Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
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expert verlag Tübingen
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Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs
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Angelika Schmid
Roland Bechmann
Im Rahmen des Bahnprojekts Stuttgart Ulm wird der Stuttgarter Hauptbahnhof komplett umgebaut und erneuert. Der alte Kopfbahnhof wird hierbei durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt. Wesentliches Gestaltungselement der neuen Bahnsteighalle sind die sogenannten Kelchstützen. Ihre Planung wird im vorliegenden Beitrag beschrieben.
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1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 145 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Angelika Schmid Werner Sobek AG, Stuttgart, Deutschland Roland Bechmann Werner Sobek AG, Stuttgart, Deutschland Zusammenfassung Im Rahmen des Bahnprojekts Stuttgart Ulm wird der Stuttgarter Hauptbahnhof komplett umgebaut und erneuert. Der alte Kopfbahnhof wird hierbei durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt. Wesentliches Gestaltungselement der neuen Bahnsteighalle sind die sogenannten Kelchstützen. Ihre Planung wird im vorliegenden Beitrag beschrieben. 1 1. Einleitung Das Bahnprojekt Stuttgart Ulm („S21“) ist das größte Ausbaukonzept für den öffentlichen Schienenverkehr in Baden-Württemberg seit dem 19. Jahrhundert. Es umfasst neben dem Neubau von zahlreichen Tunneln und Trassen auch eine komplette Umgestaltung des Eisenbahnknotens Stuttgart: Der alte Kopfbahnhof wird durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt. Das Herzstück des alten Bahnhofs (der sogenannte Bonatz- Bau) bleibt erhalten und verbindet auch weiterhin die Innenstadt mit den Gleisanlagen; durch die neue Streckenführung können künftig aber umfangreiche Gleisflächen im Zentrum Stuttgarts rückgebaut und durch Parkanlagen bzw. ein neues Stadtquartier ersetzt werden. Insgesamt handelt es sich um eine Fläche von rund 100 Hektar. S21 ist somit nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch hinsichtlich der Stadtentwicklung von großer Bedeutung für Stuttgart. Wesentliches Gestaltungselement der neuen Bahnsteighalle sind die sogenannten Kelchstützen. Diese tragen nicht nur das Schalendach, sondern dienen auch der natürlichen Belichtung und Belüftung des Innenraums. Aufgrund seiner komplexen Geometrie stellt der neue Tiefbahnhof höchste Anforderungen an alle Planungsbeteiligten. Der vorliegende Beitrag erläutert die wichtigsten Randbedingungen für die Tragwerksplanung und beschreibt Formfindung, baustatische Berechnung und Ausführung dieser einzigartigen Konstruktion. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf den Last- und Bemessungsansätzen, die oft jenseits des herkömmlichen Normenkontextes festgelegt werden mussten, sowie auf der Erläuterung, wie durch die Tragwerksplanung eine technisch und ökonomisch nachhaltige Umsetzung ermöglicht wurde. 1 Der vorliegende Beitrag ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines Artikels, der in Heft 5/ 2019 der Zeitschrift „Beton- und Stahlbetonbau“ erschienen ist. 146 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Abbildung 1: a) Luftbild der Stuttgarter Innenstadt rund um den Hauptbahnhof (Copyright: Landeshauptstadt Stuttgart); b) Die durch den neuen Tiefbahnhof freiwerdenden Flächen (Copyright: Landeshauptstadt Stuttgart/ Werner Sobek, Stuttgart) Die Architektur des neuen Stuttgarter Bahnhofs wurde vom Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven mit Unterstützung des Pritzker-Preisträgers Frei Otto entwickelt. Zusammen konnten diese 1997 den internationalen Wettbewerb für sich entscheiden. Ingenieurtechnisch wurden Ingenhoven und Otto im Rahmen des Wettbewerbes vom Ingenieurbüro Happold unterstützt, später auch vom Büro Leonhard, Andrä und Partner [01]. 1999 begann das Team mit den Vorplanungen zum Projekt. Das Büro Werner Sobek Stuttgart übernahm ab dem Jahr 2009 die Tragwerks- und Fassadenplanung sowie Teile der Objektplanung für den neuen Tiefbahnhof sowie für den Umbau des Bonatz-Baus und den Neubau der angrenzenden Stadtbahn-Haltestelle Staatsgalerie [02] [03]. Abbildung 2: Die im vorliegenden Artikel benannten Bauwerke: 1) Tiefbahnhof, 2) Stadtbahn-Haltestelle Staatsgalerie, 3) Bonatz-Bau (Copyright: Landeshauptstadt Stuttgart / Werner Sobek, Stuttgart) Im Rahmen dieser Planung wurden die Entwurfsplanung technischen Anforderungen angepasst und die Genehmigungs- und Ausführungsplanung erstellt. Neben der im Folgenden detailliert beschriebenen Massivbaukonstruktion wurden auch die Stahlkonstruktionen wie Lichtaugen, Gitterschalen, Verteilerstege, Aufzugschachtgerüste und Treppen durch Werner Sobek geplant. 2. Der neue Tiefbahnhof 2.1 Städtebauliche Einbindung Gemäß dem Entwurf von Christoph Ingenhoven entsteht die neue Bahnsteighalle unmittelbar hinter dem historischen Bonatz-Bau. Die derzeit oberirdisch verlaufenden Gleise werden rückgebaut und durch neue Gleisanlagen in Tunnelbauwerken ersetzt. Durch das Absenken der Gleisanlagen kann der Stuttgarter Schlosspark bis an die Rückseite des Bonatz-Baus herangeführt werden. Die bisher durch die Gleisanlagen getrennten Stadteile Stuttgart-Ost und Stuttgart-Nord werden so nach mehr als 100 Jahren wieder fußläufig miteinander verbunden. Für Stuttgart ist das Projekt daher auch und insbesondere ein städtebauliches Projekt, das in Zeiten der zunehmenden Urbanisierung und Wohnraumknappheit ein erhebliches Entwicklungspotenzial bietet. Damit auch die Stuttgarter City städtebaulich möglichst fließend an den neu entstehenden Innenstadtbereich nördlich des Bahnhofs angebunden wird, durfte das Dach der neuen