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Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
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expert verlag Tübingen
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Experimentelle Faltwerk-Strukturen – von modular bis ultraleicht

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Stephan Engelsmann
Faltwerke sind ein geistreiches Konstruktionsprinzip. Tragwerkstypologisch zählen Faltwerke zu den räumlichen Flächentragwerken. Die Einzelkomponenten des Faltwerks sind dünnwandige, ebene Flächen, die selbst nur über eine begrenzte Steifigkeit verfügen, aber bei einer geeigneten dreidimensionalen Konfiguration zu hochleistungsfähigen, ressourceneffizienten Tragstrukturen werden. Für das Entwerfen, Bemessen und Konstruieren von Faltwerken steht heute eine große Auswahl an industriell gefertigten Halbzeugen aus unterschiedlichen Werkstoffen zur Verfügung. Faltwerke ermöglichen es, bei richtiger geometrischer Ausbildung ausdrucksstarke Formen und selbsttragende Gebäudehüllen in modularer Bauweise mit einem minimalen Materialeinsatz zu realisieren. Eine besondere Bedeutung kommt in jedem Einzelfall der Entwicklung einer werkstoffgerechten Fügetechnologie zu. Die Potentiale des Konstruktionsprinzips werden am Beispiel von experimentellen Prototypen beziehungsweise Projekten aufgezeigt.
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2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 43 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Prof. Dr.-Ing. Stephan Engelsmann MA Arch. Des. Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart/ Engelsmann Peters GmbH Zusammenfassung Faltwerke sind ein geistreiches Konstruktionsprinzip. Tragwerkstypologisch zählen Faltwerke zu den räumlichen Flächentragwerken. Die Einzelkomponenten des Faltwerks sind dünnwandige, ebene Flächen, die selbst nur über eine begrenzte Steifigkeit verfügen, aber bei einer geeigneten dreidimensionalen Konfiguration zu hochleistungsfähigen, ressourceneffizienten Tragstrukturen werden. Für das Entwerfen, Bemessen und Konstruieren von Faltwerken steht heute eine große Auswahl an industriell gefertigten Halbzeugen aus unterschiedlichen Werkstoffen zur Verfügung. Faltwerke ermöglichen es, bei richtiger geometrischer Ausbildung ausdrucksstarke Formen und selbstragende Gebäudehüllen in modularer Bauweise mit einem minimalen Materialeinsatz zu realisieren. Eine besondere Bedeutung kommt in jedem Einzelfall der Entwicklung einer werkstoffgerechten Fügetechnologie zu. Die Potentiale des Konstruktionsprinzips werden am Beispiel von experimentellen Prototypen beziehungsweise Projekten aufgezeigt. 1. Einführung In der Bautechnik bezeichnet der Begriff Faltwerk ein Tragwerk, das in einer räumlichen Konfiguration aus dünnwandigen, ebenen Teilflächen zusammengesetzt ist. Faltungen zur Verbesserung von tragstrukturellen Eigenschaften finden sich nicht nur in der Technik, sondern auch in der Natur, beispielsweise in der Flora bei Blattstrukturen. Mit Faltungen kann eine fast grenzenlose Formenvielfalt erzeugt werden (Abb. 1). In der Regel folgen Faltwerke aber geometrischen Prinzipien. Abb. 1: Formenviel von Faltstrukturen Eine gefaltete Fläche bezeichnet man als Faltstruktur. Das auf einer Faltstruktur basierende Tragwerk wird zum Faltwerk. Eine in die Ebene abgewickelte Faltstruktur bildet ein Faltmuster (Abb. 2). Grundformen sind Längsfaltung und Umkehrfaltung. Beispiele für Umkehrfaltungen sind Rautenfaltungen oder Fischgrätfaltungen. Abb. 2: Faltmuster, Faltstruktur und Faltwerk Die Faltstruktur beeinflusst grundsätzlich die Faltwerksform - nicht jede Faltwerksform kann mit jeder Faltstruktur generiert werden. Faltwerke mit gekrümmter Global-Geometrie können beispielsweise mit Hilfe von Rauten- oder Fischgrätfaltungen konstruiert werden. Die Faltwerksform wiederum beeinflusst das Tragverhalten. Beim Entwerfen von Faltwerken ist es erforderlich, diese Parameter bereits zu einem frühen Zeitpunkt sinnvoll aufeinander abzustimmen, um ein effizientes Tragwerk zu erhalten. Bei der Entwicklung der Geometrie ist aber auch sicherzustellen, dass alle Teilflächen planmäßig entwässert werden und keine lokalen Tiefpunkte ohne Ablauf entstehen. 