzt [10]. 5. Fazit Das Besondere am Projekt CUBE war das enge Zusammenwirken zwischen wissenschaftlichen Leistungen und einem gewerblichen Bauprojekt. Es konnte gezeigt werden, dass der innovative Baustoff Carbonbeton bereits heute erfolgreich in der Baupraxis eingesetzt werden kann. Im Gebäudeteil BOX wurden bekannte Bauweisen aus dem Stahlbetonbau adaptiert und an den neuen Baustoff angepasst. Durch die wirtschaftliche Herstellung im Fertigteilwerk in Kombination mit dem Hohlkörperquerschnitt konnten zudem erhebliche Potenziale zur Ressourceneinsparung aufgezeigt werden. Auch komplizierte Strukturen wie mehrfach gekrümmte Schalen und mehrschichtige Querschnittsauf bauten sind mit der Carbonbetonbauweise möglich. Dies eröffnet architektonisch vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. In den nächsten Jahren werden umfangreiche Untersuchungen insbesondere zur Dauerhaftigkeit durchgeführt. Auch bauphysikalische und statische Aspekte werden laufend evaluiert. Danksagung Die Autoren danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung des Vorhabens Ergebnishaus des C 3 -Projekts - CUBE (FKZ: 03ZZ0309A). Besonderer Dank gilt des Weiteren den Projektpartnern, der AIB GmbH (Bautzen), der Assmann Beraten + Planen GmbH (Dresden), dem Betonwerk Oschatz GmbH, der Bendl Hoch- und Tief bau GmbH (Sebnitz), dem Institut für Betonbau der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig, dem texton e. V. (Dresden), den Lieferanten für das zur Verfügung gestellte Material und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Otto-Mohr- Laboratoriums der TU Dresden für die Durchführung der Versuche. Eine vollständige Übersicht über die Projektbeteiligten enthält [11]. Literatur [1] Aßbrock, O.: Rohstoffversorgung für die Betonherstellung - Entwicklungen, Ressourcen und Umweltschutz: Bundesanstalt für Wasserbau (Hg.): Kolloquium Neubau von Wasserbauwerken 2019, S. 42-48. [2] Haist, M., Bergmeister, K., Curbach, M., Forman, P., Gaganelis, G., Gerlach, J., Mark, P., Moffatt, J., Müller, C., Müller, H. S., Reiners, J., Scope, C., Tietze, M., Voit, K.: Nachhaltig konstruieren und bauen mit Beton. In: Bergmeister, K., Fingerloos, F., Wörner, J.-D. (Hg.): BetonKalender 2022: Wiley, S. 421-531. 10.1002/ 9783433610879. [3] Dachler, M.: Bevölkerungsentwicklung. In: Dachler, M. (Hg.): Welternährung. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 1-16. 10.1007/ 978- 3-662-66904-4. [4] Novák, B., Boros, V., Reinhard, J.: Herausforderungen der Zukunft: Strategien zur Verstärkung von Betonbrücken im Bestand. Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), S. 765-774. 10.1002/ best.202100027. [5] Curbach, M., Frenzel, M.: TP C3-V3.1-I: Weiterentwicklung, Untersuchung und Nachweisführung von Bauteilen und Tragwerken aus Carbonbeton sowie wissenschaftliche Begleitung von Entwurfs-, Konstruktions- und Bauüberwachungsprozessen im Carbonbetonbau im Vorhaben C3-V3.1: Ergebnishaus des C³-Projektes - CUBE. Abschlussbericht 2023. [6] Weidner, S., Mrzigod, A., Bechmann, R., Sobek, W.: Graue Emissionen im Bauwesen - Bestandsaufnahme und Optimierungsstrategien. Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), S. 969-977. 10.1002/ best.202100065. [7] Lieboldt, M.: Einführung zum Carbonbeton. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), S. 7-10. 10.1002/ best.202100100. [8] Kupke, M.: CUBE Projektvorstellung. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), S. 13-21. 10.1002/ best.202200021. [9] Vakaliuk, I.: Modellierung der TWIST-Schale des CUBE. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), S. 66-70. 10.1002/ best.202200104. [10] Ritter, H., Frenzel, M., Scheerer, S.: Statisch-konstruktive Durchbildung des Gebäudeteils BOX - Herausforderung aus planerischer Sicht. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), S. 42-48. 10.1002/ best.202200126. [11] Frenzel, M.: Carbonbetongebäude CUBE: Daten, Fakten, Meilensteine und Beteiligte. Beton- und Stahlbetonbau 118 (2023), S. 140-143. 10.1002/ best.202390005. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 189 Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung Dipl.-Ing. Maximilian May CARBOCON GMBH, Dresden Prof. Dr.-Ing. Alexander Schumann CARBOCON GMBH, Dresden Dipl.-Wirt.-Ing. Miriam Melzer CARBOCON GMBH, Dresden Zusammenfassung In den letzten Jahren hat sich das Verstärken und Instandsetzen von Stahlbetonbauwerken mit Carbonbeton (CARBOrefit ® ) als wirksame Methode etabliert. Dabei werden zur Wiederherstellung oder zur Steigerung der Tragfähigkeit dünne Carbonbetonschichten (üblicherweise 10-15 mm im Hochbau) auf bestehende Stahlbetonstrukturen aufgetragen, um diese vor dem Abriss zu bewahren. Zahlreiche erfolgreich realisierte Projekte im Hoch- und Infrastrukturbau unterstreichen eindrucksvoll die Vorteile dieser Methode. In Deutschland ist das CARBOrefit ® -Verfahren zur Verstärkung mit Carbonbeton offiziell bauaufsichtlich zugelassen und anerkannt [1]. Mit einer steigenden Anzahl erfolgreich umgesetzter Projekte wird das Potenzial von Carbonbeton für die nachhaltige Bauwerkserhaltung immer deutlicher. So wurden in den letzten Jahren u. a. die Hyparschale in Magdeburg, der Beyer-Bau und der ehemalige Amtsschlachthof in Dresden, eine Autobahnbrücke bei Frankfurt über die Nidda und Fußgängerbrücken in Naumburg (Saale) und Aschaffenburg mit Carbonbeton instandgesetzt bzw. verstärkt [2]-[7]. Mit der neuen und allumfassenden Planungsmappe [8] steht den Planenden eine umfangreiche Zusammenstellung an unterschiedlichen Anwendungshilfen bereit, anhand derer in den nächsten Jahren eine Vielzahl an weiteren Bauwerken erhalten und saniert werden kann. 1. Einleitung Die Baubranche steht vor der großen Herausforderung, nachhaltiger zu werden: Während der Bedarf an neuen Gebäuden und Infrastrukturen steigt, müssen gleichzeitig der Materialverbrauch und die Emissionen gesenkt werden. Ein Schlüsselfaktor dabei ist der Erhalt und die Weiterverwendung bestehender Bauwerke. Fortschrittliche Erhaltungslösungen und innovative Baustoffe spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Das Verstärken von Bestandsbauwerken mit Carbonbeton, bekannt als das CARBOrefit ® -Verfahren, revolutioniert die Bauindustrie durch innovative Ansätze für die Erhaltung und Verstärkung bestehender Betonstrukturen. Das Verfahren nutzt die Vorteile von Carbonbeton und bietet eine effiziente Lösung, um die Lebensdauer von Stahlbetonbauwerken signifikant zu verlängern, statt sie abreißen zu müssen [2]. Ingenieur: innen, Planer: innen und Bauunternehmen übernehmen in ihrem Berufsalltag Verantwortung, nicht nur in Bezug auf Sicherheit und Qualität ihrer Bauprojekte, sondern auch hinsichtlich der Klimaschutzherausforderungen. Der Einsatz von CARBOrefit ® für den Bauwerkserhalt steht in direkter Übereinstimmung mit diesen verantwortungsvollen Aufgaben. Zum einen bietet das Verfahren bedeutende Vorteile in den drei Säulen der Nachhaltigkeit - Ökologie, Ökonomie und Soziales - und trägt dadurch zur nachhaltigen Entwicklung in der Bauindustrie bei. Zum anderen ermöglicht die Etablierung einer soliden baurechtlichen Basis durch die CARBOrefit ® -Zulassung und das Sammeln umfassender Erfahrungswerte eine sichere und verantwortungsbewusste Anwendung. Um die Herausforderungen der Baubrache zu lösen und den Planenden die Anwendung von Carbonbeton in der Bauwerkserhaltung zu erleichtern, steht nun eine umfangreiche Planungsmappe für das CARBOrefit ® -Verfahren als Hilfestellung bereit. In den folgenden Kapiteln werden das CARBOrefit ® -Verfahren, die dazugehörige Zulassung und die Planungsmappe [8] mit ihren Anwendungshilfen vorgestellt. 2. Das CARBOrefit ® -Verfahren Mit der allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung/ allgemeinen Bauartgenehmigung (abZ/ aBG) Z-31.10-182 [1] ist das CARBOrefit ® -Verfahren zur Biegeverstärkung von Stahlbeton mit Carbonbeton durch die oberste Baubehörde, das Deutsche Institut für Bautechnik (DIBt), regelungstechnisch beschrieben und für die Anwendung freigegeben [1]. Mit der Neuerteilung der abZ/ aBG im Dezember 2021 wurde ein neues Konzept, mit Materialkombinationen aus unterschiedlichen Gittertypen und dem Feinbeton, umgesetzt. Die neue Zulassung ist kennwertbasiert und ermöglicht es, die geeignetste Materialkombination für die Verstärkungsmaßnahme auszuwählen. 190 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung Abb. 1: Ein Carbongitter, dass als Bewehrung zum Einsatz kommen kann (© CARBOCON GMBH) Als Regelungsgegenstand wurde durch das DIBt ein Bausatz bestehend aus getränkten Carbongittern und einem Feinbeton für die Anwendung freigegeben. Der Verwendungsbereich der abZ/ aBG deckt die Anwendung des CARBOrefit ® -Verfahrens für Verstärkungsmaßnahmen im Innenbereich bis 40 °C und 65 % Luftfeuchte ab. Der Altbeton muss einem Normalbeton entsprechen, die Festigkeitsklasse ist auf max. C50/ 60 begrenzt. Der Erwartungswert des Mittelwertes der Oberflächenzugfestigkeit des Altbetons muss mindestens 1,0 N/ mm 2 betragen. Im Gegensatz zum Spritzbeton wird die Verbundfuge nicht zusätzlich verdübelt. Der Verbund zwischen Verstärkung und Bestand wird mittels einer aufgerauten Oberfläche sichergestellt, wobei eine mittlere Rautiefe von mindestens 1,0-mm benötigt wird [1]. Statische Defizite des Bestandes, beispielsweise hervorgerufen durch Korrosion der Stahlbewehrung oder mangelhafte Ausführung, oder auch verursacht durch eine Erhöhung der Lasten infolge einer Umnutzung, können mit einer millimeterdünnen Schicht aus Carbonbeton behoben werden [9]-[10]. Abb. 2: Auf bau einer Verstärkungsschicht mit Carbonbeton (© CARBOCON GMBH) In den lagenweise im Nassspritz- oder Laminierverfahren aufgebrachten Feinbeton - die Stärke der einzelnen Schichten beträgt nur 3 bis 5 mm - wird die erforderliche Lagenanzahl der leistungsfähigen Carbongitter eingearbeitet und abschließend eine letzte Feinbetonschicht aufgetragen. Diese Kombination ermöglicht eine erhebliche Traglaststeigerung, trotz der minimalen Schichtdicke, die durch die Korrosionsbeständigkeit der Bewehrung möglich wird. In Abbildung 2 ist der Auf bau der Verstärkung mit Carbonbeton schematisch dargestellt. Die Carbonbewehrung nimmt die Zugkräfte infolge der Bauteilbeanspruchung auf, der Feinbeton gewährleistet den Verbund zum Bestand und kann auch Druckkräfte aufnehmen. Infolge der feinmaschigen Gitterstruktur, der großflächigen Anordnung und des geringen Eigengewichts muss die Carbonbetonschicht nicht mit dem Bestand verdübelt werden. Die hohe Zugfestigkeit der Gitter ermöglicht eine deutliche Erhöhung der Tragfähigkeit bei gleichzeitig minimalem Zusatzgewicht. Das System lässt sich daher für eine breite Anwendungspalette einsetzen. Mit diesen Vorteilen hebt sich das CARBOrefit ® -Verfahren von konventionellen Verfahren, wie dem Spritzbeton, ab und konnte sich, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten sowie Anforderungen des Denkmalschutzes, bei einer Vielzahl an Praxisprojekten durchsetzen [11]. Abb. 3: Einlegen der Carbongitter in den Feinbeton während der Verstärkung eines Bestandsbauwerkes mit Carbonbeton (© Leonhard Weiss) Mit der Auszeichnung zum Deutschen Rohstoffeffizienz- Preis im Jahr 2022, welchen das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz verleiht, wurde der ganzheitliche Ansatz zur materialeffizienten und ressourcensparenden Bauwerksertüchtigung mit Carbonbeton honoriert. Die Potentiale und Relevanz des CARBOrefit ® -Verfahrens für die nachhaltige Transformation im Bauwesen wurden mit dem Publikumspreis der Sustainability Challenge der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) im Jahr 2023 erneut bestätigt. Die Weiternutzung des Bestandes und die Vermeidung des Abrisses stellt die höchste Form der Nachhaltigkeit im Bauwesen dar. Abb. 4: CARBOrefit ® erhält den Publikumspreis der DGNB Sustainability Challenge (© DGNB) 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 191 Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 3. Grundlagen für das Verstärken mit Carbonbeton 3.1 Grundlagen der Planung Durch die Einbindung des CARBOrefit ® -Verfahrens schon in die frühen Planungsphasen von Bauwerksinstandsetzungen kann eine effiziente, schnelle und nachhaltige Verstärkung gewährleistet werden. Die zur Verfügung stehende Planungsmappe [8] dient den Planenden dabei als wertvolle Arbeitshilfe, die bereits in den frühen Leistungsphasen des Projekts Anwendung findet. Sie unterstützt bei der Grundlagenermittlung und ermöglicht es, erste Rahmenbedingungen zu definieren und Entwurfslösungen zu entwickeln. Bei der Anwendung des CARBOrefit ® -Verfahrens haben die Planenden zum einen die Regelungen der abZ/ aBG [1] zu berücksichtigen, zum anderen sind bei der Instandsetzungsplanung die baubehördlichen Vorgaben der Technischen Regel „Instandhaltung von Betonbauwerken“ (TR Instandhaltung) [12] des DIBt und flankierende Normen zu berücksichtigen. Obwohl das CARBOrefit ® -Verfahren nicht direkt in die regulären Verfahren zum Schutz oder zur Instandsetzung von Betonbauteilen eingegliedert ist, definiert die Technische Regel wesentliche Anforderungen an die Betonkonstruktion, die für eine Verstärkung vorgesehen ist. Sie legt fest, wie der Betonuntergrund vorbereitet werden muss und beschreibt die Anforderungen an die Bauprodukte sowie die Qualifikation der ausführenden Firmen und deren Mitarbeiter: innen, um den technischen und sicherheitsrelevanten Vorschriften zu entsprechen. Neben der TR Instandhaltung sind weitere anwendungsspezifische Regelwerke und Vorschriften im Rahmen der Instandsetzungsplanung gegebenfalls zu beachten. 3.2 Grundlagen der Bemessung Die Berechnung der erforderlichen Lagenanzahl der Verstärkungsschicht erfolgt analog zu einer Dimensionierung mit Spritzbeton. Für die Nachweisführung müssen u. a. folgende Nachweise erbracht werden: • Nachweis der Biegetragfähigkeit, • Nachweis der Querkrafttragfähigkeit (ohne Ansatz der Carbonbetonschicht), • Nachweis der Verbundfuge, • Nachweis des Versatzbruches und der Endverankerung am Ende der Verstärkungsschicht, • Nachweise im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit, • Konstruktive Durchbildung, • Nachweis der Feuerwiderstandsdauer (ohne Ansatz der Carbonfaser, aber ggfs. mit zusätzlicher Betondeckung durch den nachträglich aufgebrachten Feinbeton). Für die Ermittlung der Gesamtverstärkungsdicke und der erforderlichen Lagenzahl der Carbonbetonverstärkung stellt der Biegenachweis i. d. R. den maßgebenden Nachweis dar. Hierbei beruhen das Ingenieurmodell und die Nachweisführung auf den bekannten und etablierten Verfahren aus dem Stahlbetonbau. Die Bemessung erfolgt analog zum Stahlbeton unter folgenden Annahmen: • Der Querschnitt bleibt eben bzw. besitzt eine lineare Dehnungsverteilung (Hypothese von Bernoulli). • Vollständiger Verbund zwischen den Materialien; die jeweiligen Bewehrungsdehnungen folgen der Bernoulli-Hypothese. • Die Betonzugfestigkeit wird nicht berücksichtigt, sodass nur die Bewehrungskomponenten Zugkräfte aufnehmen. • Die normativ festgelegten Spannungs-Dehnungs-Linien (Beton und Stahl) und die Spannungs-Dehnungs- Linie für die Carbongitter nach abZ/ aBG [1], siehe Abbildung 4, sind anzuwenden. Abb. 5: Idealisierte Spannungs-Dehnungs-Linie für die Bemessung mit Carbonbeton (© CARBOCON GMBH) Die Bemessung von mit Carbonbeton verstärkten Stahlbetonbauteilen orientiert sich an den etablierten Verfahren des Stahlbetonbaus. Dabei wird das Gleichgewicht zwischen den inneren (Widerständen) und äußeren Schnittgrößen (Beanspruchungen) durch iterative Anpassung der Dehnungszustände von Beton, Stahlbewehrung und Carbongittern erreicht. Mithilfe von Materialkennlinien und den spezifischen Eigenschaften der verwendeten Materialien lässt sich der benötigte Widerstand bestimmen, wie in Abbildung 6 dargestellt. Für detaillierte Erläuterungen sei auf die Literaturstellen [9] und [13] verwiesen. Alternativ ermöglichen Bemessungstafeln eine vereinfachte Ermittlung der Bewehrungsmenge ohne iterative Berechnung. Die Bemessungstafeln für die Carbongitter der CARBOrefit ® -Typen sind Bestandteil der Planungsmappe [8] und mit dieser veröffentlicht. Als weitere Hilfestellung für die Bemessung steht seit Ende 2022 mit dem Tool „Stahlbetonbemessung B2“ von FRILO eine Software zur Verfügung, die sich in die tägliche Arbeitsumgebung der Tragwerksplanung integriert. In den beiden folgenden Kapiteln wird die CARBOrefit ® - Planungsmappe sowie die softwaregestützte Bemessung mit FRILO kurz erläutert. 192 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Abb. 6: Idealisierter Dehnungsverlauf und innere Kräfte eines verstärkten Stahlbetonbauteils (© FRILO) 4. Die CARBOrefit ® -Planungsmappe Die CARBOrefit ® -Planungsmappe stellt das Ergebnis umfassender Forschung sowie praktischer Erfahrungen dar und zielt darauf ab, Planenden und ausführenden Unternehmen eine zuverlässige und praxisgerechte Ressource für die Planung und Umsetzung des CARBOrefit ® -Verfahrens zur Verfügung zu stellen. Sie dient als nützliche Arbeitshilfe, die weitreichende Unterstützung bietet und eine Vielzahl an Hilfestellungen zusammenfasst. Die folgenden 5 Kapitel sind Bestandteil der Planungsmappe und gliedert diese in: 1. CARBOrefit ® -Verfahren 2. Der Kombibescheid aus abZ und aBG 3. Planung und Bemessung 4. Ausführung 5. Weiterführende Informationen Die Planungsmappe stellt kein geschlossenes Werk dar. Sie besteht aus über 20 verschiedenen Merkblättern, die relevante Informationen zu den jeweiligen Kapiteln beinhalten und auch als separate Dokumente verwendet werden können. Neben allgemeinen Merkblättern mit projektspezifischen Angaben zu aktuellen Referenzproj ekten und den technischen Anwendungsmöglichkeiten des CARBOrefit ® -Verfahrens werden Bemessungs- und Konstruktionsregeln dargestellt und diese an verschiedenen Beispielen erläutert. Die Merkblätter bieten vertiefende Einblicke in die spezifische Bemessung und praktische Anwendung des Verfahrens. Sie enthalten detaillierte Anleitungen zur korrekten Anwendung des CARBOrefit ® -Verfahrens in verschiedenen Bausituationen und bei unterschiedlichen Anforderungen. Diese praktischen Anleitungen sind speziell darauf ausgelegt, die Planung und Ausführung von Bauprojekten zu optimieren, indem sie Schritt für Schritt die Prozesse und entscheidende Faktoren für den Erfolg herausstellen. Abb. 7: Die neue CARBOrefit ® -Planungsmappe steht als Anwendungshilfe für das Verstärken mit Carbonbeton bereit (© CARBOCON GMBH) Weitere Merkblätter enthalten z. B. Informationen zu Versuchen, welche im Rahmen der Qualitätskontrolle durchzuführen sind, Mustertextbausteine für die Ausschreibung, Anwendungsbeschreibungen für ausführende Firmen und zu den Materialien, welche Bestandteil des CARBOrefit ® -Bausatzes sind. Insgesamt bietet die CAR- BOrefit ® -Planungsmappe eine unverzichtbare Sammlung an Informationen, die die Anwendung von Carbonbeton in der Bauindustrie sicherer und effizienter gestalten sollen, was sie zu einem wertvollen Werkzeug für Fachleute in diesem Bereich macht. Sie wird stetig aktualisiert und erweitert. Über die Homepage www.carborefit.de steht die Planungsmappe zur kostenfreien Nutzung zur Verfügung und es werden weitere Informationen zur Handhabung sowie Schulungen für die Anwendung des CAR- BOrefit ® -Verfahrens dargestellt. Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 193 Abb. 8: Auszug aus einem Bemessungsbeispiel der CARBOrefit ® -Planungsmappe (© CARBOCON GMBH) 5. Einfache Bemessung mit FRILO Das Modul „Stahlbetonbemessung B2“ von FRILO ist in der Lage, Stahlbetonquerschnitte zu berechnen, die mit Carbonbeton verstärkt sind, und stützt sich dabei auf die aktuelle abZ/ aBG für das CARBOrefit ® -Verfahren. Das Modul ermittelt für definierte Querschnitte aus den einwirkenden Momenten und Normalkräften die erforderliche Anzahl an Carbongitterlagen und führt bei Vorliegen einer Querkraftbeanspruchung auch Schubnachweise für den bestehenden Querschnitt sowie für die Fuge zwischen Alt- und Carbonbeton. Es unterstützt die Bemessung einachsig beanspruchter Rechteckquerschnitte, mit oder ohne zusätzliche Betonergänzung auf der Oberseite. Ein weiteres Merkmal ist die integrierte Datenbank für historische Baumaterialien, welche die Einstellung von EC-konformen Parametern für Betone und Stähle seit 1916 ermöglicht. Benutzer können zudem spezifische Eigenschaften von Beton und Stahl für vorhandene Querschnitte individuell festlegen. Abb. 9: Dialogfenster bei der FRILO-Bemessung von Verstärkungen mit CARBOrefit ® (©FRILO/ CARBO- CON GMBH) Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 194 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Das Modul prüft weiterhin, ob die Vorgaben der abZ/ aBG erfüllt sind. Sollten diese Bedingungen nicht zutreffen, lässt sich das Programm dennoch nutzen, für solche Fälle wird der Hinweis gegeben, dass auf Basis der bestehenden Zulassung ggf. eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) oder eine vorhabenbezogene Bauartgenehmigung (vBG) erteilt werden kann. Abweichungen von der Zulassung werden durch das Programm deutlich kenntlich gemacht und es bietet Empfehlungen, beispielsweise zur Anpassung der Abminderungsfaktoren, an. Die Ausgabe präsentiert die gesamte Bemessung, von der Dateneingabe bis zu den Ergebnissen, und kann als Nachweisführung der Statik beigelegt werden. 6. Aktuelle Praxisprojekte und deren Anwendungspotentiale In den letzten Jahren wurden zahlreiche Praxisprojekte zur Verstärkung und Instandsetzung bestehender Stahlbetonkonstruktionen mit Carbonbeton realisiert. Eine Vielzahl weiterer Projekte auf Basis der abZ/ aBG befindet sich in der Planungsphase. Abb. 10: Hyparschale Magdeburg (Foto: Marcus Bredt) Unter den Projekten befinden sich auch bedeutende Bauwerke der deutschen Architekturgeschichte, wie die bereits verstärkte „Hyparschale“ in Magdeburg. Diese konnte durch die Anwendung einer 10-mm dicken Schicht aus Carbonbeton auf der Ober- und Unterseite vor dem Abriss bewahrt werden. Nach erfolgreicher Verstärkung der Dachschale und der umfangreichen Sanierung des Gebäudes wird die „Hyparschale“ im Sommer 2024 wieder eröffnet und zukünftig für diverse Veranstaltungen zur Verfügung stehen. Am Beispiel der „Hyparschale“ in Magdeburg wurden Vergleichsberechnungen durchgeführt, die den Ressourcen- und CO 2 -Ausstoß zwischen einer Verstärkung mit Carbonbeton und einer konventionellen Spritzbetonverstärkung gegenüberstellten. Es konnte gezeigt werden, dass durch die Verwendung von Carbonbeton 85-% der Ressourcen und 45-% der CO 2 - Emissionen eingespart werden konnten [14]. Aufgrund fehlender geeigneter Instandsetzungsmaßnahmen wurde der Abriss der Hyparschale lange diskutiert, im Vergleich zum Abriss und Neubau des Bauwerks konnten durch die Verstärkung mit Carbonbeton weitere Ressourcen und CO 2 -Emissionen eingespart werden. Üblicherweise lassen sich bestehende Hochbaukonstruktionen mit Schichtdicken von 10-15-mm effektiv verstärken, und das selbst bei schlecht beschaffenen Altbetonuntergründen, die normalerweise abgerissen würden. Diese Vorteile kommen besonders bei alten Bauwerken zum Tragen. Anforderungen aus dem Denkmalschutz ermöglichen oft keine konventionellen Sanierungskonzepte. Hier sind Lösungen gefragt, die besonders schlank und mit geringem Eingriff in die Bestandsstruktur umgesetzt werden können. Diese Kriterien erfüllt das CAR- BOrefit®-Verfahren. Der Nachweis dafür konnte auch bei der Verstärkung des „Beyer-Baus“, welcher als Fakultätsgebäude des Bauingenieurwesens der TU Dresden eine zentrale Wirkungsstelle bei der Entwicklung des Baustoffs Carbonbeton war, in der Praxis erbracht werden [9]. Abb. 11: Verstärkung mehrerer Decken in unterschiedlichen Gebäuden des ehemaligen Amtsschlachthofes in Dresden (© CARBOCON GMBH) Auch bei Standard-Umbaumaßnahmen in Bestands- und Wohngebäuden werden oft aufgrund gestiegener Nutzungsanforderungen statische Verstärkungen erforderlich. Bei der Sanierung des ehemaligen Amtsschlachthofes in Dresden konnte sich die Verstärkung mit Carbonbeton gegenüber konventionellem Spritzbeton schon allein aus wirtschaftlichen Gründen durchsetzen. Dies unterstreicht, dass das innovative Verfahren nicht nur durch seine filigrane Ausführung und Ressourceneinsparung überzeugt, sondern auch wirtschaftlich wettbewerbsfähig ist. Abb. 12: Fußgängerbrücke „Kleine Schönbuschallee“ in Aschaffenburg (© Leonhard Weiss) Der Einsatz von Carbonbeton erstreckt sich ebenfalls auf den Bereich der Brückensanierung. Historische und besonders erhaltenswerte Brücken wie die Fußgängerbrü- Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 195 cke über den Stadtgraben zur Thainburg in Naumburg/ Saale oder auch die Brücke „Kleine Schönbuschallee“ in Aschaffenburg konnten in den letzten Jahren erfolgreich erhalten und verstärkt werden. Auch bei der statischen Ertüchtigung von Straßen- und Autobahnbrücken konnte das CARBOrefit ® -Verfahren sein Potential unter Beweis stellen. Unter der Anwendung vergleichsweiser geringer Schichtdicken von 20-35-mm konnte die Restnutzungsdauer von drei Teilbauwerken der Autobahnbrücke über die Nidda [4]-[6], [11] verlängert sowie die Brückenklasse einer Straßenbrücke in Kleinsaubernitz erhöht werden Abb. 13: Verstärkung der Staatsstraße S 109 in Kleinsaubernitz (© Oliver Steinbock) Weitere Informationen zu bereits umgesetzten Praxisprojekten und die Planungsmappe finden sich auf der Webseite www.carborefit.de [8]. 7. Fazit Das CARBOrefit ® -Verfahren zum Verstärken mit Carbonbeton hat sich als fortschrittliche Technologie in der konventionellen Baubranche etabliert. Seine Effektivität wurde in zahlreichen Praxisprojekten bestätigt. Die neue Planungsmappe mit zahlreichen Anwendungshilfen und softwarebasierte Bemessungstools ermöglichen es einer Vielzahl an Planenden das Verfahren in der Bauwerkserhaltung anzuwenden. Dies führt zu einer effizienten, wirtschaftlichen und nachhaltigen Sanierung und Erhaltung von Bauwerken. Die breiten Anwendungsmöglichkeiten fördern den Wandel im Bauwesen und unterstützt das Ziel der Klimaneutralität. Literatur [1] Allgemeine bauaufsichtliche Zulassung/ Allgemeine Bauartgenehmigung Z-31.10-182 CARBOrefit ® - Verfahren zur Verstärkung von Stahlbeton mit Carbonbeton, DIBt, Stand: 31.08.2023. [2] Schumann, A.; Schöffel, J.; May, S.; Schladitz, F.: Ressourceneinsparung mit Carbonbeton am Beispiel der Verstärkung der Hyparschale in Magdeburg In: Hauke, B. (Hrsg.): Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Klimaschutz. Konstruktive Lösungen für das Planen und Bauen - Aktueller Stand der Technik. Institut Bauen und Umwelt e.V./ DGNB e.V., 2021, S. 282-286. [3] Hentschel, M.; Schumann, A.; Ulrich, H.; Jentzsch, S.: Sanierung der Hyparschale Magdeburg. In: Bautechnik 96 (2019), Heft 1, S. 25-30. DOI: 10.1002/ bate.201800087. [4] Steinbock, O., Pelke, E., Ost, O.: Carbonbeton - Eine neue Verstärkungsmethode für Massivbrücken - Teil 1: Grundlagen und Hintergründe zum Pilotprojekt „Brücken über die Nidda im Zuge der BAB A 648“. In: Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), Heft 2, S.-101-108. DOI: 10.1002/ best.202000094. [5] Steinbock, O.; Bösche, T.; Schumann, A.: Carbonbeton - Eine neue Verstärkungs-methode für Massivbrücken - Teil 2: Carbonbeton im Brükkenbau und Informationen zur Zustimmung im Einzelfall für das Pilotprojekt Brücken über die Nidda im Zuge der BAB A 648. Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), Heft- 2, S.- 109-117. https: / / doi.org/ 10.1002/ best.202000106 [6] Steinbock, O., Teworte, F., Neis, B.: Carbonbeton - Eine neue Verstärkungsmethode für Massivbrükken - Teil 3: Planung und Umsetzung der Verstärkungsmaßnahme mit Carbonbeton am Pilotprojekt „Brücken über die Nidda im Zuge der BAB A 648“. In: Beton- und Stahlbetonbau 116 (2021), Heft 2, S.-118-126. DOI: 10.1002/ best.202000107. [7] Schumann, A.; May, S.; Geißler, J.; Thorwarth, F.: Erhalt einer der ersten „Eisenbeton“-Brücken Deutschlands - dank Carbonbeton! 5. 5. Brükkenkolloquium, Technische Akademie Esslingen, 2022. [8] CARBOrefit ® -Planungsmappe, Fassung Mai 2024, Hrsg. CARBOCON GMBH, Dresden, veröffentlicht über: www.carborefit.de. [9] Curbach, M.; Müller, E.; Schumann, A.; May, S.; Wagner, J.; Schütze, E.: Verstärken mit Carbonbeton. In: Bergmeister, K.; Fingerloss, F.; Wörner, J.