eJournals Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau 1/1

Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
fki
expert verlag Tübingen
051
2022
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Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke

051
2022
Leonie Strybny
Tilmann Stern
Christian Reinhardt
Andreas Bewer
Die Planung und Ausführung eines weit gespannten Holz-Beton-Verbundtragwerks für einen innerstädtischen Verbrauchermarkt in Winnenden war eine Herausforderung für alle Beteiligte. Die maßgebenden Anforderungen an das 25 m weit gespannte Tragwerk waren geometrische Begrenzungen, sowohl für die Bauhöhe als auch für die Dicke der lastabtragenden Wände. Mit einer sonst üblichen Konstruktion aus Stahlbetonfertigteilträgern konnten diese Anforderungen nicht erfüllt werden. Eine Stahlbetonkonstruktion wäre zu schwer gewesen. Durch die Verbindung des gewichtssparenden Werkstoffes Holz mit dem versteifenden Werkstoff Beton zu einem Holz-Beton-Verbundtragwerk war es jedoch möglich, diese Grenzen einzuhalten, und es kam zum ersten Mal im Hochbau eine Holz-Betonverbund-Decke mit einer so großen Spannweite zum Einsatz. Die Erfahrungen dieses Projektes zeigen, dass die Holz-Beton-Verbundbauweise mit sehr großen Spannweiten innerhalb einer ansonsten monolithischen Bauweise technisch möglich und wirtschaftlich ist. Durch die hybride Bauweise eröffnen sich Möglichkeiten, die mit einer klassischen Stahlbetonbauweise nicht erreicht werden können, nicht zuletzt, weil sie in der Herstellung eine positive CO2 -Bilanz aufweist.
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1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 243 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Leonie Strybny Tilmann Stern Christian Reinhardt Andreas Bewer Bewer Ingenieure, Neuhausen auf den Fildern, Deutschland Abb. 1: Blick vom Haupteingang in den Verkaufsraum im EG während der Bauphase mit den sichtbaren Holzträgern des Verbundtragwerks mit einer Spannweite von 25 m, der Glasfassade zum Parkplatz mit tragenden Stahlstützen und dem Lichtband in der Außentragwand direkt unter dem Endauflager des Hallentragwerks. Zusammenfassung Die Planung und Ausführung eines weit gespannten Holz-Beton-Verbundtragwerks für einen innerstädtischen Verbrauchermarkt in Winnenden war eine Herausforderung für alle Beteiligte. Die maßgebenden Anforderungen an das 25 m weit gespannte Tragwerk waren geometrische Begrenzungen, sowohl für die Bauhöhe als auch für die Dicke der lastabtragenden Wände. Mit einer sonst üblichen Konstruktion aus Stahlbetonfertigteilträgern konnten diese Anforderungen nicht erfüllt werden. Eine Stahlbetonkonstruktion wäre zu schwer gewesen. Durch die Verbindung des gewichtssparenden Werkstoffes Holz mit dem versteifenden Werkstoff Beton zu einem Holz-Beton-Verbundtragwerk war es jedoch möglich, diese Grenzen einzuhalten, und es kam zum ersten Mal im Hochbau eine Holz-Betonverbund-Decke mit einer so großen Spannweite zum Einsatz. Die Erfahrungen dieses Projektes zeigen, dass die Holz-Beton-Verbundbauweise mit sehr großen Spannweiten innerhalb einer ansonsten monolithischen Bauweise technisch möglich und wirtschaftlich ist. Durch die hybride Bauweise eröffnen sich Möglichkeiten, die mit einer klassischen Stahlbetonbauweise nicht erreicht werden können, nicht zuletzt, weil sie in der Herstellung eine positive CO 2 -Bilanz aufweist. 1. Überblick über das Bauvorhaben Das Tragwerk eines mehrgeschossigen, innerstädtischen Verbrauchermarktes in Winnenden mit multiplen Nutzungsanforderungen wie Tiefgarage, Verkaufs- und Lagerraum sowie Büroeinheit wurde vom Entwurf 2017 bis zur Ausführung 2020 in den Leistungsphasen 1 bis 8 von Bewer Ingenieure Neuhausen a.d.F. geplant und in der Ausführung begleitet und überwacht (Abb. 1, 2, 3). Es wird der Entscheidungsprozess für die weitgespannte Holz-Beton-Verbundkonstruktion und die tragwerksplanerischen Besonderheiten dieser Bauweise bis zur Detailausbildung und Ausführung vorgestellt. Zum besseren Verständnis der Tragwirkung werden vereinfachte Steifigkeitswerte vorgestellt, die aus den durchgeführten Berechnungen abgeleitet werden konnten. Abb. 2: Ostansicht des Gebäudes 244 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 2. Tragwerksentwurf 2.1 Nutzungsbedarf und architektonische Anforderungen Ein verantwortlicher Umgang mit der begrenzten Ressource bebaubarer Fläche führt im städtebaulichen Kontext zunehmend zu einer mehrgeschossigen statt einer eingeschossigen Bauweise von großflächigen Einzelhandelsmärkten. Die Vorgaben des Bauherrn und die architektonischen Anforderungen hatten weitreichenden Einfluss auf das Ergebnis in der Tragwerksplanung (Abb. 3, 5). Der Bedarf war: • Eine dreigeschossige Bauweise mit einer Tiefgarage im UG, einem Einzelhandelsmarkt im EG und einem Bürogeschosses im OG (über der Fläche des Einzelhandelsmarktes). • Ein Hallentragwerk mit ca. 25 