2. Das statisch-konstruktive Prinzip der Faltwerke Tragwerkstypologisch zählen Faltwerke zu den räumlichen Flächentragwerken. Die Einzelkomponenten des Faltwerks sind dünnwandige, ebene Flächen, die selbst nur über eine begrenzte Steifigkeit verfügen, aber bei einer geeigneten dreidimensionalen Konfiguration zu hochleistungsfähigen Tragstrukturen werden. Faltwerke können gegebenenfalls gleichzeitig als Gebäudehülle fungieren, also die Funktionen Tragen und Einhüllen kombinieren. Das statisch-konstruktive Prinzip, das den Faltwerken zugrunde liegt, beruht vor allem auf der Vergrößerung der statisch nutzbaren Höhe durch die Faltung, die dem Tragwerk seine geometrische Steifigkeit gibt. Strukturform, Faltungshöhe und die Geometrie der Einzelflächen bestimmen dabei maßgeblich das Tragverhalten von Faltwerken. Nicht jede Form der Faltung führt aber zu einer Struktur, die das vorteilhafte Tragverhalten 44 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht der Faltwerke im statisch-konstruktiven Sinne aufweist. Im Vergleich mit räumlich gekrümmten Flächentragwerken wie beispielsweise Schalen besitzen Faltwerke den großen wirtschaftlichen und fertigungstechnischen Vorteil, dass sie aus ebenen Teilflächen beispielsweise in Form von industriell gefertigten Halbzeugen, zusammengesetzt werden können. Die Einzelflächen der Faltwerke sind wie Scheiben überwiegend normalkraftbeansprucht. Den Normalkraftbeanspruchungen überlagern sich Biegebeanspruchungen, weil die normal zur Fläche wirkenden äußeren Einwirkungen zunächst über Plattenbiegung in den Einzelflächen zu den Plattenrändern, die von den gemeinsamen Kanten der Elemente gebildet werden, abgetragen werden. Über die Kanten werden die Auflagerkräfte in die angrenzenden Flächen eingeleitet und erzeugen Normalspannungen in den Ebenen der Einzelflächen. Voraussetzung für diese Tragwirkung ist eine schubfeste Verbindung der Kanten, um die Verträglichkeit der Verformungen sicherzustellen und Relativverschiebungen zu verhindern. Die kraftschlüssige Verbindung der Einzelflächen in den Kanten ist ein wesentliches Kennzeichen von Faltwerken. Der besonderen tragwerksplanerischen Aufmerksamkeit bedürfen die freien Ränder von Faltwerken, weil sie in der Regel nur unzureichend gehalten sind und große Formänderungen erleiden können. Die Bemessung von Faltwerken ist sehr anspruchsvoll. Betrachtet man die Global-Geometrie, so kann in vielen Fällen eine tragstrukturelle Analogie zu klassischen Tragsystemen wie Balken, Rahmen oder Bogen aufgebaut werden. Faltwerke mit komplexer Geometrie können mit geeigneten numerischen Werkzeugen heute problemlos bemessen werden. 3. Werkstoffe und Fügetechnologien Für die Konstruktion von Faltwerken eignen sich insbesondere die Werkstoffe Beton, Holz, Stahl sowie Kunststoff. Für das Entwerfen, Bemessen und Konstruieren von Faltwerken steht heute eine Vielzahl von industriell gefertigten Halbzeugen in Form von Platten oder Composite-Elementen zur Verfügung, Ortbeton-Faltwerke bilden einen Sonderfall. Tragwerksform und Werkstoff sind voneinander abhängig im Hinblick auf Faltstruktur und Abmessungen der Einzelflächen, Tragverhalten, Fügetechnologie, Herstellung und Gestaltung. Je