Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2010
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Gnutzmann Küster Schramm(Fortsetzung umseitig) Th e m e n s c hw erpunkt: G e s c hic ht e d e s Fre md s pra c h e nunt erric ht s V ORWORT : Zur Würdigung von Ekkehard Zöfgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 C LAUS G NUTZMANN , F RANK G. K ÖNIGS Von gestern - und doch für heute und morgen relevant. Anmerkungen zur Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und zu diesem Themenheft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 K ONRAD S CHRÖDER Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts . . . 13 H ERBERT C HRIST Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 F RIEDERIKE K LIPPEL Sprache, Literatur, Lehrerbildung: die Leistungen von Ludwig Herrig und Hermann Breymann im Prozess der Professionalisierung im 19. Jahrhundert . . 40 F ELICITAS S TREHLOW Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? . . . . . . . . . . . . . . . 53 M ARCUS R EINFRIED Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen. Muttersprachenbasierte Semantisierungstechniken in der Fremdsprachenvermittlung des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 S TEFAN E TTINGER Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray: Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande. Paris 1900 . . . . . 88 D ANIEL C OSTE Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 C LAUS G NUTZMANN , N ADINE S ALDEN Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts . . . . . . . . . . . . . . 116 39. Jahrgang (2010) Herausgegeben von Claus G NUTZMANN , Frank G. K ÖNIGS , Ekkehard Z ÖFGEN Koordination des Themenschwerpunktes Claus G NUTZMANN und Frank G. K ÖNIGS Internet: www.narr.de | < Z EITSCHRIFTEN | 39 (2010) F RANZ -J OSEPH M EI ß NER Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu . 132 S ABINE D OFF Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren: Stationen auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 F RANK G. K ÖNIGS Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? . . . . . . . . . . . . . . 160 Nic ht-th e m ati s c h er T e il S EBASTIAN S USTECK Schreiben zur Bildsequenz. Kreativität als Reproduktion von Topoi im (Fremd-)Sprachenunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Pro und Contra: Latein als Hilfe im modernen Fremdsprachenunterricht 190 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel Andrea D LASKA , Christian K REKELER : Sprachtests: Leistungsbeurteilungen im Fremdsprachenunterricht [...]. Baltmannsweiler: Schneider 2009 (R ÜDIGER G ROTJAHN ) . . . . 192 Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ : Fremdsprachliches Hörverstehen im Erwachsenenalter. [...] Poznań: Instytut Lingwistyki Stosowanej UAM 2009 (J ÜRGEN Q UETZ ) . . 195 Julija S CHELLER : Animationen in der Grammatikvermittlung. Multimedialer Spracherwerb [...] Münster: LIT 2008 (O LGA K AMAROUSKAYA ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Daniel R EIMANN : Italienischunterricht im 21. Jahrhundert. Aspekte der Fachdidaktik Italienisch. Stuttgart: ibidem 2009 (W OLFGANG T ÖNSHOFF ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Jan H OLLM (Hrsg.): Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Trier: WVT 2009 (G ABRIELE B LELL ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Marcus B ÄR : Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. [...] Tübingen: Narr 2009 (J ENNY J AKISCH ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Wolfgang H ALLET , Frank G. K ÖNIGS (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer 2010 (G ABRIELE B LELL ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Andreas G RÜNEWALD , Lutz K ÜSTER (Hrsg.): Fachdidaktik Spanisch [...]. Seelze- Velber: Klett | Kallmeyer 2010 (F RANK G. K ÖNIGS ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Wolfgang B UTZKAMM , John A. W. C ALDWELL : The Bilingual Reform. A Paradigm Shift in Foreign Language Teaching. Tübingen: Narr 2009 (C LAUS G NUTZMANN ) . . . . 216 Bernd T ESCH : Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. [...] Frankfurt/ M.: Lang 2010 (F RANZ -J OSEPH M EI ß NER ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Informationen C Vorschau auf 2011 225 39 (2010) V O R W O R T Zur Würdigung von Ekkehard Zöfgen Am 28. Januar 2010 feierte E KKEHARD Z ÖFGEN , Mitherausgeber und Mitbegründer dieser Zeitschrift, seinen 65. Geburtstag. Nach dem Studium der Romanistik und Sportwissenschaft und der zweiten Staatsprüfung arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent bei Hans-Wilhelm Klein an der RWTH Aachen. Dort promovierte er mit einer Arbeit zum Thema Strukturelle Sprachwissenschaft und Semantik. Sprach- und wissenschaftstheoretische Probleme strukturalistisch geprägter Bedeutungsforschung. 1975 wechselte er an die Universität Bielefeld und war dort am Sprachenzentrum als Akademischer Rat und Oberrat tätig, später als Professor an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. 1994 hatte er sich dort mit einer Monographie mit dem Titel Lernerwörterbücher in Theorie und Praxis. Ein Beitrag zur Metalexikographie mit besonderer Berücksichtigung des Französischen habilitiert. Wenig später erhielt er einen Ruf an die Universität Kiel, 1996 einen weiteren an die Universität Koblenz-Landau. Seine wissenschaftlichen Arbeiten decken ein breites Interessenspektrum ab und sind zum einen in der französischen Sprachwissenschaft, zum anderen in der Fachdidaktik Französisch angesiedelt, wobei es für ihn selbstverständlich war, die eine Disziplin für die jeweils andere nutzbar zu machen. Ablesbar ist dies an seinen zahlreichen Beiträgen zur Lernerlexikographie, die durch sein Bestreben gekennzeichnet sind, lexikalische und lexikographische Fragen immer auch aus Lernersicht zu behandeln. Dabei fanden und finden insbesondere Wörterbücher und Wörterbuchkonzeptionen seine besondere Aufmerksamkeit, mit denen er sich in zahlreichen Aufsätzen eingehender befasst hat. Aus der von ihm konsequent betriebenen Hinwendung zum (Französisch-)Lerner resultieren dabei auch Arbeiten zur Konzeption der Französischdidaktik im Besonderen und zur Fremdsprachendidaktik im Allgemeinen. Gerade hier wird sein Bestreben sichtbar, fremdsprachendidaktische Entwicklungen in ihrer Konzeption und in ihrer praktischen Ausgestaltung auch immer in ihrem historischen Kontext zu betrachten, und so verwundert