m Spannweite für einen stützenfreien Verkaufsraum im EG (ohne Einschränkung im Regallayout). • Eine vollflächig verglaste Front mit den üblichen schlanken Stahlstützen, bei Bedarf mit feuerhemmender Beschichtung. • Ein Lichtband mit RWA (Rauch- und Wärmeabzugsöffnung) in der längsseitigen Außenwand, der äußeren Tragwand des Hallentragwerks, bei Anordnung von vergleichbaren Stützen wie in der verglasten Front. • Ein großformatiger Durchbruch in der inneren Tragwand für einen seitlichen Eingang in den Markt. • Die Tragwände um den Verkaufsraum durften nicht dicker als 30 cm sein. Abb. 3: 3D-CAD-Modell des fertig geplanten Tragwerks in Allplan 2.2 Entscheidung für die Holz-Beton-Verbundkonstruktion Aus diesem Bedarf ergaben sich folgende Konsequenzen für die Tragwerksplanung: • Um die schlanken Stahlstützen hinter der verglasten Front und im Lichtband zu ermöglichen, durfte keine höhere Brandschutzanforderung an das Tragwerk bestehen als eine feuerhemmende Bauweise. • Für eine feuerhemmende Bauweise mussten die baurechtlichen Bedingungen der Gebäudeklasse 3 eingehalten werden. • Um die Bedingungen der Gebäudeklasse 3 einzuhalten, durfte der Fußboden im Obergeschoss nicht mehr als 7 m über dem Gelände liegen. • Damit der Fußboden im Obergeschoss nicht mehr als 7 m über dem Gelände liegt, durfte das Tragwerk über dem Verkaufsraum eine Bauhöhe von 1,80 m nicht überschreiten. Mit einer sonst üblichen Deckenkonstruktion aus Stahlbetonfertigteilträgern war die Fülle der Anforderung nicht einzuhalten. Eine klassische Stahlbetonkonstruktion war zu schwer. Daher lag es nahe, die Vorteile des gewichtssparenden Werkstoffes Holz zu nutzen. Ein Vergleich der Materialeigenschaften von Beton und Holz verdeutlicht die Überlegenheit von Holz gegenüber Beton unter dem Gesichtspunkt der Gewichtsersparnis: Die zulässige Biege-, Zug- und Druckfestigkeit von Brettschichtholz parallel zur Faser liegt etwa im Bereich der Druckfestigkeit von Beton; dabei beträgt die Wichte nur 1/ 6 der Wichte einer Stahlbetonkonstruktion. Die E-Moduli im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit (GZG) zum Zeitpunkt t = ∞ unter Berücksichtigung des Kriechens liegen sowohl für das Holz als auch für den Beton in derselben Größenordnung von etwa 8500 N/ mm², vgl. Tab.2. Ein Vergleich der Quotienten des E-Moduls zur Wichte von Beton und Holz zeigt deutlich den Materialvorteil des Holzes. Mit einer reinen Holzkonstruktion waren die Anforderungen jedoch nicht einzuhalten. Erst durch die Verbundbauweise konnte bei der begrenzten Bauhöhe die erforderliche Steifigkeit erreicht werden (Abb. 4). Abb. 4: Verbundquerschnitt 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 245 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Abb. 5: CAD-Modell des fertig geplanten Tragwerks im Querschnitt: Pfahlgründung, UG in WU-Bauweise, stützenfreie TG unter dem Verkaufsraum mit 16 m langen vorgespannten Pi-Platten, Holz-Beton-Verbundtragwerk mit 25 m Spannweite über dem Verkaufsraum, großformatiger Durchbruch in der Innentragwand für den Haupteingang, Lichtband mit Stahlstützen in der Außentragwand und deckenlastige Stahlständer-Holzträger-Konstruktion für das Bürogeschoss. Die Nachteile des anisotropen Werkstoff Holzes gegenüber dem isotropen Werkstoff Beton sind die deutlich reduzierten Festigkeiten und Steifigkeiten quer zur Faser. Das betrifft sowohl die Schubbeanspruchung als auch die Auflagerpressungen am Trägerende. Da die die Einhaltung der Festigkeitsgrenzen bzw. die erforderliche Auflagerverstärkung die Querschnittsform mit bedingen, wurde das Trägerauflager im Entwurf immer mitbedacht. Insgesamt erfährt der Verbundträger eine charakteristische Gesamtlast von ca. 1000 kN, bei einer Eigenlast des Verbundquerschnitts von nur 40 % und einem Verkehrslastanteil von 33 %. 2.3 Detailplanung in der Entwurfsphase Einige Details waren schon während der Entwurfsphase von besonderer Bedeutung, weil sie Einfluss auf die Machbarkeit und den Bauablauf haben und, sofern nicht bedacht, im weiteren Planungsprozess zu Schwierigkeiten geführt hätten. 2.3.1 Detail des Endauflagers Ohne funktionierendes Auflagerdetail der Binder wäre die Konstruktion schlicht unmöglich. Für die Lagerung entstand gleich zu Beginn die Idee eines abgehängten Binders mit gelenkiger Lagerung an seiner Oberkante -nachfolgend als Schaukellager bezeichnet um eine Fügung mit dem Massivbau ohne Zwang zu erreichen (Abb. 6, 7). Abb. 6: Verformungssituation am Auflager infolge Durchbiegung bei Lagerung unten bzw. oben Es wurde deutlich, dass bei Ausbildung eines Schaukellagers eine ausreichende Steifigkeit der Abhängung zur Vermeidung eines Abreißens der Verbundfuge erforderlich wird. Ein weiterer Vorteil des Schaukellagers bestand darin, dass kein Platz für eine Auflagernische benötigt wurde, wie es z.B. in der Stahlbetonfertigteilbauweise der Fall ist. Im geometrischen Sinn stößt der Holzträger einfach stumpf gegen die Stahlbetonwand. Mit dieser platzsparenden Bauweise konnte eine optimale Anordnung des Gebäudes auf dem sehr beengten Grundstück erreicht werden. Um jedoch die Stahlbetonwände so schlank wie möglich bauen zu können, musste die Exzentrizität - der Abstand des Lagerbolzen zur Stahlbetonwand - so klein wie möglich gehalten werden. 