Bahnsteighalle nicht zu hochliegend angeordnet werden. Gleichzeitig musste der Tiefbahnhof aufgrund der Besonderheiten der Stuttgarter Topographie so positioniert werden, dass er am nord-westlichen Ende oberhalb der bestehenden S-Bahn-Tunnel liegt, die Tunnelbauwerke am süd-östlichen Anschluss aber unterhalb der Konrad-Adenauer-Straße verlaufen. Die Bahnsteighalle kann daher nur mit einer begrenzten Konstruktionshöhe und einem leichten Gefälle realisiert werden. Gleichzeitig sollte der Tiefbahnhof aber eine offene und großzügige Atmosphäre bieten und durch Tageslicht beleuchtet werden. Abbildung 3: Innenansicht der neuen Bahnsteighalle - die architektonische Bedeutung der Kelchstützen und der Lichtaugen ist gut sichtbar (Copyright: Ingenhoven Architekten, Düsseldorf) 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 147 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs 2.2 Formfindung Aus den o.g. Randbedingungen heraus entwickelte Christoph Ingenhoven die einzigartige Geometrie des neuen Bahnhofs. Die Formfindung erfolgte in Zusammenarbeit mit Frei Otto und orientierte sich an Methoden, die letzterer bereits bei verschiedenen anderen Projekten (zum Beispiel beim deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal im Jahr 1967) angewendet hatte. Mittels Seifenhaut- und Hängemodellen wurde eine Membranfläche erzeugt. Die so erzielte Geometrie ist eine Fläche, in der infolge der Eigengewichtslasten ein isotroper, gleichmäßiger Zugspannungsverlauf wirkt. Um singuläre Kräfte in diese Membranflächen einzuleiten, wird die Form mit Löchern (sogenannten Lichtaugen) versehen; so können Spannungsspitzen an den Lasteinleitungspunkten vermieden werden. Da bei der Stuttgarter Bahnhofshalle neben den Eigengewichtslasten zusätzlich eine erhebliche Auflast aus der neuen Parkanlage zur berücksichtigen war, ließ sich eine vorgespannte, zugbeanspruchte Seilnetzkonstruktion nicht realisieren [04]. Die von Christoph Ingenhoven und Frei Otto festgelegte Form wurde mit Hilfe der Hängemodelle „eingefroren“ und entsprechend der sogenannten „Umkehrmethode“ auf den Kopf gestellt (nota bene: Im Lauf der unterschiedlichen Planungsstufen wurde die anhand der Hängemodelle entwickelte Form immer wieder geringfügig manipuliert, um das Lichtraumprofil und die Aufstandsflächen der Kelche auf den Bahnsteigen zu optimieren). Durch diesen Formfindungsprozess konnte bei Spannweiten von ca. 36 m die Konstruktionshöhe der Halle begrenzt und der Materialverbrauch minimiert werden. Gleichzeitig ergab sich so die typische Geometrie der kelchartig geformten Stützen, die das Erscheinungsbild des neuen Tiefbahnhofs entscheidend prägen. Die Lichtaugen der Kelchstützen werden mit leichten Stahl-Glas- Schalen verschlossen; diese dienen zur natürlichen Belüftung und Belichtung der Halle. Abbildung 4: a) Untersicht der Stahl-Glas-Schale, die den Sonderkelch (Eingangsbauwerk) überspannt (Copyright: Ingenhoven Architekten, Düsseldorf); b) Aufsicht auf eines der Lichtaugen im erweiterten Stuttgarter Schlosspark (Copyright: Ingenhoven Architekten, Düsseldorf) Die Kelchstützen reflektieren durch ihre geschwungene Form das auf die helle Betonstruktur treffende Tageslicht weit in die Halle hinein. Ventilationsklappen in den Stahl-Glas-Schalen erlauben eine natürliche Belüftung und - durch den Luftaustausch mit den Tunnelröhren - auch eine natürliche Klimatisierung. 2.3 Geometrie des neuen Tiefbahnhofs Die 420 m lange, 80 m breite und bis zu 12 m hohe Bahnsteighalle wird monolithisch in weißem Sichtbeton ausgeführt. Sie untergliedert sich in die Trogkonstruktion, das Schalendach und den Übergang zwischen Bahnhofshalle und Bonatzgebäude, den sogenannten Loungebereich. Die Deckenuntersicht des Schalendaches ist eine doppelt gekrümmte Fläche; die Bauteilstärken variieren entsprechend der Beanspruchung von 45 cm im Feldbereich bis zu 130 cm im Randbereich. Abbildung 5: a) + b) FE-Modell des Tiefbahnhofs (Copyright: Werner Sobek, Stuttgart) 148 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Gestützt wird das Schalendach durch die Trogwände und 28 Kelchstützen. Diese Stützen können in drei Typen unterschieden werden: 23 Regelkelche mit einem randverstärkenden Überzug an der Oberseite, vier Flachkelche ohne Randverstärkung sowie ein größerer Sonderkelch, der sich zur Innenstadt hin öffnet und einen Zugangsbereich bildet. Topographisch bedingt ist der Abstand zwischen Dach und Trog nicht durchgehend gleich, sondern variiert. Hierdurch verändert sich auch die Bauhöhe der Regelkelche. Die Kelchstützen werden im oberen Bereich immer mit annähernd gleicher Geometrie ausgeführt, damit die in der Herstellung sehr aufwendigen Schalungselemente wiederverwendet werden können. Die erforderliche Geometrieanpassung erfolgt deshalb im Fußbereich der Kelche, also in den ersten 6 Metern oberhalb der Trogkonstruktion durch drei verschiedene Kelchfußtypen. Jeder einzelne dieser Kelchfüße muss in unterschiedlicher Länge ausgeführt werden. Die Geometrie des Schalendaches ist eine hochkomplexe Form aus antiklastisch gekrümmten Flächen. Mathematisch kann sie als Freiform bezeichnet werden, da es keine mathematischen Regelmäßigkeiten gibt, die sie beschreiben. Entwickelt ist die Form allerdings nicht frei; sie ist vielmehr eine hocheffiziente Leistungsform, die dem Verlauf der Kräfte folgt und die gesetzten Anforderungen an eine weitspannende und lichtdurchflutete Bahnsteighalle materialoptimiert umsetzt. Durch den gewählten Formfindungsprozess, der in der Natur vorkommenden physikalischen Selbstbildungsprozessen ähnelt, wirkt die Geometrie zeitlos. Theoretisch müsste der Entwurfsprozess dazu führen, dass das Schalendach eine rein druckbeanspruchte Konstruktion ist, und damit nahezu keiner Stahlbewehrung bedürfte. Tatsächlich reduziert die gewählte Form die Zugkräfte und Momente der Struktur im Vergleich zu einer üblichen Form erheblich; allerdings wirken in der Realität viele zusätzliche Einflussfaktoren, die in der Modellbildung nicht anfallen. Dies sind vor allem das erhöhte Eigengewicht mit Erdauflast, die seitlichen Erdlasten (die in Querrichtung über eine Rahmenwirkung abgetragen werden), die angesetzten Erdbebenlasten und natürlich auch die aus Kriechen und Schwinden sowie Temperaturänderungen erzeugten Zugspannungen des mit dem Trog monolithisch verbundenen Baukörpers. 