geringer die Steifigkeit der Einzelfläche insbesondere im Hinblick auf Stabilitätsversagen, desto kleiner ist die Einzelfläche zu wählen. Sofern der Werkstoff nicht selbst wärmedämmend ist, wie beispielsweise bei Composite-Werkstoffen mit einer ausreichenden Stärke der Kernschicht, benötigen Faltwerke in der Regel außenseitig eine Wärmedämmung. Von den monolithischen Beton-Faltwerken abgesehen, kommt der Fügetechnologie eine entscheidende Rolle sowohl in konstruktiver als auch in gestalterischer Hinsicht zu, denn die Kantenfügung stellt - von den Fußpunkten des Faltwerks abgesehen - das einzige Detail der Konstruktion dar und ist aus diesem Grund in hohem Maße gestaltprägend. Sie ist abhängig vom verwendeten Werkstoff und der Querschnittsbeschaffenheit der einzelnen Flächen. Grundsätzlich können lösbare und nichtlösbare Verbindungen unterschieden werden. Die Verbindung der Kanten von Holz-Faltwerken erfolgt in der Regel über Randhölzer, die miteinander verschraubt werden. Bei ausreichend dickem Querschnitt kann auch direkt in den Plattenquerschnitt geschraubt werden. Faltwerke aus Kunststoffen sind in der Regel über Flansche verschraubt und Faltwerke aus metallischen Werkstoffen können verschweißt, geschraubt oder vernietet werden. 4. Bautechnische Entwicklungen Das Prinzip der Faltung in tragstruktureller Funktion wurde insbesondere im Stahlbetonbau bereits sehr früh eingesetzt. Ein Beispiel sind Eugene Freyssinets Luftschiffhallen in Paris-Orly mit Grundrissabmessungen von 300 x 100 m (Fertigstellung 1924), die eine Faltung zur Stabilisierung der Oberfläche nutzen. Um dem Beulen der Schale bei asymmetrischen Einwirkungen entgegenzuwirken, wurde die Oberfläche in breite, trapezförmige Rippen unterteilt. Stahlbeton-Faltwerke in Ortbetonbauweise mit großen Einzelflächen und parallel verlaufenden Kanten wurden für Dachkonstruktionen mit großer Spannweite eingesetzt, beispielsweise beim Unesco-Gebäude in Paris. Die Einzelflächen von Faltwerken in Ortbetonbauweise können im Vergleich mit Kunststoff-Faltwerken und Stahl-Faltwerken groß sein, weil die Teilflächen nicht in Form von Halbzeugen industriell vorgefertigt werden und weil das Teilflächenbeulen bei Betonflächen nicht in dem Maße relevant ist wie bei sehr dünnwandigen Teilflächen. Ab den 1950er Jahren entstanden Faltwerke, die sich von den vergleichsweise einfachen prismatischen Formen lösten und das geometrische und gestalterische Potential der Faltwerke ausschöpften. Ein besonders expressives Beispiel ist die St. Paulus Kirche in Neuss-Weckhoven. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde eine Reihe von Beton-Faltwerken mit sehr anspruchsvoller Geometrie ausgeführt, bevor der Bau von Beton-Faltwerken - von Ausnahmen abgesehen - wie die Schalenbauweise zum Erliegen kam. Die Herstellung von Beton-Faltwerken kann prinzipiell auch in Fertigteilbauweise erfolgen. Bei der Festlegung der Faltwerkgeometrie sind die Transportabmessungen zu beachten. Für die Fertigteilbauweise eignen sich vor allem modular konzipierte Faltwerke, bei denen Teilflächen wiederholt vorkommen und die Schalung mehrfach eingesetzt werden kann. Eine entscheidende Rolle kommt bei den Fertigteil-Faltwerken der Fügetechnologie zu, die eine Übertragung der Beanspruchungen sicherstellen muss. Ein bemerkenswertes Faltwerk aus Betonfertigteilen ist die 1969 fertiggestellte, 146 m weit spannende Tonnenschale der tragwerksplanerisch von Ulrich Finsterwalder und Helmut Bomhard verantworteten Paketposthalle in München. Faltwerke aus Holz wurden ab den späten 1950er Jahren gebaut. Holz-Faltwerke werden häufig aus großformatigen Furniersperrholz- oder Brettsperrholzplatten konstruiert. Faltwerke mit großen Abmessungen der Teilflächen