es nicht, dass die Geschichte der Fremdsprachendidaktik zu seinen Arbeitsgebieten gehört. Neben der Publikationstätigkeit auf diesem Feld zählt dazu ebenso sein langjähriges aktives Engagement in der Société Internationale pour l’histoire du français langue étrangère ou seconde (SIHFLES). Seine Arbeiten zeichnen sich gleichermaßen durch stringente Argumentation und systematischen objektsprachlichen Datenbezug wie durch einen klaren Gedankengang und eine pointierte Darstellungsweise aus. Diese Fähigkeiten brachte er auch in seine Tätigkeiten als Herausgeber mit ein. Von 1986 an war er Mitherausgeber der Bielefelder Beiträge zur Sprachlehrforschung, und er war zusammen mit Gert Henrici maßgeblich daran beteiligt, dass aus diesem Publikationsorgan bereits ein Jahr später die Zeitschrift Fremdsprachen Lehren und Lernen wurde, deren Schriftleitung er bis heute innehat. Ekkehard Zöfgen scheidet mit Ablauf dieses Jahres auf eigenen Wunsch aus dem Herausgebergremium dieser Zeitschrift aus. Dieser Umstand, verbunden mit dem halb- 4 Vorwort 39 (2010) runden Geburtstag, ist willkommener Anlass für seine Mitherausgeber, Ekkehard Zöfgens Leistungen zu würdigen. Dabei konzentriert sich dieser Jahrgang der Zeitschrift auf ein von Ekkehard Zöfgen immer wieder bearbeitetes Themenfeld, nämlich die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachendidaktik. Er umfasst elf Beiträge, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Geschichte des Faches befassen. Mit großer Dankbarkeit für die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Mitherausgeber, Kollegen und Freund widmen wir diesen Band Ekkehard Zöfgen und wünschen ihm für den nun beginnenden neuen Lebensabschnitt, dass sich seine Wünsche für diese neue Phase erfüllen mögen. Vor allem wünschen wir ihm natürlich Gesundheit, die ihn in den vergangenen Jahren leider allzu oft im Stich gelassen hat. Gemeinsam mit Ekkehard Zöfgen haben wir personelle und konzeptionelle Veränderungen verabredet, die mit seinem Ausscheiden aus der Zeitschrift verbunden sind. Ab dem Jahrgang 2011 wird Fremdsprachen Lehren und Lernen zweimal jährlich erscheinen. Seinen Platz im Herausgeberteam wird Lutz Küster von der Humboldt-Universität einnehmen. Der wissenschaftliche Beirat der Zeitschrift wird sich neu zusammensetzen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Lutz Küster und dem neuen Beirat und werden gemeinsam dafür arbeiten, die Zeitschrift auch im Sinne Ekkehard Zöfgens weiterzuführen. Braunschweig/ Marburg, im Sommer 2010 C LAUS G NUTZMANN und F RANK G. K ÖNIGS * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Claus G NUTZMANN , Technische Universität Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: c.gnutzmann@tu-bs.de Arbeitsbereiche: Das Englische als Welt- und Wissenschaftssprache und seine Vermittlung, Englische Grammatik und ihre Didaktik, Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse, Fachsprachen. Prof. Dr. Frank G. K ÖNIGS , Philipps-Universität Marburg, Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Hans-Meerwein-Str., 35032 M ARBURG . E-Mail: koenigs@staff.uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Konzeptbildungen der Sprachlehrforschung, Psycholinguistik des Fremdsprachenlernens, Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung (insbesondere Deutsch als Fremdsprache und Romanische Sprachen), Übersetzungsdidaktik, Curriculumentwicklung, Lehrerbildung. 39 (2010) C LAUS G NUTZMANN , F RANK G. K ÖNIGS * Von gestern - und doch für heute und morgen relevant Anmerkungen zur Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und zu diesem Themenheft Mit der Geschichte eines Faches kann man sich unter unterschiedlichen Aspekten befassen: Man kann die Entwicklung zu einem spezifischen Zeitpunkt akribisch nachzeichnen, um diese Entwicklung im Rückblick nachzuvollziehen und besser verstehen zu können. Dabei gewinnt man - je nach Quellenlage - unterschiedlich tiefe Einblicke in das Denken und das Zustandekommen von Entscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es handelt sich also um einen Rückblick und um den Versuch, sich aus der Gegenwart in eine bestimmte Zeit zurückzuversetzen, um diese Zeit besser kennenzulernen und zu verstehen. Diese Form der Rekonstruktion liegt bei dem Rückgriff auf Primärquellen näher an den tatsächlichen Entwicklungen als bei Sekundär- oder Tertiärquellen, denn wie sich bisweilen zeigt, beinhalten die letztgenannten nicht selten Ungenauigkeiten oder sogar falsche Aussagen. Eine genaue Geschichtsschreibung lässt folglich den Blick in die Originale als unerlässlich erscheinen. In der Forschung mündet dies beinahe zwangsläufig in ein zuweilen akribisches Quellenstudium, dessen Ergebnisse im Übrigen nicht selten auch in einer eigenen Diskursart vermittelt werden: Texte zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts lesen sich von daher häufig anders als Arbeiten zu aktuellen Themen. Die Fremdsprachendidaktik kann auf eine Vielzahl von Arbeiten verweisen, in denen Forschungsetappen und wissenschaftlich anmutende Reflexionen über das Lehren und Lernen fremder Sprachen dokumentiert, nachgezeichnet und in ihrer Genese interpretiert werden. Beim oberflächlichen Betrachter kann dabei der Eindruck entstehen, dass es sich eher um punktuelle Erscheinungen und sporadische Sichtweisen handelt, die für das Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 6 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Verstehen einer bestimmten Epoche in der Fachgeschichte bedeutsam erscheinen mögen, wobei dieser Eindruck dann einher geht mit der Vermutung, dass es sich dabei um eine in sich zeitlich abgeschlossene und durch die Zeit überholte Entwicklung handelt. Diese Einschätzung kann jedoch mit mindestens zwei Begründungen zurückgewiesen werden: Historische Darstellungen zum Fremdsprachenlernen, die sich um eine epochenübergreifende Analyse bemühen, machen erstens deutlich, wie verwandt bisweilen ‚verstaubt‘ anmutende Positionen aus vorangehenden Jahrhunderten aktuellen Entwicklungen und Konzepten sind. Kenntnisse der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts können somit auch als Ideengeber und Motivator für seine Weiterentwicklung in der Gegenwart dienen. Solche Darstellungen sind z.B. - um nur einige exemplarisch zu nennen - von K ELLY (1969), C UQ (1991), G ERMAIN (1993), M ACHT (1986, 1987, 1990), P UREN (1988), H ÜL - LEN (2005) oder H OWATT / W IDDOWSON ( 2 2004) vorgelegt worden. Sie zeigen bis zum jeweiligen Erscheinungsdatum Entwicklungen auf und tragen dazu bei, aktuelle Tendenzen historisch zu verorten. Dabei zeigt sich, dass viele aktuell anmutende Konzepte bisweilen schon wesentlich früher auftauchen als gegenwärtig angenommen, freilich unter anderen Bezeichnungen und nicht unbedingt wissenschaftlich abgesichert, und auch keineswegs mit der heute üblichen Akribie begründet, erprobt und modifiziert. Daraus lässt sich zweitens ableiten, dass ein Blick in die Fachgeschichte nicht zwangsläufig ein Additum, sondern vielmehr ein genuiner Bestandteil des Faches selbst ist. Oder in den Worten von Werner H ÜLLEN (2005: 7): Kenntnisse zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts sind ein sinnvoller Beitrag zur Fremdsprachenlehrerausbildung [...]