3. Berechnung und Bemessung der fugenlosen Massivkonstruktionen 3.1 Grundlagen Der Tiefbahnhof besteht aus einem Trog aus Normalbeton und dem darauf fugenlos aufsetzenden Schalendach aus Weißbeton. Das gesamte Bauwerk ist als fugenlose Massivbaukonstruktion ausgelegt. Erst an den Übergängen zum Nord- und Südkopf finden sich Raumfugen. Die Anforderungen an den Massivbau sind durch die WU- Konstruktion des Troges und die Sichtbetonanforderungen (Sichtbetonklasse SB4) an die Weißbetonoberfläche des Schalendachs sehr hoch. 3.2 Rolle der FE-Modelle Für die Berechnung dieser komplexen und großen Struktur mussten verschiedene FE-Modelle erstellt werden. Dazu wurde die FE-Berechnungssoftware SOFiSTiK eingesetzt. Wesentlich für die Berechnung und Bemessung des Stahlbetons auf Basis des Eurocode 2 ist das Gesamtmodell der Bahnhofshalle. Für den Aufbau des FE-Modells des Schalendaches wurde auf das architektonische 3D-Modell zurückgegriffen. Das Modell im Übergabeformat 3dm (Rhinoceros) beschreibt exakt die Außen und- Innenflächen des Schalendaches. Aufgrund der ständigen Änderung der Krümmungen und Bauteilstärken über die Fläche musste im ersten Schritt eine geeignete Mittelfläche generiert werden. Dazu wurden eigene Skripte entwickelt; mit Hilfe dieser Skripte konnte die Fläche dann in Rhinoceros erzeugt werden. In einem zweiten Schritt wurde ein geeignetes FE-Netz auf dieser Fläche entwickelt. Im letzten Schritt wurden jeweils die Bauteildicken an den Knotenpositionen ermittelt und dem FE-Netz zugeordnet. Der notwendige Eingabecode für das Berechnungsprogramm wurde wiederum mittels Skripten direkt im 3D-Programm erzeugt. Dabei konnten die Fähigkeiten von SOFiSTiK bei der Steuerung über den textbasierenden Code effektiv genutzt werden. Auch alle weiteren Schritte, wie Lasteingabe, Überlagerungsregeln und Berechnungsschritte wurden direkt programmiert. Im FE-Gesamtmodell wurden die vorgesehenen Bewehrungsrichtungen bei der Definition der Koordinatensysteme bereits berücksichtigt. Zur Berechnung der Erdbebenlastfälle, welche auch komplexe Bauwerk-Boden-Interaktionen beinhalten, mussten speziell gelagerte Szenarien am Modell berechnet werden. Die Schnittgrößen dieser Sonderberechnungen wurden direkt in die Datenbank des Hauptmodells eingelesen und konnten auf diesem Weg mit überlagert werden. Das Gesamtmodell liefert im Wesentlichen die bemessungsrelevanten Ergebnisse für die Lastkombinationen mit Effekten in der Längsrichtung, wie Schwinden und Temperatur. Um insbesondere die Gründungsdetails und die strukturierte Bodenplatte ausreichend genau zu erfassen, wurden für jeden Bauabschnitt zusätzliche Teilmodelle erstellt. Diese reichen jeweils über drei Bauabschnitte und weisen im Bereich der Bodenplatten eine feinere Vernetzung auf; sie enthalten zusätzlich Pfahlelemente zur Simulation der Gründungspfähle. Diese Teilmodelle können insbesondere zur detaillierten Bemessung der Trogkonstruktion herangezogen werden. Eine weitere wesentliche Aufgabe der jeweiligen Teilmodelle war der notwendige Abgleich mit dem zughörigen geotechnischen Modell. Die anspruchsvollen Bodenverhältnisse, deren Veränderungen über die Bauwerkslänge und 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 149 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs nicht zuletzt der Schutz der mineralwasserführenden Schichten erforderte ein aussagekräftiges Halbraummodell. Dieses Modell, das vom Geotechniker CDM Smith betreut wurde, enthält neben den Pfählen und dem Trog auch ein vereinfachtes Schalendach. Für die Ermittlung von Bettungen und Pfahlfederwerten erfolgte eine Berechnung aller setzungsrelevanten Bauschritte, inkl. Aushub und Wasserhaltungsschritten. Im Anschluss erfolgt ein iterativer Abgleich mit dem jeweiligen Tragwerksmodell. Mit den Prüfinstanzen wurden die Kriterien hierfür festgelegt. Dabei müssen die Bodenplattenverschiebungen übereinstimmen und zugleich dürfen die Pfahlkräfte nur ca. 10 % voneinander abweichen. Die komplexe Gründung und deren Berechnung zusammen mit dem anspruchsvollen Iterationsprozess wird in [05] und [8] detailliert beschrieben. Um die schrittweise Herstellung richtig zu erfassen, wurde durch weitere Unterteilung aus dem Gesamtmodell ein separates Bauphasenmodell erstellt, so dass die jeweiligen Herstellungsschritte mit dem CSM-Modul von SOFiSTiK gesteuert werden konnten [06]. Im Modell werden die tragwerksrelevanten Bauphasen mit den jeweils vorhandenen Baubehelfsstützen abgebildet. Dabei wirken im Wesentlichen Eigenlasten, bauzeitliche Verkehrslasten und Temperaturlasten. Es zeigte sich, dass ein freistehender Kelch ein deutlich vom Endzustand abweichendes Tragverhalten hat. Aufgrund der Masseverteilung wechselt das Anschlussmoment am Fußpunkt im Bauzustand das Vorzeichen im Vergleich zum Endzustand. Neben den Modellen der Bahnhofshalle wurde ein zusätzliches FE-Modell für die Berechnung der im Bereich der vorhandenen S-Bahn-Tunnel erforderlichen Überbrückung erstellt. Es erlaubt die Berechnung der stark gegliederten Konstruktion in Form einer Spannbetonplatte mit zahlreichen Spanngliedern. Der Schwerpunkt der Berechnung liegt in der schrittweisen Vorspannung im Laufe des Herstellungsprozesses des Schalendachs, insbesondere da zwei Kelche direkt auf der Brückenkonstruktion angeordnet sind. Die vorgestellten Modelle erlaubten eine umfassende Berechnung der komplexen Tragstruktur im Rahmen der Genehmigungs- und Ausführungsplanung. 