- D. (Hrsg.): Beton-Kalender 2022 - Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Instandhaltung. Berlin: Ernst und Sohn, Veröffentlichung: Dezember 2021. [10] Müller, E.; Schmidt, A.; Schumann, A.; May, S.; Curbach, M.: Biegeverstärkung mit Carbonbeton - Neue Carbonbewehrung im Anwendungstest. Beton- und Stahlbetonbau 115 (2020) 10, S. 758-767 - DOI: 10.1002/ best.202000012. [11] Riegelmann, P.; May, S.; Schumann, A.: Das Potential von Carbonbeton für den Brückenbestand - das ist heute schon möglich. In: Curbach, M. (Hrsg.): Tagungsband zum 30. Dresdner Brückenbausymposium am 8. und 9.3.2021 in Dresden. Institut für Massivbau der TU Dresden, 2017, S. 79-90. [12] Technische Regel Instandhaltung von Betonbauwerken (TR Instandhaltung), Teil 1 und Teil 2, DIBt, Stand Mai 2020. [13] Curbach, M., Schladitz, F., Weselek, J., Zobel, R.: Eine Vision wird Realität: Der Betonbau der Zukunft ist nachhaltig, leicht, flexibel und formbar dank Carbon. In: Prüfingenieur 51, 2017, S. 20-35. [14] C3 Fact-Sheet Ökobilanz von Carbonbeton, Stand Juli 2023, Hrsg.: C 3 Verband, Dresden. Berechnung und Bemessung von Verstärkungen mit Carbonbeton anhand praxisnaher Beispiele und gültiger Bauartgenehmigung 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 197 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung Dr.-Ing. Jan Kortmann Technische Universität Dresden, Institut für Baubetriebswesen Dipl.-Ing. Enrico Baumgärtel Technische Universität Dresden, Institut für Massivbau Prof. Dr.-Ing. Steffen Marx Technische Universität Dresden, Institut für Massivbau Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Katharina Kleinschrot Technische Universität Dresden, Institut für Bauverfahrenstechnik und zirkuläre Wertschöpfung Zusammenfassung Die Verwendung von Carbonbeton in der Baupraxis ist mit Fertigstellung des CUBE - Gebäudes im September 2022 in Dresden eindrucksvoll nachgewiesen [1]. Auf bauend auf einer über 25-jährigen Forschungsgeschichte im Bereich Textilbzw. Carbonbeton an der Technischen Universität in Dresden und einer immer größeren Anwendung von Carbonbeton im zivilen Baubereichen [2] wird in naher Zukunft die Fragestellung der Rezyklierbarkeit des Baustoffs Carbonbeton auftreten. Dieser Artikel stellt erste verfahrenstechnische Betrachtungen im Hinblick aufs Recycling von Carbonbeton [3] und den aktuellen Stand der Forschung dar. Weiterhin wird ein Ausblick auf weitere potenzielle Recyclingmethoden von Carbonbeton gegeben. 1. Einführung 1.1 Geschichtliche Entwicklung Carbonbeton Seit Mitte der 90er Jahre wird Carbonbeton an verschiedenen Einrichtungen, wie beispielsweise der TU Dresden und RWTH Aachen, auf ihre baupraktische Anwendung untersucht. Basierend auf den anfänglichen Erkenntnissen wurden zwei Sonderforschungsbereiche (SFB) von 1999-2011 akquiriert. Im SFB 528 „Textile Bewehrungen zur bautechnischen Verstärkung und Instandsetzung“ in Dresden und SFB 532 „Textilbewehrter Beton - Grundlagen für die Entwicklung einer neuartigen Technologie“ in Aachen konnten maßgebliche Grundlagen zum Verbundbaustoff Textilbeton gewonnen werden [4],[5]. Seit 2005 fokussierte sich die Forschung zunehmend auf dem Einsatz von Carbonbewehrungen im Gegensatz zu Glasfaserbewehrungen [2]. Ab Mitte der 2000er Jahre konnten weiterhin zunehmend baupraktische Anwendungen, wie beispielsweise eine textilbewehrte Brücke in Oschatz [6] und die Sanierung der Hyparschale in Schweinfurt [7]. Von 2014 bis 2022 arbeiteten im Großforschungsprojekt Carbon Concrete Composite C³ bis 160 Partner an der Weiterentwicklung und Markteinführung von Carbonbeton [8]. Im Januar 2024 veröffentlichte der Deutsche Ausschuss für Stahlbeton (DAfStb) die Richtlinie für Betonbauteile mit nichtmetallischer Bewehrung [8]. 1.2 Baustoff Carbonbeton Bei der Materialkombination Carbonbeton handelt es sich um einen Beton, welcher mit einer nichtmetallischen stab- oder mattenartigen Bewehrung verbaut wird [9]. Somit werden im Carbonbeton keine ungerichteten, losen Kurzfasern im Vergleich zu Kurzfaserbeton verwendet, sondern aus Halbwerkzeugen, die aus verbundenen Endlosfasern bestehen. Die Bewehrungen bzw. Halbwerkzeuge übernehmen wie bei der herkömmlichen Stahlbetonbauweise die auftretenden Zugkräfte. Abb. 1: Mattenbewehrung aus Carbon [Foto: Stefan Gröschel] Wesentlicher Vorteil der Carbonbewehrung im Vergleich zur Stahlbewehrung ist der hohe Korrosionswiderstand. Da die Betondeckung - im Gegensatz zur Stahlbewehrung - auf ein Minimum reduziert werden kann, ist ein filigraneres und nachhaltigeres Bauen mit Carbonbeton möglich. In Kombination mit der erhöhten Lebensdauer 198 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung und der Robustheit reduzieren sich die Instandhaltungskosten über den Lebenszyklus eines Bauwerks bzw. verlängert sich die Nutzungsdauer des entsprechenden Bauwerks [2]. Ein weiterer Vorteil von Carbonbewehrungen ist die bis zu 6-fach höhere Zugfestigkeit im Vergleich zu Bewehrungen aus Stahl. Demzufolge kann der Bewehrungsquerschnitt der Carbonbewehrung im Verhältnis zur Stahlbewehrung geringer ausfallen - bei gleicher aufnehmbarer Zugkraft [2]. Ein Vergleich der Materialeigenschaften ist in der folgenden Tabelle 1 dargelegt. Tab. 1: Materialeigenschaften von Carbon- und Stahlbewehrung Stahl Carbon Zugfestigkeit in N/ mm² 550 3000* E-Modul in N/ mm² 210.000 230.000* Dichte in g/ cm³ 7,85 1,8* *[10] Die in Tab. 1 angegebenen Kennwerte für Carbonbewehrungen sind nur ein Ausschnitt aus der Bandbreite der mechanischen Eigenschaften. Die Eigenschaften sind u. a. von den Ausgangsmaterialien und den entsprechenden Verarbeitungbzw. Herstellungsprozessen abhängig [2]. Aufgrund der hohen Zugfestigkeiten, des Korrosionswiderstands und der geringen Dichte im Vergleich zum Baustahl, kann Carbonbeton neben dem Neubau auch zur Verstärkung von Gebäuden eingesetzt werden. Einige ausgewählte Beispiele werden im folgenden Kapitel genannt. Grenzen im Einsatz von Carbonbeton kann der Verbund zwischen Bewehrung und Beton darstellen. Da die Bewehrungsquerschnitte der Carbonbewehrungen angesichts der höheren Zugfestigkeit geringer ausfallen können, ist die Oberfläche, welche zur Übertragung der Zugkräfte dient, ebenfalls geringer. Eine Lösung für die Aufnahme der Verbundspannungen ist die Abstimmung von Bewehrung und Beton [2]. Ein weiterer Punkt ist die Temperaturbeständigkeit der umhüllenden Tränkung auf der Bewehrung. Die in der Bewehrung verarbeiteten Carbonfasern sind gegenüber hohen Temperaturen resistent [11]. Für die Sicherstellung des inneren und äußeren Verbunds sind die Fasermaterialien mit einer Tränkung (bspw. Epoxidharz) imprägniert. Nach der Richtlinie für nichtmetallische Bewehrungen [12] müssen die Tränkungen eine Glasübergangstemperatur von mindestens 80 °C besitzen. Beim Auftreten von höheren Temperaturen (zum Beispiel im Brandfall) kommt es zur Destruktion der Tränkung und darauffolgend zum Versagen des inneren und äußeren Verbunds der Bewehrung. Somit muss ein ausreichender Schutz der Bewehrung sichergestellt werden. Dies kann konstruktiv, materialtechnisch oder bereits im Entwurf erfolgen. 1.3 Anwendungsbeispiele Hyparschale Magdeburg Die 1969 in Magdeburg errichtete Hyparschale besteht aus vier zusammengesetzten hyperbolischen Paraboliden aus Stahlbeton. Insgesamt überspannen diese Paraboloiden stützenfrei eine Grundfläche von 48-m x 48-m mit einer Querschnittsdicke von nur 7-cm. Da eine konventionelle Instandsetzung aufgrund des Eigengewichts nicht in Frage gekommen ist, wurde eine 1-cm starke Verstärkungsschicht aus Carbonbeton an der Unter- und Oberseite aufgebracht [13]. Abb. 2: Verstärkungsarbeiten mit Carbonbeton an der Hyparschale in Magdeburg (Foto: M. Bredt) CUBE Das von 2021 bis 2022 geplante und ausgeführte Ergebnishaus des Forschungsvorhaben „Zwanzig20 - C3 Carbon Concrete Composite“ wurde ausschließlich nichtmetallische Bewehrung verwendet. Auf einer Bruttogrundfläche von 220 m² stellt der Experimentalbau die Praxistauglichkeit des Baustoffs Carbonbeton sichtbar dar. Neben der Verwendung von Fertigteilen aus Carbonbeton demonstrieren die zwei hellere, geometrisch identischen „TWIST- Schalen“ die freie Formbarkeit und geometrisch vielfältige Anwendbarkeit von Carbonbeton [14]. Abb. 3: C³-Ergebnishaus CUBE (Foto: Stefan Gröschel) Verstärkung der historischen Bogenbrücke Thainburg Die 1893 errichtet Stahlbetonbrücke zählt zu den ältesten Stahlbetonbrücken in Deutschland. Eine Verstärkung mit konventionellen Methoden war aufgrund des Denkmalschutzes nicht durchführbar. Mit Hilfe einer 6-bzw. 9-mm starken einfach bzw. doppelt bewehrten Carbonbetonschicht konnte das schlanke Erscheinungsbild der 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 199 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung Brücke bewahrt und der Korrosionsschutz der vorhandenen Stahlbewehrung sichergestellt werden [15]. Abb. 4: Ansicht der historischen Bogenbrücke Thainburg nach der Verstärkung mit Carbonbeton. (Fotos: CARBOCON GMBH) Verstärkung der Brücke Donauwörth Die 1968 errichtete Spannbetonbrücke besteht aus zwei Überbauten, welche jeweils mit zwei Feldern die die Donau überspannen. Die statischen Defizite der Brücke bezogen sich auf die Biegetragfähigkeit und den Torsionswiderstand. Für die Verstärkung der Biegetragfähigkeit kamen bis zu sechs Lagen Carbonbewehrung an die Hohlkastenunterseite zur Anwendung. Um den Torsionswiderstand zu erhöhen, wurde eine dreilagig bewehrte, 2 cm starke Verstärkungsschicht aus Carbonbeton angebracht [16]. Abb. 5: Brücke Donauwörth (Fotos: StBA Augsburg) Die hier beispielhaft genannten Bauwerke zeigen den steigenden Einsatz von Carbonbeton in der Praxis. Somit steigt auch die Herausforderung an, Carbonbeton nachhaltig zu verwerten und die Bestandteile erneut in den Wertstoffkreislauf einzubinden. 2. Abbruch und Recycling von Stahlbeton Die größten Massen an Baustoffabfällen entstehen in der Regel im Zuge der Abbrucharbeiten an Bauwerken oder Bauwerksteilen. Mit der Begrifflichkeit Abbruch ist dann häufig der Totalabbruch am Ende der Bauwerksnutzung mit der rückstandslosen Beseitigung aller technischen oder baulichen Anlagen gemeint [17]. Abbrucharbeiten beschränken sich jedoch nicht nur auf das Entfernen von Bauwerken oder Bauwerksteilen am Ende der Gebäudenutzungsdauer oder während eines Umbaus, sondern schließen auch den Einsatz der Betonbohr- und Trenntechnik zur Herstellung von Bauwerksöffnungen in der Bauphase mit ein [18]. Damit fallen Abbruchmassen bereits in der Herstellphase von Bauwerken und Bauwerksteilen an. Des Weiteren ist es notwendig, den Begriff „Recycling“ zu definieren und als Bestandteil in einem Gesamtprozess abzugrenzen. In einer weit ausgelegten Betrachtung kann das Recycling von Baustoffen folgende Teilschritte umfassen: • Sammeln der Abfallstoffe (zum Beispiel in Abfallcontainern), • Durchführung notwendiger Vorbehandlungsmaßnahmen (zum Beispiel Zerkleinerung oder Vorsortierung), • Auf bereitung der Stoffe (zum Beispiel durch Sortierung) und • Verarbeitung dieser Sekundärrohstoffe zu einem neuen Produkt (zum Beispiel Rückführung des Recyclingmaterial in den Produktionsprozess) [58]. Der Begriff Recycling soll jedoch enger betrachtet werden und sich an der Definition nach dem deutschen Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) [19] orientieren. Das Recycling bezeichnet demnach: „… jedes Verwertungsverfahren, durch das Abfälle zu Erzeugnissen, Materialien oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke auf bereitet werden […] nicht aber die energetische Verwertung und die Auf bereitung zu Materialien, die für die Verwendung als Brennstoff oder zur Verfüllung bestimmt sind.“. Vielmehr sollten alle Abfälle nach dem Recycling am besten auf dem gleichen Materialqualitätslevel, das im Zuge der ersten Materialnutzung vorlag, nutzbar sein. Das gleiche Materialqualitätslevel wird im Bauwesen zielsicher durch die direkte Wiederverwendung von beschädigungsfrei demontierten Bauteilen in einem anderen Bauwerk in der gleichen Funktion erreicht. Dies ist jedoch nur sehr selten möglich. Beispielsweise werden bisher nur sehr selten ganze Wand- oder Deckenbauteile demontiert und als Elemente beim Neubau in gleicher Form wiedereingesetzt [20]. Kann ein Bauteil nicht beschädigungsfrei demontiert und danach wiederverwendet werden, so ist die stoffliche Verwertung des Baumaterials, wobei die Eigenschaften des Materials wieder genutzt werden, anzustreben. Für diese stoffliche Verwertung ist die Zerkleinerung und die Materialauf bereitung mit der sortenreinen Trennung der Stofffraktionen von großer Bedeutung. Für Abbruch-, Rückbau- und Recyclingarbeiten an Bauteilen aus Beton, Stahlbeton oder Mauerwerk liegen vielfältige und umfassende Kenntnisse zu Verfahren [17], Geräte- und Maschinentechnologien [22], Arbeitsschutzmaßnahmen [23] und Kennwerten zu Maschinen- und 200 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung Arbeitsleistungen [24] vor. Insbesondere die Verfahren zum Abbruch und Recycling von Stahlbetonbauteilen sind hinlänglich bekannt und baupraktisch etabliert. Die Separation der Stahlbewehrung aus gebrochenen Stahlbetonbauteilen wird mit Magnetabscheidern effizient umgesetzt. und die stoffliche Verwertung des Stahlschrotts erfolgt im Elektrolichtbogenofen nahezu zu 100 % [25]. 3. Besonderheiten beim Abbruch und Recycling von Carbonbeton Die Substitution von Betonstahl durch textile Carbonfasern stellt eine Zäsur im Bauwesen dar, was unmittelbaren Einfluss auf die Abbruch- und Recyclingarbeiten mit bewehrten Betonbauteilen hat. Die im Bauwesen eingesetzte Menge an Carbonfasern verzeichnen seit dem Jahr 2014 eine jährliche Wachstumsrate von circa 16 % [26]. Dieser Trend und die bereits erfolgreich realisierten Carbonbetonbauwerke deuten darauf hin, dass zukünftig signifikante Carbonfaser-Rohstoffmengen in unseren Bauwerken gebunden sind, die am Ende des Lebenszyklus der Bauteile und Bauwerke recycelt werden müssen. Für das Recycling von Baustoffen existieren rechtlich geforderte Recyclingquoten. So müssen nicht gefährliche Bau- und Abbruchabfälle zu 70 % Massenanteil recycelt werden [20]. Kunststoffe müssen zu 85 % Massenanteil entfernt werden [26]. Für die Einhaltung dieser Anforderungen muss beim Recycling von Carbonbeton das Carbonfasermaterial im Recyclingprozesses durch geeignete Auf bereitungsverfahren vom Beton gelöst und in einem nachfolgenden Auf bereitungsprozess vom Beton separiert werden, damit der Beton und die Carbonbewehrung hochwertig verwertet werden können Für die Recyclingfähigkeit des Baustoffes Carbonbeton ist es daher sehr wichtig, dass sich die Komponenten Beton und Carbonbewehrung effizient voneinander trennen lassen. Abbruchmassen sind oft komplexe Gemische und beinhalten verschiedene Einzelstoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften. Diese Stoffe können auch stoffliche Gemeinsamkeiten besitzen, die eine effiziente Separation erschweren und spezifische Verfahren zur Trennung benötigen. Ohne detaillierte Kenntnisse zur Materialzusammensetzung und Charakteristik der Ausgangsstoffe ist die optimale Festlegung und Dimensionierung der Auf bereitungstechnik zum Erreichen der geforderten Qualität der Recyclingstoffe unter ökologischen und ökonomischen Randbedingungen nicht möglich [25]. Für das Anforderungsprofil an den Recyclingprozess für Carbonbeton muss bei der angestrebten stofflichen Verwertung des Abbruchmaterials Beton und Carbonfasern zwischen zwei Recyclingszenarien unterschieden werden: • Szenario 1: Auf bereitung des Abbruchmaterials durch das Brechen und das Separieren der Fraktionen; anschließende Verwertung der sortenreinen, aus dem Verbundmaterial separierten zwei Materialienfraktionen; • Szenario 2: Auf bereitung durch das Brechen des Abbruchmaterials ohne die Separation der Fraktionen; anschließende Verwertung des heterogenen und nicht sortenreinen Materials. Die Begriffsdefinition „Recycling im engeren Sinne“ spiegelt sich im ersten Szenario wider und beinhaltet die Notwendigkeit von Prozessen zur Separation der Fraktionen. Die Separation der einzelnen sortenreinen Fraktionen „auf bereitetes Betonrezyklat“ und „auf bereitete Carbonfaser“ verspricht die hochwertigsten Einsatzbereiche für die Sekundärrohstoffe [3]. Für das Recycling von konventionellen mineralischen Baustoffabfällen kommen mobile und stationäre Auf bereitungsanlagen zum Einsatz. Das mineralische Abbruchmaterial wird zu Sekundärrohstoffen mit einer definierten Korngrößenverteilung und stofflichen Zusammensetzung entsprechend der Qualitätsanforderungen verarbeitet. Die Anforderungen an die Sekundärrohstoffe resultieren aus den späteren Verwertungsbereichen. Die dabei notwendigen zentralen Prozessschritte umfassen das Zerkleinern, das Klassieren und das Abscheiden des Aufgabeguts. Die Verfahrenstechniken für das Zerkleinern und Klassieren (Schritte 1-und-3) wurden anfangs aus der Rohstoffgewinnung übernommen und für das Bauwesen nur leicht modifiziert. Für das Abscheiden von Störstoffen und Wertstoffen im Rahmen der Sortierung/ Separierung von Bauabfällen (Schritt 2) mussten jedoch baustoffspezifische Maschinen konzipiert werden [27]. Die Verfahrenstechnik für das Separieren reicht von einfachen Sieben und Rosten über Magnetabscheider bis hin zur Kamerabasierten Einzelkornsortierung. Im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte am Institut für Baubetriebswesen erfolgten umfangreiche Untersuchungen zum Recycling von Carbonbeton [3]. Dabei wurde in einem Großversuch das Carbonbetonabbruchmaterial der Zerkleinerung mit einem mobilen Backenbrecher (Typ Kleemann Mobicat MC 100 R EVO) zugeführt. Mit der Zerkleinerung entsteht ein heterogenes Baustoffgemisch, welches aus Betonfragmenten der Korngruppe 0/ 56 (abhängig von der Einstellung des Backenabstandes) und den freigelegten Carbonfragmenten mit einer durchschnittlichen Einzellänge von im Mittel 80 mm besteht. Der mit dem Backenbrecher erzielte Aufschlussgrad der Carbonfragmente aus der Betonmatrix liegt bei über 99 % [28]. Bereits mit dieser ersten Zerkleinerung konnte die ursprüngliche Vermutung, dass ein maßgeblicher Teil der Carbonbewehrungsfragmente an oder in den Betonfragmenten gebunden bleibt, widerlegt werden. Diese unerwünschte unaufgeschlossene Kompositmaterialfraktion als festes Konglomerat zwischen Betonmatrix und Carbonfragmenten ist nur sehr vereinzelt vorhanden und zeigt augenscheinlich einen Massenanteil von deutlich <-1-% der Gesamtmasse. Für den Recyclingprozess mit dem Teilziel der Zerkleinerung und einem möglichst vollständigen Aufschluss der Fraktionen für nachfolgende Auf bereitungsprozesse ist somit der experimentelle Nachweis erbracht, dass die üblicherweise eingesetzte Materialkombination bei Carbonbeton bei direktem mechanischem Angriff auch mit einer konventionellen mobilen Brecheranlage vollständig von der Betonmatrix trennen lässt. Im Ergebnis wird ein Aufschlussgrad von >-99-% ermittelt und im Abbruchmaterial liegen die Car- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 201 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung bonbewehrung und die Betonmatrix getrennt voneinander vor (siehe Abb. 6) [3]. Abb. 6: Ergebnis der Zerkleinerung von Carbonbetonbauteilen Ein Auszug der Ergebnisse zur Charakterisierung des Abbruchmaterials ist in Tabelle 2 dargestellt. Grundlage der Angaben zu den Einzellängen der Carbonfragmente (Garnfragmente) sind Messungen von jeweils 1.000 Carbonbewehrungsfragmenten [29]. Tab. 2: Charakterisierung des 0/ 56er Abbruchmaterials Charakterisierung des Abbruchmaterials Typ 0/ 56er Massenanteil Beton und weitere Betonprodukte + andere gebundene und ungebundene Gesteinskörnungen ≥-97-% Rohdichte mineralischer Anteil (Beton trocken) 2.290-kg/ m3 Rohdichte Anteil Carbonbewehrung (mit EP-Beschichtung) 1.800-kg/ m3 Korngröße mineralischer Anteil (Beton) 0 bis 56 mm Massenanteil sonstige Materialien: wie beispielsweise Kunststoff <-2-% davon Massenanteil Carbonbewehrung 1,0-% Längsspaltung der Carbonfragmente sehr selten Einzellänge der Carbonfragmente (5-%-Quantil) 40-mm Einzellänge der Carbonfragmente (50-%-Quantil) 80-mm Einzellänge der Carbonfragmente (95-%-Quantil) 400-mm Anders als die metallische Betonstahlbewehrung bestehen die Carbonfasern in der Carbonbewehrung aus graphitartig zusammengesetztem Kohlenstoff [30]. Die textile Carbonbewehrung gehört damit folglich nicht zur Gruppe der ferromagnetischen Metalle und die Sortierung im Magnetfeld kann daher nicht für die Separation von Carbonfasern im Recyclingprozess eingesetzt werden. Für die Separierung der Carbonbewehrung aus dem Abbruchmaterial müssen demnach alternativ Sortierverfahren eingesetzt werden. 4. Umsetzungsempfehlung Zur Sortierung des Mischguts wurden zahlreiche Sortierverfahren in Praxisuntersuchungen auf die Eignung zur Separation von Carbonfragmente aus dem Abbruchmaterial zerkleinerter Carbonbetonbauteile untersucht. Zu den untersuchten Verfahren gehörten die Querstromsichtung, die Wirbelstromsichtung, die Schwimm-Sink-Sortierung, die Manuelle Klaubung, die Nahfeldinfrarot-Sortierung und die Kamerabasierte Sortierung. Im Folgenden wird das als besonders geeignet eingeschätzte Verfahren zur erfolgreichen Separation von Carbonfragmenten aus dem vorliegenden Mischgut vorgestellt [3]. Die Separation mittels der Kamerabasierten Einzelkornsortierung wurde in einem Feldexperiment der Firma TOMRA Sorting GmbH durchgeführt. Ziel war Carbonfragmente im Abbruchmaterial mittels definierter Kriterien, wie Farbe, Form oder Zusammensetzung zu erkennen. Bei erfolgreicher Detektion sollen die Carbonfragmente mittels gerichteter Druckluftimpulse zielsicher und sortenrein aus dem Mischgut aussortiert werden. Als Separationskriterium verspricht das Merkmal „geometrische Form“ anders als das Merkmal „Farbe“ auch unter äußeren Einwirkungen, wie übermäßigen Staubanfall, eine hohe Sicherheit für die Detektion. Für die Definition charakteristischer Formkennwerte ist dem Kamerasensor eine repräsentative Probe des Abbruchmaterials zuzuführen und um jeden erkannten Körper virtuell eine minimale Begrenzungslinie im Rechteckformat zu modellieren. Die Fraktionen können leicht geometrisch unterschieden werden. Die Partikel in der Betonmatrix reichen von einer partikulären Korngröße von ≤ 0,125-mm bis zu Betonbrocken von 56 mm Größe. Diese Partikel zeigen eine kompakte Kubatur, wobei das Verhältnis von Breite zu Länge zwischen 50-% (5 %-Quantil) und 162-% (95-%-Quantil) liegt. Der Median beträgt 90-%. Die Carbonfragmente ähneln Drähten oder stiftförmigen Körpern und sind in der Regel eindimensional ausgedehnt. Das Verhältnis von Partikelbreite zu -länge liegt zwischen 4 % (5 %-Quantil) und 18 % (95 %-Quantil), mit einem Median von 9-%. Bei der ersten Sortierung konnte ohne vorherige Klassifizierung der mineralischen Feinbestandteile eine Carbonfaserausbringung von sehr guten 97,7 % erreicht werden (siehe Abb. 7). 202 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung Abb. 7: Ergebnis der Separierung durch die Kamerabasierte Sortierung Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen die Literaturangaben zur Ausbringquote von kamerabasierten Sortiersystemen. Demnach kann bei der Sortierung von Altglas eine Reinheit von bis zu 99,7 % bei der Sorte Weißglas erreicht werden [31]. Die Durchsatzleistung Kamerabasierter Sortierungen wird in der einschlägigen Literatur für Partikelgrößen von 3 mm bis 250 mm mit 2,0 Tonnen/ h bis 10 Tonnen/ h angegeben [25]. In der getesteten Anlage konnte eine Durchsatzleistung von 10 Tonnen/ h Carbonbetonabbruchmaterial bei gleichzeitig hoher Carbonfaserausbringung erreicht werden. Für noch größere Durchsatzleistungen können kamerabasierte Sortiermaschinen aus der Primärrohstoffauf bereitung eingesetzt werden, die mit einer Rutschenzuführung und Doppelseitendetektion arbeiten. Diese Sortieranlagen, die aus dem Bergbau stammen, ermöglichen in der Regel deutlich höhere Durchsätze als die getestete Bandmaschine. Es wurde erfolgreich nachgewiesen, dass der Abbruch von Carbonbetonbauteilen in der Praxis umgesetzt werden kann und die Zerkleinerung mit nahezu vollständigem Aufschluss der Carbonbewehrungsfragmente aus der Betonmatrix mithilfe herkömmlicher Maschinentechnik gelingt. Des Weiteren existieren Verfahren zur sortenreinen Separation der Fraktionen, die alle notwendigen Anforderungen für eine großtechnische Umsetzung erfüllen. 4.1 Wiederverwendung von Carbonbewehrung Die vom Beton getrennte Carbonbewehrung (Gelege oder Stäbe) können ebenfalls auf verschiedene Wege dem Wertstoffkreislauf erneut zugeführt werden. Im ersten Schritt müssen die Fasern von der umgebenden Matrix getrennt werden. Vereinfacht ausgedrückt kann das Trennen von Carbonfasern und Matrix nach [33] in drei Bereiche unterteilt werden. Die erste Möglichkeit ist die mechanische Auf bereitung. In diesem Fall werden beispielsweise die Carbonbewehrungen mechanisch in ihre Bestandteile zerlegt. Die zweite Möglichkeit ist das thermische Recycling. Bei diesem Verfahren werden hohe Temperaturen eingesetzt, um die Matrix vom Carbon zu trennen. Die dritte Möglichkeit ist die Solvolyse. Bei diesem Verfahren wird die Matrix mit Hilfe eines chemischen Lösungsmittels aus der Carbonfaser herausgelöst. Folgend werden die drei Verfahren kurz erläutert. Mechanisches Recycling von Carbon Die mechanische Auf bereitung ist das am häufigsten verwendeten Prinzip für das Recycling von Kohlenstofffasern. Nach [34] zerkleinern langsam laufende Schneidmühlen Altbauteile in Stücke von 50 mm bis 100 mm Größe. Im Vergleich dazu erzeugen schnelllaufende Mühlen Fragmente mit einer Größe von 50 μm bis 10 mm. Eine Klassifizierung der recycelten Materialien kann je nach Faser oder Matrix vorgenommen werden. Thermisches Recycling von Carbon Im Gegensatz zum Wirbelschichtverfahren werden die Kohlenstofffaserbestandteile in einem Pyrolyseprozess unter Ausschluss von Sauerstoff erhitzt. Dadurch wird die Matrix aus den einzelnen Fasern herausgelöst und zerfällt in einen gasförmigen und flüssigen Zustand. Je nach Faserverbundwerkstoff findet der Pyrolyseprozess zwischen 450 °C und 550 °C statt. Da die Temperatur unterhalb der Zersetzungstemperatur von Kohlenstofffasern (> 600 °C) liegt, eignet sich das Pyrolyseverfahren sehr gut für die Trennung von Matrix und Kohlenstofffasern [35]. Der Nachteil der Pyrolyse kann sein, dass Rückstände (wie oxidierte Matrix) auf den einzelnen Kohlenstofffasern verbleiben [34]. Außerdem kann die Oberfläche der Kohlenstofffasern trotz des Temperaturunterschieds beschädigt werden [35]. Um Rückstände von den Fasern zu entfernen, können die Fasern oxidiert oder gewaschen werden [34]. Die Temperatur kann je nach Art der Kohlenstofffasern variieren. Chemisches Recycling von Carbon Beim chemischen Recycling wird das Verbundmaterial in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, indem es in chemischen Lösungen wie Säuren, Basen und Lösungsmitteln aufgelöst wird. Je nach Art des Verbundmaterials kann eine andere Behandlung erforderlich sein. Um eine bessere Trennung zwischen Fasern und Matrix zu erreichen, werden die Komponenten zuvor mechanisch zerkleinert. Dadurch wird die Oberfläche vergrößert, die mit den chemischen Lösungen reagieren kann. Generell kann das chemische Recycling in zwei Kategorien unterteilt werden. Bei der ersten Kategorie werden Lösungsmittel verwendet, um die Matrix aus den Fasern zu entfernen (Solvolyse). Bei der zweiten Kategorie wird Wasser verwendet, um die Matrix aus den Fasern zu entfernen (Hydrolyse). Die Solvolyse bietet aufgrund der Verfügbarkeit verschiedener Lösungsmittel eine Vielzahl von Möglichkeiten für die Verarbeitung des Verbundmaterials. Durch die Kombination von Temperatur, Druck und Katalysatoren kann die Matrix der Fasern sehr gut gelöst werden [36]. Der Vorteil des chemischen Recyclings ist, dass lange Fasern zurückgewonnen werden können [34]. Außerdem weisen die recycelten Fasern eine Zugfestigkeit auf, die der von neuen Fasern nahe kommt [36]. Der Solvolyseprozess kann in überkritische, unterkritische und nahkritische (Umgebungs-) Prozesse unterteilt werden [33]. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 203 Recycling von Carbonbeton - Eine verfahrenstechnische Betrachtung Literatur [1] Curbach, M. et al. [Hrsg.] (2022) Cube - Neues Bauen mit Carbonbeton. Berlin: Verlag Wasmuth & Zohlen. [2] Curbach, M. [Hrsg.] (2023) Handbuch Carbonbeton - Einsatz nichtmetallischer Bewehrung. Berlin, Germany: Ernst & Sohn. [3] Kortmann, J. (2020) Verfahrenstechnische Untersuchungen zur Recyclingfähigkeit von Carbonbeton. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. [4] Curbach, M. und Ortlepp, R. (Hrsg.) (2011). 