Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau
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Alte und neue deutsche Erdbebennorm – DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko
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Marius Pinkawa
Derzeit konkurrieren die alte deutsche Erdbebennorm DIN 4149 und die neue Norm DIN EN 1998 (Eurocode 8) um den Platz der anzuwendenden Erdbebennorm für Bauvorhaben in deutschen Erdbebengebieten. Obwohl die DIN 4149 veraltet und vom Normgeber bereits zurückgezogen ist, wird sie von der Bauaufsicht weiterhin eingefordert. Demgegenüber gilt die DIN EN 1998 als Stand der Technik und ist aktuelle Norm. Unabhängig von bauordnungsrechtlichen Vorgaben sind aus privatrechtlicher Sicht die ‚allgemein anerkannten Regeln der Technik‘ im Sinne der Mangelfreiheit einzuhalten - und zwar zum Zeitpunkt der Bauabnahme. Damit ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen bauaufsichtlich und privatrechtlich erforderlichem Erdbebenstandard. Dieser Beitrag zeigt wesentliche Unterschiede zwischen der alten und der neuen deutschen Erdbebennorm auf. Es wird auf die Problematik bei alleiniger Anwendung der DIN 4149 eingegangen und diesbezüglich eine Empfehlung für die Vorgehensweise bei aktuellen Erdbebenprojekten gegeben.
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2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 121 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Dipl.-Ing. Marius Pinkawa Ingenieurbüro Pinkawa - erdbebeningenieur.de, Aachen Zusammenfassung Derzeit konkurrieren die alte deutsche Erdbebennorm DIN 4149 und die neue Norm DIN EN 1998 (Eurocode-8) um den Platz der anzuwendenden Erdbebennorm für Bauvorhaben in deutschen Erdbebengebieten. Obwohl die DIN 4149 veraltet und vom Normgeber bereits zurückgezogen ist, wird sie von der Bauaufsicht weiterhin eingefordert. Demgegenüber gilt die DIN EN 1998 als Stand der Technik und ist aktuelle Norm. Unabhängig von bauordnungsrechtlichen Vorgaben sind aus privatrechtlicher Sicht die ‚allgemein anerkannten Regeln der Technik‘ im Sinne der Mangelfreiheit einzuhalten - und zwar zum Zeitpunkt der Bauabnahme. Damit ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen bauaufsichtlich und privatrechtlich erforderlichem Erdbebenstandard. Dieser Beitrag zeigt wesentliche Unterschiede zwischen der alten und der neuen deutschen Erdbebennorm auf. Es wird auf die Problematik bei alleiniger Anwendung der DIN 4149 eingegangen und diesbezüglich eine Empfehlung für die Vorgehensweise bei aktuellen Erdbebenprojekten gegeben. 1. Einleitung Deutschland ist im Vergleich zu Starkbebenländern wie Italien, Griechenland oder der Türkei von schwachen bis moderaten Erdbebenereignissen geprägt. Dennoch muss in deutschen Erdbebengebieten ein Erdbebennachweis geführt werden. Der Lastfall Erdbeben reiht sich dabei in die typischen Lastfälle wie Gravitation, Wind oder Schnee ein. Die anzusetzenden Erdbebenlasten, Berechnungs- und Nachweisverfahren sind dabei der nationalen Erdbebennorm zu entnehmen. In der deutschen Erdbebennormung herrscht jedoch seit längerer Zeit eine unbefriedigende Situation: Auf der einen Seite steht die veraltete und zurückgezogene Erdbebennorm DIN 4149: 2005-04 [1]. Und auf der anderen Seite steht die aktuelle Erdbebennorm DIN EN 1998, die zwar als Stand der Technik gilt, aber bauaufsichtlich nicht eingeführt ist. In den Verwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen der jeweiligen Bundesländer ist weiterhin die DIN 4149 gelistet. Somit ist die alte Norm bauordnungsrechtlich maßgebend und wird von der Bauaufsicht für die Genehmigungsfähigkeit gefordert. Die Situation in der deutschen Erdbebenbemessungspraxis ist im Hinblick auf einen möglichen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik problematisch: Soll die veraltete, womöglich nicht mehr korrekte und nicht mehr einer allgemein anerkannten Regel der Technik entsprechende DIN 4149 allein angewendet werden? Oder soll die neue, vielleicht noch nicht allgemein anerkannte DIN EN 1998 berücksichtigt werden? Aktuell lässt sich nicht eindeutig feststellen, welche der beiden Normen der allgemein anerkannten Regel der Technik in Bezug auf die Erdbebenbemessung entspricht. Der Autor dieses Beitrags vertritt die Meinung, dass es die DIN EN 1998 sein muss. Im Verlaufe des Beitrages soll deutlich werden, weshalb. Bis zur Aufnahme der DIN EN 1998 in die Liste der technischen Baubestimmungen befinden sich in Erdbebengebieten planende Ingenieure während der Übergangsphase in einer rechtlichen Grauzone. Die Übergangsphase besteht, weil die DIN 4149 durch die Norm DIN EN 1998 bauaufsichtlich ersetzt werden soll. Oder vielmehr durch das Normenwerk des Eurocode 8, denn damit sind folgende Dokumente gemeint: Teil 1 der DIN EN 1998, der das Basisdokument