. Das berufliche Handeln in der Gegenwart gewinnt neue Vergleichs- und Beurteilungsmaßstäbe, wenn es wissentlich vor dem Hintergrund der Entwicklungen geschieht, die zu seinen Bedingungen und den Eigenarten seiner Praxis beigetragen haben. Der Fremdsprachenlehrer und die Fremdsprachenlehrerin gewinnen für ihre Arbeit eine neue Ernsthaftigkeit, wenn sie sich der Tatsache bewusst werden, dass ihre beruflichen Vorläufer in den vergangenen Jahrhunderten die europäische Kulturentwicklung wesentlich mitbestimmt haben. Die Zukunft sollte deshalb tunlichst nicht geplant werden ohne Vergleich mit Erfahrungen, die man in der Vergangenheit - auch in der weit zurückliegenden - schon gemacht hat. Damit diese epochenübergreifende wichtige Funktion der fachgeschichtlichen Beschäftigung erfüllt werden kann, sind Einzelstudien notwendig, die gleichsam die unterschiedlichen Puzzleteile eines umfassenden Mosaiks ergeben. Auch über solche Einzelstudien verfügt die Fremdsprachendidaktik, und zwar sowohl über solche, die konzeptuell angelegt sind und nach den zugrunde liegenden Begriffen, Konzepten und Auswirkungen fragen, als auch über solche mit überwiegend Dokumentationscharakter. Die nachfolgende Nennung versteht sich wieder als exemplarisch: H ÜLLEN / K LIPPEL (2002, 2005), K LIPPEL (1994), D OFF (2002) für den ersten Typ, C HRIST / R ANG (1985), S CHRÖDER (1987/ 1989/ 1992/ 1995/ 1996/ 1999) für den zweiten Typ. Das umgangssprachliche Verständnis von ‚Geschichte‘ geht von einem abgeschlossenen Vorgang aus. ‚Das ist doch Geschichte‘ bringt zum Ausdruck, dass etwas vorbei und nicht mehr aktuell ist. Ein solches Verständnis greift zu kurz, weil es den Blick darauf verstellt, dass man aus der Geschichte lernen kann und dass abgeschlossene Ereignisse oder Entwicklungen gegenwärtig und/ oder zukünftig von Bedeutung sein können. Damit Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 7 39 (2010) stellt sich gleichwohl die Frage, wann etwas anfängt, ‚Geschichte‘ zu sein. Hier deuten sich zwei mögliche Antworten an: Die eine Antwort geht davon aus, dass man dies im Rückblick feststellen kann. Eine fachliche Entwicklung ist abgeschlossen, die Ergebnisse liegen vor, und man kann zu einer rückblickenden Einschätzung oder Bewertung gelangen. Man könnte die fachgeschichtlichen Einzelstudien so werten: Indem man sich mit den Arbeiten oder Positionen z.B. einzelner Personen aus zurückliegenden Zeitepochen befasst, blickt man auf einen in sich abgeschlossenen Vorgang zurück, den man darstellt und in der Rückschau bewertet. Damit geht man gleichzeitig der Unsicherheit von prognostischen Effektivitätseinschätzungen aus dem Weg: Man kann eben im Rückblick sagen, welche Auswirkungen eine Position oder eine Entwicklung gehabt haben, vorausgesetzt, dass die Quellenlage dies zulässt. Dies würde auch bedeuten, dass aktuellere Entwicklungen (noch) nicht geschichtsbeladen sein können, da man über ihre Wirkung auf das Fach in der Zukunft noch keine Aussagen treffen kann (oder will). Ob sich in 200 Jahren noch jemand an Aufgabenorientierung, vernetztes Sprachenlernen oder computerbasierte Selbstlernprogramme erinnern wird, lässt sich gegenwärtig jeweils nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Nun kann man diesem umgangssprachlichen Verständnis von ‚Geschichte‘ und ‚Fachgeschichte‘ entgegenhalten, dass es der von H ÜLLEN zitierten Forderung nicht gerecht wird, weil es Geschichte als etwas Abgeschlossenes begreift, das keine Bedeutung für Zukunft und Gegenwart hat. Aktuellere Entwicklungen und Positionen würden damit nicht unter die Geschichte des Faches fallen, jedenfalls nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Dennoch gibt es gute Gründe, die fachgeschichtlichen Betrachtungen nicht so ohne weiteres mit einer historisch abgeschlossenen Zeitepoche beginnen zu lassen, sondern sich auf den Standpunkt zu stellen, dass die Fachgeschichte bereits im Hier und Jetzt beginnt: Der zeithistorische Rückblick gestattet eine Bewertung aktueller Positionen und Entwicklungen, die mit dem Anspruch verknüpft ist, direkt oder indirekt Aussagen darüber zu machen, ob sie relevante Einschnitte bedeuten, die das Fach charakterisieren: Auf der Grundlage und vor dem Hintergrund fachhistorischer Analysen lassen sich also Standortbestimmungen des Faches vornehmen, die zwar zukunftsgerichtet sein mögen, aber gleichzeitig eine zeithistorische Komponente beinhalten. Man braucht also ein wie auch immer geartetes historisches Bewusstsein, ohne das eine Einschätzung aktueller Entwicklungen kaum möglich wäre. Oder anders ausgedrückt: Zwischen Geschichte und Aktualität gibt es eine doppelte Verbindung: Wir blicken durch den Spiegel des Hier und Jetzt auf Vergangenes zurück, und wir blicken durch den Spiegel der Historie in die Gegenwart und Zukunft. Wer sich folglich heute mit Entwicklungen früherer Epochen beschäftigt, um sie kennenzulernen, zu verstehen und einzuschätzen, kann seine Erfahrungen aus der Aktualität nicht ausblenden. Und wer sich mit der Frage befasst, welche fachlichen Entwicklungen der Gegenwart von Bestand sein werden oder könnten, tut dies vor dem Hintergrund seines fachgeschichtlichen Wissens und/ oder Bewusstseins. Für eine kritische und ‚distanzierte‘ Einschätzung neuer fremdsprachendidaktischer Maßnahmen und Methoden erscheint eine historische Verortung dieser geradezu unabdingbar und insbesondere für die Lehrerbildung von hoher Relevanz. Es liegt in der Natur von so genannten Paradigmenwechseln, das jeweils aktuelle Paradigma als Allheilmittel zur 8 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Lösung