246 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Abb. 7: Auflagerschaukel, beim Einbau (oben) und in der Planung (unten) 2.3.2 Planung der Abstützung im Bauzustand Schon im Entwurfsstatium wurde untersucht, ob die Binder im Bauzustand unterstützt werden müssen (Verbundträger mit Eigengewichtsverbund), oder ob auf eine Abstützung verzichtet werden kann (Verbundträger ohne Eigengewichtsverbund). Aufgrund der großen Spannweite und der hohen Belastung durch das deckenlastige Bürogeschoss fiel die Entscheidung für einen Verbundträger mit Eigengewichtsverbund, um die volle Tragfähigkeit aus der Verbundwirkung ausnutzen zu können. Dazu müssen die Binder bis zum vollständigen Erhärten der Betondecke wirksam abgestützt werden. Die Wahl der Verbundwirkung (mit Eigengewichtsverbund/ ohne Eigengewichtsverbund) hat also entscheidenden Einfluss auf den Bauablauf. Dementsprechend wurde eine Abstützung im Bauzustand mit detaillierten Angaben ausgeschrieben und auch ausgeführt (Abb. 8). Es sei angemerkt, dass die zeitliche Abfolge der Belastung (Lastgeschichte) auch in den Nachweisen (z.B. hinsichtlich Kriechen) zu berücksichtigen ist. Abb. 8: Unterstützte Binder im Bauzustand 2.3.3 Planung der Verbindungsmittel Als Verbindungsmittel der Fuge zwischen Holzträger und Betongurt kamen prinzipiell zwei Produktgruppen in Frage: Schrauben oder eingeklebte Bleche [7, 8, 9]. Unter Berücksichtigung aller Aspekte wie Brandschutz oder effektiver Einbaubarkeit war in diesem Fall das unterschiedliche Steifigkeitsverhalten für die Entscheidung ausschlaggebend. Durch das gewählte Schaukellager musste ein mögliches Klaffen oder gar Abreißen der Verbundfuge in diesem Bereich beachtet werden. Daher wurde einer Schraubverbindung (Abb. 9) der Vorzug gegeben, welche mit ihrem duktilen Verhalten wesentlich weicher reagiert als eingeklebte Bleche. Abb. 9: Binder, Halbfertigteile, Verbundschrauben und Bewehrung vor der Betonage der Decke 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 247 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 2.4 Überschlägige Vordimensionierung 2.4.1 Ansatz eines Ersatz-E-Moduls Die erste überschlägige Dimensionierung erfolgte über den Ansatz eines über den Querschnitt verschmierten Ersatz-E-Moduls zur Berücksichtigung des Steifigkeitsabfalls aus der Nachgiebigkeit der Verbundfuge, Schwinden und Kriechen. Auf diese Weise gelang es mit einem geringen Aufwand die Größenordnung des erforderlichen Flächenträgheitsmomentes zu ermitteln, mit dem eine Durchbiegungsbegrenzung von l/ 300 eingehalten werden kann. Die ersten Schätzungen mussten mit zunehmendem Kenntnisstand stark nach unten korrigiert werden. Nachgerechnet beträgt der Ersatz-E-Modul des gewählten Systems 6200 N/ mm², der sicherlich auf ähnliche gelagerte Projekte übertragbar ist. 2.4.2 γ - Verfahren Eine genauere Vordimensionierung kann das γ-Verfahren für nachgiebig verbundene Biegestäbe nach DIN EN 1995-1-1 Anhang B liefern. Es hat sich gezeigt, dass das Verfahren für eine Vordimensionierung oder Kontrolle des Verbundquerschnitts ausreichend genau und sehr gut geeignet ist. Es wurde für eine sinusförmige Belastung am Einfeldträger hergeleitet, liefert aber auch für eine konstante, linienförmige Belastung in der Regel sehr gute Ergebnisse. Im γ-Verfahren setzt sich der Biegewiderstand aus einem Eigenanteil des Holzträgers, einem Eigenanteil der Stahlbetonplatte und einem Verbundanteil (Verbundmoment) zusammen. Das Verbundmoment entspricht einer Druckkraft im Betongurt und einer Zugkraft im Holzträger und ist abhängig von dem Verbundfaktor γ. Bei zwei getrennten Trägern, also kein Verbund, beträgt γ=0. Bei vollem Verbund beträgt γ=1. Mit dem γ-Verfahren kann der Anteil des Verbundmomentes am Gesamtbiegemoment in Abhängigkeit vom Verbundfaktor γ ermittelt werden. Abb.10 zeigt eine Parameterstudie für den berechneten Binder, wobei in Abhängigkeit eines gewählten γ-Faktors (beginnend bei 0 = kein Verbund, endend bei 1 = voller Verbund) die drei Biegemomentenanteile, nämlich Eigenanteil-Holzquerschnitt, Eigenanteil-Betonquerschnitt, Verbundanteil, am Gesamtbiegemoment abgetragen sind. Danach beträgt bei γ = 1, also vollem Verbund, der Anteil des Verbundmomentes am Gesamtbiegemoment 70%. Bereits ab einem Verbundfaktor γ = 0,5 ist keine wesentliche Verbesserung der Verbundwirkung mehr zu erreichen. Abb. 10: Anteil des Biegewiderstand der Einzelquerschnitte und des Verbundquerschnitts in Abhängigkeit vom Verbundfaktor γ im GZT t = 0 Das γ -Verfahren ist eine übersichtliche Methode, die schnell zu zuverlässigen Ergebnissen in der