3.3 Normenumfeld Aufgrund der Besonderheiten der Bahnhofshalle in Bezug auf die Geometriesowie die Nutzungsanforderungen ergab sich ein komplexes Normenumfeld. Die eindeutige Zuordnung zu einem einzelnen Normenwerk war insofern nicht möglich. Im Rahmen der Genehmigungsplanung wurde die Normensituation für alle relevanten Lastfälle analysiert; hieraus wurden dann gemeinsam mit dem Bauherrn ingenieurmäßige Lastansätze entwickelt. Das Bemessungskonzept wurde mit den beteiligten Prüfinstanzen abgestimmt und war Grundlage der Genehmigungsplanung. Beispiele für solche wichtigen Lastansätze sind unter anderem eine wirklichkeitsnahe Bauwerk-Boden-Interaktion sowie die Temperaturlasten oder der Erdbebennachweis, die im Folgenden detaillierter erläutert werden. Für den Nachweis des konstruktiven Brandschutzes erfolgte ein Großbrandversuch in Anlehnung an die RIL 853. Ein Probekörper mit typischer Krümmung und einer mittleren Belastung wurde mit der IEBA-Brandkurve beaufschlagt. Durch diesen Brandversuch wurde nachgewiesen, dass durch den Zusatz von ca. 2 kg PP-Fasern pro Kubikmeter Weißbeton im Brandfall nur relativ geringe Abplatzungen zu erwarten sind. 3.4 Erdbeben Bei der Bahnhofshalle handelt es sich im baurechtlichen Sinne um einen Hochbau. Tragwerksplanerisch liegt die Bahnhofshalle allerdings unterhalb der Geländeoberfläche. Da hierdurch keine eindeutige Regelung vorlag, wurde für den rechnerischen Ansatz des Lastfalls „Erdbeben“ die Stellungnahme eines Sachverständigen eingeholt. So konnten vereinfachte quasi-statische Lastansätze (3 Lastmodelle) zur Berücksichtigung der Bauwerk-Boden-Interaktion im Erdbebenlastfall festgelegt werden. Im Lastmodell 1 wurde die Biegung um die Längsachse und die daraus resultierenden Scherkräfte untersucht. Für jeden Bauabschnitt wurde ein separates Verformungsmodell betrachtet. Dabei wurde angenommen, dass sich der Bahnhof mit der Erdbebenwelle und dem Boden gemeinsam verformt. Da die Schnittgrößen immer an der Stelle, an der die Auslenkung am größten ist, maximal und damit maßgebend werden, wurde für jeden Bauabschnitt ein eigenes Modell erstellt. Die Berechnung erfolgte unter Ansatz einer Wellenlänge von 900 m. Dieses vereinfachte Modell sollte die phasenverschobene Anregung der einzelnen Punkte des lang gestreckten Bauwerks abbilden. Die Berechnung der anzusetzen Wellenlänge war sehr komplex. In der Fachliteratur fanden sich nur wenige Angaben; zudem fehlten Angaben zu Wellengeschwindigkeiten im Grundgebirge und im Sediment. Eine Abschätzung konnte aber anhand von Werten, die an Tunnelbauwerken in Japan gemessen wurden, erfolgen. In den Modellen wurde die Plattenbettung der Bodenplatte ausgeschaltet und das Modell stattdessen durch einzelne Lagerpunkte an den Nulldurchgängen der Welle gehalten. Es wurde eine horizontale Last aufgebracht, so dass sich eine maximale Verformungsamplitude von 3 cm einstellt. Da die Wellenlänge mit 900 m länger als die Bahnhofshalle ist, mussten die Lagerbedingungen mit Federn abgebildet werden. Im Lastmodell 2 wurde die Quertragfähigkeit des Bahnhofgebäudes untersucht. Hierfür wurden vier typische Bewegungsformen im Erdbebenfall betrachtet. Vom Geotechniker (Smoltczyk & Partner) wurden die auf die Bahnhofshalle einwirkenden pseudo-statischen Erddrücke ermittelt. Bei der Ermittlung wurde eine relative Verschiebung zwischen Boden und Bauwerk von 3 cm angenommen. Da die Querschnittsparameter über die 150 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Bahnhofslänge hinweg hinsichtlich Geometrie und Bodeneigenschaften variieren, mussten diese Berechnungen an mehreren Querschnitten durchgeführt werden. Die ermittelten pseudo-statischen Erddrücke wurden dann bereichsweise in den verschiedenen Rechenmodellen der Bahnhofshalle angesetzt. Beim Lastmodell 3 wurde angenommen, dass das Bauwerk frei steht und nicht durch den umliegenden Baugrund in seinen Schwingungen behindert wird. Hier konnte das vereinfachte Antwortspektrenverfahren nach DIN 4149 angewandt werden. Da die Erdbebenwellen unter einem beliebigen Winkel auf den Bahnhof treffen können, wurden 8 unterschiedliche Beschleunigungsrichtungen untersucht. Die Hauptrichtungen ergaben sich aus der Quer- und Längsachse des Bahnhofs. Zusätzlich wurden Achsen untersucht, die in Winkeln von 45° von diesen Hauptachsen abweichen. Alle Erdbeben-Lastmodelle wurden in separaten Ersatzmodellen berechnet. Dies war erforderlich, da die Schnittkräfte in den Erdbebenmodellen unter angepassten Lagerungsbedingungen ermittelt werden mussten. Die in den Ersatzmodellen generierten Schnittkräfte sollten jedoch zur Weiterverarbeitung in die Tragwerksmodelle integriert werden. SOFiSTiK stellt hierfür das Modul MERGE zur Verfügung, einen Datenbankmanipulator, der Ergebnisse aus einer CDB-Datenbank in eine andere CDB übertragen kann. Hierfür ist wichtig, dass in beiden Modellen die Elementnummerierung exakt gleich ist, damit die Schnittkräfte auch dort integriert werden, wo sie vorgesehen sind. 3.5 Zwangseinwirkungen Aufgrund der fugenlosen Bauweise bei gleichzeitiger „Vernagelung“ von Bauwerk und Baugrund durch die Pfähle wurde die erforderliche Bewehrung zur Minimierung der Rissweite im Beton maßgeblich durch Zwangseinwirkungen bestimmt. Die Risse waren dabei auf eine Breite von 0,15mm für die Trogkonstruktion (WU-Konstruktion) bzw. 0,2mm für das Schalendach (Festlegung für Sichtbeton) zu begrenzen. Die Zwänge werden in erster Linie durch Temperatur- und Schwindeinwirkungen hervorgerufen. 