bestehender Probleme anzusehen, und so wird dieses auch in der Lehre entsprechend vertreten. Die Verpflichtung auf eine ‚seligmachende‘ Position führt allerdings auf Seiten der zukünftigen Lehrer zu falschen Erwartungen und (mindestens mittelfristig) im Beruf zu Frustrationen. Da wir um die Vergänglichkeit von Paradigmen wissen, muss es unser Ziel sein, der Vermittlung von historischen Entwicklungen und Zusammenhängen, also eines „historischen Wissensfundus“ (H ÜLLEN 2000: 37), angemessenen Raum im Studium zu bieten, um zukünftigen Fremdsprachenlehrern den Erwerb einer historisch basierten Kritikfähigkeit zu ermöglichen, die sie vor einer voreiligen und unkritischen Identifikation mit ‚Innovationen‘ bewahren kann. Als einschlägiges Bespiel kann hier das in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts - je nach historischem, bildungs- und sprachenpolitischem Kontext - unterschiedlich praktizierte Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache (dogmatische vs. aufgeklärte Einsprachigkeit, zuletzt B UTZKAMM / C ALDWELL 2009) dienen. Dass die Herausbildung von Sprachlehrmethoden und auch autonomer Ansätze zum Fremdsprachenlernen nicht zufällig ist, sondern bestimmten Regularitäten, der Beantwortung bestimmter Fragestellungen folgt (Was ist das Wesen von Sprache? Wie lernt man Sprachen? Warum lernt man Sprachen? ), ist mehrfach gezeigt worden (z.B. R ICHARDS / R ODGERS 2 2001). Das vorliegende Themenheft repräsentiert das hier nur kurz skizzierte weite Verständnis fachgeschichtlicher Entwicklungen. Es enthält drei Arten von Beiträgen: Da sind zunächst einmal die rückblickenden Beiträge, die punktuelle Analysen fachgeschichtlicher Positionen und Entwicklungen untersuchen. Da sind zum zweiten Beiträge, die explizit von aktuellen Entwicklungen ausgehen und fragen, in welchem Umfang sich Vorläufer dieser Entwicklungen zu früheren Zeitpunkten bereits herausarbeiten lassen. Und da sind zum dritten Beiträge, die aktuelle(re) Entwicklungen zum Anlass für entweder konzeptuell-prognostische oder resümierend-fachgeschichtliche Betrachtungen nehmen. K ONRAD S CHRÖDER sucht nach Begründungen, die es bereits im 18. Jahrhundert für das Englischlernen in Deutschland gegeben hat. Die von ihm herangezogenen Quellen belegen, dass es bereits in dieser Zeit Argumente für die Aneignung und den Unterricht des Englischen gegeben hat - aus heutiger Sicht insofern bemerkenswert, als das Englische seinen Siegeszug durch das deutsche Bildungssystem erst im 20. Jahrhundert angetreten und damit insbesondere das Französische als erste Fremdsprache deutlich verdrängt hat. Schröder zeigt, dass mit wirtschaftlichen und ästhetischen Argumenten bereits zwei Jahrhunderte zuvor engagierte Plädoyers für die bildende Wirkung des Englischlernens und des Englischunterrichts gehalten wurden, auch wenn diese Plädoyers noch keine schulsprachenpolitische Wirkung entfalteten, u.a. weil die gesellschaftlichen Bedingungen dem (noch) entgegenstanden. H ERBERT C HRIST geht der Frage nach, welche Rolle die „schöne Literatur“ im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts spielte. Dabei zeigt er, dass mit der Behandlung von Literatur im Unterricht je nach Ausrichtung der jeweiligen Autoren didaktischer Positionsbestimmungen unterschiedliche Zielsetzungen verbunden wurden. Diese reichten von der Vermittlung ästhetischer Werte bis zur Verlängerung des reinen, auf Syntax- und Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 9 39 (2010) Lexikvermittlung fokussierten Sprachunterrichts durch Behandlung literarischer Texte und zu allgemeinbildenden Begründungen, die den fremdsprachlichen Literaturunterricht gerade nicht zu einem fachwissenschaftlich geprägten, sondern zu einem gesellschaftspolitischen Phänomen erklärten: Literatur und die Beschäftigung mit ihr als Quelle und Anlass für das Verstehen gesellschaftlicher Erscheinungen der Zielkultur. Dies geschah auf der Grundlage eines wahrlich beachtlichen Kanons von Schriften, deren Gesamtumfang aus heutiger Sicht beeindruckend ist. Betrachtet man die aktuellen Diskussionen über die Lehrerbildung, so stößt man nicht selten auf den Begriff der Professionsforschung. Insbesondere Schulpädagogen und weniger Fremdsprachenforscher haben sich hier einen Namen gemacht (vgl. z.B. H ERICKS 2006, B AYER / B OHNSACK / K OCH -P RIEWE / W ILDT 2000), ein Umstand, der der Fremdsprachendidaktik nicht zu Unrecht auch zum Vorwurf gemacht wird (T RAUTMANN 2010). Um so überraschter wird man konstatieren, dass Professionalisierungsideen - freilich ohne diesen Begriff zu verwenden - bereits im 19. Jahrhundert auftauchen, wie F RIEDE - RIKE K LIPPEL in ihrem Beitrag zeigt. Sie betrachtet die selten zitierten Autoren L UDWIG H ERRIG und H ERMANN B REYMANN „[...] als Eckpunkte der Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts in den lebenden Sprachen und der Etablierung einer gleichermaßen wissenschaftlich fundierten und praxisorientierten Lehrerbildung“. Beide engagierten sich bereits in dieser Epoche dafür, dass angehende Lehrer gut ausgebildet wurden, wobei sich die gute Ausbildung keineswegs nur auf die wissenschaftlichen, sondern auch auf die unterrichtspraktischen Kompetenzen bezog. Mit dem Verhältnis von Nationalerziehung und Fremdsprachenlernen befasst sich F ELICITAS S TREHLOW . Sie skizziert die Vorstellung von einer Erziehung zum „Deutschsein“ im 19. und 20. Jahrhundert und fragt nach der Verträglichkeit mit den Zielen des Fremdsprachenunterrichts. Für das 19. Jahrhundert kann sie feststellen, dass Nationalerziehung und die Beschäftigung mit fremden Sprachen und Kulturen sich nicht zwangsläufig ausschließen. Erst die politischen Ereignisse des beginnenden 20. Jahrhunderts und das Aufkommen des Nationalsozialismus tragen zu einer Verschärfung der Fronten bei, die den Fremdsprachenunterricht stärker in die Defensive geraten lassen. Einem spezifischen Phänomen geht der Beitrag von M ARCUS R EINFRIED nach. In ihm geht es um muttersprachenbasierte Semantisierungstechniken in der Vermittlung von Fremdsprachen in den beiden vorangehenden Jahrhunderten. Dabei zeichnet er die unterschiedlichen Positionen nach, die sich in diesem Zusammenhang in den Quellen finden lassen und die von der Integration der Muttersprache bis zu deren dogmatischer Ablehnung reichen. Der historisch angelegte Argumentationsgang beinhaltet sowohl methodische Standpunkte als auch sprachwissenschaftliche Perspektiven des Bedeutungsbegriffs und mündet schließlich in die von W OLFGANG B UTZKAMM wiederholt propagierte „aufgeklärte Einsprachigkeit“, die bekanntlich einen funktional bestimmten Einsatz der Muttersprache - auch und gerade zur Semantisierung - zulässt. Mit den Beobachtungen und Anmerkungen von S TEFAN E TTINGER beginnen die Beiträge, die sich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklung gleichsam in der Rückschau mit der Frage beschäftigen, ob und in welchem Umfang aktuelle Forschungstendenzen sich auf Entwicklungen zurückführen lassen, die bereits längere Zeit zurückliegen. 