wurden realisiert, indem die Teilflächen als 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 45 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Sandwichkonstruktion mit einer innen liegenden Pfosten-Riegel-Konstruktion und äußeren Deckschichten ausgebildet wurden, beispielsweise das radiale Faltwerk der Kirche Zu den Heiligen Engeln in Landsberg. Ab den frühen 1960er Jahren wurde mit Faltwerken aus Kunststoffen experimentiert. Faltwerke sind eine für Kunststoffe in besonderem Maße geeignete Konstruktionsform, denn die geringe Steifigkeit der Kunststoffe kann durch die dreidimensionale Formgebung in optimaler Weise kompensiert werden. In herstellungstechnischer Hinsicht von Vorteil ist die modulare Geometrie vieler Faltwerke, weil der aufwendige Formenbau nur bei mehrfachem Einsatz wirtschaftlich vertretbar ist. Faltwerke aus Kunststoff wurden in der Vergangenheit fast ausschließlich unter Verwendung modularer, dreidimensional geformter GFK-Elemente konzipiert, die miteinander verschraubt wurden. Ein sehr gelungenes Beispiel ist das Kunststofffaltwerk für die Schwefelgewinnungsanlage Pomezia/ Rom. Die Beiträge der Gegenwart sind gekennzeichnet durch ingenieurwissenschaftliche Entwicklungen im Bereich der Werkstoffe und der Fügung. Das Potential der Bauweise zeigen vor allem experimentelle Prototypen. 5. Kunststoff-Faltwerk abk Ein Prototyp für werkstoffgerechtes Konstruieren ist das von der Klasse für Konstruktives Entwerfen der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (abk) entwickelte und in Eigenarbeit realisierte Kunststoff-Faltwerk (Abb. 3). In funktionaler Hinsicht als temporär Pavillon und Teehaus genutzt, ist das Kunststoff-Faltwerk ein architektonisches und ingenieurwissenschaftliches Experiment, mit dem die Einsatzmöglichkeiten von plattenförmigen Kunststoff-Halbzeugen für selbsttragende Gebäudehüllen nachgewiesen werden konnten. Abb. 3: Kunststoff-Faltwerk, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart Ein hochleistungsfähiges Tragwerkskonzept, eine komplexe Gemetrie, ein innovativer und hochwertiger Werkstoff und eine neue, speziell entwickelte Fügetechnologie sind die besonderen Kennzeichen des Experimentalbaus. Die innovative Ganzkunststoffkonstruktion besteht aus transluzenten Polycarbonat-Sandwichplatten mit Wabenkern, die mit einer Kombination aus lösbaren und nichtlösbaren Verbindungen mit Hilfe von Haftverschlüssen gefügt werden. Der Kunststoff-Pavillon besitzt im Grundriss einen Durchmesser von knapp 4 m und hat eine Hüllfläche von insgesamt ca. 22 m². Die Struktur des Pavillons ist modular aufgebaut und besteht aus acht identischen Teilsegmenten, die rotationssymmetrisch um eine vertikale Achse durch den Mittelpunkt des Pavillons angeordnet sind (Abb. 4). Das Faltwerk folgt dem Prinzip der radialen Rauten-Faltung. Der gesamte Pavillon besteht aus insgesamt lediglich vier verschiedenen Plattenformaten, die jeweils 16mal eingesetzt werden. Abb. 4: Modulare Bauweise Für die Einzelplatten der Teilsegmente werden mit einem speziellen Verfahren gefertigte, 19 mm dicke transluzente Kunststoff-Sandwich-Elemente aus Polycarbonat verwendet. Sie bestehen aus einem auf einer Kernziehanlage gefertigten Wabenkern und den Deckschichten, die auf einer Flachbettlaminieranlage miteinander verklebt werden. Das Flächengewicht beträgt lediglich 8,5 kg/ m 2 . Die Stabilisierung der vollständig aus Kunststoff bestehenden Struktur erfolgt über die Geometrie und eine kraftschlüssige Verbindung der Kanten. In der Mitte des Pavillons befindet sich eine Öffnung, um den Innenraum zu belichten. Für die Detailplanung bestimmend war die gestalterische und konstruktive Herausforderung, Sandwich-Platten mit nur 19 mm Dicke flächenbündig