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Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
fki
expert verlag Tübingen
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2022
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Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau

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2022
Matthias Oppe
Stefanie Grün
Bauteile aus Lehm zeichnen sich durch eine optimale Ökobilanz aus, die Rückbesinnung auf eine traditionelle Bauweise steht daher für eine nachhaltig ressourcenschonende Zukunft. Der Beitrag erläutert grundlegende Eigenschaften und fasst Erfahrungen beim Einsatz von Lehmbaustoffen im Hoch- und Ingenieurbau, mit dem Ziel das Vertrauen in das Material Erde zu stärken und den üblichen Vorbehalten entgegenzutreten, zusammen. Er setzt sich aber auch kritisch mit den baupraktischen Themen im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der großtechnischen Vorfertigung sowie der zurzeit noch unvollständigen Normungssituation auseinander. Nicht unerwähnt bleibt auch eine mögliche Verteuerung gegenüber der Verwendung konventioneller Lösungen.
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1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 209 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau Potenziale beim Einsatz von Stampflehm Dr. Matthias Oppe knippershelbig GmbH, Stuttgart, Deutschland Stefanie Grün knippershelbig GmbH, Stuttgart, Deutschland Zusammenfassung Bauteile aus Lehm zeichnen sich durch eine optimale Ökobilanz aus, die Rückbesinnung auf eine traditionelle Bauweise steht daher für eine nachhaltig ressourcenschonende Zukunft. Der Beitrag erläutert grundlegende Eigenschaften und fasst Erfahrungen beim Einsatz von Lehmbaustoffen im Hoch- und Ingenieurbau, mit dem Ziel das Vertrauen in das Material Erde zu stärken und den üblichen Vorbehalten entgegenzutreten, zusammen. Er setzt sich aber auch kritisch mit den baupraktischen Themen im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der großtechnischen Vorfertigung sowie der zurzeit noch unvollständigen Normungssituation auseinander. Nicht unerwähnt bleibt auch eine mögliche Verteuerung gegenüber der Verwendung konventioneller Lösungen. 1. Lehm als Baumaterial 1.1 Ältester Baustoff der Welt Seit Menschengedenken wird in aller Welt mit Lehm gebaut. Er ist somit der am längsten und gründlichsten erprobte Baustoff der Menschheit. Über Jahrhunderte hinweg wurden die Widerstandsfähigkeit, Hochwertigkeit und gesundheitliche Verträglichkeit von Lehm unter Beweis gestellt. So besteht beispielsweise die Große Moschee von Djenné in Mali (Bild 1) seit dem 14. Jahrhundert. Auch heute lebt noch etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in Lehmhäusern. Bild 1: Große Moschee von Djenné (©Aline Gsell) Andere Baustoffe hatten den Lehm jedoch aus unserem Bewusstsein verdrängt. Nun aber wächst das Interesse von Bauherren, Ingenieuren, Architekten und Handwerkern das ursprüngliche Baumaterial nicht nur wieder für die Sanierung von Bestandsbauwerken, sondern auch in modernen Bauprojekten vermehrt zum Einsatz zu bringen. Denn Lehm besitzt vielfältige Qualitäten: er sorgt für ein gutes Raumklima, enthält keine Schadstoffe, er kann energiearm hergestellt, sowie vollständig recycelt werden [1]. Des Weiteren können lange Transportwege häufig entfallen, da das Material meistens regional zur Verfügung steht. 