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Konstruktionsgruppe Bauen AG, Stuttgart Zusammenfassung Die Heini-Klopfer-Skiflugschanze in Oberstdorf ist die einzige Skiflugschanze Deutschlands und eine von nur vier Anlagen weltweit, welche die aktuellen Standards der FIS erfüllen. Ursprünglich im Jahr 1949 erbaut und mehrfach modernisiert, wurde sie 1973 durch ein Bauwerk aus vorgespanntem Leichtbeton ersetzt. Dieses Bestandsbauwerk ist eine weit auskragende, vorgespannte Hohlkastenkonstruktion auf einer massiven Bodenplatte, die mittels Felsanker rückverankert ist. Im Rahmen der Generalsanierung 2016 wurde die Skiflugschanze an die neuen FIS-Anforderungen angepasst, darunter eine Neugestaltung des Schanzenauf baus, des Schanzentischs und des Aufsprunghangs sowie eine Einhausung der Plattformen am Schanzenkopf. Die detaillierte Nachrechnung des Bestandsbauwerks auf Basis aktueller Normen war aufgrund der Komplexität eine besondere Herausforderung. Trotz höherer Lasten konnte die Standsicherheit und damit die Zukunftsfähigkeit des Schanzenbauwerks nachgewiesen werden. Die Befestigung von Spurunterkonstruktion und Brüstungen auf der Leichtbetonunterkonstruktion erfolgte unter Berücksichtigung der Spannglieder mittels einer sorgfältigen Spanngliedortung. Die Funktionalität und Praxistauglichkeit der Skiflugschanze wurde durch erfolgreiche Veranstaltungen wie die Vor-WM 2017 und die Skiflug-WM 2018 unter Beweis gestellt. Die Anlage ist als „schiefer Turm“ ein bedeutendes Symbol für Oberstdorf und ermöglicht neben der sportlichen Nutzung im Winter eine ganzjährige touristische Nutzung. 1. Einführung Die Geschichte der Heini-Klopfer-Skiflugschanze reicht bis ins Jahr 1949 zurück. Im Jahr 2016 wurde die Leichtbetonkonstruktion aus dem Jahr 1973 umfassend saniert und an die aktuellen Anforderungen der FIS angepasst. Dabei war die Generalsanierung und Instandsetzung der Skiflugschanze ein äußerst anspruchsvolles Projekt, das nur in enger Zusammenarbeit zwischen Objektplanung und interdisziplinärer Tragwerksplanung aus einer Hand-- von der Bestandserkundung über die Neu- und Umbauplanung, die Bestandsnachrechnung, die Betonsanierung, bis hin zur Berechnung geotechnischer Sondermaßnahmen - realisiert werden konnte. Im Folgenden sollen ein Überblick über die Herausforderungen des Projektes gegeben und innovative Lösungsansätze bei der Planung und Umsetzung vorgestellt werden. Von der Bestandsanalyse über die Nachrechnung bis zur Ausführung werden die technischen Aspekte der Sanierungsmaßnahme erläutert. 2. Historie der Bestandsbauwerke Schon die ursprüngliche Schanze, die als Holzkonstruktion in nur 5 Monaten erbaut wurde, stellte bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1950 einen Meilenstein auf dem Weg zum Skifliegen dar. Vorangetrieben wurde das damals visionäre Projekt von dem berühmten Trio aus Oberstdorfer Springern - Toni Brutscher, Sepp Weiler und Heini Klopfer. Deren Anspruch war kein geringerer, als eine Anlage zu schaffen, die alles Bisherige übertreffen sollte. [1] 1971 wurde von der FIS (Fédération Internationale de Ski) das Skifliegen anerkannt. Für die Skiflug-weltmeisterschaft 1973 in Oberstdorf wurde die bestehende Schanzenanlage durch ein neues Bauwerk in Leichtbetonbauweise ersetzt. In einer Bauzeit von nur 6 Monaten entstand die neue Skiflugschanze mit ihrer 145 m langen Anlauf bahn bis zum Schanzentisch und einem Höhenunterschied vom höchsten Anlaufpunkt bis zum Auslauf von 189 m. [1] Im Laufe der Jahre wurden immer wieder Verbesserungen und Modernisierungen am Schanzenbauwerk vorgenommen, um die Sicherheitsstandards zu erfüllen und die Schanze auf dem neuesten Stand der Technik zu halten. [1] Mit dem großen Umbau und der Generalsanierung im Jahr 2016 wurde die Schanze weiter optimiert und an die aktuellen Anforderungen der FIS angepasst. Insbesondere der gesamte Schanzenauf bau, der Schanzentisch und der Aufsprunghang einschließlich des Auslaufs wurden neu gestaltet, um den Bedürfnissen des modernen Skifliegens gerecht zu werden. [1] 208 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen Abbildung 1: Ansicht Anlauf bauwerk mit Unterteilung der Vorbauabschnitte 3. Beschreibung des Bestandsbauwerks Bei dem bestehenden Schanzenbauwerk aus dem Jahre 1973 handelt es sich um eine weit auskragende, im Freivorbau hergestellte, vorgespannten und felsverankerten Leichtbetonkonstruktion. [2] Der Schanzenturm wurde als Kragträger mit einer geneigten Länge des gesamten Obergurtes von 95 m ausgeführt. Die mittlere Neigung des Kragarmes beträgt 39°. Der Schanzenkopf liegt ca. 60 m über dem Gelände. Bei dem Turmbauwerk handelt es sich um einen einzelligen Hohlkastenquerschnitt mit beidseitigen Kragarmen am Obergurt. Der Querschnitt des Hohlkastens ist durch die gegensätzlichen Radien über die Höhe veränderlich und weitet sich vom Schanzenkopf zum Schanzenfuß auf. Im Schanzenkopf bereich wandelt sich, aufgrund der dort angeordneten Plattformen und deren Zugänglichkeit, der geschlossene Hohlkasten in einen offenen U-förmigen Querschnitt. Die Dicke des Obergurtes, welcher durch den Spurauf bau als Anlauf bahn fungiert, beträgt konstant 24 cm, die Untergurtdicke beträgt bei Oberkante der Gründungsplatte 2,56 m, ab dem ersten Vorbauabschnitt 60 cm und verjüngt sich zum Schanzenkopf hin weiter auf 20 cm. [2] Der Obergurt ist in Längsrichtung zusätzlich zu einer schlaffen Längs- und Querbewehrung mit insgesamt 80 Einzelspanngliedern Ø32, St 85/ 105 von unten nach oben abnehmend vorgespannt. Die Spannanker sind im vorderen Massivbereich des Schanzenfußes angeordnet. Zur Endverankerung im Turmbereich mittels Plattenverankerung wurden die Spannglieder jeweils kurz vor der Ankerstelle in Richtung Steg geführt. Aufgrund der abschnittsweisen Herstellung sind die Spannglieder nach jedem Bauabschnitt durch Muffenstöße gekoppelt. Die seitlichen Stege sowie der Untergurt wurden mit einer schlaffen Längs- und Querbewehrung ausgeführt. Letztere wurde zur Schubsicherung der Arbeitsfugen orthogonal zur Längsbewehrung angeordnet. [2] Der Spannleichtbeton, die Verankerung im Felsen sowie der freie Vorbau schräg nach oben in Verbindung mit der äußerst kurzen Bauzeit von 6 Monaten machen den Kragarm zu einem bemerkenswerten Bauwerk. [2] Durch die Ausführung des Turmbauwerkes mit hochfestem Leichtbeton und dem damit verbundenen geringeren Eigengewicht konnten Konstruktionsvorteile erzielt werden, die sich insbesondere in Einsparungen bei den Spannstählen und Ankern bemerkbar machten. Die wirt- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 209 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen schaftlichen Vorteile infolge der Verwendung von Leichtbeton waren mit 3 % der Bausumme überraschenderweise sehr gering. Die Einsparungen bei Spannstählen und Ankern wurden durch die Mehrkosten des Leichtbetons vermindert. [2] Abbildung 2: Querschnitt des Hohlkastens Die Gründungsplatte und das erste Taktelement (Eingangsebene) wurden in Normalbeton, die weiteren Taktelemente bzw. Vorbauabschnitte 1 bis 11 wurden in Leichtbeton erstellt. Die Zielgröße für den Leichtbeton entsprach einem LBn 400, wie es in der damals gültigen Richtlinie für Leichtbeton und Spannbeton festgelegt war. Das Gewicht des bewehrten Leichtbetons wurde mit 1,8 Mp/ m³ (in etwa 18 kN/ m³) angesetzt. Da zum Zeitpunkt der Herstellung im Jahr 1973 keine Ausführungserfahrung mit einem Leichtbeton dieser Güte vorlag, wurden 25 Eignungsprüfungen mit 12 verschiedenen Betonmischungen und den entsprechenden Baustellenversuchen durchgeführt. Schließlich wurde noch eine Probewand unter den Herstellbedingungen auf der Baustelle erstellt. [2] Am oberen Ende des Kragarmes sind zwei horizontal nach hinten auskragende Plattformen angeordnet. Diese wurden parallel zu den Vorbauarbeiten des Turmbauwerks als Fertigteile am Boden übereinander hergestellt und anschließend mit Winden nach oben gezogen und am Kragträger mit Betonplomben und jeweils vier Spannstäben St 85/ 105 befestigt. [2] Aufgrund der kurzen Bauzeit von 6 Monaten wurde die Konstruktion im Freivorbau erstellt. Für den freien Vorbau schräg nach oben wurde ein besonderer Vorbauwagen konzipiert, welcher die Arbeitsbühnen und im Betonierzustand die auskragende Betonlast abzutragen hatte. Auf dem Vorbauwagen war die Bodenschalung des Untergurtes fest montiert. Alle weiteren Schalelemente wurden jeweils mit dem Kran umgesetzt. Das Vorfahren zum nächsten Betonierabschnitt konnte innerhalb weniger Stunden realisiert werden. Die Einbringung und Verdichtung des Leichtbetons mit Außenrüttlern musste innerhalb von 3 Stunden abgeschlossen sein, da der Beton dann zu erhärten begann. Für das Vorfahren des Vorbauwagens war eine Betonfestigkeit von 25 MN/ m² erforderlich. Dies war im Regelfall in 2 bis 2,5 Tagen erreicht. An Frosttagen - die Vorbauarbeiten waren Ende November 1972 abgeschlossen - wurde von unten Warmluft in den Hohlkasten eingeblasen. Für die Vorbauarbeiten konnte nach einer Anlaufzeit bei den ersten Abschnitten eine Taktung von jeweils einer Woche für die Vorbauschritte erzielt werden. [2] Aufgrund der sehr guten Baugrundverhältnisse konnte das Schanzenbauwerk als Kragträger realisiert werden. Das Fundament des Anlaufturmes ist 22 m lang, 5-m breit und 3 m hoch. Es ist im Felsen aus Kalksandstein und Quarzit gegründet und greift in der bergseitigen Hälfte bis zu 3 m in den Felsen ein. Der Fels wurde dafür schichtweise im Sprengvortrieb ausgebrochen. Im Einbindungsbereich wurde das Fundament vollflächig auf den Felsen betoniert. Die Rückverankerung des Fundaments erfolgt über 40 Felsanker aus St 85/ 105, Durchmesser 32 mm. Die Anker sind am luftseitigen Ende des Fundaments in einem Bereich von 5 m x 3 m angeordnet. Sie sind als Freispielanker mit einer freien Ankerlänge von 8,90 m sowie einer Verpresslänge von 4,90 m ausgebildet und mit einer Vorspannung von 600 N/ mm² versehen. Die Neigungswinkel der Anker gegenüber der Lotrechten betragen 0° bis 20°. Durch diese fächerförmige Anordnung soll ein möglichst großer Gebirgskörper zur Lastabtragung herangezogen werden. Bei der Bemessung wurde ein Vorspannkraftverlust von 15 % durch Kriechen und Schwinden berücksichtigt. Unter ständiger Last stellt sich keine klaffende Fuge ein. Die Sohldruckspannung beträgt in diesem Lastfall ca. 600 kN/ m². Für den Lastfall Gesamtlast liegt die berechnete maximale Sohldruckspannung mit 1330 kN/ m² noch unter dem für den Baugrund empfohlenen Richtwert von 1500 kN/ m². Der in der luftseitigen Fundamenthälfte in Achslängsrichtung angeordnete Sporn von 5 m Länge, 1,7-m Tiefe und 1,5 m Breite nimmt in der Gründungssohle zusammen mit den Reibungskräften in der Druckzone das um die Senkrechte zur Gründungsebene drehende Moment aus Windlast auf. [3] 210 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen Abbildung 3: Gründungskörper mit Felsankern Um ein unangekündigtes Versagen der Tragfähigkeit des Sprungturmkragarms durch den Ausfall von Felsankern auszuschließen, wurden von den 40 Felsankern 5 als Prüfanker ausgebildet. Durch ein Monitoringkonzept bestehend aus einer wieder-kehrenden Kraftmessung der Prüfanker und dem daraus resultierenden Rückschluss auf die Kräfte der übrigen Anker sowie einer wiederkehrenden Höhenmessung des Fundamentkörpers soll ein Versagen der Anker rechtzeitig erkannt werden. [3] 4. Generalsanierung und Revitalisierung Die Konzeption und Umsetzung der Generalsanierung orientierte sich an den gegebenen Randbedingungen der bestehenden Schanzenanlage und deren Anpassung an die neuen Anforderungen der FIS hinsichtlich Anlaufgeometrie, Komfort und Sicherheit. Die Erfüllung der FIS-Regularien erforderte eine komplette Neugestaltung des Aufsprunghangs, des Schanzentisches, der Anlaufspur und des Wärmeraumes am Schanzenkopf sowie die Neugestaltung der Infrastruktur im Auslauf bereich mit den dazugehörigen Stadion- und Geländeflächen im Sinne einer langfristigen Zukunftsfähigkeit. Der bestehende Schanzentisch wurde vollständig rückgebaut und durch eine Brückenkonstruktion als oberstes Ende des Aufsprunghangs mit aufgeständertem neuem Schanzentisch ersetzt. Die Brückenkonstruktion ist im hangseitigen Bereich auf Mikropfählen gegründet und wurde als Stahlkonstruktion mit einer oberseitigen, erdüberschütteten Stahlbeton-Verbundplatte hergestellt. Der neue Schanzentisch wurde als Stahl-Fachwerkkonstruktion ausgeführt. Charakteristisches Merkmal der Konstruktion sind die V-förmigen Rundstützen. Abbildung 4: Schanzentisch mit Brückenbauwerk ©-Eva Bartussek Die bestehende Anlaufspur- und Geländerkonstruktion auf dem Anlaufbauwerk wurde vollständig rückgebaut und durch eine neue, der gewünschten Gradiente folgenden, teils aufgeständerten Stahlkonstruktion ersetzt. Die Neukonstruktion im Bereich der Startstufen wurde beidseits verbreitert, die Brüstungshöhen in diesem Bereich wurden vergrößert. Der Wärmeraum am Schanzenkopf wurde erweitert und mit einer neuen Fassade versehen. Aufgrund der elementierten Montage vorgefertigter Bauteile konnte eine äußerst kurze Bauzeit ohne zusätzliche Montagegerüste realisiert werden. So konnte auch den hohen Anforderungen an die Präzision der Unterkonstruktion der schanzentechnischen Aufbauten Rechnung getragen werden. Das Profil des Aufsprunghanges präsentiert sich neu modelliert und an die Anforderungen einer hangnahen Flugkurve angepasst. Der Auslaufbereich wurde vergrößert und eine Tribünenanlage mit Geländestehplätzen errichtet. Mit der Generalsanierung der Skiflugschanze sollte in Anlehnung an die Einzigartigkeit des bestehenden Schanzenbauwerks ein weithin sichtbares Objekt geschaffen werden, das auch in den kommenden Jahrzehnten seinen Symbolcharakter für Oberstdorf behält. Die gestalterische Grundidee greift das Thema Fliegen auf. So entstand zum einen die abstrahierte Ausformulierung des Schanzenkopfes als „Adlerhorst“, zum anderen das rote Band, das dem Anlauf der Schanze folgt und den Flug eines Adlers zum Ausdruck bringen soll. 5. Nachrechnung Für das bestehende Anlauf bauwerk wurde aufgrund von Mehrflächen durch die geometrische Umgestaltung der Brüstungen sowie der Einhausung des Wärmeraumes und den daraus resultierenden höheren Lasten eine detaillierte Nachrechnung auf Basis der aktuell gültigen Normen erforderlich. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 211 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen Beim Neubau der Schanze im Jahr 1973 wurde ein Sondervorschlag der ausführenden Firma umgesetzt, welcher eine optimale Ausnutzung der verwendeten Materialien als Zielsetzung hatte. Dementsprechend anspruchsvoll gestaltete sich die Nachrechnung des Anlauf bauwerkes und verlangte eine Vielzahl innovativer Ansätze. Hierfür wurde das Leichtbetonbauwerk durch ein gemischtes Modell mit Schalen-, Volumen- und Stabelementen abgebildet. Für die Vorspannung wurden alle 80 Spannstränge im Obergurt einschließlich deren Exzentrizitäten einzeln modelliert. Die Materialien wurden den Bestandsunterlagen entnommen und auf Basis des Gutachtens der TU München von 1972 über die materialbedingten Grundwerte des Leichtbetons LBn 400 für die statische Berechnung sowie in Anlehnung an die „Richtlinie zur Nachrechnung von Straßenbrücken im Bestand“ den Materialeigenschaften nach DIN EN 1992 zugeordnet. Für die Vorbauabschnitte VA1 bis VA11 wurde demnach ein LC50/ 60 zugrunde gelegt. Beim Hohlkasten oberhalb der Gründung (VA0) wurde ein C35/ 45 und für die Gründung ein C20/ 25 angesetzt. Die seinerzeit verwendeten Rundstähle entsprechen einem Stabstahl B420-B. Für die Spannstähle St 85/ 105 ergibt sich auf Basis der vorliegenden Zulassungen mittels Umrechnungsfaktor 1 kp = 9,81 N eine Streckgrenze von 835 N/ mm² und eine Zugfestigkeit von 1030 N/ mm². Die abschnittsweise Herstellung des Kragarmes im Freivorbau wurde im Modell durch die Eingabe sukzessiv angebauter Vorbauabschnitte und der sich daraus ergebenden Kriechberechnungen berücksichtigt. Die Vorspannung wurde jeweils entsprechend den im Vorbauabschnitt verankerten Spanngliedern mit einer angenommenen Spannung der Vorspannkraft von 580 N/ mm² aufgebracht. Das Rechenmodell wurde zunächst unter Berücksichtigung der bisherigen Lasten sowie der Einflüsse aus Kriechen und Schwinden mit der vorliegenden Bestandsstatik abgeglichen und kalibriert und anschließend mit den neuen Lasten auf Basis der aktuellen Normung beaufschlagt. Zusätzliche Lasten ergaben sich insbesondere durch die Vergrößerung der Plattformen und die Anordnung einer geschlossenen Fassade zur Ausführung eines Wärmeraumes am Turmkopf, durch die beidseitige Verbreiterung der Startstufen sowie durch die Ausbildung höherer seitlicher Brüstungen mit geschlossener Blechverkleidung. Als besondere Herausforderung musste in diesem Prozess auch die Schwingungsanfälligkeit untersucht werden. Im Ergebnis gelang durch die detaillierte Modellbildung und Nachrechnung trotz oder gerade infolge des höheren Lastniveaus der Nachweis einer ausreichenden Standsicherheit. Auffällig war im Ergebnis, dass der ermittelte Ausnutzungsgrad bei der Bestandssituation höher als bei der Instandsetzungsmaßnahme ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die maximale Beanspruchung der schlaffen Bewehrung bei der Kombination Wind in Querrichtung im Untergurt und dem zugbeanspruchten benachbarten Steganteil auftritt. Durch die Instandsetzungsmaßnahme werden mehr Aufbaulasten aufgebracht und somit größere Druckbeanspruchungen am unteren Querschnittsrand erzeugt. Der Anteil der zu ersetzenden Zugbeanspruchung durch schlaffe Bewehrung wird dadurch geringer. Ertüchtigungsmaßnahmen wären, wenn überhaupt ausführbar, kosten- und zeitintensiv gewesen und hätten zusätzlich zu einer Reduzierung der Umgestaltungsmaßnahmen geführt. Der Erfolg der detaillierten Nachrechnung war somit ausschlaggebend für die Machbarkeit der Generalsanierung und damit für die Zukunftsfähigkeit der gesamten Sprunganlage. 6. Spanngliedortung und neue Spur Eine weitere Herausforderung stellte die Befestigung der Spurunterkonstruktion und der Brüstungen auf der Leichtbetonunterkonstruktion dar. Zum einen musste für die Befestigung der Stahlkonstruktion eine Zustimmung im Einzelfall für die Dübel erwirkt werden, zum anderen eine Beschädigung der sehr dicht liegenden Spannglieder ausgeschlossen werden. Es wurden Stahl-Auflagerschuhe geplant, die mit der erforderlichen Flexibilität eine Anpassung auf die örtlichen Gegebenheiten zulassen. Die Fußplatte dieser Stahl-Auflagerschuhe ist mit insgesamt 14 Bohrungen versehen, so dass flexibel auf die Bewehrungs- und insbesondere die Spanngliedlagen reagiert werden konnte. Nach der Einmessung der Achsen für die Auflagerschuhe auf dem Obergurt des Hohlkasten-querschnittes erfolgte vor Ort eine durch Seiltechnik gesicherte Spanngliedortung mittels Radargeräts. Die Achspunkte der Auflagerschuhe waren durchgängig der Bezugspunkt für die Aufnahmen, Auswertungen und für die Montage. Abbildung 5: Radarmessung zur Spanngliedortung Um die Spanngliedlagen von der schlaffen Bewehrung zweifelsfrei unterscheiden zu können, wurden die bei der Radarmessung vor Ort für jeden einzelnen Auflagerpunkt aufgenommenen Messergebnisse mit den maßstäblich in die Bestandspläne übertragenen Messbereichen verglichen. 212 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen Abbildung 6: Abgleich der Radarmessung mit Plangrundlage Durch die Messtechnik konnten zudem die einzelnen Spannglieder auch durch die Tiefenlage im Querschnitt bestimmt werden. Insgesamt zeigte sich eine sehr gute Übereinstimmung der vor Ort detektierten Spanngliedlagen mit der vorliegenden Plangrundlage. In einem nächsten Schritt wurden die Maße der für die Ausführung der Bohrungen konzipierten Bohrschablone in die Radaraufnahme eingespielt. So konnten für jeden einzelnen Auflagerpunkt die zulässigen Bohrlöcher bestimmt und in einer Tabelle festgehalten werden. Mit Hilfe der Bohrschablone und der zugehörigen Bohrtabelle war es der ausführenden Firma möglich, die Dübel ohne Risiko für die Spannglieder zu setzen und anschließend die Auflagerschuhe zu montieren. Ohne den Einsatz modernster Technologien wäre eine Befestigung der Stahlkonstruktion mit einer derartigen Vielzahl von Dübeln nicht schadensfrei möglich gewesen. Abbildung 7: Bohrschablone Abbildung 8: Bohrtabelle nach Auswertung der Radarmessungen 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 213 Generalsanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze - Herausforderungen und innovative Lösungen 7. Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit Die Schanzenanlage liegt in das bestehende Gelände eingebettet im landschaftlich reizvollen Stillachtal, umgeben von den Allgäuer Bergen. Die gesamte Umbaumaßnahme bewegte sich im alten Baufeld, wodurch keine weiteren Flächen erschlossen werden mussten, und der gesamte Baumbestand erhalten werden konnte. Trotz der geänderten Anforderungen an eine moderne Skifluganlage mit neuen Parametern wurde im Rahmen der Profilplanung die maximale Einbeziehung des Bestandes angestrebt. Durch das Aufsetzen der neuen Anlaufgeometrie auf das bestehende Spannbetonbauwerk und der detaillierten Nachrechnung konnte einerseits eine ressourcenschonende Umsetzung der Baumaßnahme erreicht werden, andererseits aber auch das beeindruckende Spannbetonbauwerk nicht nur erhalten, sondern auch für weitere Jahrzehnte nutzbar gemacht werden. Neben der bei der Umsetzung berücksichtigten Umweltverträglichkeit unterstreicht nicht zuletzt die ganzjährige touristische Nutzung die gesteigerte Nachhaltigkeit. Der Rückbau und Neubau hätten neben einer deutlich längeren Planungs- und Genehmigungszeit um ein Vielfaches höhere Kosten verursacht. Darüber hinaus wären bei der Bauausführung umfassendere Eingriffe in das Areal erforderlich gewesen. Mit Gesamtkosten in Höhe von 13,4 Mio. € brutto steht die erzielte Nachhaltigkeit im Einklang mit Wirtschaftlichkeit und einem ausgewogenen Kosten-Nutzen-Verhältnis. 8. Zusammenfassung und Ausblick Die Heini-Klopfer-Skiflugschanze war und ist eine Pionierleistung in der Geschichte des Skispringens und hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur als einzigartige Sportstätte, sondern auch als Symbol für Innovation und Beständigkeit etabliert. Seit ihrem ersten Bau wurde die Schanze kontinuierlich verbessert und modernisiert, um den sich wandelnden Anforderungen des Skifliegens gerecht zu werden. Das bestehende Bauwerk aus dem Jahr 1973 mit seiner imposanten Leichtbetonkonstruktion ist ein ingenieurtechnisches Meisterstück, welches nicht zuletzt durch die detaillierte und komplexe Nachrechnung sowie den innovativen Einsatz moderner Messtechnik erhalten werden konnte. Im Rahmen der Generalsanierung wurden dabei zum einen die Sicherheitsstandards erhöht, zum anderen auch die Infrastruktur rund um die Schanze verbessert, um eine langfristige Zukunftsfähigkeit zu gewährleisten. Die Sanierung der Heini-Klopfer-Skiflugschanze erfolgte nicht nur unter dem Aspekt der Funktionalität und Gebrauchstauglichkeit, sondern auch unter Berücksichtigung von Umweltverträglichkeit, Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Kosten-Nutzen-Verhältnis. Das Ergebnis ist eine Schanze, die einerseits ihre historische Bedeutung bewahrt, andererseits auch den Anforderungen des modernen Skisports gerecht wird. Mit der Austragung der Vor-WM 2017 und der Skiflug-WM 2018 konnte die neue Sprunganlage nicht zuletzt durch die Aufstellung eines neuen Schanzenrekordes deren Funktionalität und Praxistauglichkeit eindrucksvoll unter Beweis stellen. Abbildung 9: Skiflugschanze nach Generalsanierung © Eva Bartussek Literatur [1] „Skiflugschanze Oberstdorf,“ [Online]. Available: https: / / www.skiflugschanze-oberstdorf.de/ geschichte/ . [2] Dipl.-Ing. H. Bomhard und Dipl.-Ing. J. Sperber, „Der felsverankerte Spannleichtbeton-Kragarm der Skiflugschanze Oberstdorf und Betrachtungen zur Anwendbarkeit und Beanspruchbarkeit von Konstruktionsleichtbeton“, Beton- und Stahlbeton, Bd. 5, 1973. [3] Prof. Dr.-Ing. G. Knittel, „2. Bericht über die statische Prüfung der Schanze“, 1972. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 215 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk Prof. Dr.-Ing Sylvia Stürmer HTWG Konstanz Dipl.-Ing. Claudia Neuwald-Burg Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB, Stuttgart Zusammenfassung Der Artikel befasst sich mit den Möglichkeiten für die Weiterverwendung und Wiederverwendung von Ziegeln und -mauerwerk aus bestehenden Gebäuden - als ein wertvoller Beitrag zur Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit. Für die Weiternutzung ist entscheidend, dass die Tragfähigkeit und die Dauerhaftigkeit sichergestellt sind. Die Entscheidung über die Weiternutzung von Mauerwerk, Mauerwerksteilen oder Abbruchziegeln muss immer auf die individuelle Situation des Gebäudes, seine Umgebung, Nutzung und die klimatischen Randbedingungen abgestimmt werden. Die Autorinnen zeigen Beispiele und erläutern, welche technischen Regelwerke für die Bewertung verwendet werden können. Für die Wiederverwendung von Ziegeln werden Prüf- und Bewertungsmethoden vorgestellt. 1. Einleitung Angesichts des CO 2 -Problems, der Rohstoffknappheit und des auch immer knapper werdenden Deponieraums sind bei Neubauten nachhaltige Entwürfe, Baumaterialien und Bauverfahren gefordert. Aufgrund des großen Gebäudebestands stehen der verantwortungsvolle Umgang mit bestehenden Gebäuden und deren Abbruchmaterialien ebenso im Fokus. Die Weiternutzung oder Umnutzung von bestehenden Gebäuden hat das größte Nachhaltigkeitspotenzial. Es kann jedoch verschiedene Gründe geben, das Mauerwerk mit seinen technischen Leistungsgrenzen und den vorhandenen Bauteilgeometrien nicht erhalten zu können. Dann sollte die Wiederverwendung der Ziegel angestrebt werden. Dies setzt voraus, dass sie unbeschädigt aus dem Mauerwerk entfernt und möglichst rückstandsfrei von anhaftenden Mörtel- und Putzresten gereinigt werden können. Neben dem Aufwand für die sortenreine Trennung können die Qualitätskontrolle und die Logistik Hemmnisse bei der Wiederverwendung von ganzen Ziegeln sein. In den meisten Fällen wird das Abbruchmaterial daher zu Splitt verarbeitet. Je besser das Ziegelmaterial von den anderen Mauerwerksbestandteilen, Mörtel und Putz, getrennt werden kann, desto vielfältiger sind die Verwendungsmöglichkeiten. Auch Ziegelsand in hoher Qualität kann verwendet werden, wenn er ausreichend rein ist. 2. Erhalten des Mauerwerks Der nachhaltigste Umgang mit historischem Mauerwerk ist die möglichst lange Weiternutzung des Gebäudes bzw. der vorhandenen Bauteile, soweit es der Erhaltungszustand zulässt. Dazu müssen die vorhandene Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit sowie, je nach Nutzungsart, auch bauphysikalische Eigenschaften durch geeignete Prüfverfahren nachgewiesen werden. Bei der Beurteilung von älterem Mauerwerk sind die aktuellen deutschen Normen (z. B. DIN EN 1996/ NA) oft nicht anwendbar. Sie beziehen sich vor allem auf die Bemessung von Neubauten. Bei historischem Mauerwerk sind jedoch bauliche Besonderheiten zu berücksichtigen. Maßtoleranzen, ungleichmäßige Fugendicken, starke Streuung der Materialeigenschaften, Alterungs- und Verwitterungserscheinungen, Risse und Verformungen, nachträgliche bauliche Veränderungen und ältere Reparaturen müssen bewertet werden. Einzelne technische Eigenschaften des Materials, wie zu große Saugfähigkeit oder zu große Schwankungen technischer Eigenschaften, können die weitere Nutzung einschränken - ebenso wie Unsicherheiten bei der Beurteilung der Qualität oder fehlende Erfahrungen für die Einschätzung der technischen Rest-Lebensdauer. Systematische Untersuchungen helfen, die historische Substanz zu „verstehen“ und eine zuverlässige Bewertungsgrundlage zu entwickeln. Die Ziele der Untersuchung müssen klar definiert und zwischen den Verantwortlichen abgestimmt sein. Die Untersuchungen müssen sich an der angestrebten Nutzung des Gebäudes und den damit verbundenen Sanierungszielen (Instandhaltung, Konservierung, Restaurierung, Verstärkung, energetische Sanierung etc.) orientieren und je nach Bedarf mit einfachen Verfahren auch auf der Baustelle durchzuführen sein. 2.1 Vorüberlegungen Die Weiternutzung von Mauerwerken sollte stets angestrebt werden, wenn eine sinnvolle und substanz- und klimatisch verträgliche Nutzung möglich ist und die zu erwartende Restlebensdauer die vorgesehene Nutzungszeit übersteigt. Um dies zu entscheiden, müssen der Zustand des Gebäudes, der Bauteilabschnitte und seiner Materialien untersucht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, ob Instandsetzungs- oder Verstärkungsmaßnahmen notwendig und technisch möglich sind. Stark salzbelastetes 216 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk Mauerwerk kann z. B. erhalten werden, wenn der Salzgehalt im oberflächennahen Bereich reduziert werden und es trocknen kann. Danach sollte es optimalerweise dauerhaft trocken gehalten werden. Andernfalls lassen sich fortschreitende Schadensprozesse kaum verhindern (Abb. 1a). Abbildung 1: (a) Bauschädliche Salze können Mauerwerk zerstören, (b) die Feuchtigkeitseinwirkung sollte gestoppt und der Mörtel ersetzt werden. Es ist zu prüfen, welche technischen Maßnahmen zur Instandsetzung geeignet und wirtschaftlich vertretbar sind. Kriterien für die Entscheidung können u. a. sein: • Welcher Zustand des Bauteils ist für die geplante Nutzung notwendig? • Für welchen Zeitraum soll das Mauerwerk weiterhin genutzt werden? • Sind Sanierungsmaßnahmen erforderlich, um den gewünschten Zustand zu erreichen? • Welche Sanierungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung, um das Mauerwerk in den gewünschten Zustand zu versetzen? • Welche Unterhaltskosten sind angemessen, um das Mauerwerk langfristig zu erhalten? Erst nach Beantwortung dieser Fragen kann eine fundierte Entscheidung getroffen werden, ob das Mauerwerk erhalten werden soll oder nicht, basierend auf technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen und dem Ziel der Nachhaltigkeit. 