10 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Mit dem Schwerpunkt auf Phraseologie und Wortschatzerwerb untersucht Ettinger, welche Informationen und vor allem welche Anforderungen der modernen Phraseologie und der Lexikografie insgesamt bereits in dem 1900 erschienenen Band Les idiotismes et proverbes de la conversation allemande enthalten sind. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der über hundert Jahre alte Band erstaunlich modern ist - ein Plädoyer dafür, dass wir gut beraten sind, aus der Fachgeschichte zu lernen. D ANIEL C OSTE nimmt aktuelle sprachen- und fremdsprachenpolitische Diskussionen in Europa zum Anlass, danach zu fragen, in welchem Umfang sich die Argumentationen und Begründungen für diese fremdsprachenpolitischen Eckpunkte an vorangehende Entwicklungen anschließen lassen. Dabei stellt er fest, dass Diskussionen über Standards und Varietäten nicht neu sind und bereits vor über 100 Jahren bei der Frage nach geeigneten Formen und Zielen des Fremdsprachenunterrichts eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. C LAUS G NUTZMANN und N ADINE S ALDEN widmen sich einem durchaus aktuellen Thema: In Übereinstimmung mit der Lernerorientierung in der Fremdsprachendidaktik stellen sie die Frage nach den unterschiedlichen Lernerbildern in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts. Dazu typologisieren sie das Bild, das unterschiedlichen Vermittlungsmethoden einschließlich der kulturkundlichen Bewegung jeweils zugrunde liegt. Lernende von Fremdsprachen waren je nach Methode und Zeitgeist unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt, in denen sich nicht zuletzt auch der Antagonismus zwischen Gebrauchsorientierung und Bildungswert des Fremdsprachenunterrichts widerspiegelt. Trotz dieser wechselhaften Lernerbilder lassen sich wiederkehrende Muster ausmachen, wobei sich bestimmte Erscheinungen bis heute gehalten haben bzw. wieder neu belebt werden. Ebenfalls bei einer aktuellen Entwicklung setzt der Beitrag von F RANZ -J OSEPH M EI ß NER ein. Es geht ihm um die Vorläufer der heute - u.a. vor allem von ihm propagierten - Mehrsprachigkeitsdidaktik. Diese zielt in ihrem Kern darauf, die vorhandenen Sprachwissens- und Sprachkönnensbestände zu aktivieren und für das Lernen weiterer Sprachen nutzbar zu machen (vgl. M EI ß NER 2005, 2010; H ALLET / K ÖNIGS 2010). Er zeigt, dass wesentliche Elemente der Mehrsprachigkeitsdidaktik bereits in vorangehenden Jahrhunderten nachgewiesen sind. Der Rekurs auf andere (im Lernenden vorhandene) Sprachen kommt in mehrsprachigen Wörterbüchern und Grammatiken zum Ausdruck, die einen entsprechenden Anspruch formulieren, aber vor allem auch in metakognitiven Strategien, die das Lernmanagement, das Memorisieren von syntaktischen Strukturen, das Überwachen der eigenen Sprachlernfortschritte und der Sprachproduktion in der Fremdsprache betreffen und die sich aus entsprechenden Berichten der jeweiligen Zeit herausfiltern lassen. Die letzten beiden Beiträge gehen stärker von aktuelle(re)n Entwicklungen aus: S ABINE D OFF zeichnet die Entwicklung der Englischdidaktik der 1970er und 1980er Jahre nach. Dabei fragt sie nach den Begründungen für das Selbstverständnis der Englischdidaktik als einer wissenschaftlichen Disziplin und nach den Entwicklungsschritten, die seitens der Englischdidaktik dabei vollzogen wurden. Sie konstatiert für die beginnenden 1970er Jahre eine Krise, aus der sich das Fach durch eine zunehmende Interdiszipli- Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 11 39 (2010) narität, eine Neuordnung des Verhältnisses von Theorie und Praxis und eine Neubestimmung der wissenschaftlichen Methoden sukzessive befreit hat. F RANK G. K ÖNIGS befasst sich mit der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit fachliche Entwicklungen auch als solche wahrgenommen werden und das Profil des Faches verändern. Es ist also zu klären, was die jeweiligen Entwicklungen aus der Sicht des Betrachters zu fachrelevanten Entwicklungen macht, welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen, damit diese Wahrnehmung zustande kommt und in welchem Umfang die Gefahr besteht, dass verkürzte Wahrnehmungen zu nicht mehr hinterfragten Mythen werden. Aufgezeigt wird dies an Beobachtungen zur Sprachlernbewusstheit, zur Mehrsprachigkeit, zum Wortschatzlernen, zur Gruppenarbeit, zum Lernen mit neuen Medien und zu Bildungsstandards. Die Beschäftigung mit Aspekten der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und seiner Erforschung ist ein weites Feld. Bisweilen mag es erscheinen, als unternehme man den Versuch, dieses weite Feld nur mit einem Spaten ausgerüstet zu kultivieren. Gleichwohl ist es notwendig, sich dieser Aufgabe zu stellen, denn nur dann besteht die Chance dazu, dass auch ein Fach wie die Fremdsprachendidaktik in die Lage versetzt wird, aus der Geschichte zu lernen. Die Beiträge dieses Bandes sollen die Notwendigkeit zu diesem Schritt verdeutlichen und gleichzeitig anregen, sich mit fachgeschichtlichen Aspekten auseinanderzusetzen. Literatur B AYER , Manfred / B OHNSACK , Fritz / K OCH -P RIEWE , Barbara / W ILDT , Johannes (Hrsg.) (2000): Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenzen? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. B UTZKAMM , Wolfgang / C ALDWELL , John A.W. (2009): The Bilingual Reform. A Paradigm Shift in Language Teaching. Tübingen: Narr 2009 (Narr Studienbücher). C HRIST , Herbert / R ANG , Hans-Joachim (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Sieben Bände. Tübingen: Narr. C UQ , Jean-Pierre (1991): Le français langue seconde. Origines d’une notion et implications didactiques. Paris: Hachette. D OFF , S ABINE (2002): Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt-Longman. G ERMAIN , Claude (1993): Évolution de l’enseignement des langues: 5000 ans d’histoire. Paris: Hachette. H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (2010): „Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen“. In: H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. 