Vorbemessung führt. Es eignet sich auch gut als Kontrollrechnung zur Bewertung von Ergebnissen anderer Berechnungsmodelle. Eine Vergleichsberechnung mit dem γ -Verfahren im Grenzzustand der Tragfähigkeit (GZT) t = 0 mit γ = 0,65 lieferte in der Schnittgrößenverteilung lediglich Abweichungen von 4 % gegenüber der FE-Berechnung durch ein Stabwerksprogramm. Ohne Kenntnis der erforderlichen Anzahl an Verbindungsmitteln und deren Abstände muss der γ-Faktor im Rahmen einer Vorbemessung allerdings abgeschätzt werden. Im nachfolgenden Abschnitt 3.2 wird beschrieben, dass im Holz-Beton-Verbundbau neben der Belastung auch Kriechen und Schwinden zu berücksichtigen sind. Im γ-Verfahren kann jedoch das Schwinden des Betons nicht direkt abgebildet werden. Auch aus diesem Grund erfolgte die Bemessung letztendlich mit einem Stabwerksprogramm. Im Nachhinein war es jedoch von Interesse, wie Schwinden und Kriechen auch im γ -Verfahren berücksichtigt werden kann. Das Kriechen führt zu einer Reduzierung des E-Moduls, diese Werte können, wie in Abschnitt 3.2.1 dargestellt, ermittelt werden. Da das Schwinden letztendlich zu einer geringeren Verbundwirkung führt (vgl. Abschnitt 3.2.2), kann diese Einwirkung durch eine Reduzierung des γ -Faktors abgebildet werden. Zur Ermittlung eines geeigneter Wertes für den Verbundfaktor γ unter Berücksichtigung von Schwinden, wurde ein Vergleich der Stabwerksberechnungen mit Berechnungen nach dem γ-Verfahren durchgeführt. Dabei wurden für einen γ-Faktor von 0,5 in allen Modellen übereinstimmende Ergebnisse erreicht. Die Randbedingungen für die E-Moduli waren dabei: Für die maximale Biegebeanspruchung des Holzbinders: GZT t = ∞ E cd∞ = 5600 N/ mm² E dHolz∞ = 6500 N/ mm² 248 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Für die Durchbiegungsermittlung: GZG t = ∞ E ceff = 8400 N/ mm² E dHolz∞ = 8100 N/ mm² Diese Werte sind nach Einschätzung von Bewer Ingenieure durchaus zur Vordimensionierung mit dem γ- Verfahren für ähnliche Projekte geeignet. 3. Standsicherheit und Gebrauchstauglichkeit Der Verbundträger ist als Einfeldträger zwar ein äußerlich bestimmtes Tragwerk, aufgrund der unterschiedlichen Materialien - Holz, Beton und Verbundfuge - ist der Träger jedoch ein innerlich statisch unbestimmtes System. Dies bedeutet, dass die Spannungsverteilung im Querschnitt unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Steifigkeiten von Beton, Holz und Verbundfuge ermittelt werden muss. 3.1 Teilsicherheitsbeiwerte für die E-Moduli Eine Änderung der E-Moduli von Beton und Holz verändert die vom Holzträger und von der Betonplatte jeweils aufzunehmenden Schnittgrößen. Die Bemessungsnorm für den Holzbau EC5 [4] sieht in Abschnitt 2.4.1 eine Abminderung des E-Moduls um γ M vor Die Teilsicherheitsbeiwerte müssen demzufolge nach EC5 ausdrücklich auch für die Steifigkeitseigenschaften angesetzt werden. Im selben Abschnitt in Tabelle 2.3 dieser Norm werden empfohlene Teilsicherheitsbeiwerte γM für Baustoffeigenschaften und Beanspruchbarkeiten angegeben, unter anderem für Brettschichtholz mit γM = 1,25 und Verbindungen mit γM = 1,3. Die Norm für Stahl-Beton-Verbundtragwerke EC4 [3] verweist in Abschnitt 2.4.1.4 Bemessungswerte der Beanspruchbarkeit auf DIN EN 1990 [1]. Dort wird in Absatz 6.3.3 der Bemessungswert einer Baustoff- oder Produkteigenschaft allgemein mit Xd = hɳXk/ gm = Xk/ γM angegeben. Aufgrund der etwas unklaren Regelungen wurde schon zu Beginn des Bemessungsprozesses hinsichtlich des Teilsicherheitskonzeptes mit dem Prüfingenieur Rücksprache gehalten. Dabei fiel zunächst die grundsätzliche Entscheidung, die Abminderungsregelung des EC5 für die Steifigkeitseigenschaften in geeigneter Art und Weise anzuwenden und auch auf den Stahlbeton zu übertragen. Folglich stand die Frage im Raum, ob die unterschiedlichen γ M von Beton, Holz und der Verbundfuge grundsätzlich anzusetzen sind, oder ob alle möglichen Kombinationen der E-Moduli, sowohl mit Abminderung als auch ohne Abminderung, betrachtet werden müssen. Nach dem Prinzip - Steifigkeit zieht Last - ist zu erwarten, dass sich für den Holzquerschnitt die größten Belastungen ergeben, wenn der E-Modul des Betons abgemindert wird, der E-Modul des Holzes jedoch nicht. Somit würden sich für die drei Materialen Beton, Fuge, Holz für den GZT t = 0 allein aus der mathematischen Kombinatorik acht verschiedene Modelle ergeben. Da auch der GZT t = ∞ zu betrachten ist, wären theoretisch 16 verschiedene Modelle zu untersuchen. (Abb. 11). Abb. 11: mathematisch mögliche Kombinationen bei wahlweiser Abminderung des E-Moduls durch einen Teilsicherheitsfaktor: j = ja, mit Abminderung; n = nein, ohne Abminderung Eine derart umfangreiche Berechnung erschien jedoch unverhältnismäßig. In der praktischen Umsetzung wurde daher in Abstimmung mit dem Prüfingenieur eine Parameterstudie durchgeführt, bei der die Abweichungen ausgewählter Kombinationen mit einem Grundsystem, welches die Abminderung aller E-Moduli beinhaltet, verglichen wurden. In den statischen Nachweisen wurden schließlich die Bemessungsspannungen pauschal mit den dabei ermittelten Erhöhungsfaktoren (3,5 % Biegebemessung Holzbinder, 5 % Verbundmittel, 8,5 % Druckspannung Betongurt) vergrößert. 