3.5.1 Temperatur Für die Bahnhofshalle als großräumiges, im Untergrund eingebettetes Tragwerk lagen keine einschlägig anwendbaren Regelungen für Temperaturansätze vor. Es waren daher objektspezifische Festlegungen erforderlich, welche zuerst durch eine unternehmensinterne Genehmigung von der Deutschen Bahn (UiG) zu klären und im Weiteren durch eine Zustimmung im Einzelfall durch das Eisenbahnbundesamt zu bestätigen waren. Die Festlegung der Temperaturen im Endzustand erfolgte auf Basis eines thermodynamischen Gutachtens des I.F.I. Aachen. Für den Innenraum der Bahnhofshalle wurden hieraus die maximalen Lufttemperaturen im Endzustand von +23°C für die Sommersituation und 0°C für die Wintersituation festgelegt. Abhängig von den Bauteildicken und dem mittleren Grundwasserstand sowie unter dem Ansatz einer mittleren Aufstelltemperatur von 10°C wurden hieraus die konstanten und linear veränderlichen Temperaturanteile in den Bauteilen (getrennt in Bodenplatte, Trogwände, Schalendach und Kelche) der Bahnhofshalle abgeleitet. Während des Bauzustandes wurden für die Trogkonstruktion Temperatureinwirkungen in Anlehnung an die ZTVing, Teil 5 für erdberührte Flächen angesetzt. Für die Temperaturbeanspruchung des Schalendachs und der Kelche wurde im Bauzustand eine Umgebungstemperatur von -10 bis +35°C herangezogen. Hierbei war es wichtig, auch Belastungszustände abzudecken, welche aufgrund der späteren Einschüttung des Tragwerks im Endzustand nicht auftreten (z.B. Sonnenbestrahlung der Schalendachoberfläche). 3.5.2 Schwinden Bei den Berechnungen der FE-Modelle wurde das Schwinden des Betons in Form von Dehnungen angesetzt. Die Schwindwerte basierten auf dem Ansatz einer relativen Luftfeuchte von 75% für das Schalen-dach und 80% für die Trogkonstruktion. Die abschnittsweise Herstellung des Bauwerks und deren zeitliche Abfolge wurden dabei durch den Ansatz von Differenzschwindmaßen berücksichtigt, wodurch sich in Bahnhofslängs- und Querrichtung unterschiedliche Werte ergaben. Zur Berücksichtigung des Relaxationsverhaltens des Betons wurde bei der Ermittlung der Schwindlasten ein Abminderungsfaktor von 0,65 angesetzt. 3.5.3 Nachweiskonzept Zwangsbeanspruchung Die Schnittkraftermittlung und Bemessung der Stahlbetonbauteile erfolgte im Zustand I (ungerissener Querschnitt). Dabei wurden die Einwirkungen aus Last mit den Zwangseinwirkungen aus Temperatur und Schwinden auf Basis der mit den Prüfinstanzen abgestimmten Teilsicherheits- und Kombinationsbeiwerten für die Nachweise im GZT überlagert. Gemäß DIN EN 1992- 1-1/ NA kann im GZG beim Nachweis der Rissbreite auf die Überlagerung von Last- und Zwangseinwirkungen verzichtet werden, solange die Zwangsdehnungen unter 0,8 ‰ liegen. Um dies nachzuweisen, wurden die maximalen Zwangsspannungen unter Temperatur- und Schwindeinwirkung am Gesamtmodell ermittelt und mithilfe des E-Moduls des Betons in Dehnungen umgerechnet. Es zeigte sich, dass die Dehnungen der Bahnhofshalle in Längsrichtung bei max. ca. 0,3 ‰ liegen und dementsprechend auf eine Überlagerung von Last und Zwang im GZG verzichtet werden konnte. Zur Nachweisführung der Bahnhofshalle wurde die erforderliche Bewehrung in mehreren Berechnungsläufen 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 151 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs bestimmt. Die Mindestbewehrung wurde für „späten Zwang“ in Bahnhofslängsrichtung sowie für „frühen Zwang“ in Bahnhofsquerrichtung ermittelt und als Grundbewehrung festgelegt. Im GZT wurde das FE-Modell für Last- und Zwangsbeanspruchungen bemessen. Im GZG (häufige Kombination) erfolgte die Bemessung hingegen für die Last- und Zwangsbeanspruchungen jeweils getrennt unter Einhaltung der festgelegten Rissbreiten. Die Bewehrungswahl erfolgte dann für die maßgebende Bewehrungsmenge aus diesen fünf Berechnungen. Wird eine Bewehrung zur Einhaltung der Rissbreite für Zwangsbeanspruchung auf Grundlage von Schnitt-kräften im Zustand I (ungerissen) ermittelt, so kann dies bei stark schwankenden Bauteilquerschnitten auf der unsicheren Seite liegen. In diesem Fall wird nicht berücksichtigt, dass sich Dehnungen in den dünnen Querschnittsbereichen aufkonzentrieren können, wenn in den dicken Querschnittsbereichen die Rissschnittkraft nicht überschritten wird und sich somit dort keine Risse einstellen. Die Risse in den dünnen, gerissenen Querschnittsbereichen müssen in diesem Fall auch die Zwangsdehnungen aus den ungerissenen Querschnittsbereichen aufnehmen. Da die Bauteildicken wie bereits beschrieben vor allem im Schalendach der Bahnhofshalle stark variieren waren weitere Untersuchungen über eine mögliche Aufsummierung von Rissen notwendig. Hierzu wurde in einem ersten Schritt die Zugkraft aus der angesetzten Mindestbewehrung in den dünnen Bauteilbereichen unter einer reduzierten, charakteristischen Stahlspannung ermittelt; anschließend wurde geprüft, welche maximalen Bauteildicken hiervon aufgerissen werden können. Es zeigte sich, dass auch beim Ansatz einer erhöhten Betonzugfestigkeit im Endzustand die Zugfestigkeit in den Bereichen mit Bauteildicken von bis zu 1,10 m überschritten wird. Da sich jedoch nur an den lokalen Übergängen zu den Kelchen und den Trogwänden Bauteildicken von h > 1,10 m ergeben, wurde die gewählte Mindestbewehrung als ausreichend betrachtet, um die Effekte einer Aufsummierung von Rissen kompensieren zu können. In einem zweiten Schritt wurden materiell nichtlineare Berechnungen am FE-Modell durchgeführt, um die maximalen Rissweiten unter Zwangsbeanspruchung rechnerisch zu erfassen. 