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S CHRÖDER , Konrad (1987/ 1989/ 1992/ 1995/ 1996/ 1999): Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes, Spätmittelalter bis 1800. 6 Bände. Augsburg: Universität. T RAUTMANN , Matthias (2010): „Professionsforschung in der Fremdsprachendidaktik“. In: H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer, 346-350. * Korrespondenzadresse: Prof. em. Dr. Konrad S CHRÖDER , Marconistr. 30b, 86179 A UGSBURG . E-Mail: k.f.schroeder@t-online.de Arbeitsbereiche: Sprachenpolitik, Bildungsplanung, Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und Fremdsprachenerwerbs. 39 (2010) K ONRAD S CHRÖDER * Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts Abstract. The article gives an account of the reasons put forward for the acquisition and the teaching of English in Early Modern Times, with special emphasis on 18 th century Germany. After a brief overview of Anglo-German linguistic contacts from Tudor times to the Restoration, including references to the much larger framework of contemporary FL policies, the positions of the German educator Bohse (1703) and the methodologist Seidelmann (1724) are highlighted. Unlike French, used as the medium of contemporary conversational culture, English was seen as the language of theological and scientific progress and later became the idiom of international trade, of an alternative kind of aesthetics more suited to the German mind than French classicism, and of political freedom. In this context, the role of Goettingen as a cultural and linguistic herald is reviewed, followed by comments on Martin Ehlers’ (1766) preromantic perspective concerning English, Schwab’s (1785) prophecy of the impact of the U.S., and ELT in pre-1789 catholic Germany and Austria. 1. Moderne Fremdsprachen als Lerngegenstände: ein Verdrängungswettbewerb Seit sich im Europa der Renaissance Nationalstaaten gebildet haben, konkurrieren deren Sprachen politisch, und damit auch als Lerngegenstände. Die einzelnen Sprachen sind in ihrem curricularen Gewicht wandelbar; ihr Erlernen folgt, wenn es nicht unmittelbar aus privaten Lebensbedürfnissen motiviert ist, komplexen Bedingungsgefügen. Der lange und beschwerliche Weg einer Sprache zum Schulfach stellt sich dar als eine Abfolge von Aktionen bildungspolitischer, mitunter auch machtpolitischer Natur im Rahmen eines Verdrängungswettbewerbs: Denn die Zahl der Schulfächer im Curriculum ist ebenso endlich wie die Zahl der Wochenstunden. Alles Neue impliziert die quantitative Reduktion des Bestehenden, was in den Augen der tangierten Lehrerschaft automatisch als eine qualitative Reduktion gesehen wird - zuweilen zu Unrecht. Der Geist der Besitzstandswahrung begegnet dem Neuen feindlich. Alle am Diskurs Beteiligten werden ihre Position mit immer neuen Argumenten zu untermauern und die des Gegners zu schwächen suchen. Das hier Gesagte gilt für alle Fächer zu allen Zeiten, besonders komplex jedoch sind die Frontstellungen im fremdsprachlichen Bereich angesichts der Tatsache, dass das eine Fach „Fremdsprache“ nicht existiert. Es gibt mehrere fremdsprachliche Fächer, deren Vertreter sich als Gruppe mit den Vertretern der übrigen Fächer auseinander setzen, 14 Konrad Schröder 39 (2010) untereinander dann aber doch konkurrieren, wobei mitunter durchaus zwei oder drei Seelen in einem einzelnen Fachvertreter wohnen können. Der Lerner wird sich stets für eine konkrete Sprache aus einer Zahl von Möglichkeiten entscheiden, es sei denn, das System nimmt ihm die Entscheidung ab. Da nur wenige Sprachen gelernt werden können, ist das Begründen der Einzelsprache als Lerngegenstand im Wettbewerb der Idiome ein bedeutsamer Akt. Freilich sind die modernen Sprachen in der Frühen Neuzeit noch nicht Bestandteil festgefügter schulischer Curricula, privates Lernen dominiert, doch die neuen Disziplinen schicken sich an, in die Schulen einzudringen, zunächst das Französische, später auch Italienisch und Englisch, und sie treffen auf den Widerstand der etablierten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch. Der bildungsideologische Gegensatz zwischen den Alten und den Neuen Sprachen gewinnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Kontur; er wird die politischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts im Schul- und Hochschulbereich entscheidend prägen. 500 Jahre individuelle Mehrsprachigkeit der europäischen Eliten: das sind 500 Jahre des politisch-pädagogischen Begründens von Sprachen, des Zurückweisens, des Gegenbegründens, mit Argumenten, die keineswegs immer nur rationalen Ursprungs sind. Mit wie viel Herzblut die Auseinandersetzungen geführt werden, welche sachlichen, ideologischen und strategischen Argumente eingehen, welche Sprachen jeweils in der Gunst aufsteigen und welche absinken, unter welchen Rahmenbedingungen das geschieht, das alles lässt sich historisch rekonstruieren. Und die Lehren aus einer solchen Rekonstruktion erleichtern nicht zuletzt bildungspolitische Entscheidungen der Gegenwart und die sprachenpolitische Bewältigung der Zukunft. Dabei sind die Begründungsmuster für die einzelnen Sprachen keineswegs konstant: Internationale Sprachen haben ihren Anfang und (zumindest bisher) auch ihr Ende, ein Ende, das jedoch niemand so recht vorauszusehen vermag. Unterschiedliche Sprachen gelten zu unterschiedlichen Zeiten als unterschiedlich schwer, und politische Veränderungen können die Argumentation für oder wider einzelne Sprachen drastisch verändern. Bis etwa 1770 gilt Englisch als schwer, Italienisch als leicht. Französisch gilt vor 1789 als modisch und schön, dann bis 1813 als politisch erforderlich, danach als abgeschmackt und gestrig. Trotzdem bleibt es bis 1923 im deutschen Schulwesen erste moderne Fremdsprache - ein gutes Beispiel für die Wandlungsresistenz des Systems. Das Russische hat als Sprache der Sowjetunion in jüngster Zeit eine drastische Abwertung erfahren: von der „Brudersprache“ und einer lernenswerten Ausprägung sprachlicher und kultureller Exotik zur Immigrantensprache. Der nicht minder drastische Abstieg des Deutschen von paneuropäischer Wertschätzung im 19. Jahrhundert zur Feindsprache und dann zur