1.2 Eigenschaften von Lehm Lehm ist eine Verbindung aus Ton, Schluff und Sand, sowie Kies oder Steinen der durch Verwitterung oder Ablagerungen an Gletschern, Hängen oder Flüssen entsteht. Je nach Standort variiert die Mischung der Bestandteile. Da seine Zusammensetzung somit nicht eindeutig festgelegt ist, bestehen für Lehmbaustoffe keine einheitlichen Normen. Bei Anwendungen in Deutschland kann man sich im Rahmen der statischen Bemessung auf die bauaufsichtlich eingeführten Lehmbau Regeln des Dachverbandes Lehm e.V. [2] und die dort angegebenen Materialkennwerte beziehen. Steifigkeit E bzw. Druckfestigkeit β D liegen üblicherweise in den Größenordnungen von 4.000 bzw. 2,4 N/ mm². Lehm eignet sich aufgrund seiner Eigenschaften hervorragend als Baustoff. Er ist diffusionsoffen und kann somit das Raumklima besser regulieren als nicht natürliche 210 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau Baustoffe. Überschüssige Luftfeuchtigkeit kann aufgenommen und nach außen transportiert oder in den Zwischenschichten der sehr feinen und zerklüfteten Minerale eingelagert und wieder an den Raum abgegeben werden. Chemische Bindemittel oder andere Schadstoffe sind nicht erforderlich, der Einsatz von Lehm ist daher gesundheitlich unbedenklich. Durch seine hohe Dichte von 1,7 - 2,2 t/ m³ hat er zudem gute schalldämmende Eigenschaften. Um von der möglichen hohen Lebensdauer des Lehms profitieren zu können, müssen konstruktive Regeln eingehalten werden. Die Bauteile sollten keiner anhaltenden hohen Feuchtigkeit oder Spritzwasser ausgesetzt sein. Nur so können schädliche Verwitterungen oder Zerstörung durch Frosteinwirkung vermieden werden. 2. Ökologischer Ansatz Experten sehen in Lehm die Zukunft des nachhaltigen Bauens, denn im Gegensatz zur Herstellung von Beton entsteht beim Einsatz von Lehm kein CO 2 und die Elemente können vollständig recycelt werden [3]. Entsprechend der nachhaltigen Gedanken in Bezug auf Energieeinsparung, Reduzierung der CO 2 -Emissionen sowie einen ressourcenschonenden Verbrauch lassen sich für den Baustoff Lehm viele Vorteile aufzeigen. Auch wenn Lehm und Beton aus ähnlichen Grundmaterialien, wie Kies und Sand bestehen und diese eine große Menge an Energie erfordern, um sie aus dem Boden zu gewinnen, ist der Unterschied der beiden Baustoffe in der grauen Energie sehr groß. Zur Herstellung von 1 m³ Lehm werden inklusive Transport, Lagerung und Entsorgung insgesamt ca. 15GJ Energie benötigt. Im Vergleich dazu ist für 1 m³ Beton die 14-fache Menge von ca. 210GJ erforderlich (Bild 2). Das bei der Produktion benötigte Wasser kann bei der Herstellung von Lehm als Grauwasser wiederverwendet werden. Dies ist bei dem zur Betonherstellung verwendete Wasser so nicht möglich, da es giftige Chemikalien enthält [4]. Bild 2: Vergleich Lehm (braun) und Beton (grau) [4] Lehmbauelemente zeichnet eine sehr lange Lebensdauer aus. Zusätzlich können sie nach dem Abriss einer Konstruktion durch sehr einfache Prozesse in ihre einzelnen Bestandteile getrennt und für den Einsatz in einem neuen Bauwerk vollständig wiederaufbereitet oder in den Boden zurückgeführt werden. Ergebnisse verschiedener Lebenszyklusbetrachtungen (LCA) deuten darauf hin, dass die Verwendung von Lehmbau- und Dämmstoffen in den verschiedenen Teilen des Gebäudes im Gegensatz zu herkömmlichen Dämmlösungen zu einem optimalen Komfort führen könnte. Die Lehmbauweise weist für alle Einflusskriterien eine deutlich bessere Umweltleistung auf als herkömmlich gedämmte Holzrahmen und Betonstein-Wandsysteme [5]. Weitere Vorteile liegen in der Verwendung von Vor-Ort- Aushub, der durch Fundamentaushub oder aus nahegelegenen Aushubprojekten ohnehin vorhanden ist. Transport- oder Rückführungsaufwand von ansonsten nicht genutzten ausgehobenen Böden kann somit vermieden wird. 3. Anwendungen im Hochbau 3.1 Alnatura