zu fügen. Die Einzelplatten der Teilsegmente sind in einer die Toleranzen berücksichtigenden, vorab festgelegten Reihenfolge teilweise mit einem Flüssigklebstoff verklebt und teilweise lösbar gefügt. Die Verbindung der Teilsegmente untereinander ist im Unterschied dazu lösbar ausgebildet, um einen Rück- und Wiederauf bau an einer anderen Stelle einfach bewerkstelligen zu können. Für die Fügetechnologie wurden Klebeverbindungen und Haftverschlüsse eingesetzt. Die maximalen Abmessungen geklebter Bauteile sind durch Transport und Montage vorgegeben. Eine Verklebung von Polycarbonat ist nur mit dünnflüssigen Lösungsmittelklebern möglich, die keinen Toleranzausgleich gestatten. Um unvermeidliche Herstellungstoleranzen berücksichtigen zu können, können bei jedem Einzelelement maximal zwei Kanten mit 46 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht den jeweiligen Nachbarkanten verklebt werden. Für die lösbaren Verbindungen wurde eine neuartige Fügetechnologie mit Hilfe von Haftverschlüssen individuell entwickelt (Abb. 5). Sie gewährleistet eine kraftschlüssige und gleichzeitig lösbare Verbindung ohne Verwendung von materialfremden Teilen. Abb. 5: Neuartige Fügetechnologie mit Haftverschlüssen Die Horizontalkräfte in den Auflagerpunkten wirken radial nach innen. Die konstruktive Ausbildung der Fußpunkte erfolgte konsequent entsprechend der Beanspruchung. Die Fußpunkte bestehen aus einem gekanteten Edelstahlblech auf der Innenseite des Kunststoff-Faltwerks, das auf eine Fußplatte mit kleiner Auflagerfläche geschweißt wurde. Die Fußplatte ist mit dem Podest über eine Schraubenverbindung verbunden. Die Druckkräfte aus werden über Kontakt in die Fußpunkte eingetragen. Fügetechnologie und Detailarbeit hatten bei diesem Projekt eine herausragende Bedeutung für die Qualität des Ergebnisses. Sie waren im vorliegenden Fall Voraussetzung für den Nachweis der gestalterischen und technischen Funktionsfähigkeit des Faltwerk-Konzepts. Das Beleuchtungskonzept nutzt die Transluzenz des Werkstoffs und lässt das Kunststoff-Faltwerk bei Nacht zu einer überwältigenden Erscheinung werden. Die Ganz-Kunststoffkonstruktion ist ein Prototyp für selbsttragende Gebäudehüllen aus Kunststoff. Sie leistet einen besonderen Beitrag zur Weiterentwicklung des werkstoffgerechten Bauens mit Kunststoffen und soll das Potential des Werkstoffes für zukünftige architektonische und ingenieurtechnische Anwendungen aufzeigen. 6. AKA-Wippe Für den Campus-Außenbereich hat die Klasse für Konstruktives Entwerfen und Tragwerkslehre der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart die AKA-Wippe, ein Faltwerk, bewegliches Freiraummöbel und Leichtbau-Forschungsprojekt in einem, entwickelt und gebaut (Abb. 6). Das experimentelle Möbelobjekt kombiniert die Werkstoffe Holz und Kunststoff funktional sinnvoll zu einer leistungsfähigen und innovativen Verbundkonstruktion. In statisch-konstruktiver Hinsicht bildet das Möbel ein ungewöhnliches Hybrid-Tragwerk aus Holz und Kunststoff mit komplexer Geometrie. Funktional hat das Objekt eine Doppelfunktion als Sitzmöbel und Wippe. Abb. 6: AKA-Wippe, Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart In der Längsansicht ist das Sitzmöbel mit Grundrissabmessungen von 2.40 x 7.00 m unterseitig und oberseitig linsenförmig gekrümmt. Die unterseitige Krümmung ermöglicht es, mit dem Sitzmöbel Wippbewegungen durchzuführen (Abb. 7). Innen liegend verfügt das Objekt über einen in mehreren Stufen abgetreppten Sitzbeziehungsweise Liegebereich. Abb. 7: Freiraummöbel und Leichtbau-Forschungsprojekt Der untere Teil des Sitzmöbels ist aus architektonischen und baukonstruktiven Gründen in Holzbauweise gebaut. Die Bearbeitbarkeit und Beanspruchbarkeit des