4. Weitere Grundlagen für die Umsetzung Neben der Geometrie stellte v.a. die vom Architekten geforderte Weißfärbung des Betons besondere Herausforderungen an Planer und ausführende Unternehmen. In typischen Bauteilen des Hochbaus würde ein klassischer Weißzement zum Einsatz kommen. Solche Portlandzemente (CEM I) sind gut verfügbar, haben aber eine vergleichsweise hohe Wärmeentwicklung im Hydratationsprozess. Diese Eigenschaft ist aber aufgrund der stark variierenden Bauteildicken und insbesondere in Bauteilen mit großen Abmessungen (wie z.B. den Kelchfüßen) problematisch. Die Temperaturentwicklung von reinem CEM I würde das geplante Maß von ca. 65° C im Kern deutlich übersteigen. Zur Senkung der Temperatur wurden verschiedenste Rezepturen entwickelt und mit allen Beteiligten bewertet und diskutiert. Die Wahl fiel schließlich auf eine Mischung aus CEM I und CEM III. Die Zugabe eines Hochofenzementes mit geringer Wärmeentwicklung wegen hohen Anteilen an Hüttensandmehlen führte zu einer Begrenzung der Kerntemperatur auf das gewünschte Maß. Ein negativer Begleiteffekt ist die mögliche Blauverfärbung der Oberflächen unter Luftabschluss - dem wird durch ein schnelles Ausschalen begegnet. Die komplexe Form der Kelche erforderte in den gesamten Kelchinnenflächen großflächige Deckschalungen (trotz teilweise geringer Restneigung in den oberen Bereichen). Die Kelchform führte so alle Beteiligten an die Grenzen des technisch Machbaren. Eine besondere Herausforderung war die Entlüftung der Oberflächen bei der Betonage. Die Bildung von Hohlräumen wurde im Wesentlichen durch eine fließfähige Konsistenz F5 der eigens entwickelten Rezeptur und einen mäßigen Rüttlereinsatz verhindert. Auf dem Weg zur Betonrezeptur wurden zahlreiche kleine und große Probekörper betoniert und bewertet. 5. Ausführungsplanung und Herstellung der Kelchstützen 5.1 Die Bedeutung der 3D-Modellierung Aufgrund der hohen geometrischen Komplexität des Schalendachs musste dieses komplett in 3D geplant werden. Für die Erstellung der Rohbauplanung wurde das Programm Rhinoceros eingesetzt, mit dem sich alle komplexen Freiformflächen in 3D abbilden ließen. Dieses 3D-Modell wurde von den Architekten und den Tragwerksplanern gemeinsam entwickelt. Das Modell enthält neben der Geometrie auch alle weiteren Rohbauinformationen. Auf einzelnen Layern sind die Schalhautfugen und Koordinaten von Einbauteilen integriert. Das Modell ist auch Grundlage der gut 600 Rohbaupläne des Schalendachs. Die Rohbaupläne sind achsweise sowie in einzelne Bauteile wie „Kelchstütze“ oder „Schwindgasse“ unterteilt. Sie beinhalten ein Abbild des 3D-Modells sowie Koordinaten im Gauss-Krüger-System. Das Abbild wird mittels mehrerer Schnitte durch die Bauteile erzeugt. Die Koordinaten beschreiben die komplexe Geometrie eindeutig und sind maßgebend für die Herstellung des Schalendachs. Es wird nicht, wie sonst im Hochbau üblich, mit Maßketten gearbeitet. Das 3D-Modell wird ebenso zur Entwicklung der Schalungskonstruktion durch die ausführende Firma verwendet. Die Schalungskörper werden aus der 3D-Geometrie hergeleitet und dann in 3D gefräst. 152 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Abbildung 6: Schematische Darstellung der Bewehrung einer Kelchstütze samt Fuß (Copyright: Werner Sobek, Stuttgart) Das 3D-Modell dient darüber hinaus als Grundlage der Bewehrungsplanung. Die hohe Komplexität der Bewehrungsplanung des Schalendachs äußert sich im Wesentlichen in folgenden Randbedingungen: - Komplexe Geometrie mit ständig variierender Bauteildicke, synklastisch und antiklastisch gekrümmten Bereichen sowie Kombination von kreisförmigen (im Bereich der Kelche) mit orthogonalen (im Bereich der Decken und Wände) Bewehrungssystemen; dies führt zu komplexen Übergangs- und Übergreifungsbereichen mit mehrfachen Kröpfungen und Krümmungen. - Hohe Anforderungen an die sichtbare Oberfläche und damit Erfordernis geringer Abweichungen in der Betondeckung und hoher Anspruch an die Genauigkeit der Biegeformen - Fertigungstechnisch bedingt eine begrenzte Genauigkeit bei der Herstellung komplexer Biegeformen der Bewehrungseisen Anhand des 3D-Modells wurden aufgrund der oben genannten Randbedingungen parallel zur Oberfläche sogenannte Spuren (d.h. Bewehrungsachsen) erzeugt und modifiziert. Hierfür wird das Programm Rhinoceros in Kombination mit Grasshopper und C# verwendet. Die Ausgangsspuren bestehen aus Splines und wären in dieser Form nicht wirtschaftlich herstellbar. Insofern musste im ersten Schritt eine Vereinfachung der Geometrie erfolgen. Die mit der ausführenden Firma abgestimmten Biegeformen sind Bogenzüge mit bis zu drei Bögen und Polygonen. Mithilfe eigens entwickelter Skripte erfolgte eine parametrisierte Vereinfachung und Gruppierung von Stabformen. Abbildung 7: a) Blick in die Bewehrung am oberen Rand einer Kelchstütze (Copyright: Werner Sobek, Stuttgart); b) Blick auf das Bewehrungsmodell im Bereich der Hutzen-Sonderbügel (Copyright Werner Sobek, Stuttgart) Die Software-Werkzeuge ermöglichen auch eine Visualisierung in 3D. Die finalen Spuren wurden dafür in das 3D-Bewehrungsprogramm Allplan/ Nemetschek eingelesen und dort zu einem Gesamt-Bewehrungsmodell inklusive aller Stabeigenschaften, bewehrungsrelevanter Einlegeteile sowie Betonier- und Rüttelwendeln verarbeitet. Abbildung 8: Darstellung der Bewehrungsspuren im Rhinoceros-Modell (Copyright: Werner Sobek, Stuttgart) 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 153 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs 5.2 Bewehrung - von der Planung zur Produktion Bei der Generierung der einzelnen Stäbe mussten hinsichtlich der Herstellbarkeit sowohl das elastisch-plastische Verhalten des Bewehrungsstahls als auch die Eigenschaften der Biegemaschine beim Biegeprozess berücksichtigt werden. Es galt nicht herstellbare Biegeformen in der Planung auszuschließen und komplexe Biegeformen (z.B. Stäbe, die in zwei verschiedene Richtungen gebogen sind) generell auf ein Minimum zu beschränken. Hierfür wurden zwischen