DIN EN 1998-1: 2010-12 [2] inklusive A1-Änderung DIN EN 1998-1/ A1: 2013-05 [3] sowie den nationalen Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 [4] umfasst. Der Teil 1 des Eurocode 8 behandelt den Hochbau und definiert unter anderem die Erdbebenbeanspruchung, erdbebengerechte Entwurfsprinzipien, Berechnungsverfahren, erforderliche Erdbebennachweise und bauartspezifische Anforderungen insbesondere konstruktiver Art. Hinzu kommt Teil 5 der DIN EN 1998, der sich mit der Geotechnik beschäftigt. Ein Themenfeld, das gegenüber der DIN 4149 nun in ein separates Dokument ausgegliedert ist. DIN EN 1998 Teil 5 besteht wiederum aus einem Basisdokument, der DIN EN 1998-5: 2010-12 [5] und dem nationalen Anhang DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 [6]. Die DIN 4149 soll also durch diese insgesamt fünf Dokumente ersetzt werden. Bis dahin stellt sich in der deutschen Erdbebenbemessungspraxis die Frage, welche Erdbebennorm bei aktuellen Bauvorhaben anzuwenden ist. Die DIN 4109: 2005-04 ist bauordnungsrechtliche Pflicht, solange die Bauaufsichtsbehörde keine Abweichung gewährt. Somit stellt sich vielmehr die Frage, ob das Einhalten bauaufsichtlicher Anforderungen allein ausreichend ist. Dieser Fragestellung wird in Abschnitt 4 und 5 dieses Beitrages nachgegangen. Zuvor werden in Abschnitt 3 die dafür relevanten Begrifflichkeiten der verschiedenen Technikstandards erläutert: ‚Allgemein anerkannte Regel der 122 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Technik‘, ‚Stand der Technik‘ und ‚Stand von Wissenschaft und Technik‘. Um die Tragweite der Entscheidung „DIN 4149 oder DIN EN 1998? “ abschätzen zu können, wird im folgenden Abschnitt 2 zunächst auf einige wesentliche Unterschiede zwischen der DIN 4149 und der DIN EN 1998 eingegangen. 2. Unterschiede DIN 4149 versus DIN EN 1998 2.1 Erdbebengefährdungskarte Der wesentlichste Unterschied der DIN- EN- 1998 zur DIN- 4149 ist unbestritten die neue Erdbebengefährdungskarte, die die bisherige Erdbebenzonenkarte der DIN-4149 ablöst (siehe Abb. 1). In einer normativen Erdbebengefährdungskarte findet sich eine ingenieurseismologische Kenngröße in Form einer Beschleunigung wieder. Diese Beschleunigung kann für die Bauwerksauslegung verwendet werden, denn die Erdbebenkraft entspricht dem Prinzip „Kraft gleich Masse mal Beschleunigung“. Während in der DIN 4149 die ingenieurseismologische Kenngröße der Bodenbeschleunigung a g entspricht, wird in der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 der Plateauwert des Antwortspektrums S aP,R wiedergegeben. Dieser Wert kann durch Division mit 2,5 in den Referenzwert der Spitzenbodenbeschleunigung a gR umgerechnet werden, der direkt mit dem a g -Wert der DIN 4149 vergleichbar ist. Auf den grundlegenden Unterschied - Einhängewert versus Plateauwert des Antwortspektrums - ist beim Vergleich der beiden Erdbebenkarten zu achten. Abb. 1: Erdbebenkarten: Alte Erdbebenzonenkarte links (DIN 4149: 2005-04 und DIN EN 1998-1/ NA: 2011-01) und neue Erdbebengefährdungskarte rechts (DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 und DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) Die neue Erdbebengefährdungskarte der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11, die bereits in der DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07 veröffentlicht wurde, steht als digitaler Datensatz zur Verfügung (jeweils Anhang NA.I). Anhand der Standortkoordinaten kann die Erdbebengefährdung somit in Form des S aP,R -Wertes standortgenau interpoliert werden. Die Datenpunkte werden hierfür in einem Rasternetz von etwa sieben Kilometern in West-Ost- und elf Kilometern in Nord-Süd- Ausrichtung angegeben. In der DIN 4149 waren dagegen Erdbebenzonen definiert, die innerhalb der Verwaltungseinheit einer Gemarkung konstant waren und künstliche Sprünge an den Gemarkungsgrenzen verursachten. Die Beschleunigungen, die in den Erdbebenkarten der beiden Normen enthalten sind, sind in Tab. 1 wiedergegeben. Es ist ersichtlich, dass sich die Maximalbeschleunigung von ehemals 0,8-m/ s 2 auf nun 1,56 m/ s 2 nahezu verdoppelt hat. Vielerorts haben sich die anzusetzenden Beschleunigungen teils drastisch erhöht, doch auch Verringerungen sind vorhanden. Auch die Umrisslinien der erdbebengefährdeten Regionen werden nun etwas anders eingeschätzt. Tab. 1: Vergleich der Bodenbeschleunigung auf Fels DIN 4149: 2005-04 DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 Erdbebenzone ag [m/ s 2 ] S aP,R [m/ s 2 ] agR [m/ s 2 ] 0 0 1 0,4 0 bis 3,9 0 bis 1,56 2 0,6 3 0,8 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 123 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko 2.2 Karte der geologischen Untergrundklassen Da sich die erdbebengefährdeten Regionen in der neuen Erdbebengefährdungskarte im Ausmaß und in der Form