Werkstoffes in Verbindung mit seinen Oberflächeneigenschaften erwiesen sich als ideale Voraussetzungen für den im Gebrauch hochbeanspruchten Unterbau. Der obere Teil besteht aus einer einfach gekrümmten Kunststoff-Überdachung, die einen hinreichenden Witterungsschutz für die Sitzflächen und den witterungsempfindlichen Holzbau gewährleistet. Sie ist als ein Kunststoff-Faltwerk mit einer Fischgrätfaltung aus GFK-Sandwichelementen mit extrem geringem Eigengewicht gebaut (Abb. 8). Der Krümmungsradius der Überdachung beträgt ca. 6 m. Sie ermöglicht im Vergleich mit der verbreiteten Rautenfaltung bei vorgegebener Krümmung eine in statischer Hinsicht vorteilhafte größere Höhe der Faltung. In fertigungstechnischer Hinsicht vorteilhaft ist die im Vergleich mit anderen Faltmustern geringere Anzahl von aneinanderstoßenden Flächen in den Scheitelpunkten. Die Geometrie des Faltwerks sowie die Größe der Einzelplatten sind vor Fertigungsbeginn in einer Weise optimiert worden, dass der Verschnitt minimiert werden konnte. 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 47 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Abb. 8: Explosionszeichnung AKA-Wippe Dachaufsicht Die Überdachung ist in der Tragwirkung einem Bogensegment vergleichbar, dessen Tragfähigkeit gegenüber den auch bei normalkraftbeanspruchten Tragwerken - beispielsweise bei halbseitiger Schneelast - unvermeidbaren Biegebeanspruchungen durch die Faltung in erheblichem Umfang erhöht ist. Die Faltung vergrößert also die statische Nutzhöhe und die Steifigkeit der Konstruktion. Die Auflagerkräfte der Kunststoff-Überdachung werden vom Holz-Unterbau aufgenommen beziehungsweise kurzgeschlossen. Die Kunststoff-Überdachung besteht aus industriell vorgefertigten 26 mm dicken Sandwichplatten mit Schaumkern. Die Deckschichten bestehen aus 1.5 mm dünnem GFK mit einer Faserverstärkung aus Textilglasmatten. Die 23 mm dicke PUR-Kernschicht mit einer Dichte von 40 kg/ m³ sorgt für das geringe Flächengewicht der Platten von nur 4.5 kg/ m². Die Überdachung mit einer Gesamtfläche von 20.2 m² ist in Längsrichtung mit einem konstanten Radius gekrümmt und hat einen Stich von 1.48 m. Das Kunststoff-Faltwerk besteht aus sechs gefalteten Einzelstreifen, die paarweise gespiegelt angeordnet sind. Die Einzelplatten haben - mit Ausnahme der Platten an den Bogenenden - infolge des Umstandes, dass der Krümmungsradius konstant ist, im Grobzuschnitt gleiche Abmessungen. Unter Berücksichtigung der Spiegelachse mussten lediglich die Gehrungswinkel der Plattenränder entsprechend gespiegelt zugeschnitten werden. Die Gesamtlänge der Fügekanten des Kunststoff-Faltwerks betrug 77 m. Für die kraftschlüssige Verbindung der Einzelflächen des Kunststoff-Faltwerks wurde eine neue Fügetechnologie entwickelt, denn ein direktes Verkleben der Schnittkanten mit offenem Schaumkern ist nicht möglich. Sie besteht in der stumpfen Verklebung von Fichtenleisten, die umlaufend in die Einzelteile des Faltwerks eingeleimt und kraftschlüssig mit den GFK- Deckschichten verbunden sind. Der Vorteil von Holzleisten liegt in dem Umstand, dass der Gehrungsschnitt nach dem Einkleben erfolgen kann. Für die Verklebung der Einzelplatten wurde der Klebstoff Weicon Flex 310 M Classic gewählt, der Klebespalten bis zu 5 mm überbrücken und gleichzeitig die Fugenabdichtung bilden kann. Der vor allem auch durch das Wippen hochbelastete Holzunterbau besteht aus einer leistungsfähigen, in Längsrichtung angeordneten, Holz-Rippenkonstruktion. Die vier Spanten geben die Querschnittsform des Unterbaus vor und sind seitlich über in Querrichtung eingefügte Stege stabilisiert, dies insbesondere auch im Hinblick auf Montagezustände. Sie bestehen aus jeweils drei 15 mm dicken, wetterfest