2.2 Bewertung der vorhandenen Druckfestigkeit Empfehlungen für geeignete Untersuchungs- und Prüfverfahren zur Beurteilung der Mauerwerksqualität finden sich in den WTA- Merkblättern: 7-1 und 7-4. Mit deren Hilfe können Mauerwerk, Ziegel und Mörtel zuverlässig bewertet werden [1, 2]. Bei Arbeiten an bestehenden Gebäuden sind die Tragfähigkeit und die Nutzungssicherheit von besonderer Bedeutung. Mauerwerke haben i.d.R. gute Festigkeitseigenschaften. Eine grobe Schätzung der Druckfestigkeit ist bei Mauerwerken in gutem Zustand häufig ausreichend. Die Materialfestigkeit kann dann aus Bauunterlagen oder Erfahrungswerten aus Untersuchungen an ähnlichen Mauerwerken ermittelt werden. Wenn eine genauere Überprüfung erforderlich ist, muss die Druckfestigkeit experimentell ermittelt werden. Dies ist in der Regel der Fall, wenn Umbauten geplant sind, die zu erhöhten Belastungen führen, oder wenn das Mauerwerk durch äußere Einflüsse wie Überbelastung oder starke Witterungsbeanspruchung geschwächt ist. In der Regel wird das Bewertungsverfahren auf der Grundlage der geltenden Mauerwerksnormen DIN EN 1996/ NA durchgeführt. Je nach Alter des Gebäudes können auch die zum Zeitpunkt der Errichtung gültigen Normen herangezogen werden. Diese Normen sind jedoch nur innerhalb bestimmter Randbedingungen anwendbar. Für Mauerwerk, das deutlich von Normvorgaben abweicht, müssen andere Methoden angewendet werden. WTA 7-4 [2] schlägt dafür Prüfungen an verschiedenen Probekörperarten zur Beurteilung der Druckfestigkeit vor. Selten werden größere Mauerwerksprüfkörper aus Gebäuden entnommen (Abbildung 2a). In den meisten Fällen wird die Druckfestigkeit indirekt durch die Prüfung von Mauersteinen, Mörtelprüfkörpern oder Bohrkernen (Abbildung 2b) betreffender Mauerwerke bestimmt. Die Vorgehensweise ist bei allen Methoden grundsätzlich gleich. Sie umfasst die Probenahme, Laboruntersuchungen, Umrechnung der Prüfergebnisse auf die genormten Bezugsgrößen, statistische Auswertung und Plausibilitätsprüfung. Besondere Regeln gelten für denkmalgeschützte Gebäude, bei denen die Probenahme zu einem inakzeptablen Substanzverlust führen kann und Anzahl und Größe der Proben eingeschränkt sind. Im WTA-Merkblatt 7-4 werden die Prüfverfahren im Detail beschrieben. In besonderen Fällen können auch Belastungsversuche oder In-situ-Prüfverfahren, wie z. B. Flat-Jack-Tests, eingesetzt werden. Abbildung 2: Festigkeitsprüfung: (a) Mauerwerksteilstück nach dem Druckversuch (b) Versuchsaufbau für die Prüfung der Spaltzugfestigkeit von Fugenbohrkernen. 3. Wiederverwendung von Ziegeln In der vorindustriellen Zeit und nach den Zerstörungen der Kriege des 20. Jahrhunderts war es üblich, alte Ziegel von Hand zu reinigen und für Reparaturen und Neubauten zu verwenden. Bei historischem Mauerwerk, dessen Fugen aus reinem Kalkmörtel bestehen, ist der Ausbau und die Wiederverwertung von Ziegeln relativ einfach. Bei Mauerwerk mit einem stärkeren Ziegel-Mörtel-Verbund mit hydraulischen oder puzzolanischen Mörteln kann es möglich sein, ganze Mauerwerksabschnitte in neuen Bauvorhaben wiederzuverwenden. Diese Möglichkeit ist auf Einzelfälle beschränkt. Ehrgeizige moderne Projekte wie die vom dänischen Architekturbüro Lendager entworfenen Resource Rows in Kopenhagen, Wohnungen und Reihenhäuser mit Fassaden aus Betonfertigteilen mit wiederverwendeten Mauerwerksteilen als Verblendung, tragen jedoch dazu bei, alte Baumaterialien erlebbar zu machen und die Akzeptanz für unkonventionelle Verwendungsmöglichkeiten für abgebrochene Materialien zu fördern (Abbildung 3). 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 217 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk Abbildung 3: Kreativer Umgang mit Abbruchmaterial (a) Resource Rows, Kopenhagen (b) Detail (Fotos: Heinrich Wigger) Um die Wiederverwendung von Ziegeln aus einem bestehenden Gebäude zu verstärken, müssen die ArchitektInnen bei der Planung und Umsetzung anders vorgehen als bei Standard-Neubauprojekten. Geeignete Komponenten müssen vor dem eigentlichen Entwurf „aufgespürt“, bewertet und kartiert werden. Während bei einem Neubau das Material den Entwürfen entsprechend ausgewählt wird, muss der Entwurf beim Recycling an das verfügbare Material angepasst werden. Abbruch und Materialwirtschaft werden zu wesentlichen Bestandteilen des Bauprozesses. Abbruchausschreibungen müssen frühzeitig vorbereitet werden. Leistungen wie Materialkartierung, Rückbau, Reinigung und Aufbereitung von Materialien müssen detailliert beschrieben und überwacht werden. Je nach ihrem Zustand und den technischen Eigenschaften können Ziegel an Fassaden oder im Inneren von Gebäuden wiederverwendet werden. Recycelte Ziegel werden für die Instandsetzung alter Bausubstanz, aber auch in der modernen Architektur benötigt. Die Akzeptanz von wiederverwendeten Ziegeln nimmt zu. Bedeutende Architekten haben dazu beigetragen, wie David Chipperfield (Neues Museum Berlin) oder Arno Lederer, Jórunn Ragnarsdóttir und Marc Oei (Kunstmuseum Ravensburg, siehe Abbildung 4). Die Fassade und die Gewölbe des Kunstmuseums bestehen aus Ziegeln, die aus den abgerissenen Gebäuden eines Klosters in Belgien stammen. Abbildung 4: Alte Ziegel im neuen Gebäude: (a) Kunstmuseum Ravensburg, (b) Mauerwerksdetail, (c) Sicht- und Klangprüfung alter Ziegel, (d) Verwendung der alten Ziegel in der neuen Gewölbedecken-Konstruktion, Ziegel raumseitig sichtbar. (Fotos: Georg Reisch GmbH, Bad Saulgau) Die historischen Ziegel wurden nicht nur aus gestalterischen Gründen im architektonischen Kontext der historischen Altstadt von Ravensburg eingesetzt, sondern waren auch Teil des Nachhaltigkeitskonzepts. Die alten Ziegel sind nicht nur maßgebend in der Fassade (Abb. 4a und-3b), sondern auch im sichtbaren Teil der Deckenkonstruktion (Abb. 4c). Als Recyclingmaterial waren diese Ziegel zwar nicht billiger als neue Ziegel mit „historischem“ Aussehen, weisen aber trotz des langen Transports eine bessere Energie- und Materialbilanz auf, da zu ihrer Herstellung keine neuen Rohstoffe und keine Energie benötigt wurden. Andererseits erforderten die wiederverwendeten Ziegel mehr Aufwand bei der Qualitätsprüfung gegenüber neuen, genormten Ziegeln. Aber nicht zuletzt war die Optik überzeugend. Je nach Verwendungszweck müssen die gebrauchten Ziegel unterschiedliche Qualitätsmerkmale erfüllen, die inzwischen in der EAD 170005-00-0305 definiert sind. Im Falle des Kunstmuseums Ravensburg wurden die Ziegel einer firmeninternen Qualitätskontrolle unterzogen, um eine ausreichende Dauerhaftigkeit erzielen zu können. Für die Bewertung historischer Ziegel haben sich die, in Tabelle 1 dargestellten, auf Grundlage ausführlicher Forschungsarbeiten unter Leitung von Frau Dr. Freyburg ermittelten Werte (beschrieben u. a. in [5, 6]) als geeignet erwiesen. Als baustellengeeignet, vor allem für die Verwendung von Recyclingziegeln in Ziegelsichtfassaden, hat sich ein Test bezüglich der Ausblühneigung bewährt (Abbildung-5), um mit wenig Aufwand vor Ort, z. B. im Baucontainer, den ausblühfähigen Eigensalzgehalt auch einer großen Anzahl von Ziegeln, insbesondere bei unterschiedlicher Herkunft, prüfen zu können. Tabelle 1: Empfohlene Werte für die Bewertung der Dauerhaftigkeit von wiederverwendeten Ziegeln nach [4, 5] Materialeigenschaften Empfohlener Grenzwert Scherbenrohdichte [g/ cm³] > 1,86 Wasseraufnahme [M-%] ≤ 16 Druckfestigkeit ≥10 N/ mm² Abbildung 5: Einfach anzuwendender Ausblühungstest (nicht normativ geregelt) 218 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk 4. Recyceln Abgebrochenes Mauerwerk, aus dem keine brauchbaren Ziegel gewonnen werden können, wird zerkleinert und sortiert, bevor es für andere Zwecke verwendet wird. Im Vergleich zu anderen Mauerwerkstypen lassen sich die Bestandteile von Ziegelmauerwerk sehr gut zerkleinern und in fast reine Körnungen trennen. Dennoch wird der Großteil des Mauerwerksschutts derzeit noch als Füllmaterial verwendet. Dies kann ökologisch sinnvoll sein, wenn es in unmittelbarer Nähe des Abbruchortes geschieht, um Transportwege zu vermeiden und natürliche Gesteinskörnungen zu schonen [6]. Ein erheblicher Teil des Ziegelbruches wird für die Herstellung von gebundenen oder ungebundenen Oberbauschichten im Straßenbau verwendet [3]. Hochwertiger Ziegelsplitt wird auch als Vegetationssubstrat und für Sportplätze verwendet. Voraussetzung dafür ist, dass keine schädlichen Rückstände enthalten sind, was vorab geprüft wird. Auch wenn der Anteil von Ziegelmauerwerk an der Gesamtmenge der Bauabfälle im Vergleich relativ gering ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten das gebrochene Material einzusetzen [3]: a. Hochwertiger Ziegelsplitt und Ziegelmehl können als Rohmaterial für die Herstellung neuer Ziegel verwendet werden. Neben der Einsparung von Primärrohstoffen kann dieses Verfahren auch Energie sparen [6]. b. Mauerwerksschutt mit einem hohen Anteil an Ziegeln (> 50 %) kann zu leichten Gesteinskörnungen verarbeitet werden. c. Zerkleinertes Mauerwerk kann als Gesteinskörnung für die Herstellung von R-Beton verwendet werden. Die letztgenannte Verwendung hat eine lange Geschichte. Ziegelmehl und -splitt wurden bereits in der Römerzeit verwendet, wie zahlreiche erhaltene Bauwerke und Bauteile belegen. Das bekannteste Material aus dieser Zeit ist wohl das opus caementicium, bei dem die Römer Ziegelsplitt und andere keramische und natürliche puzzolanische Materialien mit Kalk als Bindemittel in festen Mörteln und „Betonen“ verwendeten. Auch in Estrichmörteln (als opus signinum) wurde Ziegelbruchmaterial verwendet. Großer Mengen an Mauerwerk wurden nach dem Zweiten Weltkrieg recycliert, als die Trümmer des Krieges beseitigt werden mussten und Baumaterialien knapp waren. Nach 1960 wurde diese Praxis aufgegeben. Leider wurden die Rezepturen und Erfahrungen aus dieser Zeit nicht dokumentiert. Informationen über die Dauerhaftigkeit der Bauteile und der daraus hergestellten Konstruktionen wurden im Rahmen verschiedener, DBU-geförderter Forschungsprogramme gewonnen, in dem die wichtigsten Parameter des Festbetons an Bauwerken aus dieser Zeit bewertet und mit den Anforderungen an heutige Betone verglichen wurden [7]. Ein im Rahmen eines DBU-geförderten Projekts der GH Kassel untersuchtes Objekt ist die Fatima-Kirche in Kassel des, für seine monumentalen Bauwerke bekannten Architekten Gottfried Böhm (+). Nach ca. 60-jähriger Bewitterung war die Sichtoberfläche des nahezu unbewehrten und fugenlosen Trümmerschutt-Betons überwiegend in gutem Zustand und es bedurfte nur lokaler Reparaturen mit nachgestellten Beton-Rezepturen. Im Zusammenhang mit dem geplanten Neubau des Technischen Rathauses in Tübingen erwies sich der Entwurf des Architekturbüros Ackermann+Raff als am besten geeignet, den zu klein gewordenen Bestandsbau aus den 50er Jahren zu erhalten und in den Entwurf des Gebäudekomplexes zu integrieren. Im Rahmen eines Objekttermins des bauleitenden Architekts mit Vertretern der Fakultät Bauingenieurwesen der HTWG Konstanz wurden die Baumaterialien aus den 1950er Jahren visuell begutachtet. Erst dabei wurde festgestellt, dass sowohl die Stahlbeton-Stützen als auch die Mauersteine der Flurwände bereits aus Recycling-Baustoffen (Ziegelsplitt-Beton) erstellt wurden. Im Rahmen einer Masterthesis an der HTWG Konstanz [9] wurden Proben von den Leichtmauersteinen (im Format 385 × 255 × 220 mm, Abbildung 5a) und von einer Stütze aus Ziegelsplitt-Beton (Abbildung 5b) entnommen und bezüglich technischer Kennwerte, Gefüge etc. untersucht und bewertet. Ein weiteres Beispiel für die Dauerhaftigkeit von Recycling-Baustoffen ist ein beliebtes Studenten-Wohnheim der Nachkriegszeit, das Max-Kade-Haus in Stuttgart, ein 15-stöckiges Hochhaus - ebenfalls aus Trümmerschutt- Beton, bemessen von Fritz Leonhardt (+). Die tragende Bausubstanz und die Außenputze sind noch im Original- Zustand. Eine Betonsanierung war bisher nicht erforderlich. Bohrkerne des im Untergeschoss beprobten Stahlbetons weisen deutlich mehr Ziegelbruch auf als heutige R-Betone mit Typ 2-RC-Splitt. Abbildung 5: Recyclingmaterial aus den 1950er Jahren (a) Leichtbetonmauersteine mit Ziegelsplitt (b) Ziegelsplittbeton, der eine feste und intakte Struktur aufweist Beide Bestandsmaterialien mit recyclierten Körnungen weisen ein festes und intaktes Gefüge und keine Fremdsalzbelastung auf. Die Gesteinskörnung enthält neben Splitt von verschiedenen Ziegeln unterschiedlicher Farbe und Dichte auch gebrochene Mörtelfragmente (Abbildung 5 b). Der Verbund zwischen Zementstein und RC-Körnungen ist sehr gut, was durch das Eindringen eines Teils des Zementleims in die poröse Struktur der Körnungen begünstigt wurde. An der Phasengrenze zwischen Zementstein und Gesteinskörnung gibt es keine Risse oder Ablösungen. Trotz des porösen Gefüges und des Betonalters von rund 70 Jahren sind noch ausreichend hohe Festigkeiten vorhanden, so dass einer Weiternutzung nichts im Wege steht. Für die wesentlichen tragen- 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 219 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk den Betonbauteile des Neubaus wurde R-Beton eines regionalen TBW geliefert. Somit vereint das Gebäude heute Betone mit recyclierten Gesteinskörnungen aus dem 20.-und 21. Jahrhundert (Bild 6a und 6b). Tabelle 2: Technische Kennwerte der Ziegelsplittbetone des Technischen Rathauses Tübingen aus den 1950er Jahren aus [9] Ziegelsplitt-beton der Stütze Leichtbetonblock mit Ziegelsplitt Rohdichte [g/ cm³] 1,65 Stege 1,75 Lochanteil 37 % Druckfestigkeit [N/ mm²] 11,3 8,7 dyn. Elastizitätsmodul [N/ mm²] 13.000 7.100 bis 16.700 Biegezugfestigkeit [N/ mm²] 1,2 n.e. Wasseraufnahme [M-%] n.e. 15,5 n.e.: nicht erfasst Die Verwendung von RC-Baustoffen hat in den letzten Jahren zugenommen, ist aber im Hochbau immer noch selten. Während R-Betone mit Typ 1-Körnung (überwiegend aus gebrochenem Beton mit max. 10 % Mauerwerksschutt) derzeit häufiger im Bau eingesetzt werden, gibt es für die Verwendung von Körnungen mit mehr Mauerwerksschutt (= Typ 2-Körnung) in Betonen (Bild 6) noch große Hemmnisse, u. a. die höhere Wasseraufnahme bei Sichtbeton-Fassaden, die jedoch z. B. durch farblose Imprägnierungen kompensiert werden kann. Einer der Gründe dafür ist, dass Planer und Bauherren nicht ausreichend über R-Beton mit RC-Körnungen des Typs 2 informiert sind. Weitere Gründe sind mangelndes Wissen über die strengen Qualitätskontrollen bei lokalen Recyclingunternehmen, schwankende Materialeigenschaften, z. B. unterschiedliche Wasseraufnahme durch verschiedene Ziegelqualitäten und unzureichende Erfahrungen mit der Dauerhaftigkeit in den verschiedenen Expositionsklassen der Betonverwendung. Die erforderlichen Qualitätsanforderungen für RC Typ-2 (mit höherem Ziegelanteil) sind in gleicher Weise wie für Typ 1 (mit 90 % Betonbruch) in den Regelwerken festgelegt. Der Einsatz von Ziegelsplitt in Estrichen wird derzeit im Labor- und Praxiseinsatz untersucht [8]. Die Entwicklung neuer Sortierverfahren wird es in Zukunft ermöglichen, Feinkorn bis hin zum Ziegelstaub als Rohstoff für neue Baustoffe zu nutzen. Vielversprechende Forschungen gibt es auch zur Auf bereitung von gipshaltigem Mauerwerk. Auch die Rohstoffe für die Gipsindustrie werden knapper. Welche Form des Recyclings technisch, ökologisch und ökonomisch am sinnvollsten ist, hängt von zahlreichen Faktoren ab, die nicht direkt vergleichbar sind und für die es noch keine einheitlichen Bewertungskriterien gibt. Abbildung 6: (a) Alter R-Beton, verputzt (rechts im Bild) neben neuem R-Beton, (b) fertiger Gebäudekomplex des Technischen Rathauses Tübingen (Foto: ® Ebener), (c) Neue Materialien mit alten Ziegeln: Typ 2-RC-Körnung mit Ziegelsplitt als Gestaltungselement in modernem R-Beton mit gestrahlter Oberfläche. 5. Schlussfolgerung Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit altem Mauerwerk verantwortungsvoll und nachhaltig umzugehen. Die Möglichkeiten reichen von der uneingeschränkten Erhaltung u. a. durch eine angemessene Baupflege, Wartung und Instandhaltung über die Auf bereitung und Verwendung als Baustoff (ganze Ziegel z. B. am Kunstmuseum in Ravensburg) oder die Verwendung als Rohstoff z. B. als Gesteinskörnung (Ziegelsplitt aus Bauwerksschutt) für 220 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Weiternutzen oder Wiederverwenden? - Kriterien für den Umgang mit altem Ziegelmauerwerk hochwertige Neubau-Baustoffe wie R-Beton bis hin zur Verfüllung von Baugruben. Dies kann verschiedene Vorteile mit sich bringen: • Wirtschaftlich: Die kontinuierliche Nutzung kann Zeit und (neue) Herstellungskosten sparen. • energetisch: unter günstigen Bedingungen kann graue Energie für die Baustoffherstellung und Wärmeenergie im Betrieb des Gebäudes (Kunstmuseum Ravensburg als Passivhaus-Museum) eingespart werden • ökologisch: durch Einsparung von Rohstoffen, Deponieraum und Transportkosten • optisch/ ästhetisch: historische Ziegelmauerwerksoberflächen mit unterschiedlichen Rohstoffen, Formaten, Texturen und Brennfarben können von nachgestellten modernen Mauerwerken mit „historisierend“ nachgebrannten Ziegeln kaum in dieser Heterogenität und Vielfalt nachgestellt werden. • kulturell: Durch die Weiternutzung historischer Gebäude können Zeitzeugnisse erhalten werden. Auch bauliches Wissen über heute nicht mehr gebräuchliche Bauweisen wie preußische Kappen, Ziegelgewölbe etc. bleibt so erhalten. Diese Vorteile lassen sich jedoch nur dann nutzen, wenn die Randbedingungen vorher recherchiert wurden und projektbezogen passen. Soll das Mauerwerk selbst als Bestandteil eines Gebäudes erhalten bleiben, muss gewährleistet sein, dass es über die vorgesehene Nutzungsdauer stabil und gebrauchstauglich ist. Für die Qualitätssicherung bei der Weiterverwendung von Abbruchziegeln kann es ausreichen, anstelle von standardisierten Kennwerten individuell auf die neue Verwendung zugeschnittene Bewertungskriterien zu definieren und zu prüfen. Prüfverfahren, die mit einfachen Mitteln auf der Baustelle angewendet werden können, sparen Kosten und erhöhen die Sicherheit, da sie es ermöglichen, eine wesentlich größere Anzahl von Ziegeln zu prüfen, als dies mit Laborprüfungen möglich wäre. Die technologische Entwicklung im Bereich des Recyclings von Mauerwerksschutt ist noch nicht abgeschlossen. Vielversprechende Forschungsprojekte lassen hoffen, dass die Möglichkeiten des sortenreinen Trennens und damit der Wiederverwendung deutlich zunehmen werden. Ein wichtiger Aspekt für ökonomisch und ökologisch sinnvolle Recyclingverfahren sind kurze Transportwege und geeignete Lagermöglichkeiten. Enge, funktionierende Netzwerke von Abbruchunternehmen, Recyclingunternehmen und Baustoffherstellern müssen aufgebaut werden. Ein Problem sind noch die Stoffströme. Langfristig ist die Diskontinuität möglicherweise das größte Hindernis für den Auf bau einer effizienten Recyclingkette - denn auch bei Neubauten aus Recycling-Baustoffen wird die Abfallvermeidung immer der Wiederverwertung vorzuziehen sein. Literatur [1] WTA-Merkblatt 7-1-18/ D Erhaltung und Instandsetzung von Mauerwerk - Konstruktion und Tragfähigkeit. [2] WTA-Merkblatt 7-4-21/ D Ermittlung der Druckfestigkeit von Bestandsmauerwerken aus künstlichen kleinformatigen Steinen. [3] Rosen, D.: Wiederverwendung und Recycling von Ziegeln. Mauerwerk, 25 (2021), S. 74-81. https: / / doi.org/ 10.1002/ dama.202100002 [4] Freyburg, S., Dissertation. Baukeramisches Gefüge und Dauerhaftigkeit - ein Beitrag zur Erhaltung historischer Ziegelmauerwerke. Prof. Dr.-Ing. habil. Jochen Stark; (12/ 2004). [5] Freyburg, S. (1997): Qualitätsmerkmale historischer Ziegel. In. Ziegelindustrie International 7/ 97, S. 411-426. [6] Müller, A.: Energieeinsparungen durch das Recycling von Bauabfällen? Bautechnik 99, H.612 (2022), S. 916-924. https: / / doi.org/ 10.1002/ bate.202200098 [7] Stürmer, S.; Fritz, W.: Von historischem Ziegelsplitt und modernen R-Betonen. Ein Plädoyer für mehr Akzeptanz von Recyclingbaustoffen. Bausubstanz Jg. 11, Nr. 6, 2020, S. 37-43. [8] Stürmer, S.; Geiger, S.: RC-Körnungen und R-Betone - da geht noch mehr! Urban Mining mit Beton, R-Betone mit 100 % Natursteinersatz und RC- Estriche. Bausubstanz Jg.14, Nr. 2, 2023 S. 30-36. [9] Milkner, V.: Einsatz von Recycling-Beton mit Typ- 2-Körnung bei Hochbauprojekten. Masterthesis an der Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Fakultät Bauingenieurwesen (Betreuung: Prof. Dr. Sylvia Stürmer). Die Autoren: Prof. Dr.-Ing. Sylvia Stürmer - HTWG Konstanz, Fachbereich Bauwesen, Alfred-Wachtel-Straße 8, 78462 Konstanz. E-Mail: stuermer@htwg-konstanz.de Dipl.-Ing. Claudia Neuwald-Burg - Fraunhofer Informationszentrum Raum und Bau. Nobelstr. 12, 70569 Stuttgart. E-Mail: claudia.neuwald-burg@irb.fraunhofer.de 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 221 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher Jan Grossarth 1. Einleitung: Warum zirkuläres Bauen als Metapher? Da sind wir nun im Juni 2024 in Stuttgart zusammen als konstruktive Ingenieure. Und beschäftigen uns mit einer Reihe relevanter Fragen des ressourcenschonenden Bauens. Wie kann und sollte Ziegelmauerwerk für seine Tauglichkeit für eine Weiterverwendung geprüft werden? Wie sieht ein „kreislaufgerechtes Parkhaus“ aus Holz aus? Was ist diesbezüglich vom BIM zu erhoffen? Und vom einfachen Bauen, ob hierzulande oder in „der Savanne“? Vom „schlanken bauen“? Ist Carbonbeton vernünftig trenn- und recyclebar? Wie lässt sich mit Beton weiterbauen, aber mit weniger? Wie soll Nachhaltigkeit an Ingenieurshochschulen gelehrt werden? Beim Blick auf dieses vielfältige Tagungsprogramm wird deutlich, dass es gewiss nicht verkehrt ist, den nachhaltigeren Bau vor allem als technische Herausforderung zu beschreiben. Wobei bei weitem nicht alle Vortragenden Ansätze die „zirkuläre Idee“ verfolgen. Die einen sind eher materialbezogen beim Holz, andere suchen nach Möglichkeiten, digitaltechnisch den „ökologischen Fußabdruck“ des Bauens zu verringern, ebenso wie sie die Metaphern des Einfachen, des Schlanken hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit durchleuchten. Die Zirkularität hat als Ansatz des Charme, dass in diesem Rahmen sogar Verschwendung möglich ist. Intelligente Verschwendung, wie Michael Braungart einmal formulierte. „Verschwendet“ man die Baustoffe einmal „intelligent“, werden sie den künftigen Generationen, die damit weiterbauen können, zum Geschenk. Der Bauschutt, den die heute bauende Generation hinterlassen bekommt, ist eher ein Ärgernis, außen für den Straßenbau, der mit dem Schutt arbeiten kann. Wir hoffen zurecht auf die Entwicklung der Techniken, insbesondere auf diejenigen, die wirklich zirkulären Bau ermöglichen. Von der Technikreife bis zum Markterfolg ist dann noch der zweite Schritt zu gehen. Denn bei ehrlicher Betrachtung sind viele der Ideen, die heute noch zukunftsweisend erscheinend, schon seit vielen Jahren ingenieurwissenschaftlich formuliert: Leichtbau, Gradientenbeton (Werner Sobek), Lehmbau etwa. Dieser Beitrag handelt nicht von den vielen Faktoren, die über Markterfolge entscheiden - „gesellschaftliche Akzeptanz“, Finanzierung, Normierungserfolge, Taxonomie oder CO 2 -Preise. Er handelt von einem ganz einfachen Teilaspekt der Akzeptanz: Von den persönlichen Gründen, die Menschen für so einen zunächst abstrakten Ansatz wie „Zirkularität“ interessieren könnten. Die Annahme ist, dass Metaphern wie „zirkuläres Bauen“ oder „kreislaufgerechtes Bauen“ eben gerade die technische Welt mit der politischen verbunden, das heißt letztlich, attraktiven Zukunftsvorstellungen lebensweltlich betrachtet. Also auch: jenseits technischer und zunächst auch finanzieller, gegenwärtiger Sachzwänge. Im ersten Teil dieses Beitrags geht es überblicksartig um die technische Herausforderung des zirkulären Bauens. Im zweiten folgen Überlegungen, was so eine Metapher im weiteren Sinn zu bieten hat. 2. Die technische Herausforderung des zirkulären Bauens Wie sieht das zirkuläre Bauen der Zukunft aus? Vielleicht so, wie die Projekte des niederländischen Architekturbüros Superuse.Studios. Die Planung folgt dem Konzept der Materialverfügbarkeit in einem definierten Umkreis, etwa 50 Kilometer um die Baustelle. Das ist „Urban Mining“ im strengen Sinne. Ebenfalls: Frühere Flugzeugteile werden zu Geräten für den Kinderspielplatz. Oder die Zukunft aus des Hausbaus sieht so aus wie ein Flugzeug in der Wüste. Der amerikanische Architekt David Randall Hertz hat schon im Jahr 2011 ein derartig kurioses Beispiel kreiert. In Kalifornien ließ er eine ausrangierte Boeing 747 in ihre Einzelteile zerlegen und nutzte viele davon als Bauteile. Besonders eindrucksvoll in Szene ließen sich die Flügel. Sie wurden zu den Dächern des „747 Wing House“ umfunktioniert, einer Villa in den Santa Monica Mountains im Nordwesten der Stadt Malibu. Wie sich das Dach seitdem funktional bewährt hat, ist nicht bekannt. Aber man weiß, dass das Material günstig war. Das ausrangierte Flugzeug kostete insgesamt nur 35.000- Euro, und sogar seine Sitzbänke ließen sich im Bauwerk verwenden. Stahl, Beton und der Regenschutz für ein neu errichtetes Dacht dieser Größe wären teurer gewesen. Doch wo ist der Haken? Dass seitdem nicht reihenweise Dächer aus ausrangierten Flugzeugflügeln entstanden sind, hat erstens ökonomische Gründe. Die Transporte der Flügel waren sehr aufwendig. Dies Kosten dafür überstiegen die Materialkosten bei Weitem. Die Flugzeugteile mussten erste zerkleinert werden, mit Schwertransportern und sogar Helikoptern vom Flugzeugfriedhof zur Baustelle gebracht werden. Dazu kamen die Kosten der Bürokratie. Zahlreiche Anträge bei den Ämtern waren zu stellen: für die Transporte, aber vor allem für die Bauzulassung. Schade eigentlich, denn das Bauen mit Upcycling-Materialien aus der „urbanen Mine“ ist ein Desiderat der Stunde. Die Klimabilanzen können sich besser sehen lassen, als im Fall frisch angemischten Zements. Aber auch das Beispiel des Wing House blieb letztlich eines, welches zwar medial viel beachtet und architektonisch inspirierend war, jedoch den nachhaltigen Bau insgesamt kein bisschen voranbrachte. Damit die Baubranche in Zukunft weniger Materialien verbraucht und weniger Emissionen verursacht, müssen zirkulärwirtschaftliche Innovationen in Alltags-Bau- 222 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher projekten Anwendung finden - seien es Straßen, Pflegeheime, Industrieanlagen, Kraftwerke oder Mehrfamilienhäuser. Dabei geht es nicht mehr nur darum, das Recycling zu optimieren. Die Zeit der Bauschuttdeponien ist ohne lange vorbei. Bauschutt wird aber immer noch „downgecyclet“: Aus früheren Häusern wird größtenteils Füllmaterial für den Straßenbau. Angesichts der politischen Klimaziele (knapp 40 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen werden Bau und Wohnen zugerechnet) müssten schon heute Bauwerke so errichtet werden, dass ihre Bestandteile in Jahrzehnten ohne großen Energie- und Transportaufwand demontiert und wiederverwendet werden können. Also ist die Idee naheliegend, auf langlebige und wiederverwendbare technische Bauteile zu setzen. Sie geht auf Arbeiten des deutschen Nachhaltigkeitswissenschaftlers Michael Braungarts aus den frühen 2000er Jahren zurück. Die „Circular Economy“ des Bauens appelliert nicht nur an den Gesetzgeber, sondern stark auch an die Kreativität der Unternehmerinnen und Unternehmer. Deswegen versammelt sich ein großer Anhängerkreis dahinter, der von Grünen über Industrielle, von Konservativen über Liberale bis zu Ökologen reicht. Der Baukonzern Drees & Sommer kaufte das „Cradle-to-Cradle“-Label von Braungarts Agentur Epea. Dutzende Gebäude sind bis heute entsprechend zertifiziert - etwa „The Cradle“ in Düsseldorf. Aber auch das sind Leuchtturmprojekte, die in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Emissionen und Ressourcenverbräuche nicht ins Gewicht fallen. Zumal das zirkuläre Bauen nicht die Emissionen jetzt reduziert - sondern in der nächsten oder übernächsten Generation, die Bauteile wiederverwenden. Warum aber tut sich die klein- und mittelständisch geprägte Bauindustrie so schwer damit, die zirkulären Innovationen umzusetzen? Wer dieser Frage nachgeht, stößt auf ein komplex verwobenes Netz aus Gründen. Sie reichen von „hausgemachten“ Industrienormen, die zahlreiche Anforderungen an Brandschutz, Statik, Feuchteschutz, gleichbleibende Materialqualitäten stellen, über finanzielle, zulassungsrechtliche Faktoren bis zu einem strukturellen Konservatismus der Branche. Die Bauindustrie mit Firmen wie Holcim, Heidelberg Materials oder Hochtief könnte es dabei sogar einfacher haben als andere Branchen, ihren hohen Ressourcenverbrauch und die Emissionen deutlich zu verringern. Man müsste einfach bauen, wie mit Legosteinen. Das ist eigentlich keine so große technische Herausforderung. Das zirkuläre deutsche Start-Up der Stunde im Frühjahr 2024, Triqbriq aus Tübingen, hat ganz einfache holzbasierte Bausteine erfunden und an den Markt gebracht. Im Frühjahr wurde das erste Einfamilienhaus in Frankfurt daraus errichtet. Der Bau von fünf oder mehr Etagen Höhe ist bauaufsichtlich zugelassen. Die Holzsteine in verschiedenen Größen bestehen aus zahlreichen nicht verleimten, verdübelten Längs- und Querstreben, wofür sich auch schadhaftes Holz oder Altholz eignet. Dieser Baustein entspricht allen Desideraten des zirkulären Bauens: Er ist im ganzen immer wieder weiterverwendbar, aber auch sortenrein trennbar, schadstofffrei, im Prinzip als biogenes Material kompostierbar, in vielen Kaskaden zurück bis zum Humus downlcyclebar. Das Unternehmen schlägt auch eine ganze Reihe von trennbaren Wandauf bauten vor, die die Holzsteine mit Klinkerfassaden, Dämmstoffen und Putzen kombinieren. Auf die einfache und sortenreine Trennbarkeit kommt es an, und dafür wurden in den vergangenen Jahren auch immer mehr spezielle Dübel oder Stecksysteme entwickelt. FOTO 1: TRIQUBRIQ FERTIGT „LEGONSTEINE“ FÜR DEN HOLZBAU Foto: Jan Grossarth Triqbriq sind Bausteine nach Lego-Art. Die gibt es in mehreren Größen. Aber mit ihnen kann man ein Haus auch als Geldanlage in langledige, wertvolle Baustoffe betrachten. Denn die Steine können die Erben des Hauses sogar noch hochpreisig weiterverkaufen - so jedenfalls die Erwartung an die Möglichkeiten der Zukunft. Das erste Einfamilienhaus in Frankfurt wurde nach Herstellerangaben auch zu etwa gleichen Kosten eines aus Mauerwerk, Mörtel und Polystyrol errichteten „Standardhauses“ bewerkstelligt. Ähnliche mustergültig zirkuläre „Lego-Steine“ bieten Start-Ups und Wissenschaftsprojekte aus Beton an, aus Hanfkalk oder sogar aus Plastikhülsen, die mit Wüstensand gefüllt werden. Wüstensand ist eine global schier endlos verfügbaren Ressource, die sich wegen ihrer geringen Kantigkeit nicht direkt als Zementzutat verwenden lässt. Andere technisch machbare, wissenschaftlich über Jahre begleitete und geprüfte Innovationen ersticken im Keim. ReMoMab, ein Projekt der TU Dresden, machte es schon in den 2010er Jahren möglich, Kalksandstein oder zementösen Mörtel zirkulär zu verbauen. Statt sie zementreich untrennbar zu machen, wurden die Steine mit gespanntem dünnem Stahl verbunden. Auch so ein Haus lässt sich irgendwann wieder schadstoff-frei in seine Einzelteile zerlegen. Diese Bauweise war eine gute Idee, aber kein Markterfolg. Immer wieder scheitern junge Gründer daran, Finanziers aus der Bauwirtschaft zu finden. Welches Interesse sollte die Kalksandstein- oder Ziegelindustrie haben, sich selbst auf diese Weise des Geschäftes der Zukunft zu berauben? 