gegenüber der alten Erdbebenzonenkarte verändert haben, war es sinnvoll, auch die Karte der geologischen Untergrundklassen neu zu erstellen. In diesem Zuge wurden die geologischen Untergrundklassen neu evaluiert (siehe [7] und Abb. 2). Die Karte ist nun wesentlich feiner aufgelöst, sodass Untergrundklassen in einem Rasternetz von 1 km × 1 km vorliegen. Ebenso wie bei der Erdbebengefährdungskarte ist somit keine künstliche Abhängigkeit von Gemarkungsgrenzen mehr gegeben, sondern eine standortgenaue Bestimmung möglich. Die Karte ist als digitaler Datensatz im Anhang NA.K der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 enthalten. Auf Änderungen bezüglich der Untergrundverhältnisse wird im nächsten Unterabschnitt eingegangen. Abb. 2: Karten der geologischen Untergrundklasse: Alte Karte links (DIN 4149: 2005-04 bis DIN EN 1998-1/ NA: 2021-07) und neue Karte rechts (seit DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) 2.3 Standorteffekte Die in den Erdbebenkarten wiedergegebenen Beschleunigungen sind auf felsigen Untergrund bezogen. Die tatsächlichen Untergrundverhältnisse am Standort können davon deutlich abweichen. Die Untergrundverhältnisse haben einen starken Einfluss auf die für die Erdbebenauslegung anzusetzende Beschleunigung, da sie die Stärke der Erdbebenwellen, die Dauer von Bodenwellen und den Frequenzgehalt beeinflussen. Diese sogenannten Standorteffekte werden dadurch berücksichtigt, dass die Beschleunigung aus der Erdbebengefährdungskarte (siehe Abb. 1 und Tab. 1) mit dem Untergrundparameter S (DIN 4149: 2005-04) bzw. dem Bodenparameter S (DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11) modifiziert wird. Der Parameter S ist dabei vom Baugrund und vom geologischen Untergrund abhängig. Beide Aspekte definieren in Kombination das Untergrundverhältnis. Der Baugrund bezeichnet die oberen Schichten, während der geologische Untergrund die darunter liegenden Schichten bis zu einer Tiefe von einigen hundert Metern bezeichnet. Die Grenze zwischen Baugrund und geologischem Untergrund ist nach DIN 4149: 2005-04 bei 20-m definiert, während sie nach DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 bei 30-m festgelegt ist. Baugrund und geologischer Untergrund werden jeweils in drei Klassen eingeteilt: Die Baugrundklassen A, B und C sowie die geologischen Untergrundklassen R, S, T. Während die Baugrundklasse lokal im Rahmen eines Baugrundgutachtens bestimmt werden muss, kann die geologische Untergrundklasse einer Deutschlandkarte entnommen werden (siehe Unterabschnitt 2.2 und Abb. 2). Aus der Kombination von Baugrundklasse und geologischer Untergrundklasse ergibt sich der Parameter S. Gegenüber der DIN 4149 haben sich zwei maßgebende Änderungen ergeben: Zum einen haben sich die Werte teils stark geändert. Zum anderen hängt der Untergrundparameter nun von der am Standort zu erwartenden Beschleunigungsamplitude ab. Bei höheren Beschleunigungswerten S aP,R kann ein kleinerer Untergrundparameter S angesetzt werden, da der Boden bei größeren Erdbebenereignissen mehr Energie dissipiert. Dieser günstige Effekt, der bisher in der DIN 4149 nicht berücksichtigt wurde, wird nun in der DIN EN 1998 abgebildet, um Konservativitäten zu reduzieren und somit den erhöhten Beschleunigungen entgegen zu wirken. 124 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko Tab. 2 und Abb. 3 zeigen einen Vergleich des Parameters S zwischen der DIN 4149: 2005-04 und der DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11. Die Werte haben teils deutlich zugenommen, teilweise aber auch moderat abgenommen. Insbesondere die Erhöhung des Parameters S für das Untergrundverhältnis C-S von 0,75 auf 0,95 bis 1,30 ist bemerkenswert. Der ehemals sehr niedrige Wert wird aus heutiger Sicht nicht mehr als vertretbar erachtet, sodass man von einer Fehlerkorrektur sprechen kann (siehe z. B. [8]). Der mit zunehmender Beschleunigung S aP,R abnehmende Bodenparameter S kann die gegenüber der DIN 4149 vielerorts erhöhten Bodenbeschleunigungen abmildern, indem nicht zusätzlich noch mit einem konservativen Bodenparameter multipliziert werden muss. Tab. 2: Vergleich des Parameters S für verschiedene Untergrundverhältnisse Untergrund DIN 4149: 2005-04 DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 S aP,R ≤ 1,0 S aP,R > 1,0 S aP,R ≤ 2,0 S aP,R > 2,0 A-R 1,00 1,00 1,00 1,00 B-R 1,25 1,25 1,20 1,20 C-R 1,50 1,50 1,30 1,15 B-T 1,00 1,05 1,00 1,00 C-T 1,25 1,45 1,25 1,10 B-S - 1,30 1,15 0,95 C-S 0,75 1,30 1,15 0,95 Abb. 3: Vergleich Untergrundparameter S (DIN 4149) und Bodenparameter S (DIN EN 1998) für verschiedene Untergrundverhältnisse 2.4 Berechnungsverfahren Mit der DIN EN 1998 sind in Deutschland erstmals nichtlineare Berechnungsverfahren normativ geregelt. Nichtlinear bedeutet in diesem Zusammenhang die direkte Berücksichtigung