verleimten OSB-Platten und besitzen eine Gesamtstärke von 45 mm. Eine untere und eine obere Beplankung aus Holzwerkstoffplatten ergänzt die Einzelteile zu einem tragfähigen Unterbau. Für die Beplankung sind ebenfalls 15 mm dicke OSB-Platten verwendet worden, die unmittelbar auf die Spanten geschraubt sind. In den Auflagerbereichen führt die Faltung des Daches zu einem in entsprechender Weise gezackten Randabschluss des hölzernen Unterbaus. Die Verbindung zwischen Sitzmöbel und Kunststoff-Dach erfolgt über ein mehrfach gekantetes 4 mm dünnes Edelstahl-Blech, das dem geometrisch komplexen Randverlauf angepasst und mit der hölzernen Spantenkonstruktion verschraubt ist. Die äußeren Flansche der Bleche bilden gleichzeitig die Auflager für die Sandwichplatten. Diese sind zur Aufnahme der Windsogbeanspruchungen mit dem Holz verklebt und verschraubt. Die Realisierung der AKA-Wippe erfolgte mit einem studentischen Team in Eigenleistung in den Werkstätten der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Die AKA-Wippe ist ein Prototyp für selbsttragende Gebäudehüllen aus Kunststoff in Ultra-Leichtbauweise. 7. Beton-Faltwerk Neue Mitte Gaiberg Für die Neugestaltung der neuen Mitte Gaiberg wurde der Sonderfall einer einseitigen Faltung konzipiert und baulich realisiert. Neben dem wegen des geneigten Geländes anspruchsvollen städtebaulichen Eingriffs mit seinen Freianlagen und Aufenthaltsflächen bildete ein eingeschossiger Neubau mit Gastronomie-Nutzung den Schwerpunkt der Baumaßnahme. Der kleine Neubau mit Grundrissabmessungen von ca. 8,7 m x 17,7 m beherbergt Gastronomie und Weinhandel. Vom umliegenden höheren Niveau der Ortschaft aus ist die Deckenkonstruktion des Neubaus von der Hauptstraße aus befahrbar und dient als Stellplatzfläche. Die Stahlbeton-Konstruktion des Neubaus wird im Gebäudeinneren als Sichtbeton-Konstruktion erlebbar (Abb. 9). 48 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht Abb. 9: Beton-Faltwerk Neue Mitte Gaiberg (Objektplanung: Ecker Architekten, Tragwerksplanung: Engelsmann Peters GmbH) Der unbestrittene Blickfang des Neubaus sind eine gefaltete Deckenuntersicht und eine ebenfalls gefaltete Wandansicht in Sichtbetonbauweise (Abb. 10). Die beiden Faltungen stehen in einem unmittelbaren geometrischen Zusammenhang: die Faltung der Decke findet ihre logische geometrische Fortsetzung in der südwestlichen Wandebene. Das geometrische Grundmuster der gefalteten Tragstruktur ist eine Längsfaltung mit dreieckigen Einzelflächen. Abb. 10: Innenräumlich plastisch erlebbare Faltung Aus Gründen der Bauwerksentwässerung besitzt die Längsfaltung der Decke eine leichte Neigung in Richtung Gebäuderückseite. Statisch-konstruktiv stellt die nur innenräumlich ausgebildete und erlebbare Faltung eine hinreichende Konstruktionshöhe zur Verfügung. Nach oben gestattete die Nutzung der Gebäudedecke als Stellplatzfläche keine Ausbildung und Erlebbarkeit einer Faltung. Die Deckenkonstruktion spannt einachsig in Gebäudequerrichtung und kragt über der nordöstlichen Fassadenebene aus. Die Bauhöhen der Deckenkonstruktion bewegen sich zwischen 26 und 46 cm, die Stärke der Wandkonstruktion zwischen 30 und maximal 50 cm. Im Bereich der Sichtbeton-Faltung wurden erhöhte Anforderungen an die Rissbreitenbeschränkung berücksichtigt. Architektonisch ermöglicht die Faltung dem Nutzer von innen und außen ein außergewöhnliches, beinahe plastisches Raumerlebnis. Im Bereich der Glas-Fassade werden die Auflagerkräfte der Deckenkonstruktion in Deckenspannrichtung durch in Fassadenrichtung verlaufende Unterbzw. Überzüge aufgenommen. Die an zwei Seiten verlaufenden Dachrandelemente in Form von Stahlbetonüberzügen haben absturzsichernde Funktion für den oben liegenden