Sprache des ökonomischen Gegners ist ein weiteres Beispiel. Sprachen sind intimer Besitz. Man hat sie, oder man möchte sie haben. Sprachen haben ihre Liebhaber(innen), wobei die Zuneigung zu einzelnen Idiomen durchaus genderspezifisch scheint; aber da sind auch die, die sie hassen und zurückweisen. Affekte spielen immer wieder eine Rolle. Der Aufstieg des Englischen zur Schulsprache und schließlich zur ersten Fremdsprache in einzelnen deutschen Ländern (1923) und dann „reichseinheitlich“ (1937) lässt sich sehr wohl rationaliter ableiten aus der handelspo- Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 15 39 (2010) litischen Machtstellung Großbritanniens und seines Kolonialreichs im 18. und 19. Jahrhundert, aus der steigenden Weltgeltung, der politischen Vorbildfunktion (Parlamentarismus, „fortschrittliches“ Wertesystem), der zunehmend politikbestimmenden Rolle Amerikas, und natürlich auch aus der geschmacksbildenden Rolle der englischen (später auch der amerikanischen) Literatur und Kultur. Unterfüttert werden solche Begründungen und die damit verbundene Zurückweisung von Alternativen allerdings mit emotionaleren Argumenten von Freiheit und Gemeinschaft. 2. Englisch in Deutschland vor 1700: Konturen einer Entwicklung Die früheste ausführliche Begründung für das Englische als Lerngegenstand (im Kontext von Französisch, Spanisch und Italienisch) stammt von 1703. Sie wird später eingehend darzustellen sein, doch sie hat ihre Vorgeschichte: Es gibt Fakten aus älterer Zeit, den Umgang mit England und dem Englischen betreffend, die bestimmte Begründungen nahelegen, und es gibt ältere Begründungen zum Erwerb der modernen Sprachen insgesamt oder aber spezieller anderer moderner Sprachen. Diese Begründungen sollen zunächst in Erwägung gezogen werden 1554 erhält das Londoner Hansekontor, der Stalhof, eine neue Kontorordnung: Fortan sollen nur solche Kaufleute akkreditiert werden, die über hinlängliche Englischkenntnisse verfügen (D IETZE 1927: 10). Wer sie nicht nachweisen kann, muss für ein Jahr zu einem Lakenmeister aufs Land, um die Sprache des Tuchhandels zu erwerben. Englisch ist als Nationalsprache inzwischen so weit vorangekommen, dass es der Hansesprache Niederdeutsch und mittelalterlich-lateinischen Hilfskonstruktionen vor Ort offenbar den Boden entzieht. Englisch als Handelssprache ist die früheste und langlebigste Begründung für das Englischlernen, wobei zunächst der kontinentale Küstenraum als Einzugsgebiet betroffen ist, allerdings auch Handelsstädte des Binnenlandes frühe Belege liefern. So unterhält die Stadt Wesel im Jahre 1608 aller Wahrscheinlichkeit nach „eine englische Schule“ (A EHLE 1938: 53). 1665 erscheint in Straßburg, von S. T ELLES (Tellaeus) verfasst, das vermutlich früheste Englisch-Lehrbuch für deutschsprachige Lernende, eine Grammatica Anglicana; in qua methodus facilis bene et succincte anglicae linguae addiscendae continetur. Straßburg hat seit den 1550er Jahren eine Tradition durchreisender englischer Protestanten, die auf dem Weg ins Ursprungsland der Reformierten Kirche sind. Da ist die unmittelbare Kontaktnahme unter Glaubensbrüdern das Motiv. Ähnliches gilt vermutlich auch für Johann P ODENSTEINER s 1670 in Wittenberg (? ) verlegten Clavis Linguae Anglicanae (2. Auflage1685). Zuvor bereits ist Englisch Bestandteil polyglotter Gesprächsbücher geworden, so etwa in den Colloquien oft tsamensprekinghen met eenen vocabulaer in ses spraken, neerduyts, engelsch, hochduyts, fransoys, spaens en italiaens des Noël VAN B ERLEMONT (Antwerpen 1583 - zahlreiche weitere Ausgaben) oder im Orbis sensualium pictus des Jan Amos K OMENSKÝ : Visible world or A Picture and Nomenclature of all the Chief Things that are in the World, and of Men’s Employments therein. A work newly written by the author in Latin, and High-Dutch, […] and translated into English by Charles Hoole, 16 Konrad Schröder 39 (2010) teacher of a private grammar school in Lothbury, London (London - mehrere spätere Ausgaben). Die polyglotten Lehrmaterialien sind in Sprachenwahl und Thematik bedarfsorientiert, kommen aber auch dem im Frühbarock um sich greifenden Trend entgegen, Sprachen zu sammeln. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird Englischunterricht möglicher Bestandteil der universitären Ausbildung protestantischer Theologen; englische theologische Fachliteratur genießt hohes Ansehen. Der Unterricht wird von locker mit den Universitäten verbundenen Sprachmeistern erteilt. Ein frühes Beispiel bietet der Lektionskatalog der nürnbergischen Universität Altdorf für das Studienjahr 1685/ 86, der ohne weitere Kommentierung Englischunterricht neben Französischunterricht verzeichnet. Der offenbar früheste namentlich bekannte Sprachmeister des Englischen findet sich in der Matrikel der Universität Greifswald unter dem 13.10.1686: Dort heißt es: „Johannes Sebastian Saltzmann, Alsatus, linguae anglicae et gallicae peritus, stipulata manu oboedientiam promisit, ob paupertatem gratis“ (F RIEDLÄNDER 1894, Bd. 2: 170). Sicher konnte ein Lehrer des Englischen in einer Hansestadt wie Greifswald auch jenseits der Universität gute Dienste leisten und existieren, ganz ähnlich wie sein namentlich unbekannter Kollege in dem mit der Handelsstadt Nürnberg verbundenen Altdorf. Von Interesse ist im Übrigen auch, dass es sich bei Saltzmann um einen Elsässer handelt. Hat er sein Englisch in Straßburg gelernt? Für 1668 ist Englisch erstmals als Schulfach bezeugt, wie nicht anders zu erwarten an einem protestantischen Gymnasium, das man heute als „Traditionsschule“ bezeichnen würde: am Fürstlich Waldeckischen Landesgymnasium Fridericianum zu Korbach, wo der Konrektor privatim solchen Unterricht erteilt (G ENTHE 1879: 14). Bis ins späte 18. Jahrhundert gilt dem katholischen Deutschland das Englische als Idiom einer feindlichen und potenziell gefährlichen Macht. Dennoch infiltriert die Sprache zumindest punktuell bereits im 17. Jahrhundert auch die katholischen Landesteile, zum einen über die schon genannten polyglotten Gesprächsbücher, sodann - wenn auch schwer nachweisbar - über Sprachkundige in Städten mit Englandhandel (Beispiele: das Augsburg der Fugger oder Köln) und schließlich über Maßnahmen der Gegenreformation selbst: Die Virgines Anglicanae oder Englischen Fräulein, von der aus Yorkshire stammenden Maria Ward ins Leben gerufen, gründen 1626 eine Mädchenschule in Nymphenburg (München), die 1662 in Augsburg