Tragwerksplaner und ausführender Firma die Machbarkeit der Herstellung solcher Formen bzw. mögliche Vereinfachungen anhand von umfangreichen Versuchen abgestimmt. Hierzu zählten z.B. Versuche, ab welchem Krümmungsradius ein Stab bestimmter Dicke überhaupt vorab gebogen werden muss bzw. bis wann er bei Bedarf vor Ort händisch in seine Sollgeometrie gebracht werden kann. Es wurden Toleranzen abgestimmt, innerhalb derer die Bewehrungseisen variieren dürfen. Hierfür wurden mit dem Biegebetrieb Folgen an Radien und Knicken der Betonstahlbewehrung abgestimmt, die mit hinreichend geringen Toleranzen herstellbar sind. Anhand dieses ausgeklügelten 3D-Bewehrungsmodells erfolgt eine Kollisionskontrolle, anschließend werden die Bewehrungspläne erzeugt. Komplexe Biegeformen werden bei Bedarf händisch nachbearbeitet. Weiterhin wurde zur Gewinnung vertiefter Erkenntnisse ein sogenannter Musterkelch erstellt. Dieser stellt ein Segment (genauer gesagt: ein Sechstel) eines typischen Innenkelches im Maßstab 1: 1 dar. Dieser wurde hinsichtlich Bewehrungsverlegung, Betonmischung, Einbring- und Rüttelöffnungen etc. originalgetreu geplant und umgesetzt, um die Herstellbarkeit zu testen und um die Qualität der daraus resultierenden Betonoberfläche beurteilen zu können. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich Betonmischung und Bewehrung flossen dann in die weitere Planung ein. Die Bewehrungsplanung eines typischen Innenkelches mit einer Bewehrungsmasse von ca. 300 to hat einen Umfang von 350 DIN A0 Plänen. Diese beinhalten sowohl Verlegepläne als auch Pläne mit Biegeformen. Je Kelch treten ca. 1.500 verschiedene Positionen auf. Ein typischer Randkelch inkl. oberer Wand (mit ca. 350 to Bewehrungsstahl) umfasst 400 Pläne. Das gesamte Schalendach wird auf ca. 12.000 Bewehrungsplänen dargestellt. Um die exakte Positionierung der Bewehrungseisen auf der Baustelle zu gewährleisten, werden Gauss-Krüger- Koordinaten verwendet. Jedes Bauteil des Schalendaches erhält ergänzend zu den Bewehrungsplänen eine Koordinatenliste. Diese ermöglicht dem Unternehmen mit Hilfe eines Vermessers die Leitstäbe exakt einzumessen und weitere Eisen entsprechend dazwischen zu platzieren. Weiterhin werden in den Bewehrungsplänen Stabanfang und -ende definiert. Dies übernimmt der Biegebetrieb mittels einer farblichen Markierung am Stab zusätzlich zur Positionsnummer, die an jedem einzelnen Stab festgebunden wird. Ohne diese eindeutige Markierung ist ein Bewehrungsstab auf der Baustelle nutzlos, da nicht korrekt zuordenbar. 5.3 Einsatz von 3D-Daten auf der Baustelle Das von Werner Sobek entwickelte 3D-Bewehrungsmodell ist nicht nur Grundlage der Bewehrungspläne, sondern bedeutet für die Baustelle eine weitere Hilfestellung in Form von 3D-Daten, die direkt vor Ort eingesehen werden können. Die ausführenden Unternehmen haben in einem Container direkt neben dem Einbauort die Möglichkeit, sich jederzeit am Computer die Lage einzelner Stabpositionen in 3D vor Augen zu führen und so den korrekten Einbau zu überprüfen. Weiterhin dient das 3D-Geometrie-Modell mit seinen Koordinatenlisten der exakten Einrichtung der vielen komplex geformten Schalungselemente auf der Baustelle. Abbildung 9: Die Bewehrung eines Kelchfußes (Copyright: Achim Birnbaum, Stuttgart) 5.4 Schalung und Betoniervorgang Neben der Bewehrung und den zugehörigen Einbauteilen ist bei solch einer komplexen geometrischen Struktur auch die Schalungsherstellung, die Betonage sowie das Ausschalen und Unterstützen der Konstruktionen detailliert zu planen und umzusetzen. Für die Schalungsplanung verwendete das ausführende Unternehmen als Grundlage das eingangs beschriebene 3D-Rhino-Modell aus der Tragwerksplanung. Auf Basis des erstellten Schalungsmodells werden je Schalsatz ca. 6.000 Elemente aus verleimten Holzplatten computergesteuert gefräst, geschliffen und mit GFK-verstärkten Kunstharzschichten mehrlagig verstärkt. Aufgrund dieses aufwendigen Herstellungsverfahrens war die Möglichkeit der Wiederverwendung der Schalungselemente ein wichtiger Beitrag zur ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit des Projekts. Sämtliche Kelchstützen werden mittels drei 154 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs Schalsätzen hergestellt, die je nach Geometrie in einzelnen Elementen variiert werden können. Bei der Betonage ist neben der Betonmischung der Betoniervorgang selbst von großer Bedeutung. Die Betonier- und Rüttelöffnungen wurden bereits im Zuge der Bewehrungsplanung abgestimmt und in die Bewehrungspläne integriert. Beim Einbau der Bewehrung werden Rüttler und Betonierschläuche bereits in den Bewehrungskorb integriert. Bei der Betonage werden sie entsprechend dem Anstieg des Betonspiegels herausgezogen. Die Betoniergeschwindigkeit sowie die Rüttelintensität wurden vorher festgelegt und müssen für eine perfekte Sichtbetonfläche genau eingehalten werden. In den nicht einsehbaren Bereichen erfolgt eine Überwachung des Betonsteigverhaltens mittels Videokameras im Inneren der Schalung. Um sicherzustellen, dass der Beton konstant in der Schalung ansteigt, werden große Bauteile außerhalb des Berufsverkehrs betoniert; eine zweite Mischanlage ist stets in Einsatzbereitschaft. Eine Unterbrechung der Betonage würde ansonsten zu Schichtmustern an der Oberfläche führen. Abbildung 10: Aufsicht auf die Bewehrungsarbeiten an einem Regelkelch (Copyright: Achim Birnbaum, Stuttgart) Abbildung 11: Blick in das Lichtauge einer Kelchstütze (Copyright: HG Esch, Hennef) Das Ausschalen beginnt in der Regel bereits ca. 3 Tage nach Erreichen der Mindestbetonfestigkeit. So wird sichergestellt, dass die Betonoberfläche so früh wie möglich mit Sauerstoff in Kontakt kommt und keine unerwünschte Blaufärbung des Betons eintritt. Nach dem Ausschalen