Stellplatzbereich. Die Schalung der Sichtbetonwand- und Dachkonstruktion ist vom Schreiner auf Grundlage einer sorgfältigen Schal- und Bewehrungsplanung mit höchster Präzision gefertigt worden (Abb. 11). Die anspruchsvolle Bewehrungsführung ist vollumfänglich dreidimensional konzipiert. Abb. 11: Schalung und Bewehrung in qualitätvoller handwerklicher Ausführung Innenarchitektonisch ist die Beleuchtung flächenbündig in die Sichtbetonkonstruktion integriert worden. Sanitärräume, Lager und Haustechnik verschwinden hinter Holzwänden, die gefaltete Betonplastik kann ihre Wirkung frei entfalten, sie wird auf diese Weise zum raum- und gestaltprägenden Element. Die großzügig verglasten Fassadenbereiche auf zwei Seiten ermöglichen Sichtbezüge in Richtung Platz und Terrassen. Die plastisch erlebbare Faltung der Betonkonstruktion leistet einen Beitrag dazu, dass Gaiberg einen qualitativ hochwertigen, öffentlichen urbanen Aufenthaltsraum bekommen hat, der als eine soziale Mitte funktioniert und auch für Veranstaltungen genutzt werden kann. Das Projekt Neue Ortsmitte Gaiberg erhielt eine Hugo-Häring-Auszeichnung vom BDA Baden-Württemberg. 8. Schlußbemerkung Faltwerke ermöglichen es bei richtiger geometrischer Ausbildung, komplexe Räume, ausdrucksstarke Formen und selbstragende Gebäudehüllen mit einem vergleichsweisen geringen Materialeinsatz zu realisieren. Sie sind grundsätzlich in unterschiedlichen Materialitäten denkbar. Experimentelle Prototypen haben neue Entwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf Geometrie, Materialität und Fügetechnik aufgezeigt. Für die Zukunft in Reichweite gerückt ist auch die Entwicklung einer kontinuierlichen digitalen Prozesskette, die von der parametrischen Erzeugung der Geometrie über die Bemessung mit Finite-Elemente-Programmen bis zur Fertigung reicht. Neben den klassischen Faltwerken existieren Sonderformen, beispielsweise hybride Tragwerke, die im Hinblick 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 49 Experimentelle Faltwerk-Strukturen - von modular bis ultraleicht auf Geometrie und Tragverhalten Merkmale sowohl von Schalen als auch von Faltwerken aufweisen. Einen sehr anspruchsvollen und noch wenig erforschten Sonderfall bilden Faltwerke, die aus gekrümmten Teilflächen bestehen (curved folding). Das Potential des geistreichen und materialsparenden Konstruktionsprinzips der Faltwerke und seine architektonischen Spielräume sind noch nicht ausgeschöpft. Literatur [1] Stephan Engelsmann, Stefan Peters: Sichtbeton- Faltungen für eine neue Ortsmitte. ingbw aktuell 09/ 2023, S. 4-5. [2] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding: Der geistreiche Trick des Faltens: ein leistungsfähiges Konstruktionsprinzip. Detail structure 02/ 2017, S. 4-10. [3] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding, Stefan Peters: Kunststoffe in Architektur und Konstruktion. Birkhäuser, Basel Boston Berlin, 2010. [4] Stephan Engelsmann, Valerie Spalding: Ein prototypisches Kunststoff-Faltwerk mit neuartiger Fügetechnologie. Stahlbau 78, 2009, Heft 4, S. 227-31. [5] Stephan Engelsmann, Valerie: Freiraummöbel und Hybridtragwerk mit Erlebnisfaktor. Bauen mit Holz 5.2013, S. 26-29. Bildnachweis Abb. 1: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 2: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 3: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 4: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 5: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 6: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 7: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 8: © Staatliche Akademie der Bildenden Künste Abb. 9: © Brigida Gonzaléz Abb. 10: © Brigida Gonzaléz Abb. 11: © Ecker Architekten