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 223 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher Womöglich müssten sich die Geschäftsbeziehungen grundsätzlich verändern. Der gedankliche Vater des Cradle-to-Cradle Michael Braungart schlägt vor, dass Dienstleistungen wie „Wohnfläche“, Außendämmung oder Fensterfläche vermietet werden, statt dass die Menschen Eigentümer eines Hauses werden. Denn sein Haus, auch ein sinnstiftendes Lebensprojekt, baut man oft in der Illusion, es sei für die Ewigkeit - und schon die übernächste Generation reißt es ab, weil es dem Geschmack oder der kleineren Familiengröße nicht mehr entspricht. Würden Wände oder Fensterflächen vermietet, hätte der Anbieter ein finanzielles Interesse daran, hochwertige und schadfrei trennbare Baustoffe einzusetzen. Einen ähnlichen Weg geht jetzt tatsächlich auch Triqbriq, das Start-Up aus Tübingen. Es will ein Anbieter für Wohnungen aus einer Hand werden, der die eigenen Bausteine verwendet, und so de facto verleiht. Aber nicht nur architektonische Ansätze des „design by availability“ nach dem Vorbild der niederländischen Spielplatz-Architektur oder ganz neue Legostein-Bauten zählen zum Hoffnungsrepertoire. Zirkuläre Ansätze trennbarer, verdübelter Holzbauten und entsprechender Wärmedämmung gehören ebenso dazu, und vieles mehr. Wie auch die Abfalltrennung und ihre veränderten technischen Möglichkeiten, die auch uns auf diesen Ingenieurskongress weitgehend unbekannt sein dürften. Altglas wird zu „Misapor“: Schaumglas als Schüttungen oder Fundamentplatten, die isolieren und vor Feuchte schützen. Ein kreislauffähiges Material. Es wird geforscht an textilbewehrten Betonen, oder an Deckensystemen aus Holz und Lehm. Der Lehm gilt als ein perfekt kreislauffähiger Baustoff. Die Abfall- und Trennwirtschaft am Ende der Entsorgungskette ist ebenso wichtig, wie die Baustoffinnovationen. Ein Beispiel: Seit wenigen Jahren ermöglichen es optische Trennungstechniken, den Ziegelschutt aus dem allgemeinen Bauschutt herauszutrennen. Das Ziegelmehl kann dann wieder Bestandteil von neu gebrannten Ziegeln werden. Das Umweltbundesamt sagt seit vielen Jahren, das Problem der Gipsbestandteile im Bauschutt ist ein großes Hindernis für die sortenreine Trennung und Wiederverwertung der Baustofffraktionen. Er erhöht die Sulfatanteile der Bauschuttfraktionen über die technisch wünschenswerten oder erlaubten Maße. Hier müsste man technische Lösungen für das zirkuläre Bauen also trennungstechnisch denken - etwa an Maschinen oder Roboter, die Gipskarton-Platten vor dem großen Abriss händisch demontieren, wenn dafür die Arbeitskraft eben einfach fehlt oder im Bauprozess zu teuer ist. 3. Die Metapher des zirkulären Bauens Diese Stelle des Aufsatzes markiert einen gedanklichen Bruch. Jetzt geht es nicht mehr um technische Möglichkeiten, Hindernisse, Lösungen. Es geht um die Frage, warum sich Menschen, die nicht zu „unseren“ technischen Fachkreisen zählen, eigentlich für das zirkuläre Bauen interessieren sollten. Und das kann ja wichtig sein, dass sie sich interessieren - erstens, weil sie die Häuser der Zukunft in Auftrag geben und finanzieren müssen, zweitens, weil sie eine Nachhaltigkeitspolitik, die Vorgaben macht und Rahmen setzt, akzeptieren und verstehen, zumindest respektieren, müssen. Zunächst kann angenommen werden, dass sich ein Teil der Menschen für derlei langfristig orientiertes Denken entlang der Ideen und Fachtermini der Nachhaltigkeit interessiert, ein anderer aber eben nicht. Ein dritter, wachsender Teil der Gesellschaft, opponiert dagegen sogar ausdrücklich, das ist der politische Rechtspopulismus in allen Ländern der westlichen Welt, der Nachhaltigkeit als übergriffiges Elitenthema zum Zerrbild seiner selbst karikiert. Somit ist es Gegenstand nicht nur wissenschaftlicher Empfehlungen über optimale transformative Pfade - CO 2 -Preis, Flugsteuern, Bauvorgaben -, sondern eben auch der politischen Aushandlung, wie Ambitionen auch des zirkulären Bauens wirklich werden. Auf Konsens ist vielleicht zu hoffen, aber ist er realistisch? Wenn nicht, gibt es in Demokratien wenigstens Kompromisse. Politische Diskurse verlaufen nach anderen Mustern, als wissenschaftliche. Im gesellschaftlichen Bereich der Politik sind die Maximierung von Mehrheitsfähigkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit zentrale Antriebsfelder, in der nach unserem Verständnis maßgeblichen Wissenschaft ist es die Orientierung an einer Wahrheit, die empirisch überprüf bar ist, und damit objektivierbar. Politik kommuniziert auf andere Weise im Raum des Emotionalen, und auf der Zeitachse von Traditionen, Milieubindungen, ideologischen Pfadabhängigkeiten oder zukunftsgerichteten Utopien. Metaphern haben hier eine zweischneidige Funktion. Sie verengen den Blick, die Komplexität der Wirklichkeit. Das „kreislaufgerechte Bauen“ ist gleich eine dreifache Metapher: Kreislauf, gerecht, Bauen. Metaphern sind Verbindungen zweier abstrakter Kategorienbegriffe. In jedem davon stecken kulturell, aber auch biographisch individuell geprägte bildliche Vorstellungen. Welche Bilder, welche Erfahrungen berührt das Bild vom Kreislauf? Von der Gerechtigkeit? Vom Bauen, das ja schon etymologisch ja untrennbar mit dem Bleiben, dem Wohnen also verbunden ist? FOTO 2: ÜBERLICHER ABRISS VOR NEUBAU. WARUM WURDE DAS HAUS NICHT ERHALTEN? Foto: Jan Grossarth 224 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher Die amerikanischen Linguisten Mark Johnson und George Lakoff haben vor vierzig Jahren den Blick auf die metaphorische Strukturiertheit der Sprache gelegt, und eine Flut an Forschung über politische Metaphern begründet. Sie ebbt bis heute nicht ab. Die „Theorie des erfahrungsbasierten Verstehens“ haben sie begründet. Und daraus lerne aus ich, dass eine Gefahr darin besteht, wenn lebensweltlich attraktive Metaphern halb verstanden von politischen, technischen oder wirtschaftlichen Fachkreisen vereinnahmt werden. Die Gefahr lautet, dass diese Metaphern letztlich aus dieser Sicht ihre „Leuchtkraft verloren“ haben, ausgelutscht, beliebig und unattraktiv geworden sind. Vielleicht droht das gegenwärtig mit der schönen alten Metapher der Nachhaltigen Entwicklung - einer politischen Kompromissformel der 1990er Jahre. Es wäre eine kulturwissenschaftliche, ethnographische Forschungsaufgabe, zu ergründen, welche Ideen, Vorstellungen und Erwartungen die Nicht-Fachleute, umgangssprachlich gesagt und nicht despektierlich gemeint: die „einfachen Menschen“, mit „zirkulärem Bauen“ oder „kreislaufgerechten Bauen“ verbinden. Diese Forschung habe ich nicht gemacht, Mir ist dazu auch keine Forschung bekannt. Von daher stellen die folgenden Gedanken eher Anregungen für empirische und qualitative Forschung dar - auch diesbezüglich, in welche Richtung eine Fragetechnik, aber auch darauf basierende Theoriebildung gehen könnte. In diesem Sinne formuliere ich drei Thesen. Erste These: Ein Verständnis der Zirkularitäts-Metapher bedarf Vorwissens. Anders als beim Bau aus nachwachsenden Materialien, etwa dem Holzbau, genügt ein ästhetischer oder rein materialbezogener Zugang hier nicht zur Urteilsbildung. Zirkularität als Materialführungskonzept bedarf historischen und ressourcenökonomischen Grundlagenwissens bezogen auf Verbrauchsmuster industrieller Gesellschaften und Knappheitsszenarien, wie sich von Expertinnen und Experten gegenwärtig bezogen auf Baustoffe wie Gips und Kupfer, aber auch regionale Kiese oder Sand formulieren. Zweite These: Ein kulturelles Verständnis der Kreislaufs-Metapher verbindet die ingenieursmäßige, technisch-materialbezogene Sichtweise mit den organischen Stoffstromprinzipien der Natur. Die Industrie soll keinen Abfall erzeugen und auch keine Giftstoffe in die natürliche Umwelt entlassen. Die Abstraktion des Kreislaufs führt gedanklich zu einem bionischen Stoffstromkonzept. Dieses kulturelle Verständnis erklärt, warum Michael Braungarts Bilder einer „Cradle-to-Cradle“- Wirtschaft, einer konsequenten Trennung der biogenen stofflichen „Biosphäre“ und der mineralisch-metallischen „Technospäre“, nicht nur in Technikkreisen anschlussfähig sind. Die entsprechende Zertifizierung scheut auch Begriffe nicht, die gemäß objektivistisch-wissenschaftlicher Rationalität geradezu peinlich anmuten: Schönheit einer Fassade, wundervolle Alterung einer Holzverschalung, „beautiful aging“. Das wäre dann aber auch ein ausdrücklicher Bestandteil der Natur-Analogie: einerseits die Stoffstromführung, andererseits aber das Beziehungsgeschehen zum menschlichen Betrachtenden, das sich in Wahrnehmungen von Naturschönheit äußern kann. Es gibt ja auch die Technikschönheit, wie sie Museumsbesucher erfahren. Sie muss nicht im engen Sinne „schön“ sein, aber doch interessant, erinnerungswert. Dritte These: Die Zirkularitäts-Metapher könnte damit auch grundsätzliche Kommunikations- und Prozessketten der industriellen Wertschöpfung infrage stellen. Eine „Abkehr von der linearen Ökonomie“, wie sie in ökologischen oder politökonomischen Schriften öfter angeregt wird, hin zur „zirkulären Ökonomie“, bedarf moderierter und zielorientierter Kommunikation der Akteure einer Wertschöpfungskette untereinander. Aber nicht nur ein kommunikativer Wandel im Projekt oder im Unternehmen muss gemeint sein. Das industrielle Bauen hat auch zu einer historisch neuen Trennung in mehrfacher Hinsicht geführt. Erstens von Bauunternehmen (mitsamt der Ausführung) und den Personen, die später einmal in dem errichteten Bauwerk leben. Man baut gewissermaßen nicht mehr für sich selbst, sondern für den Markt. Zweitens, zur Trennung von funktionalen und ästhetischen Erwägungen. Im Fall privater Bauherren, die ihr Haus energetisch sanieren oder baulich erweitern, zeigt sich das in der Rolle der Berater oder Experten der Baustoffindustrie. Hier wäre eine Bezugnahme auf den Expertokratie-Diskurs nützlch. Drittens also bedeutet industriell-technisches Bauen eine weitgehende Trennung von Gemüts- und Rationalitätsabwägungen der entscheidenden Akteursgruppen im Bauprozess. Im literarischen Sinne wäre mit dem Philosophen Günther Anders und dessen klassischem Ausdruck von der „Antiquiertheit des Menschen“ darüber nachzudenken. Dieses Problem (wenn man es als solches anerkennen mag, ohne damit die „Segnungen der Technik“ infrage stellen zu wollen) ließe sich über BIM und Digitalisierungstools vermutlich nicht adressieren. Zirkularität als Metapher könnte bedeuten, dass sich das Verhältnis naiver, aber lebensweltlich bedeutsamer Gefühls-Phänomene, die mit Bauwerken zu tun haben, und technisch-funktionaler Entscheidungserwägungen, kommunikativ neu justiert. Das hieße ausdrücklich nicht, die eine Ebene müsste gegen die andere ausgespielt werden, aber sie müssten miteinander im Austausch bleiben. Nähme man diese metaphorische Weitung ernst, bedeutete sie, auch eine atmosphärische Betrachtung von Bauwerken zu Planungsrelevanz zu verhelfen. Architektinnen und Architekten sprechen von Kontextualität des Entwurfs. Der Architekturphilosoph Christian Illies schlägt folgendes Vorgehen vor, wenn zum Beispiel ein Bauplatz besichtigt wird: 1. ® Staunen à 2. ® Wahrnehmen à 3. ® Denken à 4.-®-Bewerten. Zu fragen wäre: Was fehlt einer Nachhaltigkeitsbewertung, wenn die ersten drei Stufen ausgelassen werden oder anderen Expertengruppen des Bauens übertragen? Oder, ganz einfach als Betrachter dieser Szene (Foto 2): Haben Staunen und Wahrnehmung der Qualitäten dieses alten Gasthofs in Bad Schussenried (seiner Geschichte, 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 225 Zirkuläres Bauen als technische Herausforderung und als Metapher seiner Eigenart, seiner Eingebundenheit in den Ortskern) im Planungsprozess des Neubaus wohl jemals eine Rolle gespielt? Haben sie jemals eine Relevanz gehabt, gab es darüber Gespräche unter den Beteiligten? Oder hat man, gewissermaßen, mit dem funktionalen und ökonomischen Denken angefangen? Was bekannt ist: Für den Neubau, ein Pflegeheim in quadratischer Form und EPS- Dämmung, gab es eine Nachhaltigkeitsbewertung. Der Philosoph und Schriftsteller Hans Blumenberg sieht die Metapher allgemein als etwas nicht ganz Entschlüsselbares. 1 Sie wahrt gegen alle Zugriffe der Dekonstruktion, aber auch des Verstehenwollens ihre Geheimnisse. Die Metapher, schreibt Blumenberg, „konserviert den Reichtum ihrer Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muss“. Die Stärke der Metapher liegt darin, dass sie persönlicher Wahrnehmung wieder zur Geltung verhilft. Die Metapher, schreibt Blumenberg weiter, konserviere den Begründungszusammenhang zwischen „Lebenswelt und Welt theoretischer Sachverhalte“. Sie ist ein Brückenschlag der Vermittlung in diesem Sinne - von den „zerrissenen“ Bereichen kausal-objektivistischer „Denkarten“ und der menschlichen Lebenswelt der Erfahrungen. Die Erfahrungen des Lebens sind gemeint, das Empfinden, das Unbehagen, das Staunen, das Unsagbare, die Intention, transzendente Erfahrung. Blumenberg sieht die Metapher dann auch als „Grenzzone der Sprache, in der Niederschrift Scham vor der Öffentlichkeit wäre, ohne daß der Anspruch, etwas wahrgenommen zu haben, zurückgezogen würde“. Man kann also etwas Wahrgenommenes zur Sprache bringen, ohne aus der Ich-Perspektive zu reden, die im Apparat der Wissenschaft irrelevant oder peinlich ist und in der Politik im Ernstfall auch wenig Gewicht hat. Die Metapher bewahrt Erfahrungswerte auch unter den Objektivitätszwängen, die den Modus des Argumentierens im Wissenschafts- oder Politiksystem prägen. Metaphorisches Sprechen ist ein poetischer Grenzbereich der Unverfügbarkeit, der Widerständigkeit. Der ausschließliche Modus des Machbaren, der mit dem Soziologen Hartmut Rosa die Welt für uns technische Menschen zu einer „Serie von Aggressionspunkten“ macht, die es zu erreichen, erobern, auszubeuten, beherrschen, wissen oder nutzen gelte - dieser Modus legt uns und den Bauwerken einen, mit Rosa gesprochen, „Panzer der Verdinglichung“ um. Und sehen nicht manche Bauwerke noch danach aus? Literatur [1] Anders, G. (2002 [1956]). Die Antiquiertheit des Menschen: über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (Vol. 2). CH Beck. [2] Blumenberg, H. (2014 [1979]). Schiffbruch mit Zuschauer. Suhrkamp. 1 Dieser Absatz ist wörtlich meinem Buch über das zirkuläre Bauen von 2024 entnommen, und steht dort auf S. 7. Genaue Verweise finden sich dort. [3] Blumenberg, H. (2015). Schriften zur Technik. Suhrkamp. [4] Braungart, M., McDonough, W., & McDonough, W. (2013). Intelligente Verschwendung: the Upcycle: auf dem Weg in eine neue Überflussgesellschaft. Oekom. [5] Grossarth, J. (2018). Die Vergiftung der Erde: Metaphern und Symbole agrarpolitischer Diskurse seit Beginn der Industrialisierung. Campus. [6] Grossarth, J. (2024), Nachhaltig bauen ohne Atmosphäre? Ansätze für eine sensible Ergänzung professioneller Nachhaltigkeitsplanung, nbau. Nachhaltig bauen, 3 (2), pp. 18-25. [7] Grossarth, J. (2024). Anliegen und Bedeutungen des bioökonomischen Blickes: Eine Einführung und Einstimmung. In Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen: Eine Einführung (pp.- 1-15). Wiesbaden: Springer. [8] Grossarth, J. (2024). Der ressourcenschonende Bau als technische, ökonomische und kulturelle Herausforderung, In-Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen: Eine Einführung (pp. 17-53). Springer. [9] Grossarth, J. (2024). Zirkulärwirtschaft (Circular Economy) im Bauwesen-Status quo, Potenziale, Stellschrauben, In- Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft im Bauwesen: Eine Einführung (pp. 267- 335). Springer. [10] Heisel, F., & Hebel, D. (2021, Hg.). Urban mining und kreislaufgerechtes Bauen. Stuttgart: Fraunhofer IRB. [11] Herrmann, M., & Sobek, W. (2015). Gradientenbeton-Numerische Entwurfsmethoden und experimentelle Untersuchung gewichtsoptimierter Bauteile. Beton- und Stahlbetonbau, 110(10), 672-686. [12] Illies, C. (2020, Hg.). Bauen mit Sinn: Schritte zu einer Philosophie der Architektur. Springer. [13] Lakoff, G. & Johnson, M. (2008 [1980]). Metaphors we live by. University of Chicago press. [14] Lakoff, G. & Johnson, M. (2020). Conceptual metaphor in everyday language. In Shaping entrepreneurship research (pp. 475-504). Routledge. [15] Masou, R., Bergmann, C., Haase, W., & Brenner, V. (2012). Rezyklierbare modulare Massivbauweisen-Entwicklung von Grundprinzipien. Mauerwerk-Kalender 2012: Schwerpunkt: Eurocode 6, 649-681. [16] Rosa, H. (2018). Unverfügbarkeit. Residenz. Anmerkung: Das 2. Kapitel ist eine überarbeitete und um einige Aspekte und Beispiele ergänzte Version eines Beitrags des Autors zum selben Thema, der im Jahr 2024 im „Rotary Magazin“ erschienen ist. BIM 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 229 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten Dr.-Ing. Marcus Achenbach LGA Landesgewerbeanstalt Bayern KdöR, Nürnberg Dipl.-Ing. (FH) Jens Schikowski Ingenieurbüro Schikowski, Bad Lobenstein Zusammenfassung Die Prüfung des Standsicherheitsnachweises ist Teil des Genehmigungsverfahrens von Bauwerken. Bisher wurde der Bauantrag in Papier eingereicht, so dass auch die weiteren bautechnischen Unterlagen, wie z. B. statische Berechnung und Konstruktionspläne, in ausgedruckter Form vorgelegt und geprüft wurden. Durch die Digitalisierung des Bauantrages in verschiedenen Bundesländern ist die Einreichung des Bauantrages mit weiteren Bauvorlagen im Format PDF möglich und statische Berechnung und Pläne können auch als PDF geprüft und freigegeben werden. Damit ist der erste Schritt zur Digitalisierung des Bauantragsverfahrens erfolgt, indem Papier durch PDF ersetzt wird. Darüber hinaus schreitet die Verwendung von BIM- oder 3D-Modellen bei der Planung von Bauwerken voran, bzw. ist beim Stahlbau bereits seit längerem üblich. Einerseits liegt die Verwendung von BIM-Modellen bei der statischen Berechnung und Prüfung nahe, ist aber (noch) nicht durch Bauordnungen der Bundesländer im Hochbau geregelt. Andererseits wird die Verwendung von BIM bei Bauten des Bundes und der Bundesländer durch verschiedene Masterpläne verpflichtend vorgeschrieben. Die Autoren dieses Beitrages haben daher die Verwendung von BIM bei der Erstellung der statischen Berechnung, Ausführungsplänen und der Prüfung des Standsicherheitsnachweises anhand eines realen Bauvorhabens erprobt. Dabei zeigt sich, dass der Austausch von Berechnungs- und Ausführungsmodellen zwischen den Beteiligten maßgebend für die erfolgreiche Anwendung von BIM ist. Bei der praktischen Umsetzung bestehen jedoch noch mehrere Hürden. In dem Beitrag werden sowohl diese Schwierigkeiten als auch die Vorteile bei der Anwendung von BIM bei der Prüfung von Stahlbauten aufgezeigt. 1. Einführung Die Digitalisierung des Bauantrages liegt in Deutschland bei den Bundesländern. In der Musterbauvorlagenverordnung [1] ist bereits seit 2020 die Verwendung von Plänen und Unterlagen im Format PDF vorgesehen, wird aber in den Bundesländern unterschiedlich umgesetzt. Während in wenigen Bundesländern noch an Unterlagen in Papier festgehalten wird, werden bereits in Niedersachsen weitere Formate, wie z. B. DXF, DWG und IFC zugelassen [2] und gehen über die Musterbauvorlagenverordnung hinaus. Aufgrund der unterschiedlichen Umsetzung in den einzelnen Bundesländern wird daher in diesem Beitrag Bayern betrachtet, da hier beide Autoren den Schwerpunkt ihrer Arbeit haben und auch das in diesem Beitrag beschriebene Bauvorhaben realisiert wurde. Der digitale Bauantrag wird in Bayern seit März 2021 an verschiedenen Pilotlandratsämtern erprobt [3]. Im Rahmen der sogenannten Experimentierklausel darf hier von Bauvorlagen aus Papier [4] abgewichen werden, indem die Vorlage von Plänen und weitere Unterlagen im Format PDF ermöglicht ist. Statische Berechnung und Konstruktionspläne sind Teil der Bauvorlagen. Die Vorlage im Format PDF ermöglicht daher eine Digitalisierung des Prüfprozesses. Die Verwendung von Unterlagen im Format PDF statt in Papier stellt nur den ersten Schritt der Digitalisierung dar, da die Verwendung von digitalen Gebäudemodellen zunimmt. So wird derzeit durch die Bundesregierung die Verwendung von BIM [5] bei der Planung und dem Betrieb von Gebäuden vorangetrieben [6]. Dabei sind als Anwendungsfälle auch der Genehmigungsprozess, sowie die Bemessung und Nachweisführung vorgesehen. Die Umsetzung für Hochbauten in Bayern wird durch die Landesregierung für die staatlichen Bauämter, die teilweise auch Bundesbauten betreuen, im Rahmen von Leitfaden [7] konkretisiert und folgt weitestgehend den Vorgaben der Bundesregierung [5]. Die Verwendung digitaler Gebäudemodelle ermöglicht kollaborativ am Modell zu arbeiten und auf Pläne zu verzichten, da diese aus dem Modell abgeleitet werden können. Dies unterscheidet sich deutlich vom bisherigen Prüfprozess. Über die Verwendung digitaler Gebäudemodelle im Rahmen der Prüfung wird bereits von Oltmanns et al. [8] und Hennecke und Wüchner [9] berichtet. Im Rahmen dieses Pilotversuches wurde daher von den Autoren dieses Beitrages zusammen mit der Allplan GmbH, der Dlubal Software GmbH und der Stahlbau Perthel GmbH die Planung und Prüfung einer Stahlhalle in Bayern erprobt. Ziel ist die Anwendung einer modellbasierten Prüfung mit marktüblichen Softwaretools. Die Planung und Ausführung erfolgte Sommer bis Winter 2023. Die in diesem Beitrag dargestellten technischen 230 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten Ergebnisse sind daher auf den damaligen Kenntnisstand zu beziehen. Im nächsten Abschnitt erfolgte eine kurze Beschreibung des Bauwerkes und der verwendeten Software. Danach werden die Erfahrungen aus Sicht des Tragwerksplaners und der Ausführungsplanung sowie des Prüfenden dargestellt. Im letzten Abschnitt werden die wesentlichen Ergebnisse aus dem Pilotversuch zusammengefasst. 2. Beschreibung des Bauwerks und verwendete Software Bei dem Pilotprojekt handelt es sich um den Neubau des Betriebsgebäudes eines kommunalen Bauhofes in Bayern. Die tragenden Bauteile sind in Abbildung 1 dargestellt. Die Abmessungen betragen ca. 50 × 16 × 7 m. Die Halle wurde als Stahlbau, der Sozialtrakt als Massivbau errichtet. Es wurden übliche Walzprofile verwendet die mit geschraubten Verbindungen, teilweise mit Vouten, zusammengebaut wurden. Die Dacheindeckung und Wandverkleidung wurde aus Sandwichelementen mit Pfetten und Wandriegeln aus Kaltprofilen herstellt. Abb. 1: Tragende Bauteile des Pilotprojektes Die Genehmigungsplanung erfolgte zweidimensional und der Bauantrag wurde digital eingereicht. Die Berechnung wurde mit der Software RFEM 6 erstellt und mit SCIA Engineer 22 geprüft. Für die Ausführungsplanung wurde Autodesk Advance Steel 2023 verwendet. Als Kolloborationsplattform wurde Allplan Bimplus eingesetzt. 3. Erfahrungen des Tragwerksplaners und der Ausführungsplanung Das statische Modell wurde mit der Software RFEM 6 als räumliches Stabwerk erzeugt und dann in die Format IFC [10] und SAF [11] exportiert, um das Berechnungsmodell mit dem Prüfingenieur auszutauschen. IFC ist das standardisierte Datenformat, das herstellerneutral zum Austausch von digitalen Bauwerksmodellen der einzelnen Fachplaner verwendet wird [5]. Das SAF-Datenformat basiert auf Excel und dient zum herstellerneutralen Austausch von Modellen der Tragwerksplanung [12]. Derzeit wird dieses Datenformat hauptsächlich bei in Deutschland genutzten Tragwerksplanungsprogrammen eingesetzt. Als Kollaborationsplattform wurde Allplan Bimplus gewählt, die einen Informationsaustausch entsprechend DIN EN 19650-1 [13] erlaubt. Dabei ist sowohl der Austausch von digitalen Gebäudemodellen, deren Verwaltung als auch die Kollaboration mittels des Austauschformates BCF [14] möglich. Als „gemeinsame Datenumgebung“ (CDE) ist der rechte- und rollenbasierte Austausch von Dokumenten ebenso integriert. Zusätzlich ist in der Plattform der SCIA-Autoconverter enthalten, mit dem die Umwandlung von Architekturmodellen zu Modellen der Tragwerksplanung im Format IFC bzw. der Export nach SAF möglich sind. In Abbildung 2 ist das in Bimplus importierte statische Modell dargestellt. Abb. 2: Modell des Tragwerkplaners in Bimplus Bei dem Pilotprojekt erfolgte die Genehmigungsplanung als konventionelle zweidimensionale Planung, ohne die Verwendung von digitalen Gebäudemodellen. Daher wurde das erste digitale Bauwerksmodell durch den Tragwerksplaner erstellt bzw. aus dessen Berechnungsmodell abgeleitet. Im Pilotprojekt wurde die Struktur mit Lasten, Knoten, Stäben und Querschnitten in die Formate SAF und - soweit möglich - IFC exportiert und in die Plattform Bimplus hochgeladen. Dieses Modell bildete die Basis für die Vergleichsberechnung des Prüfingenieurs, konnte allerdings nicht erfolgreich importiert werden. Insbesondere die im Stahlrahmenbau üblichen Vouten sind bezüglich des Exports in die Datenformate IFC und SAF problematisch, da hier keine einheitliche Modellierung festgelegt ist. Auch der Import der auf das Stabwerksmodell angesetzten Lasten konnte nicht zufriedenstellend, bzw. nur mit zusätzlichem Aufwand bewerkstelligt werden. Die Erfahrungen des Prüfingenieurs werden im folgenden Abschnitt genauer beschrieben. Das Berechnungsmodell des Tragwerkplaners mit gewählter Profilierung bildete die Grundlage für die Werkstattplanung der Stahlbaufirma. Diese erfolgte am 3D- Modell, aus dem die Werkstattzeichnungen abgeleitet wurden. Dieses Modell wurde im Format IFC exportiert und ebenfalls auf Bimplus hochgeladen und mit den weiteren Projektbeteiligten geteilt. In der CDE Bimplus können die verschiedenen Modelle des Tragwerkplaners, Prüfingenieurs und der ausführenden Firma visualisiert werden, so dass eine erste Kontrolle bezüglich geometrischer Abweichungen leicht möglich ist. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 231 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten Für die einzelnen Fachmodelle können für jedes Bauteil die zugehörigen Attribute eingesehen werden. Eine einheitliche Verwendung der Attribute innerhalb der unterschiedlichen Programme ist derzeit nicht gegeben, sodass sich bei dem Ex- und Import via IFC Abweichungen ergeben. Teilweise sind Querschnittsdaten nicht vorhanden oder in unterschiedlichen Attributen festgehalten bzw. werden Schweißnähte im 3D-Werkstattmodell nicht im Format IFC exportiert, oder Schrauben mit falschen Einheiten versehen. Dies ist in Abbildung 3 dargestellt. Der beschriebene Daten- und Informationsaustausch setzt die Verwendung einer gemeinsamen Datenumgebung voraus. Dazu ist von den Beteiligten vorab zu definieren und einzuhalten, wer für die Datenumgebung verantwortlich ist und wer diese betreibt bzw. zur Verfügung stellt. Weiterhin ist ein einheitlicher Ursprung zu definieren, um den Austausch der Modelle in korrekter Lage und Orientierung zu ermöglichen. Bei Tragwerksplanungssoftware wird dieser ohne Bezug zu geografischen Koordinaten definiert, wohingegen bei Architekturmodell ein Bezug dazu hergestellt wird. Im Rahmen des Pilotprojektes konnte gezeigt werden, dass ein Austausch von Modellen mit dem Prüfingenieur möglich ist und der Austausch über die Kollaborationsplattform den Austausch von Information und Dateien zur Prüfung erleichtert. Allerdings konnte in dem Pilotprojekt keine ausschließlich modellbasierte Prüfung, d. h. ohne weitere Ausführungspläne, durchgeführt werden, da beim Austausch mittels IFC beispielsweise die Verbindungsmittel nicht, oder nur fehlerhaft, übergeben wurden. Diese sind jedoch maßgebend für die Standsicherheit des Tragwerkes. Weiterführende Nachweise, wie Detail- oder Knotennachweise, wurden nicht am 3D-Modell geführt und waren daher auch nicht Bestandteil des 3D-Modells des Tragwerkplaners. Üblich ist derzeit die Nachweisführung für Details in der Bemessungssoftware des Stabwerkes selbst oder die teilweise automatisierte Übergabe an gesonderte Software. Eine komplette Übernahme in das 3D-Modell ist nur teilweise möglich. Daher ist der Austausch von statischer Berechnung und Konstruktionsskizzen noch in anderen Formaten, wie PDF, zwingend erforderlich. Abb. 3: Kommunikation zwischen Prüfingenieur, Konstrukteur und Tragwerksplaner mittels BCF 4. Erfahrungen des Prüfingenieurs Die Prüfung der statischen Berechnung und der Konstruktionspläne erfolgten bei diesem Projekt papierlos. Die Verwendung von Modellen im Format IFC und SAF, sowie der Austausch über eine gemeinsame Datenumgebung im Rahmen der Prüfung wurden bei diesem Pilotversuch erprobt. Das Berechnungsmodell wurde vom Tragwerksplaner in den Formaten IFC und SAF bereitgestellt. Der Import der SAF-Datei in das Stabwerksprogramm des Prüfingenieurs ist nicht gelungen, da hier zum Zeitraum der Erprobung seitens des Ex- und Imports unterschiedliche Stände der Schnittstelle SAF implementiert waren. Auch die Wahl weiterer Exportparameter hat sich als schwierig herausgestellt, da deren Wirkung für den Anwender kaum zu überschauen sind. In der weiteren Bearbeitung wurde daher der Austausch des Strukturmodells via IFC weiterverfolgt. 232 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten Das importierte Modell des Tragwerksplaners ist in Abbildung 4 dargestellt. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, ist die Modellierung von Vouten im Stahlbau im Format IFC nicht eindeutig. Daher sind die Stäbe, bei denen eine Voute enthalten ist, nicht in dem Modell enthalten. In dem Pilotprojekt betraf dies alle Dachbinder. Abb. 4: Import des Modells des Tragwerkplaners in Scia Engineer 22 Im Rahmen der Vergleichsrechnung wurde daher der sich wiederholende Hallenrahmen als zweidimensionales Tragwerk modelliert. Dabei konnte die Geometrie leicht mit den Maßfunktionen und der Abfrage von Attributen in Bimplus abgeleitet werden. Beim Giebel wurde das in Scia Engineer 22 importierte Modell des Tragwerkplaners verwendet, da Querschnitte und Materialen der Bauteile richtig übernommen wurden und kaum Korrekturen der Geometrie des Modells erforderlich waren. Bei der Vergleichsrechnung wurden die Belastungen der Teiltragwerke unabhängig vom Modell des Tragwerkplaners aufgebracht. Die Struktur des Hallenrahmens wurde im Format IFC exportiert und die Datenumgebung Bimplus hochgeladen. Das Ergebnis ist in Abbildung 5 dargestellt. Es ist offensichtlich, dass Orientierung und Lage des Rahmens in der Statiksoftware des Prüfingenieurs nicht mit der Modellierung des Tragwerksplaners übereinstimmen. Abb. 5: Export des Modells der Vergleichsrechnung in Bimplus In Bimplus waren während der Erprobungsphase keine Werkzeuge zum Verschieben oder Verdrehen des Modells der Vergleichsrechnung vorhanden. Das Modell wurde daher mit der Autorensoftware Bricscad manipuliert. Das verschobene und verdrehte Modell ist in Abbildung 6 dargestellt. Dies setzt voraus, dass der Prüfingenieur entsprechende Software besitzt und bedienen kann. Eine Implementierung entsprechender Werkzeuge in die Datenumgebung wäre daher wünschenswert. Abb. 6: Bearbeitetes Modell der Vergleichsrechnung in Bimplus Wie bereits im vorigen Abschnitt beschrieben, wurden die Details der Verbindungsmittel, wie Schweißnahtdicke oder Schraubengüte und Durchmesser falsch oder unvollständig übermittelt. Die Kommunikation mit dem Tragwerksplaner und Konstrukteur erfolgte in dem Pilotprojekt in der Datenumgebung Bimplus, wie in Abbildung 3 dargestellt. Anmerkungen und Rückfragen zum Modell können dabei einfach und schnell via BCF [14] kommuniziert und geklärt werden. Die Prüfung und Freigabe der Konstruktion erfolgte daher konventionell mit Plänen im Format PDF, wobei das in Abbildung 1 dargestellte Modell die Prüfung wesentlich erleichtert hat, da Bauteile räumlich gut zugeordnet werden konnten. Die Kommunikation am Modell erfolgte auf der gemeinsam verwendeten Plattform der Beteiligten. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten daran teilnehmen und sich in diese einarbeiten. Für den Prüfingenieur stellt diese eine Herausforderung dar, da üblicherweise mehrere Projekte mit ggf. unterschiedlichen Datenumgebungen bearbeitet werden. Es wird daher davon ausgegangen, dass bei zukünftigen Projekten die Modelle in der Datenumgebung des Prüfingenieurs geprüft werden. Dies setzt angepasste Arbeitsabläufe unter Beachtung der rechtlichen Randbedingungen und Vorgaben der jeweiligen Bauordnung voraus [15]. Eine Bearbeitung beim Prüfingenieur ohne eigene Datenumgebung, d. h. nur mit BIM-Viewer und ggf. Erweiterungen zur Erzeugung von Anmerkungen im Format BCF ist technisch möglich. Allerdings können dann die Funktionen einer gemeinsamen Datenumgebung, wie revisionssichere Verwaltung der Modelle und ggf. rechtssichere Dokumentation des Prüfprozesses nicht genutzt werden oder müssen anders abgebildet werden. Ebenso kann der wesentliche Vorteil einer CDE, die Bündelung der Modelle, Daten und Kommunikation an einem Ort, nicht genutzt werden. Bei Verwendung einer Datenumgebung ergeben sich darüber hinaus für den Prüfingenieur weitere Möglichkeiten, da das Modell des Tragwerkplaners, das Modell der eigenen Vergleichsberechnung und das Modell der ausgeführten Konstruktion in verschiedenen Versionen überlagert werden können. Bei der hier verwendeten Plattform Bimplus besteht darüber hinaus die Möglichkeit 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 233 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten Berechnungsmodelle im Format SAF zu erzeugen, die in verschiedene Programme zur statischen Berechnung importiert werden können. Dadurch wird ein kontinuierlicher Arbeitsablauf möglich, der z. B. die Verfolgung von Planungsänderungen erheblich vereinfacht. Dabei steht mit der Kommunikation am Modell mittels BCF [14] ein Hilfsmittel zur Verfügung, das eine deutliche Beschleunigung des Prüfprozesses erwarten lässt. Dies setzt die Bereitschaft des Prüfingenieurs voraus, sich in BIM und die Verwendung einer gemeinsamen Datenumgebung einzuarbeiten. 5. Zusammenfassung und Ausblick In diesem Beitrag wurde über die Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten berichtet. Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt zeigen, dass eine modellbasierte Prüfung die Zusammenarbeit zwischen Tragwerksplaner, Prüfingenieur und Konstrukteur erheblich vereinfachen und beschleunigen kann. Bereits bei kleineren Projekten ergeben sich Vorteile, die mit wachsender Komplexität der Modelle zunehmen da insbesondere räumliche Tragwerke teilwiese aufwändig in zweidimensionalen Plänen darzustellen sind. Voraussetzung für die Zusammenarbeit ist jedoch, dass alle Daten korrekt und vollständig übergeben werden. Dies war bei dem Pilotprojekt nicht durchgehend gegeben und erfordert nach Meinung der Verfasser weitere Untersuchungen. Weiterhin sollte die Nutzung vorhandener Schnittstellen zwischen den Programmen niederschwellig ohne grundlegende Überlegungen und Einstellung möglich sein. Die Integration der Schnittstellen sollte so erfolgen, dass diese so einfach wie möglich nutzbar sind und sich in den Arbeitsauflauf nahtlos integrieren lassen. Die Sammlung weiterer Erfahrungen und der fortgeführte Austausch mit den Softwareherstellern sind wünschenswert. Die teilweise unvollständigen bzw. falsch exportierten Attribute der Modelle haben bei dem Pilotprojekt eine rein modellbasierte Prüfung verhindert. Daher ist die Entwicklung und Formulierungen von Kriterien zur Modellprüfung [5] notwendig, so dass idealiter eine automatisierte Prüfung möglich wird. Trotz der beschriebenen Probleme zeigte sich beim Pilotprojekt eine Verkürzung der Planungs- und Prüfprozesse, da beispielsweise Modelle übernommen werden konnten, Postlaufzeiten weggefallen sind und die Kommunikation am Modell erfolgte, so dass eine zügige Reaktion möglich war. Wünschenswerte wäre bereits ein Architekturmodell aus der Genehmigungsphase zu erhalten, dass vom Tragwerksplaner verwendet werden kann. Dadurch wäre die korrekte Übernahme der Geometrie für den Tragwerksplaner, als auch der Abgleich von Bauausführung mit Genehmigungsplanung durch den Prüfingenieur möglich. Idealerweise kann BIM bereits bei der Genehmigung des Bauwerkes eingesetzt werden. Dank Wir bedanken uns bei Dlubal Software und Allplan für die Unterstützung bei der Software und deren Anwendung sowie Stahlbau Perthel für die Mitarbeit im Pilotprojekt. Die Digitalisierung des Prüfprozesses mit Erprobung wird durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Rahmen des Verbundvorhabens „iECO - intelligent Empowerment of COnstruction Industry“ gefördert. Literatur [1] MBauVorlV: Musterbauvorlagenverordnung (MBauVorlV), Fassung Februar 2007, Änderung 25.09.2020, 2020. [2] NBauVorlV: Niedersächsische Verordnung über Bauvorlagen sowie baurechtliche Anträge, Anzeigen und Mitteilungen, 2021. --Fassung 24.08.2021. [3] DBauV: Verordnung über die digitale Einreichung bauaufsichtlicher Anträge und Anzeigen (Digitale Bauantragsverordnung - DBauV), 2021. --Fassung 24.08.2021. [4] BauVorlV: Verordnung über Bauvorlagen und bauaufsichtliche Anzeigen (Bauvorlagenverordnung - BauVorlV), 2007. --Fassung 24.08.2021. [5] Borrmann, A. ; König, M. ; Koch, C. ; Beetz, J. (Hrsg.): Building Information Modeling: Technologische Grundlagen und industrielle Praxis, VDI-Buch. 2., aktualisierte Auflage. Wiesbaden [Heidelberg]-: Springer Vieweg, 2021 --ISBN-978- 3-658-33360-7. [6] Masterplan BIM für Bundesbauten - Erläuterungsbericht, Bundesminsterium des Inneren, für Bau und Heimat ; Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.). [7] BIM Leitfaden - Digitales Planen und Bauen im Bereich Hochbau ; Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr (Hrsg.). [8] Oltmanns, H.-G. ; Oltmanns, H. ; Dirks, A.: BIM- Modelle und die Bearbeitung durch Prüfingenieure: Modellbasiertes Prüfen - gesamtheitliches Denken und neue Beurteilungskriterien. In: Bautechnik, Bd. 96 (2019), Nr.-3, S.-250-258. [9] Hennecke, M. ; Wüchner, R.: Prüffähigkeit digitaler 3D-Planunen. In: Bergmeister, K. ; Fingerloos, F. ; Wörner, J.-D. (Hrsg.): Betonkalender 2024. Bd. 2-: Ernst & Sohn, 2024, S.-694-715. [10] DIN EN ISO 16739-1: Industry Foundation Classes (IFC) für den Datenaustausch in der Bauwirtschaft und im Anlagenmanagement - Teil 1: Datenschema (ISO 16739-1: 2018); Englische Fassung EN ISO 16739-1: 2020, 2021. [11] SAF Documentation - SAF Documentation documentation. URL https: / / www.saf.guide/ en/ stable/ . - abgerufen am 2024-04-09. [12] Dlubal, D.: Untersuchung des Structural Analysis Format (SAF) auf Eignung für eine BIM-gestützte Tragwerksplanung. 234 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Anwendung von BIM bei der Planung und Prüfung von Stahlbauten [13] DIN EN ISO 19650-1: Organisation und Digitalisierung von Informationen zu Bauwerken und Ingenieurleistungen, einschließlich Bauwerksinformationsmodellierung (BIM) - Informationsmanagement mit BIM - Teil 1: Begriffe und Grundsätze (ISO 19650-1: 2018); Deutsche Fassung EN ISO 19650-1: 2018, 2019. [14] BIM Collaboration Format (BCF). URL https: / / technical.buildingsmart.org/ standards/ bcf/ . - abgerufen am 2022-11-10. --buildingSMART Technical. [15] Achenbach, M.; Weber, B.; Rivas, P.: Application of BIM in design review processes for buildings. In: Biondini, F.; Frangopol, D. M. (Hrsg.): Life-Cycle of Structures and Infrastructure Systems. Boca Raton: CRC Press -- ISBN- 978-1-00-332302-0, S.-3380-3387. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 235 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik Gustavo Cosenza, M. Sc. Emch+Berger GmbH Ingenieure und Planer Weimar/ Bauhaus-Universität Weimar Prof. Dr.-Ing. Christian Koch Bauhaus-Universität Weimar, Professur Intelligentes Technisches Design Dr.-Ing. Marcus Achenbach LGA Landesgewerbeanstalt Bayern Prüfamt für Standsicherheit, Hof Abstract Aktuell existieren weder anerkannte Regeln der Technik noch einheitliche Prozesse für BIM-basierten Tragwerksplanungen oder bautechnischen Prüfungen. Das stellt eine Hürde in den künftige modellbasierte Genehmigungs- und Freigabenprozesse von Baumaßnahmen in Deutschland dar. In diesem Beitrag wird der aktuelle Stand der Wissenschaft bzgl. der Durchführung von bautechnischen Prüfungen nach der BIM-Methodik präsentiert. Dafür werden sowohl nationale und internationale Veröffentlichungen als auch die aktuell gültigen und maßgebenden Normen, Verordnungen, Richtlinien und Verwaltungsvorschriften zusammengetragen. In einem Ausblick werden die noch offenen Punkte diskutiert, die für die Regelung eines BIM-basierten Prüfverfahrens erforderlich sind. 1. Einführung Das Building Information Modeling (BIM) ist eine kooperative Arbeitsmethode auf der Basis digitaler Fachmodelle zur Umsetzung spezifischer Anwendungen während des gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks (u. a. für die Bestandsmodellierung, die Planung, die Bauausführung und den Betrieb). Die Fachmodelle können sowohl räumliche, zeitliche und kostenaufwändige Dimensionen als auch uneingeschränkten semantischen Informationen aufweisen. Seit dem Jahr 2015 wird von der Bundesregierung die Implementierung der BIM-Methodik in der Realisierung von Infrastrukturprojekten gefördert. Mit dem Stufenplan Digitales Planen und Bauen [1] sollte die Implementierung in drei Phasen bis zum Jahr 2020 erzielt werden. Im Jahr 2022 hat das Bundeskabinett zusätzliche Digitalisierungsmaßnahmen zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung beschlossen, um die Genehmigungsverfahren solcher Projekte künftig in digitaler Form zu ermöglichen. Ab dem Jahr 2025 sollen alle Planungen von öffentlichen Infrastrukturprojekten standardmäßig nach der BIM-Methodik erstellt werden. Die Vorreiter der BIM-Implementierung im Infrastruktursektor sind die Eisenbahninfrastruktur-unternehmen der Deutschen Bahn AG (DB InfraGO AG). Ihr Erfolg ergibt sich aus der konsequenten Umsetzung ihrer eigenen Strategie [2]. Sie haben die großen Herausforderungen bei der Umsetzung anhand zahlreicher Pilotprojekte unterschiedlicher Größe und Komplexität frühzeitig erkannt und ihre Strategie im Laufe der Jahre dementsprechend angepasst. Ihre aktuellen Ziele sind die Einführung von Genehmigungs- und Freigabeprozessen nach der BIM-Methodik im Einvernehmen mit dem Eisenbahnbundesamt (EBA) und die Erstellung von digitalen Zwillingen (auf Englisch Digital Twin). Für die Planung, die Erhaltung und den Betrieb von Bundesfernstraßen haben die Autobahn GmbH und die Auftragsverwaltung der Länder ein Masterplan entwickelt [3], in dem die BIM-Methodik als Regelprozess ab dem Jahr 2025 eingeführt werden soll. Der Fokus soll mittel- und langfristig bei der Erstellung von digitalen Zwillingen und regelbasierten Prüfungen liegen. Darüber hinaus wurden eigene Musterrichtlinien (MR BIM) und Handlungsempfehlungen (HE BIM) für die Projektbearbeitung erstellt. Für den Bundesbau wurde ein Masterplan [4] und eine Umsetzungs-strategie [5] erstellt. Der Bundesbau umfasst alle zivilen und militärischen Baumaßnahmen des Bundes im In- und Ausland. Ab dem Jahr 2025 soll der Schwerpunkt der Implementierung auf der Unterstützung von externen Genehmigungsprozessen durch andere Behörden liegen. Dafür ist die Vorgabe spezifischer Anwendungsfälle vorgesehen. Der vorliegende Beitrag ist in sechs Abschnitten gegliedert. Im zweiten Abschnitt wird der aktuelle Stand der bautechnischen Prüfung, der BIM-basierten Tragwerksplanung und der modellbasierten Prüfungen erläutert. Im dritten Abschnitt wird die angewandte Methodik für die vorliegende Literaturrecherche beschrieben. Im vierten Abschnitt werden die Themen erklärt, die als aktuelle Schwerpunkte der Forschung und BIM-Anwendung in Bezug auf die Tragwerksplanung identifiziert wurden. Im fünften Kapitel werden die offenen Punkte für ein künftiges BIM-basiertes Prüfverfahren diskutiert. Im letzten Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse der Recherche und Diskussion zusammengefasst. 236 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik 2. Grundlagen 2.1 Bautechnische Prüfung In Deutschland dürfen Baumaßnahmen wie Neubau, Ersatzneubau, Instandsetzung, Instandhaltung und Rückbau nur durchgeführt werden, wenn deren Standsicherheit nachgewiesen ist [6], [7], [8]. Die spezifischen Anforderungen an die Standsicherheit sind in den Technischen Baubestimmungen vorgegeben [9], [10]. Da werden sowohl die aktuellen anerkannten Regeln der Technik als gültiges anzuwendende Regelwerk als auch punktuelle Ergänzungen und Anpassungen der Normen für spezifische Fälle oder örtliche Gegebenheiten definiert. Im Rahmen der Bauaufsicht wird die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften von den zuständigen Bauaufsichtsbehörden der Bundesländer und spezifisch für die Eisenbahninfrastruktur vom Eisenbahn-bundesamt überwacht [6], [11], [12]. Die Durchführung der bautechnischen Prüfung wird in der Regel durch anerkannte Prüfingenieure, Prüfämter und Prüfsachverständiger-- nachfolgend „Prüfer“ genannt - wahrgenommen [6], [7], [12]. Die Hauptaufgabe der Prüfer als Verwaltungshelfer der Bauaufsichtsbehörde ist die Prüfung der Einhaltung des gültigen Regelwerkes. Im Regelfall erfolgt der gesamte Prüfprozess in Papierform. In einigen Ländern und Institutionen darf die bautechnische Prüfung auf digitalen Planunterlagen (z. B. pdf-Format) basieren. Die Anwendung von Fachmodellen ist diesbezüglich noch auf Forschungsprojekte beschränkt [13]. 2.2 BIM-basierte Tragwerksplanung Die Anwendung und das Potential der BIM-Methodik in der Tragwerksplanung wurden in den letzten 10 Jahren schrittweise intensiver untersucht. Im Jahr 2019 haben Vilutiene, Kalibatiene, Hosseini und Pellicer [14] eine sehr umfangreiche Literaturrecherche aus 369 Veröffentlichungen zu diesem Thema aus den Jahren 2003 bis 2018 erstellt. In diesem langen Zeitraum lag der Fokus der Forschung auf die Interoperabilität, die Kollaboration, die Automatisierung, die Datenanalyse und die Entwicklung von Verwaltungssystemen. Im Jahr 2021 haben Ciotta, Manfredi und Cosenza [15] weitere BIM-Anwendungen für die statische Berechnung, die Planableitung, die Bemessungsoptimierung, das Erdbeben-Risikomanagement, die Modellierung von Randbedingungen, die Instandsetzung und das Bauwerksmonitoring identifiziert. In einer weiteren Literaturrecherche von Fernandez-Mora, Navarro und Yepes [16] vom Jahr 2022 werden die aktuellsten Schwerpunkte der Forschung ergänzt um: Nachhaltigkeit, Lebenszyklus und Bestands-modellierung von Denkmalen (auf Englisch Heritage-BIM, HBIM). Für die BIM-basierte Tragwerksplanung nach den Leistungsphasen der HOAI schlägt Eisfeld [17] spezifische Anwendungsfälle vor, wie die Übernahme des Architekturmodells (bzw. des Fachmodells der Objektplanung) als Referenz für die statische Berechnung, die Ableitung von statischen Informationen aus dem Tragwerksmodells (bzw. des Fachmodells der Tragwerksplanung), die modellbasierte Freigabe der Schalung, die Realisierbarkeitsprüfung der geplanten Bewehrungs-führung und die Erstellung des As-Built-Modells. Trotz der rasanten Entwicklung der BIM- und FE-Software in den letzten Jahren liegen aktuell nicht die technischen Voraussetzungen für die Interoperabilität im Planungsprozess vor. Die automatische Übernahme aller erforderlichen statischen Informationen aus dem Fachmodell der Objektplanung für die Durchführung der statischen Berechnung ist in der Regel ohne die nachträgliche Anpassung oder Ergänzung in die FE-Software nicht möglich. Einige Software bieten die Möglichkeit an, die erforderlichen Anpassungen und Ergänzungen und sogar einfache Berechnungen bereits in die BIM-Umgebung vorzunehmen. Das kann für einfache oder vereinfachte statische Systeme ausreichend sein. Für Tragwerke, bei denen die Berücksichtigung von kinematischen Kopplungen, Federn und spezifischen Einwirkungen wie Kriechen und Schwinden, Temperatur oder Vorspannung maßgebend für die Bemessung ist, ist diese Methode ungeeignet. Die Komplexität und Art des Tragwerks ist für die Übermittlung von statischen Informationen zwischen den BIM- und FE-Softwares maßgebend. Während im Hochbau die Tragglieder auf Raster und Ebenen bezogen werden, werden die Bauteile von Ingenieurbauwerken auf Achsen und Gradienten definiert. Im Brückenbau sind Längs- und Querneigung der Regelfall. Wenn diese geometrischen Eigenschaften keinen maßgebenden Einfluss auf die Bemessung haben, werden diese in der Erstellung eines konventionellen FE-Modells nicht explizit berücksichtigt. Diese Vereinfachung in der Berechnung kann nicht in einem einzigen Fachmodell erfolgen. Eine Trennung zwischen den Fachmodellen der Objekt- und Tragwerksplanung ist in diesem Fall zwingend erforderlich. In einigen Softwaren ist diese Trennung aus technischer Sicht eingeschränkt möglich, indem ein anpassbares Berechnungsmodell das „physische“ Fachmodell der Objektplanung im Hintergrund begleitet. In Bezug auf Änderungen, die in der Planung solcher Bauwerke unvermeidbar sind, kann aktuell keine Software funktionale und uneingeschränkte Round-Trip-Workflows anbieten. Die Änderungen, die erst nach der Übermittlung des Fachmodells in die FE-Software vorgenommen werden, können nicht durch eine weitere Übermittlung des angepassten Fachmodells zurück in die BIM-Umgebung ohne das Risiko von Informationsverlust während des Austauschprozesses übernommen werden. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 237 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik Abb. 1: Beispiel eines Fachmodells der Objektplanung (oben) und des entsprechenden FE-Modells (unten) einer Stabbogenbrücke [18] Für die Berechnung von Ingenieurbauwerken ist in der Regel die Eingabe weiterer relevanten Informationen erforderlich, die erst nach der Übertragung in die FE-Software definiert werden können. Die Autoren schlagen für diese Informationen drei Kategorien vor: (1) spezifische Bauprodukte, Bauarten und Bauverfahren, (2) Einwirkungen und Lastgruppen für den Brückenbau und (3) rechnerische Bauzustände. Einige Beispiele für die erste Kategorie sind Lager (Randbedingungen, Feder), Komponenten des Verbundbaus (Schubkraftübertragung), Spannverfahren (Systemkomponenten, Verluste), Bauwerksverschub und Taktschiebeverfahren. In der zweiten Kategorie sind sowohl die Lastmodelle und die weiteren Komponenten der Lastgruppen (z. B. horizontale Lasten wie Anfahren und Bremsen und Seitenstoß) als auch die außergewöhnlichen Einwirkungen (z. B. Entgleisung und Anprall) gemeint. Die letzte Kategorie berücksichtigt die Bauzustände, in denen sich das statische System oder die Querschnitte der Tragglieder während der Bauausführung ändern. Nach Eingabe dieser Informationen in die FE-Software ist eine weitere Übertragung von statischen Informationen aus der BIM-Umgebung ohne Datenverlust nicht möglich. Darüber hinaus ist eine Übertragung dieser relevanten Informationen aus der FE-Software zurück in die BIM-Umgebung nach dem aktuellen Stand der Technik ebenfalls nicht möglich. Eine weitere technische Einschränkung für Bauwerke aus Stahl- oder Spannbeton bezieht sich auf die automatische Übernahme von Bemessungsergebnissen in die BIM-Software. Obwohl es bereits Initiativen gibt, Vorschläge für Bewehrungsführungen auf Grundlage der Bemessungsergebnisse in die BIM-Umgebung zu übernehmen, beschränkt sich dies aktuell auf einfache Geometrien des Hochbaus. In der Regel wird die Bewehrungsführung in die BIM-Software manuell erstellt. Im Fall komplexer Bewehrungsführungen kann die Realisierbarkeit z. B. in Bezug auf Kollisionen im 3D-Modell geprüft werden. 2.3 BIM-basierte Prüfungen Im Jahr 2020 wurde ein erstes Konzept für einen BIMbasierten Bauantrag in Deutschland im Rahmen eines Forschungsprojektes [19] untersucht. Es wurden zwei neue Datenstandards (XPlanung und XBau) und spezifische Anwendungsfälle für bauordnungs-rechtliche Verwaltungsverfahren definiert. Mit dem Format XPlanung sollen planungsrechtliche Informationen wie Planwerke der Raumordnung, Landes- und Regionalplanung, Bauleitplanung und Landschaftsplanung künftig für einen Bauantrag einheitlich abgebildet und ausgetauscht werden. Der digitale Bauantrag selbst und die weiteren Bauantragsunterlagen wie Standsicherheitsnachweise sollen für den Datenaustausch im Format XBau enthalten sein. Der Austausch von Fachmodellen soll durch das herstellneutrale IFC-Format erfolgen. Für die modellbasierte Prüfung des Bauantrages müssen die Fachmodelle spezifische Anforderungen an Geometrie und Semantik gemäß einer Modellierungsrichtlinie aufweisen. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden mehrere Beispielsprojekte vom Hochbau herangezogen und analysiert. Die Ergebnisse wurden in Workshops mit Behörden, Verbänden und Bundeskammern von Architekten, Bauingenieuren und Prüfingenieuren diskutiert. Der Nachfolger des BIM-basierten Bauantrags ist das Forschungsprojekts zur Digitalisierung der Musterbauordnung [20]. Die Musterbauordnung ist ein unverbindlicher Leitfaden für die Bauaufsicht von Gebäuden. Diese enthält u. a. Bauvorschriften und soll als Grundlage zur Vereinheitlichung der eigenen Landesbauordnungen dienen. Im Rahmen der Digitalisierung wurden die messbaren bauteilbezogenen Anforderungen der Musterbauordnung in logische Regeln übersetzt. Diese beziehen sich beispielsweise auf Gebäudeklassen, Höhen, Aufenthaltsräume, Nutzungseinheiten, Bruttogrundfläche und Nettoraumfläche. Die Konformität mit diesen Anforderungen sollen künftig im Fachmodell regelbasiert geprüft werden. Die Umsetzung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts in einem fiktiven Gebäude bewertet. Zur Digitalisierung der Genehmigungsprozesse von Eisenbahninfrastruktur wurden die Nutzungs-voraussetzungen zur Anwendung der BIM-Methodik im Inbetriebnahmegenehmigungsverfahren [21] analysiert. Die Bedingungen zur Erteilung einer Genehmigung zur Inbetriebnahme von Anlagen des regelspurigen Eisenbahnsystems im Zuständigkeitsbereich des Eisenbahn- Bundesamt (EBA) sind in der Eisenbahn-Inbetriebnahmegehemigungsverordnung (EIGV) [22] geregelt. Für 238 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik den Antrag fordert der Gesetzgeber das Einreichen der Antragsunterlagen in Papierform. Dennoch lässt er das Einreichen dieser Unterlagen in digitaler Form zu. Dafür wurde ein elektronischer Dienst (E-Service) eingerichtet, der in der Praxis jedoch keine Anwendung seitens des Auftragstellers findet [21]. Das unterstützt auch keine BIM-Anwendungen. Die technischen Voraussetzungen für die Implementierung der BIM-Methodik in den Genehmigungsprozessen sind sowohl die Anpassung und Erweiterung der bestehenden IT-Infrastruktur und -verfahren (z. B. das Dokumentenmanagement- und Workflowsystem im EBA, DOWEBA) als auch die Schaffung einer eigenen gemeinsamen Datenumgebung (auf Englisch Common Data Environment, CDE). Die mittel- und langfristigen Ziele des EBA für digitale Genehmigungsprozesse sind die Visualisierung und automatische Prüfung von Modellen und die Schaffung eines einheitlichen Nutzungsrahmens für die elektronische Signatur. Bezüglich der Standsicherheit von Bauwerken schlagen Ciotta, Ciccone, Asprone, Manfredi und Cosenza [23] einen ersten Ansatz für die regelbasierte Prüfung von Gebäuden aus Stahlbeton in Erdbebengebieten vor. Es wurde die Integration von Informationen aus der statischen Berechnung in das IFC-Format untersucht. Aufgrund technischer Einschränkungen des IFC-Formats zum Zeitpunkt der Untersuchung im Jahr 2021 wurde dies nicht weiterverfolgt. Stattdessen wurde die Integration dieser Informationen in einen externen Datencontainer (auf Englisch Information Container Data Drop, ICDD) gemäß ISO 21597 als sinnvolle Variante bewertet. Somit werden die statischen Informationen mit dem Fachmodell verknüpft. Auf dieser Grundlage soll eine automatische regelbasierte Konformitätsprüfung mit dem Regelwerk erfolgen. In [24] erweitern Ciccone, Ciotta und Asprone diesen Ansatz mit der Integration von Ausnutzungsgraden aus der statischen Berechnung in das IFC-Format. Dafür werden benutzerdefinierte Eigenschaftssätze (auf Englisch Property Sets, IfcPropertySet) und neue Definitionen für die Modellvisualisierung (auf Englisch Model View Definition, MVD) erstellt. Die Integration beschränkt sich auf die maßgebenden Ausnutzungsgrade auf punktuellen Stellen der Tragglieder im Fachmodell. 3. Methodik Die vorliegende Literaturrecherche wurde in zwei Phasen durchgeführt. In der ersten Phase lag der Fokus auf nationalen und internationalen wissenschaftlichen Arbeiten und Veröffentlichungen, die über BIM-basierte Tragwerksplanungen und bautechnische Prüfungen, regelbasierte Prüfungen mit Bezug auf die Tragwerksplanung, Interoperabilität und Datenaustausch berichten. Die Recherche wurde auf drei Sprachen (Englisch, Deutsch und Spanisch) beschränkt. In der zweiten Phase wurde die aktuelle technische und rechtliche Umsetzung in Deutschland anhand von BIM-Strategien, Masterplänen, Handbüchern unterschiedlicher Akteure untersucht. Es wurden insgesamt 65 Dokumenten konsultiert. 4. Ergebnisse Die nachfolgenden Themen stellen die aktuellen Schwerpunkte der Forschung und Anwendung der BIM-Methodik in Bezug auf die Tragwerksplanung und Prüfverfahren dar. 4.1 Datenaustausch Für die Realisierung öffentlicher Infrastrukturprojekte setzt der Stufenplan Digitales Planen und Bauen einen offenen und neutralen Datenaustausch (OpenBIM-Ansatz) für die BIM-Anwendung voraus [1]. Das ist auch verbindlich für den Datenaustausch im Rahmen der Tragwerksplanung (z. B. für statische Berechnung und Nachweisführung). Einige Beispiele von herstellerneutralen Formaten für den Datenaustausch auf dem deutschen Markts sind IFC (auf Englisch Industry Foundation Classes), OKSTRA, GAEB DA, XBau und XPlanung [25]. Für den spezifischen Austausch von Fachmodellen wurden das IFC-Format und die dazugehörigen Definitionen für die Modellvisualisierung (MVD) von der internationalen Non-Profit-Organisation buildingSMART entwickelt. Die Fachmodelle und ihre Bestandteile werden durch geometrische und semantische Eigenschaften objektorientiert beschrieben. Da das IFC-Schema sehr umfangreicht und komplex ist, sind die Eigenschaftssätze in Domänen, Ebenen, Klassen und Subklassen hierarchisch gegliedert. Jedes Objekt im Fachmodell weist eine eigene unduplizierbare Identifizierungsbezeichnung (auf Englisch Globally Unique Identifier, GUID) auf. Das IFC-Format bietet auch die Beschreibung von Beziehungen zwischen Objekten an, um „intelligente“ Fachmodelle zu erstellen [26]. Nach der Veröffentlichung der Version IFC4 wurde das Format als Standard ISO 16739 offiziell aufgenommen. Die Domäne IfcStructuralAnalysisDomain des IFC-Schemas ist spezifisch für die Tragwerksplanung vorgesehen. Hier werden das Berechnungsmodell (in der Fachliteratur auch als Tragwerksmodell bezeichnet) und weitere statische Informationen wie Auflagerbedingungen, Lasten, Schnittgrößen und Verformungen beschrieben [27]. Ab der Version IFC4.3 wurde das IFC-Schema für Ingenieurbauwerke wie Brücken und Tunnel erweitert. Das berücksichtigt die Beschreibung spezifischer Brückenbzw. Überbauarten wie Platten, Balken, Plattenbalken, Hohlkasten, Rahmen und Durchlässe. Die nachfolgenden BIM-Anwendungsfälle für die Tragwerksplanung wurden aufgrund deren Komplexität in der Erweiterung nicht weiter berücksichtigt: Datenaustausch von modifizierbaren Objekten des Berechnungsmodells, statische Berechnung, Konformitätsprüfung mit dem Regelwerk und Planableitung [28]. Durch die Definitionen für die Modellvisualisierung (MVD) werden spezifische Teile des IFC-Schemas nach Bedarf exportiert. Mit der MVD für die BIM-Koordination (auf Englisch Coordination View) ist die Übertragung von geometrischen und semantischen Eigenschaften der Fachmodelle möglich. In der Regel kann die übertragene Geometrie der Objekte nach dem Export nicht mehr modifiziert werden. Für die nachträgliche Modifizierung der 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 239 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik Geometrie ist die MVD für die BIM-Planung (auf Englisch Design Transfer) vorgesehen. Aufgrund technischer Einschränkungen findet diese MVD bei Infrastrukturprojekten keine Anwendung. Für den Austausch von spezifischen Informationen für die statische Berechnung von Bauwerken wie Tragglieder, Randbedingungen und Einwirkungen wurde die MVD für BIM-Tragwerksplanung (auf Englisch Structural Analysis View) entwickelt [29]. Im Rahmen der Erweiterung des IFC-Schemas wurden zwei zusätzliche MVD spezifisch für Brücken veröffentlicht: (1) MVD für Brückenreferenzierung (auf Englisch Bridge Reference View) und (2) MVD für Brückenplanung (auf Englisch Bridge Design Transfer View) [28]. Abb. 2: Beispiel eines Fachmodells einer Eisenbahnbrücke im Hbf. Hannover nach dem IFC-Export [30] Ein weiteres Austauschformat ist das auf Initiative der Nemetschek Gruppe entwickelte SAF (auf Englisch Structural Analysis Format). Dies ist ein Excel-basiertes Format für den spezifischen Austausch von relevanten Informationen für die Tragwerksplanung [31]. Die erste Version wurde im Jahr 2019 veröffentlicht. In der aktuellen Version können die Eigenschaften von Stab- und Flächenelementen, Auflagerbedingungen, Gelenken, Lasten, Lastgruppen, Lastfällen, Lastkombinationen und Schnittgrößen gespeichert werden. Der objektorientierte Auf bau des SAF-Schemas in Excel erleichtert für den Anwender die Nachvollziehbarkeit und Prüfung der auszutauschenden Informationen. Im Jahr 2021 hat Dlubal [32] die Eignung des SAF für eine BIM-basierte Tragwerksplanung untersucht. Das Format erfüllt aktuell nicht alle Voraussetzungen für den neutralen Datenaustausch nach dem OpenBIM-Ansatz. Entwicklung und Pflege der Spezifikation des SAF erfolgen nicht durch neutrale Gremien. Die Anwendung ist nicht normiert. Eine weitere Möglichkeit für den offenen und neutralen Datenaustausch ist die Verknüpfung von Daten mit den Fachmodellen in einem externen Datencontainer (ICDD) gemäß ISO 21597. 4.2 Regelbasierte Prüfung Die automatische Konformitätsprüfung von Planungen mit dem Regelwerk wird seit mehr als 30 Jahren erforscht [33]. In den letzten 15 Jahren lag der Schwerpunkt auf der regelbasierten Prüfung von Fachmodellen. Das ist die maschinelle Bewertung anhand von Algorithmen, ob die geometrischen und semantischen Eigenschaften der Objekte in den Fachmodellen vordefinierten Bedingungen erfüllen. In Bezug auf die Prüfung der Standsicherheit muss die Konformität mit dem Regelwerk in logischen und lesbaren Bedingungen übersetzt werden [34]. Weitere aktuelle Anwendungen sind die Identifizierung von Sicherheitsrisiken [35], die Sicherheitsprüfung von Bauzuständen [36], die Vollständigkeitsprüfung von Fachmodellen in Bezug auf den Datenaustausch für die Tragwerksplanung [37] und die Digitalisierung von Prüfprozessen für Bauanträge [19], [20] und [38]. Diese Anwendungen fokussieren sich ausschließlich auf den Hochbau. Es gibt in vielen Bereichen noch erheblichen Forschungsbedarf [39]. 4.3 Rechtlicher Rahmen Die Anwendung von Fachmodellen als Grundlage für die bautechnische Prüfung von Bauwerken ist in Deutschland nicht geregelt. Für die Festlegung eines gültigen rechtlichen Rahmens ist die Klärung von drei maßgebenden Themen bzgl. der Anwendung von Fachmodellen zwingend erforderlich: (1) Datensouveränität, (2) Validierung und Legitimierung durch digitale Signatur und (3) Zulässigkeit im Prüfverfahren. Im Gegensatz zum materiellen Eigentum gibt es aus rechtlicher Sicht keine klare Definition für das Dateneigentum. Die Datensouveränität beschreibt die Randbedingungen zum Schutz des Dateneigentums [40]. Mit der Einführung des Europäischen Datenverwaltungsaktes (auf Englisch Data Governance Act, DGA) soll ein rechtlicher Rahmen für den Austausch und die Nutzung von Daten geschaffen werden. Es werden drei Rollen definiert: Dateninhaber, Datennutzer und Datenmittler. Die Dateninhaber gewähren den Datennutzern den Zugang auf Daten für einen spezifischen Zweck. Die Datenmittler bieten Dienste für den Datenaustausch zwischen Dateninhabern und Datennutzern an [41]. Im Sinne der Datensouveränität gibt der Europäische Datenverwaltungsakt (DGA) die strikte Trennung zwischen Bereitstellung, Nutzung und Vermittlung von Daten vor. Das gilt nicht, wenn der Austausch und die Nutzung von Daten innerhalb spezifischer Phasen eines Projektes zwischen den Parteien vertraglich geregelt sind [42]. Bei der Anwendung von Fachmodellen in einem Prüfverfahren kann die Datensouveränität entweder durch die Erfüllung der Vorgaben des Europäischen Datenverwaltungsakts (DGA) oder vertraglich zwischen den Bauherrn, den Planern und den Prüfern gewährleistet werden. Im aktuellen Prüfverfahren werden die Ergebnisse der bautechnischen Prüfung, die Freigabe zur Bauausführung und ggf. die Auflagen für die Freigabe der Planunterlagen in einem Prüf bericht dokumentiert. Die Validierung und die Legitimierung des Prüf berichtes erfolgen durch den grünen Stempel zur Anerkennung des Prüfers und die Unterschrift des Prüfers. Im Fall digitaler Planunterlagen (z. B. pdf-Format) werden die Validierungs- und Legitimierungsprozesse durch qualifizierte elektronische Sig- 240 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik natur (auf Englisch Qualified Electronic Signature, QES) gemäß EU-Regularien für die elektronische Identifizierung (eIDAS 2014) aus rechtlicher Sicht abgedeckt [13]. Die Validierung und die Legitimierung von Fachmodellen befinden sich aktuell noch in der Forschung. 4.4 Anwendungsfälle Die Umsetzung der BIM-Methodik während des gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks wird zielorientiert in spezifischen Anwendungsfällen beschrieben. In Bezug auf die BIM-basierte Tragwerksplanung ist der Bedarf eines spezifischen Anwendungsfalls für die künftige modellbasierte Nachweisführung und Bemessung von Bauwerken sowohl im Masterplan BIM für Bundesfernstraßen [43], [44] als auch im Master BIM für Bundesbauten [4] erkannt worden. Für die Straßenbrücken werden weitere Anwendungsfälle für die Bauwerksprüfung, die Nachrechnung von bestehenden Bauwerken, die Schwertransporte (inkl. Berechnungsstufen und Lastbilder), die Instandsetzung und die Erneuerung von Bauwerken beschrieben [45]. Die wissenschaftliche Begleitung von BIM-Projekten im Bereich des Infrastrukturbaus [39] empfiehlt die Erstellung eines Kataloges von Anwendungsfällen mit Bezug auf die Leistungsphasen. 5. Diskussion In [23] und [24] wird ein erster Ansatz für die regelbasierte Prüfung von Fachmodellen bzgl. der Standsicherheit von Bauwerken vorgeschlagen. Für den Datenaustausch werden die statischen Informationen objektbasiert mit den Fachmodellen in einem externen Datencontainer (ICDD) verknüpft. In der Regel ist die Anzahl an Unterlagen (z. B. Berechnungsprotokolle), die zur bautechnischen Prüfung eingereicht werden müssen, immens. Beispielsweise werden die Diagramme der Schnittgrößen als pdf-Format gespeichert. Das sind keine „intelligente“ Informationen, die in einer regelbasierten Prüfung genutzt werden können. Die Qualität und die Lesbarkeit der Diagramme sind projektspezifisch sehr unterschiedlich. Die Nachvollziehbarkeit der eingereichten Unterlagen wird im Vergleich zum konventionellen Prüfprozess damit nicht verbessert. Eine Alternative dazu ist die Anwendung von Metadaten. Das setzt voraus, dass die FE- Software die Berechnungs- und Bemessungsergebnisse objektbasiert als Metadaten exportieren kann. Die Verknüpfung mit den Fachmodellen kann analog zum Ansatz von Taraben, Hallermann, Kersten, Morgenthal und Rodehorst [46] mit der unduplizierbaren Identifizierungsbezeichnung der Objekte (GUID) automatisch oder nachträglich erstellt werden. Auf dieser Grundlage können die Informationen in einem Prüfprozess nach bestimmten Kriterien sortiert und bewertet werden. Da in [23] und [24] der Fokus auf der Bemessung von Gebäuden aus Stahlbeton in Erdbebengebieten lag, beziehen sich die Ergebnisse auf Ausnutzungsgrade. Im Regelfall werden die Bemessungsergebnisse von Bauteilen aus Stahlbeton auf die mind. erforderliche Bewehrung im Querschnitt bezogen. Diese Information kann nicht in einer einzigen Anzahl analog zu den Ausnutzungsgraden punktuell im Fachmodell beschrieben werden. Die aktuellen gültigen Grundlagen für die bautechnische Prüfung sind ausschließlich Planunterlagen in Papier- oder in digitaler Form (in der Regel als pdf-Format). Die Anwendung von Fachmodellen in BIM-basierten Prüfverfahren muss künftig im Regelwerk explizit zugelassen werden. Die Voraussetzung für die Zulassung ist es, dass die Anforderungen, die Randbedingungen, die Einschränkungen und die Prozesse für die Anwendung von Fachmodellen geklärt sind. Die Anwendung von Fachmodellen soll künftig nicht auf die bautechnische Prüfung eingeschränkt werden. Der Einstig in BIM-basierte Prüfprozesse soll die Einbindung von Fachmodellen als Grundlage für das gesamte bauaufsichtliche Prüfverfahren berücksichtigen. In einer konventionellen Planung werden die Bauwerke anhand von Draufsichten, punktuellen Schnitten und Ansichten beschrieben. Diese geometrische Beschreibung der Bauwerke in zwei Dimensionen ist die Grundlage für die bautechnische Prüfung, die Freigabe zur Bauausführung und die Übereinstimmungskontrolle vor Ort durch die Bauüberwachung. Diese Vorgehensweise setzt voraus, dass die zweidimensionale Darstellung der Bauwerke die maßgebenden Stellen des statischen Systems berücksichtigt. Die restlichen Bereiche außerhalb dieser zweidimensionalen Beschreibung werden in der bautechnischen Prüfung nicht explizit freigegeben. In einem BIM-basierten Prüfverfahren wird das Bauwerk nicht auf zwei Dimensionen reduziert. Im Regelfall soll die Standsicherheit eines dreidimensionalen Fachmodells geprüft werden. Wenn es Bauzustände gibt, die einen Einfluss auf die Standsicherheit, die Betriebssicherheit oder die Verkehrssicherheit haben, erweitert sich das Fachmodell mit den Bauphasen auf vier Dimensionen. Die statische Berechnung von mehrdimensionalen Tragwerken ist mit der aktuellen Technik nicht außergewöhnlich. Die Herausforderung besteht darin, die Übereinstimmung mit dem freigegebenen mehrdimensionalen Bauwerk auf der Baustelle zu kontrollieren. Aus diesem Grund schlagen die Autoren für einen künftigen BIMbasierten Prüfprozess eine bauteilbezogene Freigabe im Fachmodell vor. Somit kann das Bauwerk wieder für die Bauüberwachung vor Ort entkoppelt werden. Für die Validierung und Legitimierung des BIM-basierten Prüfverfahrens sind mehrere Ansätze denkbar. Ein pragmatischer Ansatz ist die von den Autoren vorgeschlagene bauteilbezogene Freigabe im Fachmodell. Die geprüften und freigegebenen Bauteile können anhand der unduplizierbaren Identifizierungsbezeichnung der Objekte (GUID) im Prüf bericht aufgenommen werden. Mit einer bauteilbezogenen Versionierung auf semantischer Ebene wird der aktuelle Prüfstand in Bezug auf die Umsetzung von Prüfanmerkungen oder bei Planungsänderungen sowohl im Fachmodell als auch im Prüf bericht registriert. Die Verknüpfung zwischen den Bauteilen und dem digitalen Prüf bericht kann entweder in einem externen Datencontainer (ICDD) oder mit einem alphanumerischen Code als Attribut der Bauteile erstellt werden. Somit behält der digitale Prüf bericht mit qualifizierter 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 241 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik elektronischer Signatur (QES) seinen aktuellen gültigen rechtlichen Status. Wenn ein Bauteil zur Bauausführung freigegeben wird, darf die Geometrie und die weiteren statischen und konstruktiven Komponenten des Bauteils wie Bewehrung, Schraub- und Schweißverbindungen ohne die Zustimmung des Prüfers nicht mehr geändert werden. Durch einen neutralen Datenaustausch mit dem IFC-Format und der entsprechenden Definition für die Modellvisualisierung (MVD) ist eine nachträgliche Änderung des IFC-Modells nicht möglich. Die Nachvollziehbarkeit von Änderungen wird durch die Versionierung der Bauteile und Fachmodelle sichergestellt. In Bezug auf den offenen und neutralen Datenaustausch für künftige BIM-basierte Prüfverfahren sind drei Szenarien denkbar: (1) die Integration von statischen Informationen in die aktuelle Version des IFC-Formats, (2) die Verknüpfung von Metadaten mit den Fachmodellen in einem externen Datencontainer (ICDD) und (3) die Ergänzung des IFC-Formats mit dem Excel-basierten SAF. Die Anwendung des SAF ist eine praxisnahe Alternative, wenn die Voraussetzungen für den neutralen Datenaustausch nach dem OpenBIM-Ansatz erfüllt sind. 6. Zusammenfassung Für die künftige Realisierung öffentlicher Infrastrukturprojekte wird die Umsetzung der BIM-Methodik als Regelprozess mit einem offenen und neutralen Datenaustausch gefordert. Aktuell liegen die technischen Voraussetzungen für die Interoperabilität zwischen BIM- und FE-Softwaren nach dem OpenBIM-Ansatz für ein BIM-basiertes Prüfverfahren nicht ausreichend vor. Die Anwendung von Fachmodellen als Grundlage für die bautechnische Prüfung von Bauwerken ist in Deutschland nicht geregelt. Das muss künftig im Regelwerk explizit zugelassen werden. Die Anforderungen, die Randbedingungen, die Einschränkungen und die Prozesse für die Anwendung von Fachmodellen sind Voraussetzungen für die Standardisierung. Für einen künftigen BIM-basierten Prüfprozess schlagen die Autoren eine bauteilbezogene Freigabe im Fachmodell vor. Die regelbasierte Konformitätsprüfung mit dem Regelwerk ist ein aktuelles Thema sowohl für die Forschung als auch für den kommerziellen Zweck in Deutschland. Die Prüftätigkeit und die fachkundige Bewertung eines anerkannten Prüfers kann nicht durch die Anwendung einer regelbasierten Prüfung von Fachmodellen ersetzen werden. Stattdessen soll diese den Prüfprozess künftig unterstützen. Literatur [1] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Stufenplan Digitales Planen und Bauen, Berlin 2015. https: / / www.bundesregierung.de/ bregde/ service/ publikationen/ stufenplan-digitales-planen-und-bauen-730980, abgerufen am: 28.03.2024 [2] DB AG: BIM-Strategie Implementierung von Building Information Modeling (BIM) im Vorstandsressort Infrastruktur der Deutschen Bahn AG, 2022. https: / / www.deutschebahn.com/ de/ konzern/ bahnwelt/ bauen_bahn/ BIM-6875938, abgerufen am: 28.03.2024. [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Masterplan BIM Bundesfernstraßen. Digitalisierung des Planes, Bauens, Erhaltens und Betriebens im Bundesfernstraßenbau mit der Methode Building Information Modeling (BIM), 2021. https: / / www.bmdv.bund.de/ SharedDocs/ DE/ Artikel/ StB/ masterplan-bim-bundesfernstrassen. html, abgerufen am: 28.03.2024. [4] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Masterplan BIM für Bundesbauten. Erläuterungsbericht, 2021. https: / / www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ veroeffentlichungen/ 2021/ 10/ masterplan-bim.pdf? __blob=publicationFile&v=3, abgerufen am: 28.03.2024. [5] Bundesministerium der Verteidigung u. Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen: Umsetzungsstrategie BIM für Bundesbauten, 2023. https: / / www.bimdeutschland.de/ service/ downloads#c647, abgerufen am: 28.03.2024. [6] DIBt: Musterbauordnung. MBO. 2022. [7] Bundesministerium der Justiz: Allgemeines Eisenbahngesetz. AEG. 2023. [8] Bundesministerium der Justiz: Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung. EBO. 2019. [9] 2023-05. 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[19] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Konzept für die nahtlose Integration von Building Information Modeling (BIM) in das behördliche Bauantragsverfahren. BIM-basierter Bauantrag. Abschlussbericht, 2020. https: / / www.bimdeutschland. de/ service/ downloads, abgerufen am: 28.03.2024. [20] König, M., Stepien, M., Aziz, A., Vonthron, A., Schulz-Witte, N., Walter, T., Kohlhaas, A. u. Polay, S.: Forschungsprojekt zur Digitalisierung der Musterbauordnung (MBO). Aufbereitung der MBO für BIM-basierte Prüfwerkzeuge. Abschlussbericht, 2023. [21] Deutsches Zentrum für Schienenverkehrsforschung beim Eisenbahn-Bundesamt: Analyse der Nutzungsvoraussetzungen zur Anwendung der BIM- Methode im EBA, 2021. [22] Bundesministerium der Justiz: Verordnung über die Erteilung von Inbetriebnahmegenehmigungen für das Eisenbahnsystem. Eisenbahn-Inbetriebnahmegenehmigung (EIVG). 2018 [23] Ciotta, V., Ciccone, A., Asprone, D., Manfredi, G. u. Cosenza, E.: Structural e-permits: an OpenBIM, model-based procedure for permit applications pertaining to structural engineering. Journal of Civil Engineering and Management 27 (2021) 8, S.-651-670. [24] Ciccone, A., Ciotta, V. u. Asprone, D.: Integration of structural information within a BIM-based environment for seismic structural e-permits. Journal of Civil Engineering and Management 29 (2023) 2, S.-171-193. [25] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: BIM4INFRA2020 Teil 8. Neutraler Datenaustausch im Überblick, 2019. https: / / www.bimdeutschland.de/ fileadmin/ media/ Downloads/ Download-Liste/ BIM4INFRA/ 3_8_BI- M4INFRA2020_AP4_Teil8.pdf, abgerufen am: 28.03.2024. [26] Borrmann, A., Beetz, J., Koch, C., Liebich, T. u. Muhic, S.: Industry Foundation Classes. Ein herstellerunbhängiges Datenmodell für den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks. In: Borrmann, A., König, M., Koch, C. u. Beetz, J. (Hrsg.): Building Information Modeling. Technologische Grundlagen und industrielle Praxis. VDI-Buch. Wiesbaden, Heidelberg: Springer Vieweg 2021. [27] buildingSMART: IFC Specifications Database, 2019. https: / / standards.buildingsmart.org/ IFC/ DEV/ IFC4_2/ FINAL/ HTML/ , abgerufen am: 28.03.2024. [28] Borrmann, A., Muhic, S., Hyvärinen, J., Chipman, T., Jaud, S., Castaing, C., Dumoulin, C., Liebich, T. u. Mol, L.: The IFC-Bridge Project. Extending the IFC Standard to enable high-quality exchange of bridge information models. 2019 European Conference on Computing in Construction. 2019. [29] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: BIM4INFRA2020 Teil 9. Datenaustausch mit Industry Foundation Classes (IFC), 2019. https: / / www.bimdeutschland.de/ fileadmin/ media/ Downloads/ Download-Liste/ BIM4INFRA/ 3_9_ BIM4INFRA2020_AP4_Teil9.pdf, abgerufen am: 28.03.2024. [30] DB InfraGO AG: BIM Planung Hbf. Hannover Bahnsteig B - Bauwerk 30, 2024. [31] Dlubal, D.: BIM-relevante Schnittstellen in der Tragwerksplanung. In: Lochner-Aldinger, I. u. V, T. A. E. e. (Hrsg.): 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau. Kompetenz-Plattform für die bautechnische Gesamtplanung. Tübingen: expert verlag 2022, S.-157-162. [32] Dlubal, D.: Untersuchung des Structural Analysis Format (SAF) auf Eignung für eine BIM-gestützte Tragwerksplanung. Masterthesis. 2021. [33] Greenwood, D., Lockley, Stephen, Malsane, Sagar u. Matthews, J.: Automated compliance checking using building information models. The Construction, Building and Real Estate Research Conference of the Royal Institution of Chartered Surveyors (2010). [34] Sulankivi, K., Zhang, S., Teizer, J., Eastman, C., Kiviniemi, M., Romo, I. u. Granholm, L.: Utilization of BIM-based automated safety checking in construction planning. Proceedings of the 19 th International CIB World Building Congress. Australia. [35] Hongling, G., Yantao, Y., Weisheng, Z. u. Yan, L.: BIM and safety rules based automated identification of unsafe design factors in construction. 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Achenbach, M.: Data sovereignty within the construction process. In ECPPM 2022-eWork 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 243 Aktueller Stand der bautechnischen Prüfung von Ingenieurbauwerken nach der BIM-Methodik and eBusiness in Architecture, Engineering and Construction 2022. 2023. [41] Weber, B., Achenbach, M. u. Niederländer, A.: Rechtskonformes Datenteilen im Bauprozess - Anforderungen des Data Governance Act an Common Data Environments/ Data sharing within the construction process legally compliant - Requirements of the Data Governance Act for Common Data Environments. Bauingenieur 98 (2023) 03, S.-76-84. [42] Weber, B. u. Achenbach, M.: Legal governance for BIM - rights management and lawful data use. In: Biondini, F. u. Fragopol, D. M. (Hrsg.): Life-Cycle of Structures and Infrastructure Systems. Proceedings of the Eighth International Symposium on Life-Cycle Civil Engineering (IALCCE 2023), 2.-6. Juli 2023, Milano, Italy. London: CRC Press 2023, S.-3292-3299. [43] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: BIM4INFRA2020 Teil 6. Steckbriefe der wichtigsten BIM-Anwendungsfälle, 2019. https: / / www.bimdeutschland.de/ fileadmin/ media/ Downloads/ Download-Liste/ BIM4INFRA/ 3_6_BI- M4INFRA2020_AP4_Teil6.pdf, abgerufen am: 28.03.2024. [44] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Masterplan BIM Bundesfernstraßen. Rahmendokument: Steckbriefe der Anwendungsfälle - V 1.0, 2021. https: / / www.bmdv.bund.de/ SharedDocs/ DE/ Anlage/ StB/ bim-rd-anwendungsfaelle.pdf? __blob=publicationFile, abgerufen am: 28.03.2024. [45] Seitner, M., Probst, R., Borrmann, A. u. Vilgertshofer, S.: Building Information Modeling (BIM) im Brückenbau. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Brücken- und Ingenieurbau Heft B 182, Bremen 2022. [46] Taraben, J., Hallermann, N., Kersten, J., Morgenthal, G. u. Rodehorst, V.: Case study for the integration of geometrical analyses for structural condition assessment in building information models. IOP Conference Series: Materials Science and Engineering 365 (2018), S.-22054. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 245 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen Prof. Dr.-Ing. Niels Bartels Technische Hochschule Köln Prof. Dr.-Ing. Markus Nöldgen Technische Hochschule Köln Prof. Dr.