inelastischen Materialverhaltens bei der Berechnung. Zu diesen Verfahren gehören die nichtlineare statische Berechnung (Pushover-Analyse) und die nichtlineare dynamische Zeitschrittberechnung. Diese fortgeschrittenen Berechnungsverfahren werden in der DIN 4149 nicht behandelt. Für die Pushover-Berechnung bietet der nationale Anhang DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 einen besonders einfachen Ansatz für den Nachweis der Erdbebensicherheit, die durch Gegenüberstellung der statisch nichtlinearen Berechnung (= Kapazität bzw. Widerstand) mit dem Antwortspektrum (= Bedarf bzw. Beanspruchung) erfolgt. Der Erdbebennachweis kann unter bestimmten Voraussetzungen durch den Vergleich mit Wind geführt werden. Sind die Windlasten höher als die Erdbebenersatzlasten, so wird die für Wind ausgelegte horizontale Aussteifung auch für Erdbeben als ausreichend angesehen. Ein genauerer Erdbebennachweis ist damit nicht erforderlich. Nach DIN EN 1998 ist nun ein deutlich günstigerer Windvergleich möglich, da die Erdbebenersatzkraft stark reduziert in Ansatz gebracht werden darf (Division durch den Verhaltensbeiwert q-=-1,5), statt wie bisher nach DIN 4149 voll angesetzt werden zu müssen (q = 1,0). Die Zulässigkeit des Erdbebennachweises durch Vergleich mit Wind ist mit der DIN EN 1998 jedoch teilweise etwas restriktiver geregelt. 2.5 Bauartspezifische und weitere Unterschiede Neben den zuvor genannten bauartübergreifenden Unterschieden haben sich auch einige Dinge je nach Bauart geändert, von denen hier nur einige beispielhaft wiedergegeben werden. Die DIN EN 1998 ist im Vergleich zur DIN 4149 deutlich umfangreicher. Statt bisher etwa 60 Seiten bestehen die fünf Normendokumente zusammen aus mehr als 300 Seiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Eurocode 8 als europäische Norm allen Bedingungen von niedriger bis sehr hoher Seismizität Rechnung tragen muss. Mit dem normativen Anhang NA.D „Vereinfachte Auslegungsregeln für einfache Bauten des üblichen Hochbaus“ stellt der nationale Anhang NA: 2023 jedoch einen unter bestimmten Randbedingungen anwendbaren, stark komprimierten Abschnitt zum Erdbebennachweis zur Verfügung. Bei Stahlbetonbauten ist in der DIN EN 1998 der aus der DIN 4149 bekannte Faktor von 1,2 zur Erhöhung der Erdbebenlasten für Stützen und Wände entfallen. Dieser war erforderlich, um in Erdbebenzonen 1 und 2 bei elastischer Auslegung auf einige Anforderungen an die Duktilität verzichten zu dürfen. Die Modellierung der Steifigkeiten von Betonbauten ist in den beiden Normen unterschiedlich geregelt. Statt ungerissenen Betons nach DIN 4149 ist nach DIN EN 1998 von gerissenem Beton auszugehen. Somit verringert sich die Steifigkeit, was aufgrund der Verschiebung im Antwortspektrum hin zu höheren Perioden in stark reduzierten Erdbebenlasten resultieren kann. Bei Mauerwerk wurden die Möglichkeiten für den konstruktiven Erdbebennachweis - also den Nachweis der Erdbebensicherheit ohne explizite Berechnung - deutlich erweitert. Der Nachweis erfolgt durch Vergleich der im Gebäude vorhandenen Wandschubfläche mit einer aus Tabellen zu entnehmenden Mindestwandschubfläche (siehe normativer Anhang NA.H zu Regeln für einfache Mauerwerksbauten). Der Nachweis kann mit den neuen Tabellen unter Berücksichtigung der Wandeinspannung günstiger ausfallen. Zudem ist die Nachweiszulässigkeit von ehemals 4 auf 5 Geschosse erhöht worden. Bezüglich Mauerwerks ist zudem der maximal ansetzbare Verhaltensbeiwert q heraufgesetzt worden. Somit 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 125 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko können die gegenüber der DIN 4149 meist erhöhten Beschleunigungen stärker abgemindert werden. Der in die DIN EN 1998-5 ausgegliederte Bereich der Geotechnik ist deutlich erweitert. Aufgrund der erhöhten Beschleunigungswerte ist nun auch ein Nachweis gegen Bodenverflüssigung möglich. Hierfür wird im nationalen Anhang DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 ein vereinfachtes Nachweisverfahren zur Verfügung gestellt (siehe Anhang NA.H „Vereinfachter Nachweis gegen Bodenverflüssigung“). Verbundbauten aus Stahl und Beton werden in der DIN EN 1998 nun mit einem eigenen Abschnitt bedacht. Ebenso widmet sich die DIN EN 1998 der Basisisolierung von Bauwerken nun auch mit einem eigenen Kapitel. Die bisher aufgeführten Beispiele stellen nur einen kleinen Überblick über die wesentlichen Neuerungen dar, zeigen aber, dass sie zu erheblichen Unterschieden zwischen der alten und der neuen Erdbebennorm führen können. Es wird zudem deutlich, dass die neue Erdbebennorm trotz vielerorts höherer Beschleunigungen durch einige Gegenmaßnahmen zu ähnlichen und sogar günstigeren Bemessungslasten bzw. Nachweisen führen kann. Einige Aspekte werden in der DIN EN 1998 zum ersten Mal behandelt, so dass nun eine gute Hilfestellung für diese Bereiche zur Verfügung steht. 