3.2 Nichtelastisches Verhalten Da der Werkstoff Beton ein anderes Kriech- und Schwindverhalten hat als der Werkstoff Holz, sind für Holz-Beton-Verbundkonstruktionen die Grenzzustände der Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit sowohl zum Zeitpunkt t = 0, als auch zum Zeitpunkt t = ∞ zu untersuchen. Insbesondere innerhalb der ersten 3 - 7 Jahre kriecht Beton deutlich stärker als Holz, sodass unter Umständen sogar noch ein Zwischenzustand zu untersuchen ist. 3.2.1 Kriechen In Tabelle 1 und Tabelle 2 sind die im Projekt angesetzten Steifigkeiten in Abhängigkeit der zu untersuchenden Zustände tabellarisch aufgeführt. 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 249 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Tab. 1: Steifigkeitsverhältnisse im GZT Grenzzustand Tragfähigkeit (GZT) t = 0 Beton Schrauben Holz Grenzzustand Tragfähigkeit (GZT) t = ∞ Beton Schrauben Holz Tab. 2: Steifigkeitsverhältnisse im GZG Grenzzustand Gebrauchstauglichkeit (GZG) t = 0 Beton Schrauben Holz Grenzzustand Gebrauchstauglichkeit (GZG) t = ∞ Beton Schrauben Holz Das Kriechen wird über eine Abminderung des E-Moduls sowohl des Betons als auch der Verbundfuge und des Holzbinders abgebildet. Für den gewählten Beton C25/ 30 wurde der E-Modul infolge Kriechen um den Faktor (1+2,7) abgemindert (vgl. EC2 [2] Abschnitt 3.1.4 Kriechen und Schwinden). Danach beträgt der Abminderungsfaktor für C25/ 30 infolge Kriechen mind. (1+2,0)/ max. (1+2,9), Formel zur Abminderung des E-Moduls nach EC2 [2] Gl. (7.20)). Für den Holzbinder ergab sich eine Abminderung des E-Moduls aus Lasteinwirkungsdauer und Feuchte nach Abschnitt 2.3.2.2 des EC5 [4] zu 1,6. Die Abminderung der Steifigkeit des Betons ist im Vergleich zum Holz also etwa doppelt so hoch, dabei wurde hier im Gegensatz zum Holzbinder ausschließlich Kriechen und nicht Schwinden berücksichtigt. 3.2.2 Schwinden Das Schwinden des Betons wird über einen Temperaturlastfall simuliert, der zu einer weiteren Umlagerung der Schnittgrößen im Verbundträger führt. Im Projekt ergab sich für den gewählten C25/ 30 mit einer angenommenen relativen Luftfeuchte der Umgebung von 40 % ein Schwindmaß von 0,5 ‰, welches zu einem Temperaturlastfall von -51,75° K führt. Dieser Lastfall erzeugt eine Verkürzung des Betonquerschnitts und dementsprechend eine Zugkraft im Betongurt und eine Druckkraft im Holzbinder. In der Betrachtung der min./ max. Schnittkräfte reduziert sich dadurch die Druckkraft im Betongurt und die Zugkraft im Holzträger. Durch das Schwinden wird die Verbundwirkung also reduziert und der Eigenanteil des Holzträgers an der Biegesteifigkeit nimmt zu. Daher muss der Holzbinder ein höheres Biegemoment aufnehmen und seine Ausnutzung steigt deutlich an. Es reduzierte sich die Verbundwirkung im GZT t = ∞ ohne Temperaturlast von 0,56 auf 0,5 mit Temperaturlast. Intensiv diskutiert wurde, ob die Einwirkung des Schwindens auf das Tragwerk mit einen Teilsicherheitsbeiwert belegt werden muss, da dieser Sachverhalt normativ nicht geregelt ist. Eine Einordnung als veränderliche Einwirkung ist offensichtlich falsch, da Schwinden in jedem Fall auftreten wird und damit eine ständige Einwirkung ist. Die konkrete Frage war, ob Schwinden als ständige Last mit einem Teilsicherheitsfaktor von 1,35 berücksichtigt werden müsse, oder ob der Teilsicherheitsfaktor 1,0 betragen könne. Bei Bewer Ingenieure wurde der Standpunkt vertreten, dass ein Schwindmaß von mehr als 0,5 ‰ nicht zu erwarten sei und eine sicherheitsrelevante Problematik eher durch die mögliche Abweichung des E-Moduls des Betons gegeben ist. Diese Unsicherheit auf der Materialseite wurde - wie bereits beschrieben - im Grenzzustand der Tragfähigkeit durch die Kombination eines um 1/ 1,5 reduzierten E-Modul des Betons mit einem nicht reduzierten E-Modul des Holzes berücksichtigt. So bleibt als Ergebnis von der Betonsteifigkeit im Grenzzustand der Tragfähigkeit zum Zeitpunkt t = ∞ von einem E cm = 31000 weniger als 20 % übrig, nämlich 5586 N/ mm². Vor diesem Hintergrund kam Bewer Ingenieure zu der Einschätzung, dass im Gesamtzusammenhang des Bemessungskonzeptes eine Erhöhung der Einwirkung durch Schwinden durch einen Teilsicherheitsbeiwert nicht erforderlich ist. Letztendlich wurde das vorgeschlagene Vorgehen seitens der Prüfingenieure mitgetragen. 250 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke Für die Zukunft wird hier Regelungsbedarf für Holz- Beton-Verbundtragwerke gesehen, wobei es nach Einschätzung von Bewer Ingenieure gute Gründe gibt, die Einwirkung aus Schwinden im Holz-Beton-Verbundbau nicht mit einem Teilsicherheitsbeiwert zu erhöhen. 