-Ing. Ruth Kasper Technische Hochschule Köln Zusammenfassung Die Ausbildung des akademischen Nachwuchses stellt eine wesentliche Grundlage zur Umsetzung innovativer Ansätze (z. B. Urban Mining, BIM, Smart Building) dar. Insbesondere eine durchgängige, übergreifende und vernetzte Lehre sowie Weiterentwicklung der vorhandenen Lehrinhalte des Konstruktiven Ingenieurbaus mit innovativen, digitalen und nachhaltigen Lehrinhalten stellt einen Erfolgsfaktor für die zukünftigen Absolvierenden dar. Damit einher geht gleichermaßen eine Steigerung der Kompetenzen (Future Skills) der Studierenden, die durch die curriculumsübergreifende Ausbildung besser auf zukünftige Aufgaben vorbereitet werden. Der Beitrag zeigt auf, wie die Schnittstelle zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit und die Integration dieser wichtigen Querschnittsthemen im Curriculum des Konstruktiven Ingenieurbaus gestaltet werden kann. Hierbei werden am Beispiel des Bauingenieurstudiums der Technischen Hochschule Köln Lösungsansätze aufgezeigt, die eine optimale akademische Ausbildung der Studierenden ermöglichen. Neben verschiedenen neuen und modifizierten Lehrformaten steht hierbei insbesondere die Vernetzung der einzelnen Module im Fokus der Betrachtung. Die Erfahrungen zeigen, dass es zur Integration von Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie der Kompetenzerweiterung nicht ausreichend ist, die neuen Lehrinhalte singulär und theoriebasiert in den Modulen zu lehren. Vielmehr ist es notwendig, insbesondere neue Lehrkonzepte und eine durchgängige Betrachtung der Themenkomplexe Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Konstruktiven Ingenieurbaus zu integrieren, um in den jeweiligen Themenbereichen die Relevanz, Potenziale und Herausforderungen aufzuzeigen. 1. Einleitung Aktuell befindet sich die Bau- und Immobilienbranche in einem Umbruch, der insbesondere durch Anforderungen an Nachhaltigkeit und Digitalisierung in einem Spannungsfeld mit Fachkräftemangel geprägt ist. Die Ausbildung des akademischen Nachwuchses stellt deshalb eine wesentliche Grundlage zur Umsetzung innovativer Ansätze (z. B. Urban Mining, BIM, Smart Building) dar, mit denen auf die Herausforderungen der Branche eingegangen werden kann. Darüber hinaus müssen Studierende befähigt werden, zukünftige Schlüsselqualifikationen wie das Lösen komplexer Probleme, kritisches Denken, Kreativität und Koordination mit anderen Disziplinen zu erfüllen [1]. Insbesondere eine disziplinübergreifende und vernetzte Lehre sowie Weiterentwicklung der vorhandenen Lehrinhalte des Konstruktiven Ingenieurbaus mit innovativen, digitalen und nachhaltigen Lehrinhalten stellt eine Möglichkeit dar, diese Anforderungen umzusetzen und bildet damit einen Erfolgsfaktor für die zukünftigen Absolvierenden. Damit einher geht gleichermaßen einer Steigerung der Kompetenzen (Future Skills) der Studierenden, die durch die kontinuierliche Ausbildung besser auf zukünftige Aufgaben vorbereitet [2]. Die Grundlage für das Bauingenieurstudium bildet der Referenzrahmen des Akkreditierungsverbundes für Studiengänge des Bauwesens (ASBau). In der ASBau werden explizit auch Anforderungen an das Digitale Bauen sowie an Ökologie definiert. Im Rahmen des Digitalen Bauens sollen die Studierenden Informations- und Datenmanagement erlernen sowie Software (z. B. CAD), die BIM-Methodik oder Lehrinhalte zur Künstlichen Intelligenz vermittelt bekommen. Hierdurch sollen sie Hard- und Software einsetzen, diese auswählen können und aktuelle digitale Technologien selbständig anwenden, bewerten und implementieren lernen [3]. Im Bereich der Ökologie nennt die ASBau die Einführung in ein ökologisches Verständnis und in die grundlegenden Prinzipien zum Schutz der Umwelt sowie Grundlagen des ökologischen Bauens als relevante Kenntnisse. Hierdurch sollen die Studierenden grundlegende Zusammenhänge nachvollziehen und Anforderungen des Umweltschutzes beachten können [3]. Diese Anforderungen werden gefördert durch einen vernetzten, transdisziplinären Studienansatz, der an der TH Köln verfolgt wird. Dieser wurde erstmalig im Bereich BIM/ Digitales Planen und Bauen umgesetzt und wird nun auf die Nachhaltigkeit übertragen. Dies wird nachfolgend 246 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen am Beispiel der Fakultät für Bauingenieurwesen und Umwelttechnik (F06), Institut für Konstruktiven Ingenieurbau dargestellt, jedoch wird diese Integration fach- und disziplinübergreifend gelebt, so dass ein Austausch mit anderen Instituten (Baubetrieb und Vermessung sowie Baustoffe, Geotechnik, Verkehr und Wasser) und Fakultäten, wie der Fakultät für Anlagen, Energie- und Maschinensysteme (F09) und Architektur (F06) - zum Beispiel im Hinblick auf DGNB-Zertifizierungen oder BIM - besteht. Eine Besonderheit hierbei ist, dass die Lernform „Gruppenarbeit“ einen hohen Stellenwert darstellt, welche zwar zeit- und personalintensiv ist, jedoch perspektivisch auf die zukünftige Berufspraxis vorbereitet. 2. Modernisierung des Studiengangs im Hinblick auf digitale Querschnittsthemen mit dem Ziel der durchgängigen Nutzung der BIM-Methode Studiengänge des Bauingenieurwesens unterliegen durch die sich wandelnden Anforderungen einer ständigen Veränderung. Insbesondere auf die Anforderung durch die Digitalisierung der Bau- und Immobilienbranche müssen die Studierenden vorbereitet werden. Hierbei wurde ein neuer Weg im Curriculum gegangen, so dass sich die Digitalisierung wie ein roter Faden im Studienverlaufsplan Berücksichtigung findet. Insbesondere die BIM-Methode verknüpft die einzelnen Module des Bachelor- und Masterstudiengangs miteinander und ermöglicht hierdurch den Erwerb von Zukunftskompetenzen durch Gruppenarbeiten, transdisziplinären Ausbildungsansätzen und curriculumsübergreifendem Lernen. Um diese Durchgängigkeit zu erreichen, ist es notwendig die Ebenen Lehre und Weiterbildung, Forschung und Transfer sowie Menschen zu beachten. 2.1 Ebene Lehre und Weiterbildung Ein wesentliches Erfolgskriterium für die nachhaltige und vertiefte Lehre von BIM ist eine Vernetzung der einzelnen Module vom Grundstudium über die Vertiefungsrichtung des Bachelors bis hin zur Vertiefung des Wissens im Masterstudium. Deshalb erfolgt bereits zu Beginn des Studiums an der TH Köln die Vermittlung der Grundlagen der Digitalisierung im Bauwesen. Hierbei werden in den Modulen Bauinformatik, Baukonstruktionslehre I und Bauphysik erste Softwaretools sowie grundlegende Begriffe der BIM-Methode gelehrt. In Baukonstruktion erfolgt die Einführung der BIM-Methodik ausgehend von der Erstellung von Strichzeichnungen gemäß den Regeln der DIN 1356-1 Bauzeichnungen und die Abbildung einer Struktur mit Volumenelementen. Die Möglichkeiten der BIM-Methodik erfolgt nicht nur anhand einer Wissensvermittlung, sondern auch durch die Anwendung in Form einer Gruppenarbeit. Als Softwaretools wird Autodesk AutoCAD und Autodesk REVIT verwendet. Ein Beispiel ist in Abbildung 1 dargestellt. Abb. 1: Aufgabenstellung erstes Semester - 3D-Modell Im vierten - und damit letztem - Semester des Grundstudiums erfolgt die Verknüpfung des erlernten Wissens im Rahmen eines kollaborativen Projektes im Rahmen des Moduls Digitales Planen und Bauen. Die Modellierung in Autorensoftware, die in den ersten Semestern erlernt wurde, bildet die Grundlage des Moduls. Hierauf auf bauend erfolgt ein modellzentrierter Ansatz, bei dem verschiedene Fachmodelle koordiniert und Anwendungsfälle (z. B. Termin- und Kollisionsprüfung) mit verschiedenen Softwaresystemen angewendet. Hierbei erlernen die Studierenden auch die Definition an Anforderungen für den Austausch, wie Auftraggeber-Informations-Anforderungen (AIA) und BIM-Abwicklungsplan (BAP), so dass auch die prozessuale Komponente der BIM-Methodik einbezogen wird. Mithilfe von offenen Austauschformaten wird darüber hinaus die Integration von GIS und BIM vertieft, um die verschiedenen Fachdisziplinen einzubeziehen. Abb. 2: Koordination eines Modells mit verschiedenen Disziplinen Auch in der Vertiefungsrichtung Konstruktiver Ingenieurbau (KIB) werden sowohl weitere Softwareprogramme angewendet, als auch Methodik und Prozesse 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 247 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen sowie die Umsetzung von Projekten in den Modulen gelehrt. Hierbei liegt der Fokus darauf, dass nicht bloß Softwareprogramme angewendet werden, sondern die Bestandteile der BIM-Methodik von Wissen zur BIM- Methodik, über Softwaretools, Methodik und Prozesse, der Umsetzung von BIM-Projekten bis hin zu Innovationen im Bereich BIM miteinander und über das Curriculum fortlaufend kombiniert und vermittelt werden. Im Master werden ebenfalls diverse Module angeboten, die das Wissen zu BIM vertiefen und erweitern. Diese können - ebenso wie am Ende des Bachelorstudiums - im Rahmen einer Masterarbeit als innovative Projekte durch die Studierenden bearbeitet werden. Ein Beispiel für die innovative Weiterentwicklung stellt die Bauwerksprüfung und -instandhaltung mit Hilfe des BIM-Mobils dar, siehe Abbildung 3. Abb. 3: Bauwerksprüfung und -instandhaltung mit Hilfe des BIM-Mobils Zur Umsetzung einer curriculumsübergreifenden BIM- Lehre ist es notwendig, dass alle Lehr- und Forschungsgebiete des Studiengangs einbezogen werden. In Workshops sind die Schnittstellen und Themen innerhalb des Curriculums abzustimmen. Darüber hinaus wurde ein transdisziplinäres BIM-Team ins Leben gerufen, dass die Ausstattung, die Lehrinhalte sowie gemeinsame Aktivitäten im Bereich BIM koordiniert. Hierdurch ist die Digitalisierung in verschiedenen Modulen im Curriculum verankert. Die Module, die digitale Inhalte für das Grundstudium sowie für die Vertiefungsrichtung KIB und den Master KIB beinhalten sind in der nachfolgenden Abbildung 4 dargestellt. Hierbei ist zu beachten, dass in den verschiedenen Vertiefungsrichtungen nicht nur BIM eine Rolle spielt, sondern auch andere Softwaresysteme, wie beispielsweise Geoinformationssysteme zum Einsatz kommen. Abb. 4: Module des Grundstudiums und der Vertiefungsrichtung im Bachelorstudium sowie im Masterstudium Konstruktiver Ingenieurbau. 1 Wissen zu BIM; 2 Softwaretools; 3 Methodik, Prozesse; 4 BIM-Projekte; 5 Innovationen Daneben ist es notwendig, dass auch Räume als Unterstützung für die Lehre zur Verfügung stehen. Neben Computerräumen, die eine für die Übungen unerlässliche Grundlage bilden, ist es im Rahmen der BIM-Lehre notwendig Räume für neue, immersive und kollaborative Technologien bereitzustellen, An der TH Köln wurde deshalb der sog. BIM Hub eingerichtet, in dem sich neben Computern mit verschiedenen Softwareprogrammen auch Meetingmöglichkeiten sowie Hardware, wie Sensorik zur Einbindung in digitale Modelle oder VR- und AR-Brillen befinden. Darüber hinaus soll der Raum mit einer modernen Einrichtung als Treffpunkt für die Studierender verschiedener Fakultäten, wie der Fakultät für Architektur, der Fakultät für Bauingenieurwesen und Umwelttechnik sowie der Fakultät für Fakultät für Anlagen, Energie- und Maschinensysteme (Institut für Technische Gebäudeausrüstung) dienen. Fakultätsübergreifende Aufgabenstellungen in den Modulen tragen hierbei dazu bei, dass eine Vernetzung zwischen den Studierenden entsteht. Darüber hinaus wird der Raum durch Tutoren besetzt, die den Studierenden als Ansprechpartner für Aufgaben aus den Modulen dienen. 248 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen 2.2 Ebene Forschung und Transfer Neben der Ebene der Lehre ist es notwendig, dass im Bereich BIM Forschung und Transfer umgesetzt wird. Insbesondere in einem sich schnell ändernden Themengebiet, wie BIM müssen sich die Lehrenden fortlaufend mit aktuellen Entwicklungen und Innovationen auseinandersetzen. Ebenso wie in der Lehre wird auch an der TH Köln ein transdisziplinärer Ansatz gewählt, sodass bei Forschungsprojekten regelmäßig verschiedene Lehr- und Forschungsgebiete zusammen Projekte beantragen und durchführen. Hierdurch ist es möglich den kompletten Gebäudelebenszyklus sowie die verschiedenen Disziplinen, die am Bauwerkslebenszyklus beteiligt sind, miteinander zu verknüpfen. Ziel ist es hierbei die Schnittstellen zwischen einzelnen Lebenszyklusphasen sowie Disziplinen so zu entwickeln, dass Daten verlustfrei ausgetauscht und für eine nachhaltige Planung, Ausführung, Betrieb und Verwertung genutzt werden können. Dies ist schematisch in Abbildung 5 dargestellt. Mithilfe dieses vernetzten Konzeptes konnten bereits erste, lebenszyklus- und disziplinübergreifende Projekte gewonnen werden. Abb. 5: Vernetzung der einzelnen Lehr- und Forschungsgebiete mit der BIM-Methode Darüber hinaus besteht ein enger Kontakt zur Praxis, um regelmäßig die Bedarfe für Lehre und Forschung zu erfragen. Eine jährliche stattfindende Konferenz „BIM NEXT FORUM“ bringt dabei Studierende mit Ihren aktuellen Themen Praktiker und Experten der buildingSmart e.V. an der TH Köln zusammen. Damit werden die aktuellen Entwicklungen regelmäßig vorgestellt und diskutiert. Durch den BIM NEXT FORUM Student Award werden herausragende Abschlussarbeiten dabei von einer Jury ausgewählt und prämiert. Ein weiteres Spiegelungsgremium ist der Beirat. Diese Ebene der Forschung und Transfer hat damit einen direkten Einfluss auf die erfolgreiche Lehre der Studierenden. 2.3 Ebene Menschen Die dritte und nicht zu unterschätzende Ebene stellt die Ebene Menschen dar. Hierzu zählen neben den Lehrenden insbesondere auch Praxispartner und die Studierenden. Im Hinblick auf die Lehrenden zeigt sich, dass eine enge Vernetzung und der Wille zu einer zukunftsfähigen und durchgängigen Lehre gegeben sein müssen. Hierzu müssen die Lehrenden nicht nur regelmäßig miteinander kommunizieren und Lehrinhalte aufeinander abstimmen, sondern auch zu einer Weiterentwicklung der Lehre bereit sein. Auf Ebene der Praxispartner ist es notwendig, dass diese ein realistisches Bild der Anwendung der BIM-Methodik in der Praxis bieten und sich hier hingehend mit den Hochschulen austauschen. Darüber hinaus ist es notwendig, dass eine Bereitschaft zur Weiterentwicklung im Hinblick auf digitale Technologien gegeben ist. Für den Erfolg am entscheidendsten sind jedoch die Studierenden selbst. Um die BIM-Methodik vollumfänglich zu erfassen sind verschiedene Lehrformate notwendig. Von klassischer Vorlesung über Übungen, gruppenbasierten Projekten bis hin zu forschungsbasiertem Lernen und modellzentriertem Arbeiten. Dies erfordert von den Studierenden, dass sie sich auf neue Lehrformate einlassen müssen und vom klassischen Lernen Abstand nehmen müssen. Es zeigt sich, dass es hierbei durchaus unterschiedliche Auffassungen bei den Studierenden gibt. Während einige Studierende, insbesondere in höheren Semestern des Bachelorstudiums sowie im Masterstudium das freie Arbeiten an innovativen Aufgabenstellungen positiv bewerten, zeigt sich insbesondere in den Grundlagenmodulen, dass einige Studierende innovativen Lehrformen kritisch gegenüberstehen. Darüber hinaus ist es im Rahmen der BIM-Methodik notwendig, dass fakultätsübergreifende Lehre gefördert wird, um die Praxis möglichst realitätsnah abzubilden. Hierbei sollen Architekten, TGA-Studierende und Bauingenieure transdisziplinär zusammenarbeiten. In ersten Projekten, die hierzu an der TH Köln durchgeführt wurden, zeigt sich vor allem zu Beginn der Projekte eine Skepsis gegenüber der neuen Lehrform. Es zeigt sich aber auch, dass die Studierenden, die sich auf die transdisziplinäre Zusammenarbeit unter Nutzung der BIM-Methodik einlassen, den Lernerfolg als sehr hoch bewerten und wieder bei transdisziplinären Projekten teilnehmen würden. 3. Integration des Querschnittsthemas Nachhaltigkeit in Lehre, Forschung und Transfer Im Rahmen der anstehenden Akkreditierung des Bachelorstudiengangs Bauingenieurwesen wird der Studienverlaufsplan mit Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte auf Fakultätsebene analysiert. Ziel ist es, hier ebenfalls eine inhaltliche Verknüpfung der Module in Analogie zur Digitalisierung sicherzustellen. Die Fakultät orientiert sich hierbei zunächst an den Nachhaltigkeitszielen der DGNB [4], der Zuordnung der Module, der Definition eines Lernziels und der Integration eines Schwerpunktmoduls innerhalb des Grundstudiums. 3.1 Ebene Lehre und Weiterbildung Nachhaltigkeit wird, wie bereits im Themenfeld der Digitalisierung als Querschnittsthema über das gesamte Curriculum integriert und durch ein Schwerpunktmodul Nachhaltiges Bauen im 3. Semester des Grundlagenstudiums als Ankermodul vernetzt. In diesem Modul lernen die Studierenden die theoretischen Grundlagen des Lifecycle Assessments (LCA), Datenbanken, etc. kennen, die als Grundlagen in den darauf auf bauenden vertiefungsspezifischen Fachmodulen bilden. Dies ist in Abbildung-6 dargestellt. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 249 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen Abb. 6: Kernmodule Nachhaltigkeit und Profillinie Nachhaltigkeit im Studienverlauf Abschlussarbeiten bieten die Möglichkeit neben klassischen Themen zu konstruktiven Fragen, die Studierenden zu ermutigen, sich mit dem Bereich des Zirkulären Bauens zu beschäftigen. Unter dem Oberthema „Zirkularität von Bauglas“ wurden verschiedene Schwerpunkte wie das Re-Use, Re-Manufacturing, Closed-Loop-Recycling untersucht und eine Datenanalyse zur Abschätzung des Anthropogenen Glaslagers durchgeführt. Diese Arbeiten bilden die Grundlage für zukünftige Forschungsarbeiten. 3.2 Ebene Forschung und Transfer Im Bereich der Nachhaltigkeit wurden verschiedene Forschungsprojekte bereits abgeschlossen bzw. befinden sich in der Bearbeitung. Zu nennen sind beispielsweise: - Solardachpfanne.NRW, Zusammenarbeit innerhalb der TH Köln mit Professoren aus den Bereichen Bauwesen, Erneuerbare Energien, Elektrotechnik und Nachhaltigkeit - GreenSolarModuls: Verbundprojekt der TH Köln (Bauwesen, Werkstoffkunde, Nachhaltigkeit) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE - GreenBauGlas: ZIM-Netzwerk zur Förderung von Forschungskooperationen - ashcon: Verwendung von Müllverbrennungsaschen zur Substitution der Gesteinskörnung - Urban Mining von Stahlbetonbauteilen, ReCast 4. Messbarkeit durch Erfolgsgeschichten und neue Tätigkeitsfelder Durch die Kombination aus aktuellen Lehrinhalten der Digitalisierung und Nachhaltigkeit mit klassischen Inhalten des Bauingenieurwesens sind die Absolvierenden somit Bauingenieur: innen mit fundierten und breit aufgestellten Grundlagen in klassischen Themen und in Zukunftsthemen. Insbesondere am Markt zeigt sich, dass diese Kombination stark gefragt ist, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. 4.1 Erfolgsgeschichten Absolvent: innen der Vertiefung KIB an der TH Köln arbeiten aktuell als hauptverantwortliche BIM-Gesamtkoordinatoren bei großen Ingenieurbüros und leiten bekannte BIM-Projekte in der Region Köln/ Bonn. Sie entwickeln dabei neue Herangehensweisen und Lösungen für eine digital unterstützte Bauplanung und -ausführung. Der Grundstein hierfür wird bereits mit den Abschlussarbeiten und Themen der Abschlussarbeiten gelegt. Hierbei zeigt sich, dass zunehmend die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Fokus der Abschlussarbeiten stehen. Darüber hinaus entstehen aus den Arbeiten Publikationen von Studierenden, wie zum Beispiel Conference Paper zu Nachhaltigkeitsaspekten, Digitalisierung oder einer Kombination aus beiden Gebieten (z. B. [5]). 4.2 Neue Tätigkeitsfelder Im Rahmen der fortschreitenden BIM-Implementierung der BIM-Methodik in der Forschung, Lehre und damit auch in der Praxis haben sich verschiedene Tätigkeitsfelder entwickelt, in die die Studierenden nach ihrem Studium beschäftigt sein können. Insbesondere in den letzten Jahren zeigt sich, dass Studierende vermehrt in neuen Tätigkeitsfeldern nach ihrem Studium beginnen. Hierzu zählen insbesondere: • BIM-Management. Durch die vermehrte Anwendung der BIM-Methodik nimmt der Bedarf an BIM-Managern deutlich zu. Durch die fundierte Ausbildung wird es Absolvierenden nun ermöglicht auch in diesem Bereich anzufangen • Innovationsmanagement. Die Bau- und Immobilienbranche verändert sich derzeit rapide im Hinblick auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Durch die durch- 250 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Curriculum des Studiengangs Bauingenieurwesen gängige Lehre werden die Studierenden einerseits mit fundiertem Wissen auf diese Veränderungen vorbereitet. Auf der anderen Seite werden durch die forschungs- und zukunftsorientierte Lehre auch Future Skills derart gefördert, dass die Studierenden den digitalen und nachhaltigen Wandel aktiv mitgestalten können. • Entwicklung und Betrieb von Smart Buildings oder Low Tech Buildings. Die Planung, Ausführung und der Betrieb von Gebäuden ändern sich derzeit. Hierbei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Smart Buildings (High Tech) mit Vielzahl an Technik und Datenpunkten sowie Low Tech Gebäuden, die möglichst ohne Technik auskommen sollen. Hierfür ist es notwendig, disziplinübergreifend zu denken. Durch die durchgängigen Studieninhalte wird es den Studierenden ermöglicht verschiedene Aspekte für die Neugestaltung von Gebäuden sowohl digital als auch nachhaltig zu berücksichtigen und können beratend tätig werden. • DGNB-Auditoren etc. in Kombination mit der F09 als möglicher Studienpfad und Berufsbereich, der immer wichtiger wird. Die vorgenannten Tätigkeitsfelder sind nur Beispiele für eine Vielzahl an Tätigkeitsfeldern, in denen sich die Absolvierenden nun wiederfinden. Hierbei ist zu beachten, dass die „klassischen“ Berufsfelder wie Bauleitung oder Tragwerksplanung nicht an Bedeutung verloren haben. Es ist jedoch ein Trend zu neuen, innovativen Tätigkeitsfeldern nach dem Studium erkennbar. 5. Fazit und Ausblick Dieser Beitrag zeigt auf, wie eine durchgängige Lehre für Fokusthemen am Beispiel Digitalisierung und Nachhaltigkeit in einem Studiengang des Bauingenieurwesens gestaltet werden kann. Dies ist insbesondere im Spannungsfeld zwischen etablierten Studiengängen und neuen Studiengänge mit Spezialisierungen aus den Bereich Digitales und Nachhaltigkeit, die vertieft auf spezifische Fachgebiete eingehen, relevant, um grundständige Studiengänge des Bauingenieurwesens zukunftsfähig auszurichten. Hierbei ist es notwendig, dass die drei Ebenen der Lehre, der Forschung und des Transfers sowie die daran beteiligten Menschen berücksichtigt werden. Nur wenn diese drei Ebenen berücksichtigt werden, ist eine disziplin- und disziplinübergreifende Verankerung von neuen Methoden, wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit, möglich. Für die zukünftige Entwicklung wird deshalb weiterhin ein Zusammenspiel aus Lehrenden, Praxispartnern und Studierenden relevant, um auf neue Themen und Einflüsse für das Bauingenieurwesen, wie z. B. Künstliche Intelligenz, neue Baumaterialien oder kollaborative Methoden zu reagieren. Literatur [1] Berger, A.; Lindenblatt, R.: Herausforderungen und Chancen der Bau- und Immobilienbranche und wie lernende Organisationen diesen gegenübertreten können. In: Jacob, C.; Kukovec, S. (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer nachhaltigen, effizienten und profitablen Wertschöpfung von Gebäuden. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden, 2022, S.-567-594. [2] Europäische Kommission: Commission Communication on a European strategy for universities, Strasbourg Ausgabe 2022. [3] Akkreditierungsverbund für Studiengänge des Bauwesens (ASBau) e.V.: Referenzrahmen für Studiengänge des Bauingenieurwesens (Bachelor), 2021, https: / / www.asbau.org/ assets/ dl/ ASBau_RR_2021_ dl.pdf [Zugriff am: 26.04.2024]. [4] Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V.: DGNB-Report - Bauen für eine bessere Welt, Berlin Ausgabe 2020. [5] Nöldgen, M.; Felber, L.; Strippel, F.: Life - Cycle - Assessment (GWP, TMR) of UHPC - Structures - General Approach. In: Fehling, E.; Middendorf, B.; Thiemicke, J. (Hrsg.): Ultra-High Performance Concrete and High Performance Building Materials for Sustainable Construction - Proceedings of HiPerMat 2024 6 th International Symposium on Ultra-High Performance Concrete and High Performance Building Materials for Sustainable Construction Kassel, March 6-8, 2024, Schriftenreihe Baustoffe und Massivbau Heft 40. Kassel University Press, Kassel, Hess, 2024, S. 109-114. Anhang 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 253 Programmausschuss Der Programmausschuss für den Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau setzt sich aus anerkannten Experten aus Forschung und Entwicklung, Industrie und Praxis zusammen. Zu seinen Aufgaben gehören die Formulierung der Zielsetzung und Festlegung der Themenschwerpunkte der Fachtagung, die Begutachtung und Auswahl der eingereichten Vortragsvorschläge für das Tagungsprogramm und die fachliche Beratung des Veranstalters. Vorsitzende Prof. Dr.-Ing. Irmgard Lochner-Aldinger Hochschule Biberach Mitglieder Prof. Dr.-Ing. Arndt Goldack Bergische Universität Wuppertal Denis Grizmann, M. Sc. RWTH Aachen University Prof. Dr.-Ing. Marc Gutermann Hochschule Bremen Matthias Howald Holcim (Süddeutschland) GmbH, Dotternhausen Prof. Dr.-Ing. Ruth Kasper Technische Hochschule Köln Prof. Dr.-Ing. Harald Kloft Institute of Structural Design (ITE), Technische Universität Braunschweig David Nigl, M. Sc. Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren, Universität Stuttgart Prof. Dr.-Ing. Patrick Teuffel Teuffel Engineering Consultants, Berlin Prof. Dipl.-Ing. Meike Töllner Technische Hochschule Rosenheim Prof. Dr.-Ing. Kerstin Wolff martens+puller Ingenieurgesellschaft mbH, Braunschweig/ TU Berlin 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 255 Autorenverzeichnis AAbt, Rainer 131 Achenbach, Marcus 229, 235 BBacher, Philipp 133 Bartels, Niels 245 Baumgärtel, Enrico 183, 197 Bielak, Jan 175 CCosenza, Gustavo 235 Curbach, Manfred 183 DDeubel, Juliane 137 EEberth, Florian 169 Engelsmann, Stephan 43 FFerger, Daniel 61 GGötz, Tobias 133 Grizmann, Denis 145 Grossarth, Jan 221 Gutermann, Marc 107 HHägele, Franz 137 Hamm, Hermann 67 Hamm, Patricia 87 Hasenstab, Andreas 159 Höb, Johanna 207 Howald, Matthias 173 IIgnatiadis, Anett 175 JJan Bielak 175 KKasper, Ruth 245 Kleinschrot, Katharina 197 Knöpfle, Valentin 87 Koch, Christian 235 Kortmann, Jan 197 Küenzlen, Jürgen H. R. 67 MMarx, Steffen 197 May, Maximilian 189 Melzer, Miriam 189 Möller, Andreas 207 Moreno Gata, Kevin 145 Motzke, Gerd 95 NNeuwald-Burg, Claudia 151, 215 Nimführ, Dominik 51 Nöldgen, Markus 245 OOppe, Matthias 137 PPfeifer, Matthias 13 Pinkawa, Marius 121 RRuf, Johannes 87 SSandmann, David 183 Scheller, Eckehard 67 Schikowski, Jens 229 Schmid, Angelika 51 Schmidt, Peter W. 19 Schmidt, Wieland 115 Schumann, Alexander 175, 189 Seiter, Alex 53 Stürmer, Sylvia 215 TTokarz, Bernhard 37 Trautz, Martin 53, 145 VVuylsteke, Laura 29 WWeimar, Thorsten 29 Will, Norbert 175 Weitere Informationen und Anmeldung unter www.tae.de/ go/ bauwesen Besuchen Sie unsere Seminare, Lehrgänge und Fachtagungen. Geotechnik Verkehrswegebau und Wasserbau Konstruktiver Ingenieurbau Bautenschutz und Bausanierung Umwelt- und Gesundheitsschutz Energieeffizienz Baubetrieb und Baurecht Facility Management Ein Großteil unserer Seminare wird unterstützt durch das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Profitieren Sie von der ESF-Fachkursförderung und sichern Sie sich bis zu 70 % Zuschuss auf Ihre Teilnahmegebühr. Alle Infos zur Förderfähigkeit unter www.tae.de/ foerdermoeglichkeiten Bauwesen, Energieeffizienz und Umwelt Bis zu 70 % Zuschuss möglich Der Konstruktive Ingenieurbau ist von grundlegender Bedeutung für die Gestaltung unserer modernen Welt. Als Fachgebiet, das sich mit Entwurf, Planung und Realisierung von Bauwerken befasst, spielt er eine entscheidende Rolle bei der Schaffung sicherer, funktionaler, ästhetisch ansprechender Strukturen und trägt maßgeblich zu einer nachhaltig, effizient, lebenswert gebauten Umwelt bei. Dabei werden fortschrittliche digitale Technologien, neue Entwurfs- und Projektmanagementmethoden, moderne Fertigungs- und Inspektionsverfahren sowie innovative Werkstoffe entwickelt und angewendet, die die Tragfähigkeit, Stabilität und Langlebigkeit von Bauwerken gewährleisten sowie Aspekte der Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft berücksichtigen. Das vorliegende Tagungshandbuch enthält die vorab eingereichten Beiträge zu den Vorträgen Der Inhalt Entwurf und Konstruktion Planung, Normung und Verordnungen Materialien - Beton, Holz, Mauerwerk Bauen im Bestand und Zirkuläres Bauen BIM Die Zielgruppen Die Fachtagung richtet sich an Inhaber, Fach- und Führungskräfte in Ingenieurbüros für die bautechnische Gesamtplanung (Architektur, Bauingenieurwesen), Technische Gebäudeausrüstung, Bauunternehmen, Bauträger-, Projektentwicklungsgesellschaften, Institutionen, Behörden; Baustoffhersteller; Softwareentwickler; Personen in Lehre und Forschung an Hochschulen und Universitäten. www.tae.de ISBN 978-3-381-12781-8