Arbeitswelt, Darmstadt Das ganzheitliche Konzept der Alnatura Arbeitswelt (Bild 3), die 2019 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur ausgezeichneten Gebäudes wurde, entstand in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit der Architekten von haascookzemmrich Studio 2050 mit verschiedenen Fachplanern sowie weiteren Experten für spezifische Bauweisen. Bei der Planung und Realisierung des neuen Hauptsitzes des Bio-Lebensmittelhändlers wurde konsequent auf Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Einfachheit, insbesondere im Sinne von Robustheit besonderer Wert gelegt. Bild 3: Alnatura Arbeitswelt (©Roland Halbe) So wurden passive Maßnahmen hohem technischem Aufwand vorgezogen [6]. Das Gebäude besteht vorrangig aus natürlichen und wiederverwendeten Materialien. Die Stampflehmfassade, welche größtenteils aus Abraum von der Baustelle des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs (Stuttgart 21) besteht, setzt sich aus 12 m hohen vertikalen Streifen, die durch Fenster getrennt werden, zusammen. So ergeben sich 28 „Standardbereiche“ mit einer Regelbreite von 3,5 m sowie vier „Sonderbereiche“ an den Außenkanten der Fassaden, die sich von den Standardbereichen in Breite (4,7 m) und Schichtenaufbau unterscheiden. Die Fassade ist über die volle Höhe selbsttragend und in den Geschossebenen sowie am Dachtragwerk horizontal gehalten. Hier wurden jeweils Ringbalken aus Leichtbeton integriert, über welche die Punktlasten der Verankerung in die Geschossdeckenebene verteilt werden (Bild 4). 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 211 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau Bild 4: Schnitt Stampflehmwand (©knippershelbig) Insgesamt wurden 384 zweischalige, je 98,5 cm hohe blockförmige Elemente bestehend aus einer äußeren Schale von 38 cm (davon 2 cm Abwitterungsreserve und daher statisch nicht tragend), einer Innenschale von 14 cm sowie einer dazwischenliegenden 17 cm starken Dämmschicht, verbaut. Die Kerndämmung besteht aus Schaumglasschotter, einem aus reinem Altglas hergestellten Dämmstoff (Bild 5). Bild 5: Aufbau Stampflehmwand (©knippershelbig) Bei der Fertigung dieser Elemente wurden alle drei Schichten gleichzeitig eingefüllt und mit hydraulischen Stampfern bis auf Dicken von 7-8 cm verdichtet. Die Innen- und Außenschale der verdichteten, fugenlosen und monolithischen Stampflehmblöcke wurden durch die regelmäßige, im Abstand von 30 cm angeordnete Einlage von Geogittern verbunden. Dies dient der Rissreduzierung und deren gleichmäßigen Verteilung, der besseren Lastverteilung über die Aufnahme von Spaltzugkräften sowie der Aufnahme von Zugkräften unter Erdbebenbeanspruchung. Die resultierende Verbundtragwirkung zwischen Innen- und Außenschale wurde in der statischen Berechnung - auf der sicheren Seite liegend nicht berücksichtigt. Abschließend werden die Elemente mit Lehmmörtel schubfest miteinander verbunden. Um der Oberflächenerosion entgegenzuwirken, sind horizontale keilförmige Erosionsbremsen aus Ton und Trasskalk in einem Abstand von 30 cm in der nach außen gewandten Fläche eingebracht. Alle Elemente (Bild 6) wurden in einer Feldfabrik auf dem Baufeld unter geschützten und kontrollierten Bedingungen in jeweils einem kontinuierlichen Arbeitsprozess hergestellt. Bild 6: Versetzen der Stampflehmelemente (©Alnatura) So kann sowohl optisch als auch hinsichtlich der mechanischen Eigenschaften eine sehr gleichmäßige und hochwertige Qualität der Bauteile sichergestellt werden. Daher hat sich diese Herstellart für die Errichtung von Stampflehmwände in den letzten Jahren immer weiter durchgesetzt. Weiterhin