werden temporäre Stützelemente angebracht. Hierbei handelt es sich um ca. 12 m lange quadratische Stahlstützen mit unterschiedlichen Wanddicken, die kreisförmig um die Kelchachse angeordnet sind; diese verhindern ein Kippen sowie zu große Verformungen entlang der Kelchränder im Bauzustand (Abb. 12). Der obere Anschluss erfolgt mittels Einschubdorn als gelenkigem Auflager; dieser Dorn wurde aufgrund der Sichtbetonanforderungen minimalistisch angelegt. Auch die Dimensionierung der temporären Stützen erfolgte durch die Tragwerksplaner mittels des FE-Bauphasenmodells; die Steifigkeit wird hierbei so lange variiert, bis Last und Verformung in optimalem Verhältnis stehen. Die Ausführungsplanung des Troges ist zwar geometrisch weniger komplex als die des Schalendachs, aufgrund der extrem hohen Zahl der Einbauten sowie des hohen Bewehrungsgrades jedoch ebenso sehr anspruchsvoll. So sind für die Rohbauplanung des Troges ca. 850 Pläne vorgesehen, aufgrund der Informationsdichte teilweise in einem Maßstab von 1: 25. In der Summe weist der Trog mit ca. 19.300 to eine etwas größere Gesamtbewehrungsmenge als das Schalendach (ca. 17.100 to) auf. Der Einsatz von Gauss-Krüger-Koordinaten analog dem Schalendach erfolgt auch im Trog an gekrümmten Bereichen, wie beim Nord- und Südkopf sowie beim S-Bahn-Abgang. Diese komplexen Planungsaufgaben können und sollen aber aus Platzgründen in einem eigenen Beitrag dargestellt werden, ebenso wie verschiedene 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 155 Herausforderungen bei Planung und Realisierung: das Tragwerk des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs andere interessante Teilprojekte des Bahnhofsbaus, so z.B. die Umbauarbeiten im Bonatz-Bau, der Neubau der Stadtbahn-Haltestelle Staatsgalerie [07], die vorgespannte Überbrückung des S-Bahn-Tunnels oder die diversen Eingangsbauwerke. Abbildung 12: Temporäre Stützelemente am ausgeschalten Baukörper (Copyright: Achim Birnbaum, Stuttgart) 6. Fazit und Ausblick Mit der neuen Bahnsteighalle wird in Stuttgart derzeit eine der bis dato weltweit anspruchsvollsten Massivbaukonstruktionen realisiert. Die hohe Belastung infolge von Auflasten und Zwang, die schwierige Gründungssituation und vor allem die komplexe, doppelt gekrümmte Geometrie erforderten Festlegungen jenseits des herkömmlichen Normenumfelds, innovative Herangehensweisen im Rahmen der statischen Berechnungen sowie einen neuen digitalen Planungsansatz. Mit dem Projekt Stuttgart 21 werden die vorab beschriebenen Planungsmethoden aus dem Nischenbereich von Sonderprojekten herausgehoben und bei einem der größten europäischen Infrastrukturprojekte erfolgreich angewandt. Die enge, intensive und frühe Abstimmung mit Gutachtern, Prüfern und Ausführenden hat die Umsetzung einer normativ weitestgehend nicht geregelten und noch nie ausgeführten Konstruktion ermöglicht. Während insbesondere zu Planungsbeginn viele der Ansätze erst entwickelt werden mussten, haben mittlerweile mehrere Softwarehersteller nachgezogen und implementieren diese Herangehensweise und den digitalen Workflow schrittweise in ihre Programme. Gleichzeitig wächst nicht nur bei Planern, sondern auch bei den ausführenden Firmen das Wissen darum, wie komplexe Geometrien realisiert werden können. Mit einem zunehmenden Grad der Automatisierung in Planung und Fertigung werden auch die Baukosten für solche Konstruktionen weiter sinken. Dies wird Planern erlauben, Formen und Geometrien zu entwickeln, bei dem die Reduktion des Material- und Ressourcenverbrauches wieder stärker in den Fokus rückt. In Zeiten zunehmender Ressourcenknappheit sollte diese Prämisse konsequent verfolgt werden. Literatur [1] SEIFRIED, G.; SANDNER, D.; MOK, D. Stuttgart 21, Formentwicklung und Modellierung der neuen Bahnhofshalle. SOFiSTiK Seminar Lectures, 07.05.2004. http: / / netzwerke-21.de/ wordpress/ wp-content/ uploads/ v03_lap.pdf (aufgerufen am 28.2.2019 um 18: 15). [2] BLANDINI, L.; SCHUSTER, A.; SOBEK, W. The Railway Station “Stuttgart 21”. Structural Modelling and Fabrication of Double Curved Concrete Surfaces. In: Gengnagel, Christoph; Kilian, Axel; Palz, Norbert; Scheurer, Fabian (Hg.): Computational Design Modelling. Proceedings of the Design Modelling Symposium Berlin 2011. Berlin: Springer, 2011. S. 217 - 224. [3] BLANDINI, L.; NOACK, T.; SCHUSTER, A.; SOBEK, W. Structural Modelling of the Railway Station “Stuttgart 21”, SOFISTIK Seminar, 2012 Köln, Tagungsband V14-1 bis V14-7. [4] MEYER, U.; BECHMANN, R.; NOACK, T.; BAUER, M.; LETZ, U. Minimierte Konstruktion - maximale Effekte. Zum Entwurf für den neuen Hauptbahnhof Stuttgart. In: Bautechnik 90 (2013) Heft 8, S. 520 - 525. [5] MAITSCHKE, G., BECHMANN R. Hauptbahnhof Stuttgart - Nachhaltiges Gründungskonzept und gesamthafte statische Berechnung der Bahnhofshalle, 33. Baugrundtagung der DGGT (23.-26. September 2014), Deutsche Gesellschaft für Geotechnik e.V., S. 55 - 59. [6] MÜHL, A.; BRUNNER, M.; LUNA, R.; NEU- GART, C.; NOACK, T. Numerical Calculations for Foundation and Structure of the Main Station Stuttgart S21. In: Jürgen Grabe (Hg.): Conference Proceedings of Workshop on Numerical Methods in Geotechnics 2017. Hamburg 2017. S. 257 - 280. [7] SCHMID, A.; HOLZINGER, C.; SCHRÖDER, B. Besonderheiten beim Neubau der Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie in Stuttgart aus der teilweisen Lagerung oberhalb des Fernbahnhofs. In: 49 Forschung + Praxis: STUVA-Tagung 2017. S. 257 - 260. [8] SCHMID, A; KUHNT, J.; NEUGART, C. Herausforderungen bei Berechnung und Bemessung des Tragwerks des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs. In: Berichte der Fachtagung Baustatik - Baupraxis 14, 23. und 24. März 2020. Hg. von Manfred Bischoff, Malte von Scheven, Bastian Oesterle. S. 643 - 650.