3. Technikstandards Wie im vorherigen Abschnitt 2 dargestellt, können die Änderungen zwischen alter und neuer Erdbebennorm so bedeutend sein, dass abhängig von der verwendeten Norm sehr unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden. Umso wichtiger ist es, sich im Klaren darüber zu sein, welche Erdbebennorm zur Anwendung kommen sollte. Im nächsten Abschnitt 4 folgt eine Einschätzung und Empfehlung diesbezüglich. Als Vorbereitung darauf werden in diesem Abschnitt 3 die in der deutschen Rechtsprechung etablierten Technikstandards erläutert: ‚Allgemein anerkannte Regel der Technik‘, ‚Stand der Technik‘ und ‚Stand von Wissenschaft und Technik‘ (siehe Abb. 4). Näheres zum rechtlichen Sachverhalt von Technikstandards findet sich beispielsweise in [9] und [10]. Abschließend beschäftigt sich dieser Abschnitt mit der Fragestellung, welchem Technikstandard die DIN 4149 und die DIN EN 1998 zugeordnet werden können. Abb. 4: Die drei Technikstandards in der deutschen Rechtsprechung 3.1 Allgemein anerkannte Regeln der Technik Der Begriff ‚allgemein anerkannte Regeln der Technik‘, oder synonym auch ‚anerkannte Regeln der Technik‘ (siehe [10]), bezeichnet den Technikstandard, der in einem Werkvertrag nach BGB bzw. einem Vertrag nach VOB eingehalten werden muss: Mangelfreiheit erfordert die Einhaltung zumindest der allgemein anerkannten Regeln der Technik. Dabei muss eine allgemein anerkannte Regel der Technik drei wesentliche Kriterien erfüllen: 1. Theoretische Richtigkeit, 2. Bekanntheit in Fachkreisen und 3. Praxisbewährung. Entgegen einer weit verbreiteten Fehlannahme sind Normen nicht automatisch allgemein anerkannte Regeln der Technik. Jedoch tragen Sie eine Vermutung inne, diesen zu entsprechen. Dies bedeutet, dass in der Rechtsprechung häufig von einer „Unschuldsvermutung“ ausgegangen wird, so lange Normen eingehalten wurden. Bei einer Abweichung zu Normen muss hingegen nachgewiesen werden, dass es sich dennoch um eine allgemein anerkannte Regel der Technik handelte. Die Berücksichtigung aktueller Normen gibt also Rechtssicherheit. In der DIN 820 zur Normungsarbeit steht hierzu beispielsweise folgendes (siehe [11]): „Bei sicherheitstechnischen Festlegungen in DIN-Normen […] besteht eine konkrete Vermutung dafür, dass sie fachgerecht, d. h., dass sie anerkannte Regeln der Technik sind. […] Die Normen bilden einen Maßstab für einwandfreies technisches Verhalten; dieser Maßstab ist auch im Rahmen der Rechtsordnung von Bedeutung.“ Eine solche Sichtweise hat sich bereits vielfach in der deutschen Rechtsprechung realisiert. 3.2 Stand der Technik Laut DIN spiegeln aktuelle Normen den Stand der Technik wider. Aktuelle Normen sind also nicht per se anerkannte Regeln der Technik, sollen sich aber als solche etablieren. Sie müssen erst in der Praxis als solche angenommen werden. Den Stand der Technik macht aus, dass er neueste technische Entwicklungen berücksichtigt, eine allgemeine und weitläufige Anerkennung jedoch noch aussteht. Eine weitreichende Praxisanwendung muss somit noch nicht erfolgt sein, jedoch hat eine Praxiserprobung bereits stattgefunden und die Praxistauglichkeit wurde somit bewiesen. Der Stand der Technik ist im üblichen Hochbau anders als die anerkannten Regeln der Technik nicht generell gefordert. Aus beispielsweise Umweltschutzgesetzen oder der Störfallverordnung kann sich die Notwendigkeit zum Einhalten des Standes der Technik jedoch ergeben. 3.3 Stand von Wissenschaft und Technik Der Stand von Wissenschaft und Technik ist der innovativste Technikstandard. Er gibt den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand wieder. Zweifel über die praktische Anwendbarkeit hat er bereits überwunden und kritische Prüfungen überstanden. Die praktische Umsetz- 126 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko barkeit muss aber noch nicht in großem Umfang erprobt, sondern nur als theoretisch möglich prognostiziert sein. Der Stand von Wissenschaft und Technik gilt für hoch sicherheitsrelevante kritische Infrastrukturen wie z. B. Kernkraftwerke als Anforderung. Im üblichen Hochbau findet er in der Regel keine Anwendung. 