3.3 Berechnungsmodelle Das γ-Verfahren beruht auf der Annahme einer gleichförmigen (genauer sinusförmigen) Last und einer konstanten Steifigkeit in der Schubfuge. Da im vorliegenden Fall jedoch hohe Einzellasten aus dem Tragwerk des Bürogeschosses aufzunehmen waren, war es erforderlich Berechnungsmodelle zu wählen, in denen diese Einzellasten abgebildet werden können. 3.3.1 Stabwerkmodell für den Verbundträger Bekannte Möglichkeiten zur Abbildung eines Verbundbinders mittels Stabwerksprogramm sind das Stabwerksverfahren nach Rautenstrauch et al. [13] und das Schubanalogieverfahren. Beide Verfahren sind zur Berechnung beliebig nachgiebig verbundener Biegeträger geeignet. Beim Schubanalogieverfahren werden zwei fiktive Querschnitte gebildet, die jeweils alle Eigenanteile bzw. die Steineranteile des Flächenträgheitsmomentes enthalten. Da für die Bemessung eine Rückrechnung in das reale System erforderlich ist, wurde statt des Schubanalogieverfahrens das Modell nach Rautenstrauch gewählt (Abb.12). Dabei werden der Holzbinder und die Betondecke jeweils als Stabzug modelliert. Der Abstand der Stabzüge entspricht dem geometrischen Abstand der Schwerpunkte ihrer Einzelquerschnitte. Zwischen Betongurt und Holzbinder sind Koppelstäbe und ein Stabsystem-Verbundfuge im Wechsel angeordnet. Die gelenkig angeschlossenen Koppelstäbe mit einer sehr hohen Dehnsteifigkeit sorgen für eine Synchronisation der vertikalen Verformungen. Abb. 12: Stabwerksmodell nach Rautenstrauch et al. Das Stabsystem-Verbundfuge bildet das Steifigkeitsverhalten der Verbundfuge ab und besteht aus zwei Kragarmen mit Endgelenk in der Verbundfuge. Die Umrechnung der Fugensteifigkeit k in eine Ersatzbiegesteifigkeit EI des Stabsystems-Verbundfuge im Stabwerksmodell ergibt sich bei Vernachlässigung der Gurtsteifigkeiten des Beton- und Holzquerschnitts entsprechend Abb. 13. Abb. 13: Ermittlung der Biegesteifigkeit des Stabsystems-Verbundfuge im Modell nach Rautenstrauch et al. Stabsystem-Verbundfuge und Koppelstäbe wurden abwechselnd im Abstand von 0,5 m angeordnet. So entstand für das Stabsystem-Verbundfuge ein Einmeterraster, was eine Veränderung der Steifigkeit innerhalb der Verbundfuge übersichtlich ermöglicht und die Vergleichbarkeit zu anderen Verbindungsmitteln, wie eingeklebten Blechen, erleichtert. Bei der Wahl geeigneter Steifigkeiten für das Verbundstabsystem war der Schubflussverlauf für starren Verbund erster Anhaltspunkt. Die sich daraus ergebende Schraubenanzahl mit zugehörigen Steifigkeiten hat insgesamt plausible Ergebnisse geliefert und wurde nach wenigen Rechenläufen nur noch leicht angepasst. 3.3.2 Statisches System am Endauflager Der Verbundträger liegt mit seiner Unterseite auf dem „Schaukelbrett“ auf. Die Auflagerkraft wird von den Schaukelwangen hochgehängt und in Konsolbleche eingeleitet, die biegesteif an ein Stahleinbauteil in der Wand angeschlossen sind. Das Stahleinbauteil ist biegesteif mit dem Stahlbeton verbunden und zugleich an seinem oberen Ende horizontal unverschieblich durch die Stahlbetondecke gehalten (Abb. 14, 16). Abb. 14: Statisches System: Holzverbundträger mit Auflagerschaukel und Einbauteil 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 251 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 3.3.3 Verbundträger im 3D-FE-Modell. Zusätzlich zur Einzelbetrachtung im Stabwerksmodell mussten die Binder auch im räumlichen FE-Modell des Gesamtbauwerks abgebildet werden. Der Fokus lag hier auf der Bemessung des Massivbaus. Daher ging es um die korrekte Abbildung der Auflagersituation, insbesondere die Übertragung des Momentes aus der Exzentrizität in den Massivbau (Abb. 15). Abb.15: Binder im 3D-Modell Aufgrund geometrischer Zwänge war eine wirklichkeitsnahe Abbildung des Verbundbinders im 3D-FE-Modell nicht möglich. Die vertikale Lage des Holzbinders als Stabzug ergab sich aus dem Lasteinleitungspunkt in den Massivbau; die Koppelstäbe zwischen Betondecke und Binder sind daher viel kürzer und die Holzbinder liegen im Schwerpunkt eigentlich zu hoch. Um dennoch mit zutreffenden Steifigkeitsverhältnisse zu rechnen, wurde der Holzquerschnitt mit einem fiktiven E-Modul belegt, indem die Durchbiegungen im FE-Modell mit der Einzelbetrachtung im Stabwerksmodell im GZT t = 0 für den quasi-ständigen Lastfall abgeglichen wurden. 