führen die Schwindverformungen durch die gewählte Fertigteiltechnologie nicht zu Zwangsbeanspruchungen, da sie kontrolliert erfolgen. Nach Einbau treten lediglich geringfügige Kriechprozesse auf, die bei der Detailierung der Anschlussbereiche entsprechend zu berücksichtigen waren. Die Lehmoberflächen sind auf beiden Wandseiten sichtbar und haben zum Innenraum hin eine Kaseinlasur erhalten, die den Abrieb der Wände verringert. Die statische Berechnung hinsichtlich Standfestigkeit und Gebrauchstauglichkeit der Stampflehmfassade erfolgte in 212 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau Anlehnung an die bauaufsichtlich eingeführten Lehmbauregeln des Dachverbandes Lehm e.V. zunächst auf Basis der durch die auf Lehmbau spezialisierte Fachfirma vorgegebenen, Materialkennwerte [7]. Neben der statischkonstruktiven Entwicklung war auch eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) zu erwirken. Dazu musste ein geeignetes Versuchsprogramm erstellt und die Versuchsergebnisse für die ingenieurtechnische Bewertung analysiert werden. 3.2 Lehmwohnhaus NBL3, Heilbronn Das sogenannte Lehmwohnhaus ist Teil einer großen städtebaulichen Maßnahme. Zwischen Altneckar und Kanalhafen entsteht auf dem Bundesgartenschaugelände von 2019 in Heilbronn der neue Stadtteil Neckarbogen. Der sechsgeschossige Wohnungsbau mit Außenabmessungen von ca. 17 × 19 m umfasst mehrere Wohnungen in den Obersowie eine Gewerbeeinheit im Erdgeschoss. Das Entwurfskonzept des Architekturbüros haascookzemmrich STUDIO2050 beruht auf der Verwendung von nachhaltigen Materialien. Das lässt sich zum einen in der Tragstruktur, welche zum Großteil aus Holzelementen besteht, als auch an der Gebäudehülle erkennen, die als Stampflehmfassade in Abwechslung mit einem vertikalen Fensterband vorgesehen ist (Bild 7). Bild 7: Lehmwohnhaus (©Vizoom Barcelona) Aus dem Eigengewicht der Fassadenelemente resultieren bei einer Gesamthöhe des Gebäudes von ca. 21 m in den unteren Geschossen hohe Drucklasten bzw. -spannungen. Daher ist ein direkter vertikaler Lastabtrag nicht möglich, denn die Fassadenelemente können nicht über die gesamte Gebäudehöhe übereinandergestapelt, sondern müssen geschossweise auf den Decken abgestellt und horizontal an die Tragstruktur des Gebäudes angeschlossen werden. Um die Lehmfassade vor Spritzwasser zu schützen, wird im Erdgeschoss ein Sockelelement aus Beton oder Naturstein vorgesehen. Die geometrische Gestaltung der Lehmelemente, welche sich von bis zu 35 cm Stärke an einer Seite auf 25 cm hin verjüngen, ist aufwendig (Bild 8). Dies weicht deutlich von den quaderförmigen Bauteilen in den bislang ausgeführten Projekten ab und verlangt sowohl in der konstruktiven Durchbildung als auch der statischen Betrachtung nach Sonderlösungen. Bild 8: Elementgeometrien (©haascookzemmrich) 3.3 Deutsche Botschaft, Tiflis (Georgien) Die Gebäudefassade des von Wulf Architekten geplanten Neubaus der Deutschen Botschaft in Tiflis soll als Stampflehmfassade ausgeführt werden (Bild 9). Bild 9: Botschaft Tiflis (©Wulf Architekten) 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 213 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau Sie ist als einschalige, nichttragende Wand mit aufgebrachter Innendämmung, einer maximalen Höhe von ca. 12 m über nicht mehr als drei Stockwerke vorgesehen. Die Wand wird in vorgefertigter Elementbauweise errichtet. Dabei wird der Lehm für die Einzelteile mit einer Höhe von ca. 0,8 - 1,4 m zunächst lagenweise in eine Schalung eingebracht und mit hydraulischen Stampfern verdichtet. Die Stärke einer gestampften Schicht beträgt 7 - 8 cm. In mindestens jeder dritten