3.4 Einordnung DIN 4149 und DIN EN 1998 Grundsätzlich sind für die Genehmigungsfähigkeit die bauaufsichtlich eingeführten Bestimmungen zu berücksichtigen, die in den Verwaltungsvorschriften Technische Baubestimmungen (VV-TB) des jeweiligen Bundeslandes aufgeführt sind. Für die Genehmigung des Bauvorhabens ist somit zunächst die DIN 4149 einzuhalten. Die Bauaufsicht kann auch einer Abweichung von den technischen Baubestimmungen zustimmen, so dass nach vorheriger Abstimmung die Anwendung der DIN EN 1998 möglich ist. Während die bauordnungsrechtlichen Anforderungen zum Zeitpunkt der Baugenehmigung relevant sind, muss in Hinsicht auf den zivilrechtlichen Bauwerkvertrag die Mangelfreiheit zum Zeitpunkt der Bauabnahme gegeben sein. Mangelfreiheit setzt die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik voraus. Dies gilt sowohl für einen Werkvertrag nach BGB (siehe §-633 BGB) als auch für einen VOB-Vertrag (siehe §-13 Nr. 1 VOB/ B). Für die zivilrechtliche Beurteilung der Mangelhaftigkeit ist es im Übrigen unerheblich, ob die Regel öffentlichrechtlich einzuhalten war oder nicht. Ein Mangel besteht zudem nicht nur dann, wenn ein Schaden bereits eingetreten ist. Ein Mangel liegt auch dann vor, wenn ein Schaden erst in der Zukunft zu erwarten ist (siehe [9]). Die DIN EN 1998 entspricht zweifelsohne dem Stand der Technik. Ob die DIN EN 1998 bereits jetzt auch als allgemein anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann, ist nicht eindeutig feststellbar. Im Streitfall werden Gerichte darüber entscheiden, wann die DIN EN 1998 zur allgemein anerkannten Regel der Technik geworden ist. Hierbei sei noch angemerkt, dass theoretisch nicht ein Regelwerk als Ganzes, sondern im konkreten Streitfall jede relevante Passage einzeln darauf hin überprüft werden müsste, ob sie jeweils einer allgemein anerkannten Regel der Technik entspricht (siehe [9]). Diese differenzierte Betrachtung obliegt den Gerichten und kann hier nicht im Detail verfolgt werden. Es stellt sich die Frage, was zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Planung oder der Bauabnahme anerkannte Regel der Technik sein wird. Aus Sicht des Autors dieses Beitrags ist die DIN EN 1998 schon heute anerkannte Regel der Technik. Einige Argumente dafür seien im Folgenden aufgeführt. Die DIN EN 1998 sowie die Problematik der veralteten DIN 4149 sollten jedem in der Erdbebenauslegung tätigen Ingenieur bekannt sein. Er muss sich ohnehin bezüglich der Normung auf dem aktuellen Stand halten und dabei auch zukünftige Änderungen im Blick behalten. Der Übergang der DIN 4149 zur DIN EN 1998 wird schon seit Jahren thematisiert. Eine Unbekanntheit der DIN EN 1998 und auch der aktuellen Problematik des zähen Normenübergangs ist damit ausgeschlossen. Die DIN EN 1998 ist in der Praxis seit langem weit verbreitet. So wird in Praxisseminaren und praxisbezogenen Fachbüchern schon seit Jahren die DIN EN 1998 behandelt. Die DIN 4149 wird hierbei meist nur noch für Vergleichszwecke herangezogen. Bautabellenklassiker wie die „Schneider-Bautabellen“ [12] richten sich zweifelsohne an die Baupraxis und verweisen schon lange nicht mehr auf die DIN 4149. Auch in den gängigen Statikprogrammen ist die DIN EN 1998 längst implementiert. Die Frage nach der allgemeinen Anerkennung ist nach [9] schwer zu beantworten. Umfragen unter Fachleuten sollten hier eine Antwort geben. Aus Umfragen des Verfassers in sozialen Netzwerken [13] mit bis zu 132 Teilnehmern geht hervor, dass die DIN EN 1998 bereits von bis zu 90 % der an der Umfrage teilnehmenden Statiker und Ingenieure in aktuellen Projekten angewendet wird. Wie aus Abb. 5 hervorgeht, nimmt der Anteil derjenigen, die ausschließlich die DIN 4149 anwenden, stetig ab: Von 26 % im Februar 2023 auf nur noch 9 % im April 2024. Ein großer Teil berücksichtigt aus den hier dargestellten Gründen beide Erdbebennormen. Auch wenn diese Umfragen nicht repräsentativ für die Vielzahl der in der Tragwerksplanung tätigen Ingenieure sind, so liefern sie doch ein belastbares Indiz dafür, dass die DIN EN 1998 längst in der Praxis angekommen ist und angewendet wird. Auch der zeitliche Trend ist eindeutig: Die DIN 4149 wird mehr und mehr von der DIN EN 1998 verdrängt. Abb. 5: Umfragen des Autors zur in der Praxis angewendeten Erdbebennorm im Verlaufe der Zeit von Februar 2023 bis April 2024. [13] Stellen wir uns nun die umgekehrte Frage: Kann die DIN 4149: 2005-04 in ihrer Gesamtheit noch als anerkannte Regel der Technik angesehen werden? Aus Sicht des Verfassers ist dies nicht mehr der Fall, denn eine anerkannte Regel der Technik muss als zwingende Grundvoraussetzung wissenschaftlich korrekt sein. Und einige Aspekte, wie die nachfolgend diskutierten, sind es eben nicht mehr. Das GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ), das für die Gefährdungsanalyse sowohl der alten als auch der neuen Erdbebengefährdungskarte verantwortlich ist, äußert sich zur alten Erdbebenzonenkarte der DIN 4149: 2005- 04 wie folgt: 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 127 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko „Die Berechnung der Erdbebengefährdung für die Erdbebenzonenkarte stammt von 1995 und wurde 1996 vom entsprechenden DIN-Normungsausschuss angenommen. Obwohl in einer nachfolgenden Erdbebengefährdungsanalyse von 1998 bestätigt, entspricht die Gefährdungsberechnung nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik.“ [14] Die der Erdbebenzonenkarte der DIN 4149 zugrundeliegende Gefährdungsberechnung aus den 90er Jahren entspricht somit nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik. Nun ist dieser Technikstandard der innovativste und im üblichen Hochbau nicht gefordert, was der Aussage etwas die Schärfe nimmt. Dennoch positionieren sich die Verantwortlichen für die Erdbebengefährdungskarten damit klar. Die drastische Korrektur des inzwischen als zu gering eingestuften Bodenparameters S für das Untergrundverhältnis C-S ist bereits oben angesprochen worden (siehe Tab. 2 und Abb. 3). Bei Anwendung der DIN 4149 bei einem solchen Untergrund wird somit ein inzwischen als falsch erkannter, zu kleiner Untergrundparameter S angesetzt. Die Korrektur des Bodenparameters S muss dem in Erdbebenprojekten tätigen Ingenieur aus der Fachliteratur oder aus dem Vergleich der neuen mit den alten Werten bekannt sein. Darüber hinaus wurde die DIN 4149: 2005-04 bereits vor längerer Zeit vom Normengeber zurückgezogen und ist somit als historische Norm anzusehen. Die Zurückziehung einer Norm erfolgt laut DIN unter anderem dann, wenn sie wissenschaftlich, technisch oder aus anderen Gründen nicht mehr vertretbar ist. Auch zum Zwecke der internationalen Harmonisierung - in diesem Fall der Ersatz der nationalen Erdbebennorm durch den europäischen Eurocode 8 - können Normen zurückgezogen werden. Die DIN EN 1998 gilt somit in Deutschland seitens des Normengebers als aktuelle Erdbebennorm und somit mindestens als Stand der Technik. Ein weiteres Problem - und damit ein Indiz dafür, dass die DIN 4149 nicht mehr allgemein anerkannte Regel der Technik ist - ergibt sich bei der Anwendung anderer aktueller Normen, die auf die DIN EN 1998 Bezug nehmen. So verweist die bauaufsichtlich eingeführte DIN EN 1992-4 [15] für die Erdbebenbemessung von Befestigungen in Beton auf die DIN EN 1998. Damit wird bauordnungsrechtlich einerseits direkt die DIN 4149 gefordert, andererseits indirekt die DIN EN 1998. Ein Widerspruch, der erst aufgelöst werden kann, wenn die DIN EN 1998 bauaufsichtlich eingeführt ist. 4. DIN 4149 oder DIN EN 1998? - Empfehlung für aktuelle und zukünftige Projekte Die bauordnungsrechtliche Verpflichtung zur Anwendung der DIN 4149 und die zivilrechtliche Anforderung zur Berücksichtigung der anerkannten Regeln der Technik führen zu einer rechtlich und praktisch komplizierten Situation. Es folgen Empfehlungen, wie aus Sicht des Autors in der Übergangszeit bis zur bauaufsichtlichen Einführung der DIN EN 1998 bei aktuellen und zukünftigen Projekten mit Erdbebenanforderungen zu verfahren ist. Zunächst gilt es, alle relevanten Entscheidungsträger der am Bau Beteiligten, insbesondere den Bauherren bzw. Auftraggeber, über die derzeit problematische Übergangsphase in der deutschen Erdbebenbemessung aufzuklären. Eine sinnvolle Aussage hierbei wäre, dass in Bezug auf die Erdbebennormung aktuell nicht zweifelsfrei festzustellen ist, was allgemein anerkannte Regel der Technik ist. Es sollte erwähnt werden, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die DIN EN 1998 bereits heute allgemein anerkannte Regel der Technik ist. Mit noch höherer Wahrscheinlichkeit wird sie dies zum Zeitpunkt der Fertigstellung sein. Im Hinblick auf die zivilrechtliche Fragestellung der Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik sollte der planende Ingenieur die DIN EN 1998 berücksichtigen, um Haftungsrisiken zu reduzieren. Da der Aspekt der Mangelfreiheit im Gegensatz zu den bauordnungsrechtlichen Anforderungen nicht zum Zeitpunkt der Genehmigung, sondern zum Zeitpunkt der Bauabnahme relevant ist, sind Änderungen der allgemein anerkannten Regeln der Technik während der Planungs- und Ausführungsphase im Auge zu behalten und dem Auftraggeber zu melden. Aus Sicht des Verfassers entspricht die DIN EN 1998 zwar bereits jetzt den allgemein anerkannten Regeln der Technik. Ein Zweifel hierüber wird aber umso geringer, je weiter die Bauabnahme oder Fertigstellung der Planung in der Zukunft liegt. Sollte die DIN EN 1998 zwischenzeitlich bauaufsichtlich eingeführt sein, erübrigt sich auch der letzte Restzweifel. Grundsätzlich kann der Auftraggeber auf die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik verzichten und somit unter diesen Mindestanforderungen zurückbleiben. Verlangt der Auftraggeber also beispielsweise aus Kostengründen die ausschließliche Berücksichtigung der DIN 4149, so ist dies durchaus möglich. Der Planer hat in einem solchen Fall die Pflicht, den Auftraggeber über die Folgen einer solchen Entscheidung umfassend aufzuklären. Der Auftraggeber muss in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung im Bewusstsein der Konsequenzen zu treffen. Je geringer die Sachkunde des Auftraggebers, desto höher sind die Anforderungen an die Aufklärung. Auf eine rechtssichere schriftliche