4. Ausführungsplanung 4.1 Auflager der Verbundträger im Massivbau Die konstruktive Durchbildung des Auflagers mit Auflagerschaukel (Abb. 7) und Stahleinbauteilen (Abb. 16) im Beton für eine zwängungsfreie Lagerung der Verbundbinder innerhalb eines monolithischen Massivbaus stellte eine große Herausforderung dar. Abb. 16: Auflager der Verbundträger in der Außenwand, dabei: links: 3D-Darstellung der Fügung von Betonwand, Einbauteil, Fensterband, Auflagerschaukel und Holzträger; Halbfertigplatte, Isokorb (ohne Aufbeton der Platte), rechts: 3D-Darstellung des Einbauteils. Es mussten dabei aufeinander abgestimmt werden: • die Breite des „Schaukelbretts“ als Endauflager für die Holzbinder • die Durchbiegung des Schaukelbretts • die Dehnung der Schaukelwangen • der Abstand des Lagerbolzen zu den Stahleinbauteilen • die Vollgewindeschrauben im Holz • die Pressung des Holzes • das Schwinden des Holzes quer zur Faser • die Tragfähigkeit der Stahleinbauteile • die Lasteinleitung in den Stahlbeton • die Fugenbreite zwischen Holzträger und der Stahlbetonwand • die Verdrehung des Verbundträgers mit der Schaukel • der Verbund zwischen Holzträger und Stahlbetondecke • die Fertigungstoleranzen der 24,5m langen Holzträger • die gelenkige Lagerung der Decke auf den Tragwänden • die druckfeste Verbindung zwischen Einbauteil und Deckenplatte • die Herstellbarkeit und Einbaubarkeit von allen Bauteilen. 252 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 4.2 Gelenkige Lagerung der Betondecke Die an drei Seiten erforderliche gelenkige Lagerung der Stahlbetondecke erfolgte über die Anordnung von dafür geeigneten Isokörben (Abb. 16). 4.3 Bewältigung von Verformungsunterschieden zwischen Randträgern und Stirnwänden Neben der zwängungsfreien Lagerung der Holzverbundträger ergab sich am Randbinder am Ende des Verkaufsraumes ein zweites Verträglichkeitsproblem, da dort in einem Abstand von 1,5 m zwangsläufig die starre Rückwand des Verkaufsraumes (Stirnwand) verläuft. Hier treten in Bindermitte unvermeidbar hohen Verformungen in unmittelbarer Nähe zu einem fast verformungsfreien Bereich der Stirnwand parallel zum Binder auf. Für die Bewältigung dieser Verformungsunterschiede war ein eigenes tragwerksplanerisches Konzept mit rechnerischer Simulation erforderlich. Das Konzept bestand sowohl aus einer Versteifung des Verbundtragwerks als auch aus einer Flexibilisierung der Konstruktion des Bürogeschosses (Abb. 17, 18). Die Versteifung des Verbundtragwerks wurde durch zwei Maßnahmen erreicht: Erstens: Über der Rückwand des Marktes wurde in der Decke oben quer eine Zulagebewehrung von Ø 20 / 15 angeordnet, sodass sich ein hohes Stützmoment über der Wand ausbilden konnte, um so den Lasteinzug für den neben der Wand verlaufenden Binder zu reduzieren. Zweitens: Im Betongurt des letzten Verbundbinders wurde eine Druckbewehrung Ø 25 / 15 zur Erhöhung seiner Steifigkeit und Reduzierung der Schwindverformung eingebaut. Zur Flexibilisierung der Konstruktion des Bürogeschosses wurde diese in dem Übergangsbereich von der weichen zur starren Decke die Baukonstruktion so ausgebildet, dass die verbleibenden Verformungsunterschiede aufgenommen werden können. Dazu wurde in diesem Bereich die sonst starre Kippstabilisierung der Holzträger über die Holzscheibe der Attika (Abb. 17) durch eine gelenkige Kippstabilisierung über die Anordnung gelenkiger Koppelstäbe (Abb. 18) ersetzt. Auch in der Fassadenkonstruktion war eine Anpassung erforderlich, die insbesondere in der Verwendung kleinerer Elemente bestand. Abb. 17: Stahlständer - Holzträger - Konstruktion im OG für das Bürogeschoss auf der HBV-Decke. Kippstabilisierung der Holzträger durch die Holzscheibe für die Attika Abb. 18: Flexibilisierung Konstruktion des Bürogeschosses durch eine Kippstabilisierung der Holzträger mit gelenkigen Koppelstäben 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 253 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 5. Ausblick auf zukünftige Normung Seit Mai 2021 liegt die ONR CEN/ TS 19103: Eurocode 5 - Bemessung und Berechnung von Holz-Beton-Verbundbauteilen - im Entwurf vor. Neue Regelungen betreffen unter anderem • den Einfluss der Verbundwirkung auf den wirksamen Kriechkoeffizienten, • die Berücksichtigung der Interaktion von Kriechen und Schwinden, • den Einfluss von Temperaturschwankungen. Im Abschnitt 4.4.2 Bemessungswerte der Baustoff- und Produkteigenschaften wird ausschließlich auf Festigkeitseigenschaften, jedoch nicht auf Steifigkeitseigenschaften eingegangen. Eine Abminderung des E-Moduls um einen Sicherheitsfaktor scheint also nicht vorgesehen zu sein. Es werden jedoch Teilsicherheitsfaktoren in Abschnitt 4.4.1.2 für veränderliche Umgebungsbedingungen wie Temperatureinwirkung, Einwirkung der Holzfeuchte, Einwirkung des Schwindens angegeben, und zwar jeweils mit 1,35, sofern im Nationalen Anhang nichts anderes gefordert wird. Der Anhang B beinhaltet einen Vorschlag zur Berechnung der Auswirkung unelastischer Dehnungen aufgrund von Schwinden des Betons, Temperaturschwankungen und Schwankungen der Holzfeuchte auf Basis des γ- Verfahrens. 