Schicht werden Geogitter vorgesehen, um die Rissbildung zu reduzieren. Die Einzelteile werden über Stahlrahmenkonstruktionen mit integrierten Fensteröffnungen statisch bestimmt gelagert an das Stahlbetontragwerk angeschlossen (Bild 10). Im Erdgeschoss steht die Fassade auf einem Stahlbetonsockel auf. Bild 10: Konstruktion Stampflehmfassade (©Wulf Architekten) Der Schubverbund zwischen Lehm und Stahl wird mittels Kontaktpressung in den horizontalen Fugen bzw. über Schubknaggen, die im Lehmelement vergossen werden, erzeugt. Für die zur Einleitung der Wind- und Erdbebenlasten erforderlichen horizontalen Anschlüsse der Stampflehmfassade werden punktuelle Druck- und Zugverbindungen an die Decken vorgesehen. Dafür wird eine Art Ringbalken in Form eines Stahlprofils in die Oberkante der Lehmelemente integriert und bauseits eingefügt. Über einen Schraubanschluss erfolgt die Kopplung mit den Ankerstäben. Toleranzen werden über Langlöcher bzw. Halfenschienen aufgenommen. Im Bereich von hohen Lastkonzentrationen in den Lehmbauteilen wird eine materielle Verstärkung des Querschnittes in Form von Einlagen in Stampfbetonbauweise vorgesehen. Die Festigkeiten für diesen Anschluss werden im Rahmen der ohnehin erforderlichen ZiE und mittels Probeversuchen ermittelt. Die Anwendung von Stampflehm ist im Rahmen der “Lehmbau Regeln” entsprechend der Liste der Technischen Baubestimmungen für Wohngebäude bis zu zwei Vollgeschossen und mit nicht mehr als zwei Wohneinheiten normativ geregelt. Die für die Deutsche Botschaft in Tiflis vorgesehene Lehmfassade weicht jedoch davon ab, da sie teilweise über drei Vollgeschosse reicht, das Objekt in einem Erdbebengebiet liegt und es sich nicht um ein Wohngebäude handelt. Somit musste eine ZiE erwirkt werden. 4. Ingenieur- und Verkehrsbauwerke 4.1 Allgemeines Die Gestaltung von Verkehrsbauwerken ist ein zentrales Thema der Baukultur. Bauwerke des Lärmschutzes an Autobahnen, die bisher meist ohne Ortsbezug und mit nur geringen ästhetischen Ansprüchen entstanden sind, erfordern eine neue Betrachtungsweise. Durch seine Masse und die poröse Oberfläche hat Lehm einen sehr hohen Lärmschutzfaktor, so wurden für den Bau der A14 südlich von Karstädt anstatt einer konventionellen Beton- oder Kompositlösung Lärmschutzprototypen in Stampflehm- und Wellerlehmbautechniken (Bild 11) vorgeschlagen und deren Einsatz in einem wegweisenden und zukunftsträchtigen Projekt im Rahmen einer Machbarkeitsstudie untersucht [8]. Bild 11: Lärmschutzwand aus Stampflehm [8] 4.2 Baupraktische Aspekte Die Entwicklung einer ressourcen- und naturschutzgerechten Konstruktion von Lehmlärmschutz stellt aus baupraktischer Sicht eine besondere Situation dar. Neben den vielfältigen Vorteilen des Lehmbaus auf ökologischer wie kultureller Ebene, setzt die Produktion und Bauweise im industriellen Maßstab eine neuartige innovative Lösungsstrategie voraus. Die Wechselwirkung aus traditioneller Herstellungstechnologie und deren Übertragung auf die baupraktischen Ansprüche des Straßenbaus sind dabei ebenso von Bedeutung wie die strukturell funktionale Formgebung der Lehmwände und dessen wirtschaftliche Ausbildung in der gesamten Wertschöpfungskette. 214 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau 4.3 Ökobilanzierung Lehmlärmschutzwand Die Vorteile einer Lehmlärmschutzwand gegenüber einer herkömmlichen Konstruktionsart bestehen im Wesentlichen darin, dass das Material nachhaltig und natürlich ist und direkt vor Ort vorkommt. Die Entsorgung des größten Anteils des Wandvolumens kann durch Einebnen vor Ort geschehen, da das Rohmaterial natürliches Bodenmaterial darstellt und ungiftig ist. Dies schlägt sich dann auch in den vergleichenden Berechnungen zur Ökobilanz über den gesamten Lebenszyklus gemäß DIN EN 15804 [9] nieder. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer LCA für fünf unterschiedliche Konstruktionsprinzipien einer Wand mit einer vorgegebenen Länge von 570 m und einer Höhe von 7 m vergleichend gegenübergestellt. Die Betrachtungen beinhalten alle Bauteile und Baustoffe ab Oberkante Fundament. 1) Wellerwand (Masse 8.675t) Die 120 cm dicke Wellerlehmwand besteht aus einem Gemisch von ca. 90 Vol% Lehm sowie 10 Vol% Stroh. Die Wetterfestigkeit wird durch ein Metalldach, welches auf einer hölzernen UK befestigt wird, erreicht. Die UK wird mit ca. 50 cm langen Gewindestangen in der Wand fixiert. Trasskalkmörtel dient zum Verfüllen. 2) Stampflehmwand (Masse 8.057t) Die 100 cm dicke Stampfehmwand wird traditionell oder aus vorgefertigten Elementen errichtet. 2 cm dicke Ziegelleisten, in Trasskalkmörtel dienen als Erosionsbremsen. Die Wetterfestigkeit wird durch ein Metalldach erreicht, dessen Befestigung identisch zur Wellerwand erfolgt. 3) Stampflehmwand zwischen HEB 400 (Masse 3.706t) Vorgefertigte 45 cm dicke Stampflehmelemente mit einer Länge von jeweils ca. 5,6 m werden schichtweise zwischen Stahlstützen (HEB 400) montiert. Eine Lagerfuge aus Trasskalkmörtel dient als Verbindung. Ein schmales Stahlblechdach schützt die Lehmelemente von oben vor Witterungseinflüssen. 4) Beton- & Leichtbeton HEB 180 (Masse 1.476 t) Vorgefertigte Elemente aus Normalbeton (hier 16 cm dick) werden mit einer schallabsorbierenden Vorsatzschale aus meist profiliertem Leichtbeton (hier 6 cm dicke Platte mit 4 cm tiefen und breiten Rippen) versehen. 5) Aluminium (120) Mineralfaser (80) (Masse 131 t) Kassetten (hier 12 cm breit, ca. 5,6 m lang) aus gelochtem Aluminium werden mit einem schalldämmenden Material (hier 8 cm Mineralfaser) gefüllt. Diese Elemente werden dann zwischen vorab montierten Stahlpfosten (hier HEA 280) montiert. Die Eingangshypothese in Bezug auf die positiven Nachhaltigkeitsaspekte der Konstruktionstypen 1-3 in Lehmbauweisen kann eindeutig bestätigt werden. Betrachtet und summiert man sämtliche Einflüsse der Herstellungsphase in Bezug auf das Global Warming Potential (GWP) so stellt man fest, dass der Wandtyp 1 sogar einen negativen GWP-Wert hat, also CO 2 aufnimmt anstatt abgibt. Das liegt unter anderem daran, dass hier ein hoher Anteil Stroh enthalten ist (nachwachsender Rohstoff = neutrale bis positive CO 2 -Bilanz). Aber auch die beiden Lehm- Wände Typ 2 & 3 haben keine hohen Werte. Wogegen in Typ 5 die Bilanz durch den Baustoff Aluminium, welcher einer sehr hohen Primärenergieinhalt aufweist, sehr hoch ist (Bild 12). Bild 12: GWP während Herstellungsphase [8] In der Gesamtbilanzierung zeigt sich, dass die Konstruktionstypen 1-3 welche Lehmbauverfahren verwenden, das geringste klimaschädigende Potenzial aufweisen. Typ 5 punktet in Bezug auf das Recyclingpotenzial (Bereich D) und die Betonbzw. Leichtbetonwand (Typ 4) schneidet am schlechtesten ab (Bild 13). Bild 13: GWP Gesamtbilanzierung [8] 4.4 Landschafts- und Naturschutz Eine Lärmschutzwand aus Stampf- oder Wellerlehm erfüllt außerdem in bestimmter Hinsicht z.B. durch die naturnahe Ästhetik die Funktion einer vertikalen Landschafts- und Naturschutzmaßnahme, die weniger Fläche verbraucht als 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 215 Nachhaltig ressourcenschonender Hoch- und Ingenieurbau konventionell vorgesehene Ausgleichsmaßnahmen. Sie bietet aufgrund des Materials, aber auch aufgrund speziell integrierbarer Bauelemente diverse Nistmöglichkeiten für