Dokumentation ist dabei zu achten. Eine Enthaftung für mögliche Folgeschäden wäre ebenso möglich, in der Praxis jedoch schwierig zu erreichen. Eine anwaltliche Beratung ist anzuraten, um Haftungsrisiken zu minimieren. Von einer Mischung beider Normen ist abzuraten. In der Praxis ist häufig zu beobachten, dass die erhöhten Beschleunigungen der DIN EN 1998 angesetzt werden, der grundsätzliche Nachweis aber nach DIN 4149 erfolgt. Dabei werden die an vielen Stellen günstigen Gegenmaßnahmen im nationalen Anhang der DIN EN 1998, die bewusst zur Kompensation der erhöhten Beschleunigungen eingeführt wurden, nicht berücksichtigt. Insofern kann sich ein unnötig unwirtschaftliches Vorgehen ergeben. Ein Vergleich der beiden Normen sollte unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte erfolgen. Dies hat zur Folge, dass die Erdbebenbemessung, insbesondere bei duktiler Auslegung, parallel nach beiden Normen 128 2. Fachkongress Konstruktiver Ingenieurbau - Juni 2024 Alte und neue deutsche Erdbebennorm - DIN 4149 versus DIN EN 1998: Zwischen bauaufsichtlicher Erfordernis und privatrechtlichem Haftungsrisiko durchgeführt werden sollte, um die finalen Auswirkungen korrekt vergleichen zu können. 5. Zusammenfassung Die Unterschiede zwischen den beiden Erdbebennormen DIN 4149 und DIN EN 1998 können im Detail so groß sein, dass Sie zu erheblichen Unterschieden bei der Erdbebenauslegung führen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, bei aktuellen Bauvorhaben mit Erdbebenanforderungen die richtige Entscheidung über die anzuwendende Norm zu treffen. Die Ausführungen zu den allgemein anerkannten Regeln der Technik zeigen, dass aus zivilrechtlicher Sicht nicht nur die bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen zu beachten sind. Es wurde begründet, warum die DIN EN 1998 bereits als anerkannte Regel der Technik angesehen werden kann, die veraltete DIN 4149 aber eben nicht mehr. Es folgten Empfehlungen, was bei aktuellen Erdbebenprojekten bezüglich der bauordnungsrechtlich geforderten, aber veralteten Erdbebennorm DIN 4149 und der neuen, aktuellen Norm DIN EN 1998 zu beachten ist. Eine Berücksichtigung der DIN EN 1998 als mutmaßliche anerkannte Regel der Technik ist in aktuellen Projekten zwingend anzuraten. Die Frage nach der anzuwendenden Erdbebennorm in deutschen Erdbebengebieten erübrigt sich, sobald die DIN EN 1998 bauaufsichtlich eingeführt ist. Es bleibt zu hoffen, dass dies möglichst bald geschieht, um den unangenehmen Übergangszustand und die damit verbundene Rechtsunsicherheit endlich aufzulösen. Literatur [1] DIN 4149: 2005-04 - Bauten in deutschen Erdbebengebieten - Lastannahmen, Bemessung und Ausführung üblicher Hochbauten, 2005. [2] DIN EN 1998-1: 2010-12 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten, 2010. [3] DIN EN 1998-1/ A1: 2013-05 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten - Änderung A1, 2013. [4] DIN EN 1998-1/ NA: 2023-11 - Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 1: Grundlagen, Erdbebeneinwirkungen und Regeln für Hochbauten, 2023. [5] DIN EN 1998-5: 2010-12 - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 5: Gründungen, Stützbauwerke und geotechnische Aspekte, 2010. [6] DIN EN 1998-5/ NA: 2023-11 - Nationaler Anhang - National festgelegte Parameter - Eurocode 8: Auslegung von Bauwerken gegen Erdbeben - Teil 5: Gründungen, Stützbauwerke und geotechnische Aspekte, 2023. [7] BGR - Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Ausweisung der geologischen Untergrundklassen nach DIN EN 1998-1/ NA (Eurocode-8) auf der Basis von geologischen 3D-Modellen, Abschlussbericht, Hannover, Juli 2022. [8] E. Fehling, S. Schwarz, Nationales Anwendungsdokument zu EN 1998-1 - Meilensteine der Entwicklung, Bauingenieur, Band 94, April 2019. [9] Antje Boldt, Matthias Zöller, Anerkannte Regeln der Technik - Inhalt eines unbestimmten Rechtsbegriffs, Der Bausachverständige, Baurechtliche und -technische Themensammlung, Arbeitshefte für Baujuristen und Sachverständige, Heft 8, 2017. [10] Mark Seibel, Baumängel und anerkannte Regeln der Technik, Handbuch für Baujuristen, Verlag C.H. Beck, München, 2009. [11] DIN 820-1: 2022-12 - Normungsarbeit - Teil 1: Grundsätze, 2022. [12] Schneider - Bautabellen für Ingenieure, 26. Auflage, Andrej Albert (Herausgeber), Reguvis, Köln, 2024. [13] Umfrageergebnisse auf die Frage „Welche Erdbebennorm wenden Sie in Ihren aktuellen Projekten an? “, LinkedIn, https: / / www.linkedin.com/ in/ mariuspinkawa, 22.02.2024. [14] Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam, https: / / www.gfz-potsdam. de/ din4149_erdbebenzonenabfrage, Zugriff am 20.04.2024. [15] DIN EN 1992-4: 2019-04 - Eurocode 2: Bemessung und Konstruktion von Stahlbeton- und Spannbetontragwerken - Teil 4: Bemessung der Verankerung von Befestigungen in Beton, 2019.