6. Schlussbemerkung Nur mit der gewählten Holz-Beton-Verbunddecke mit einer Spannweite von ca. 25 m, auf der noch ein volles weiteres Geschoss angeordnet wurde, konnten für den innerstädtischen Verbrauchermarkt in Winnenden alle Anforderungen an das Gebäude erfüllt werden. Mit dieser Bauweise konnte so leicht und so niedrig gebaut werden, dass die Bedingungen der Gebäudeklasse 3 eingehalten wurden. Insbesondere war dadurch nur eine feuerhemmende Bauweise und keine feuerbeständige Bauweise erforderlich, sodass eine großflächige Glasfassade und ein Lichtband in Verbindung mit schlanken Stahlstützen möglich wurden. Es hat sich gezeigt, dass Holz-Beton-Verbunddecken mit sehr großen Spannweiten innerhalb einer ansonsten monolithischen Bauweise technisch möglich und auch wirtschaftlich sind. Durch die hybride Bauweise eröffnen sich im Hochbau Möglichkeiten, die mit einer klassischen Stahlbetonbauweise nicht erreicht werden können. Neben der wesentlich höheren technischen Materialeffizienz von Holz gegenüber Stahlbeton aufgrund vergleichbarer Festigkeits- und Steifigkeitseigenschaften bei einem um mehr als 80 % geringeren Gewichts, ist auch das Treibhauspotential der Holz-Beton-Verbundbauweise wesentlich geringer als das einer reinen Stahlbetonbauweise. Vor diesem Hintergrund wäre es begrüßenswert, wenn die Holz-Beton-Verbundbauweise sich als eine selbstverständliche Alternative zum Stahlbetonbau und Stahlbau im Hochbau etablieren würde. Ob das gelingt, ist sehr stark abhängig von der endgültigen europäischen Normung der Holz-Beton-Verbundbauweise und hier insbesondere vom nationalen Anhang. Die Herausforderung der Normung besteht vor allem darin, die Prozesse von Kriechen und Schwinden und die Berechnung der anzusetzenden E-Moduli ausreichend genau zu bestimmen, diese mit angemessenen Teilsicherheitsbeiwerten in ein Bemessungskonzept einzubinden und dabei jedoch gleichzeitig überschaubar und praxistauglich zu bleiben. Abb. 19: Untersicht der fertiggestellten Holz-Beton-Verbunddecke und der Außenwand mit Lichtband 254 1. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Mai 2022 Weitgespannte Holz-Beton-Verbundtragwerke 7. Projektbeteiligte Bauherr: LIDL Dienstleistungs GmbH&Co.KG 73230 Kirchheim/ Teck Architekt: ARTEK-BAUMANAGEMENT GmbH 70794 Filderstadt Tragwerksplanung: Bewer Ingenieure 73765 Neuhausen a.d.F. Prüfingenieure: Dipl.-Ing. (FH) Thomas Präg 71083 Herrenberg Prof. Dr.-Ing. Heiner Hartmann 70376 Stuttgart-Münster Dipl.-Ing. Jutta Rößler 71083 Herrenberg Bauphysik: RW Bauphysik 74523 Schwäbisch Hall Holzbau incl. zugehöriger Stahlbau: WIEHAG GmbH A-4950 Altheim Rohbau incl. zugehöriger Stahlbau: EIGNER Bauunternehmung GmbH 86720 Nördlingen Duktile Gusspfähle Kurt Motz Baubetriebsgesellschaft GmbH 86720 Nördlingen Wasserundurchlässiges UG Drytech Abdichtungstechnik GmbH 67435 Neustadt an der Weinstraße Fertigteilbinder (PI-Platten): Lischma GmbH & Co. KG, 88471 Laupheim 8. verwendete Software CAD-BIM-Modell: Nemetschek Allplan 2018 Stabwerks- und Finite Elemente Berechnungen: InfoGraph Info CAD Vers.18.2 und 19 Literatur [1] DIN EN 1990: EC: Grundlagen der Tragwerksplanung, DIN-Deutsches Institut für Normung e.V. (2010) [2] DIN EN 1992-1-1: EC2: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton und Spannbetontragwerken Teil 1-1: Allgemeine Bemessungsregeln und Regeln für den Hochbau, DIN-Deutsches Institut für Normung e.V. (2011) [3] DIN EN 1994-1-1: EC4: Bemessung und Konstruktion von Verbundwerken aus Stahl und Beton Teil 1-1: Allgemeine Bemessungsregeln und Anwendungsregeln für den Hochbau, DIN-Deutsches Institut für Normung e.V. (2010) [4] DIN EN 1995-1-1: EC5: Bemessung und Konstruktion von Holzbauten Teil 1-1: Allgemeines - Allgemeine Regeln und Regeln für den Hochbau, DIN-Deutsches Institut für Normung e.V. (2010) [5] DIN EN 14080: Holzbauwerke - Brettschichtholz und Balkenschichtholz - Anforderungen, DIN- Deutsches Institut für Normung e.V. (2013) [6] ONR CEN/ TS 19103 Entwurf: Eurocode 5 - Bemessung und Berechnung von Holz-Beton-Verbundbauteilen - Allgemeine Regeln und Regeln für den Hochbau, Austrian Standards International (2021) [7] Allgemeine Bauaufsichtliche Zulassung Z-9.1-851: BiFRi Verbund-Anker als Verbindungsmittel für das FIEDRICH Holz-Beton-Verbundsystem, Deutsches Institut für Bautechnik (2015) [8] Allgemeine Bauaufsichtliche Zulassung Z-9.1- 557: Holz-Beton-Verbundsystem mit eingeklebten HBV-Schubverbindern, Deutsches Institut für Bautechnik (2015) [9] Europäische Technische Bewertung ETA-18/ 0264: Holz-Beton-Verbundsystem mit stiftförmigen Verbindungsmitteln, Österreichisches Institut für Bautechnik (2018) [10] Europäische Technische Zulassung ETA-12/ 0114: Selbstbohrende Schrauben als Holzverbindungsmittel in tragenden Holzkonstruktionen, ETA-Danmark A/ S (2012) [11] Bejtka I.: Skript zum Seminar Holz-Beton Verbundbauweise, Blaß & Eberhart GmbH, Karlsruhe [12] Blaß H. J. & Romani M.: Langzeitverhalten von Holz-Beton-Konstruktionen, Versuchsanstalt für Stahl, Holz und Steine, Abteilung Ingenieurholzbau, Universität Fridericiana Karlsruhe (2002) [13] Rautenstrauch K. & Grosse M. & Lehmann S. & Hartnack R.: Baupraktische Dimensionierung von Holz-Beton-Verbunddecken, 6. Informationstag des IKI, Bauhaus-Universität Weimar [14] Schänzlin J.: Holz-Beton-Verbundsysteme, 9.Baden-Württembergischer Tragwerksplaner Tag (2018)