viele Insektenarten, insbesondere für mehrere besonders geschützte Wildbienenarten (Bild 14). Die für schützenswerte Tier- und Insektenarten integrierbaren Maßnahmen, bzw. Elemente (wie z.B. Bienenlehm, Bienensteine, u.U. Schilf, Fledermaus-Nischen, Zickzack- Form), müssen standortspezifisch konzipiert werden. Sie lassen sich je nach Umfeld solcher Bauwerke entsprechend anpassen oder erweitern, so dass dieses Produkt eine besondere Lebensqualität für bestimmte Arten hat, von denen manche als gefährdet klassifiziert sind. Bild 14: Lehmelemente für Lärmschutzwand [8] 5. Zusammenfassung und Ausblick Der Beitrag erläutert anhand von Beispielen, dass Stampflehm mit seinen vielfältigen Qualitäten als Baustoff eine wichtige Rolle in der Baubranche spielen kann. Er zeigt aber auch auf, welche Hürden dabei noch zu nehmen sind, denn obwohl Lehmbaustoffe zahlreiche ökologische und soziale Vorteile vorweisen, finden diese derzeit noch nicht die große Zustimmung bei Fachleuten in der konventionellen Bauindustrie. Dies liegt unter anderem an dem noch immer sehr diversen und unsortierten Wissen über Lehmbaustoffe und dem damit zusammenhängenden Mangel angebauten Praxisbeispielen. Des Weiteren stehen noch keine vollständigen Bemessungsnormen, Zulassungen oder technische Datenblätter zur Verfügung, so dass für den Einsatz von Lehmbauteilen häufig eine ZiE erwirkt werden muss. Dies birgt neben Zeit- und Kostenaufwand auch gewisse Risiken für den Bauherren. In Ergänzung zu einem interdisziplinären und kompetenten Planungsteam braucht es daher auch mutige Bauherren die bereit sind den ganzen Weg zu begleiten. Lehm ist noch deutlich vielseitiger einsetzbar als in diesem Artikel gezeigt. Neben der Anwendung als tragendes Wandbzw. Fassadenelement kann z.B. Lehmputz mit seinen feuchteregulierenden Eigenschaften gerade in Zeiten automatischer Belüftungssysteme und dampfdichter Gebäudehüllen einen wichtigen Beitrag zum Wohnkomfort, der Gesundheit der Bewohner sowie zur Energieeinsparung und Vermeidung von Feuchtigkeitsbedingten Bauschäden leisten. Literatur [1] Beitrag Bayrischer Rundfunk Unter unserem Himmel - Aus Lehm gebaut. https: / / www.br.de/ mediathek/ video/ unter-unserem-himmel-28062020-aus-lehm-gebaut-av: 5ebd285aee958000143f76bb [2] Dachverband Lehm e.V. Lehmbau Regeln: Begriffe - Baustoffe - Bauteile Springer Vieweg Verlag, ISBN 978-3-8348-0189- 0, 3. Auflage, 2009 [3] PM Wissen h t t p s : / / w w w. p m w i s s e n . c o m / v i d e o s / a a - 214gz34pn2112/ k, Oktober 2019 [4] Heringer, A., Blair Howe, L., Rauch, M. Upscaling Earth, Material Process Catalyst, gta Verlag, ISBN, 978-3856763930, October 2019 [5] Ben-Alon, L., Loftness, V., Harries, K., Cochran Hameen, E. Lebenszyklusbewertungen von Lehmbaukonstruktionen - LEHM 2020 - 8. Internationale Fachtagung für Lehmbau, Oktober 2020 [6] Helbig, T., Oppe, M., Santucci, D. Stampflehm und Holz - Traditionelle Materialien für das Bauen der Zukunft, Nachhaltigkeit, Ressourceneffizienz und Klimaschutz. Ernst & Sohn Verlag, Seite 247-256, ISBN 978-3-433-033334-0, April 2021 [7] Helbig, T., Oppe, M. Ein traditioneller Baustoff neu interpretiert - Die Alnatura Arbeitswelt in Darmstadt, Ingenieurbaukunst 2021. Made in Germany, Seite 96-103, ISBN 978-3-433-03321-0, November 2020 [8] Mittelstädt, J. et al Machbarkeitsstudie Lärmschutzwand an der Autobahn A14 bei Nebelin, Naturschutz hochklappen - innovativer Lärmschutz als vertikale Ausgleichsmaßnahme, Vorabzug Januar 2021 [9] DIN EN 15804 Nachhaltigkeit von Bauwerken - Umweltproduktdeklarationen - Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte, Beuth-Verlag, März 2020