eine Filialschule erhält, Ausgangspunkte für ein europaweites Netzwerk. Die gesamte Gründungsgeneration der Kongregation ist englischstämmig; Englisch ist Jahrzehnte lang Sprache der Novizenausbildung. So kommt es, dass katholische junge Damen aus dem bayerischen und schwäbischen Raum im Rahmen einer Ausbildung, die man als durchaus „emanzipatorisch“ bezeichnen kann, in den Genuss einer Sprache gelangen, die der männlichen katholischen Jugend für weitere hundert Jahre vorenthalten bleibt - wie Maria Theresia es in einem Dekret von 1778 formuliert: „wegen religions- und sittenverderblicher Principiis“ (K INK 1854, Teil 1: 516). Die hier gegebenen Begründungen für das Englische aus der Zeit vor 1700 sind eher indirekt oder zumindest nicht sehr explizit, doch es liegen für andere Sprachen, allen voran für das Französische, bereits im 16. Jahrhundert durchaus umfängliche Begründungstexte vor, die freilich, wenn sie von Vertretern der jeweiligen Nationen vorgetragen Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 17 39 (2010) werden, die Form von überschwänglichen Laudationes annehmen können: Stellvertretend sei Louis Du-Truc zitiert (Vorwort zu Le génie de la langue française, Straßburg 1668 - zitiert nach S CHMIDT 1931: 48), der behauptet, seine Sprache sei gelangt „dans une perfection qui la peut égaler aux premières langues du monde, elle a la force des langues orientales, la finesse et la netteté du grec, l’élégance et la pureté du latin, elle peut parfaitement imiter l’une et l’autre dans la poésie“. Der früheste Versuch, moderne Sprachen als Lerngegenstände systematisch zu begründen, findet sich im Werk des Jan Amos K OMENSKÝ (Comenius), wobei er allerdings das Englische nicht erwähnt. In seiner 1643-1647 in Elbing entstandenen Schrift Linguarum Methodus Novissima weist er auf die Charakteristika der italienischen, französischen und spanischen Sprache (in dieser Reihenfolge) hin: „Italica, Gallica, Hispanica, quanquam e corrupta latinitate ortae, hanc tamen, matrem suam, omnino superasse videri volunt: Italica quidem peramaena quadam facilitate; Gallica, mira et suavi elegantia; Hispanica, gravi quadem majestate: quibus fretae non solum matrem fastidiunt, sed et cum invicem de praeeminentia certant“ (C OMENIUS 1657: 45). Das Zitat zeigt, dass den einzelnen Sprachen inzwischen bestimmte stereotype Eigenschaften zugeschrieben werden; diese bleiben während der gesamten Frühen Neuzeit konstant. Im Übrigen liefert der Verfasser eine konzise Beschreibung der sprachenpolitischen Situation, wobei er auch von den Sprachen Deutsch, Polnisch und Tschechisch handelt und einige außereuropäische Sprachen in die Argumentation einbezieht. Auch in seiner 1657 erschienenen Didactica Magna, deren 22. Kapitel Anleitung zur Erreichung einer gestuften Mehrsprachigkeit gibt, erwähnt Komenský das Englische nicht, wohl aber eine Reihe von kontinentalen Nachbarsprachen, wie dann auch der Erwerb von Nachbarsprachen (in Ergänzung zur internationalen Sprache Latein) zum didaktischen Leitprinzip erhoben wird. Offenbar bietet sich das nur auf dem Seeweg zu erreichende England zur Ausbildung einer compétence transfrontalière nicht an. 3. Warum Englisch? Die Argumentationen von Bohse und Seidelmann Vor dem hier skizzierten Hintergrund sind die auf das Englische bezogenen Ausführungen August Bohses von 1703 (publiziert 1706 unter dem Pseudonym Talander) zu verstehen. Bohse liefert im Kontext der Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch eine umfassende Begründung für das Englischlernen: „Die englische Sprache ist sonderlich denen zu erlernen nützlich, welche Theologiam oder auch Medicinam studieren: Denn ihre Geistlichen über die Maßen lehrreich schreiben, und vortreffliche Meditationes haben, hernach die Deutschen in ihren Predigten und Oratoria Ecclesiastica sehr wohl zur Erbauung können anbringen und sich zugleich dadurch beliebt machen. So sind auch in Chymicis, und was sonst die Wissenschaft eines Medici vermehren kann, köstliche Sachen in ihrer Sprache heraußen. […] Und weil die deutschen Höfe, sonderlich aber der königliche Preußische und hannoverische mit dem englischen viel zu negotiieren haben, so dienet es auch sehr zur 18 Konrad Schröder 39 (2010) Recommendation eines Jungen von Adel oder Bürgerlichen, welcher sich mit der Zeit daselbst zu engagieren gedenket, wenn er dieser Sprache kundig ist; und machet er sich dadurch desto beliebter, je weniger in Deutschland etwas Rechtes darinnen getan haben; da hingegen das Französische fast die meisten Lakeien bei Hofe reden“ (T ALANDER 1706: 355 ff). Bohse bestätigt, dass in der Frühzeit des Englischlernens der theologische Verwertungszusammenhang ein wichtiger Anreiz ist. Wie stark, zeigt die Existenz eines spezialisierten Lehrmaterials von 1733, eines Tractatus philologico-exegeticus de utilitate linguae anglicanae in explicatione Sanctae Scripturae. Der Autor der in Leipzig erschienenen Schrift, Andreas Teuber, ist Pfarrer im Fürstentum Halberstadt. Dabei spielen auch die im anglikanischen Umfeld publizierten Predigtsammlungen eine Rolle: Barocke Predigten haben nicht selten eine Länge von mehr als einer Stunde. Ein Pfarrer, der sprachlichen Zugang zu diesen qualitativ hochwertigen, kirchenpolitisch akzeptablen Vorbildern hat, kann sich viel Arbeit sparen. Inzwischen allerdings dehnt sich das Interesse auf das naturwissenschaftliche und medizinische Schrifttum aus. Hier ist England um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert führend, weil die an mittelalterlichen Sichtweisen orientierten Lehrmeinungen der katholischen Kirche oder gar die Inquisition den Fortschritt nicht ausbremsen. Dabei benutzen die Briten als staatskirchlich orientierte Protestanten nicht das Latein der Papisten. Bohse bietet aber auch eine neue Facette, die der deutsch-englischen dynastischen Verbindungen. Dieser Aspekt wird, als 1714 mit der Thronbesteigung Georgs I. von England und Schottland eine Personalunion zwischen dem Kurfürstentum Hannover und dem Vereinigten Königreich hergestellt ist, zur dritten tragenden Säule für den Erwerb des Englischen neben der handelspolitischen und der wissenschaftlichen Fundierung. Und da ist noch ein Gesichtspunkt, der im Wettkampf der Sprachen bis heute eine Rolle spielt: Wer eine weniger gelernte Sprache kann, für die Bedarf besteht, der kommt in seiner Karriere leichter voran. Ähnlich wie der Prinzenerzieher Bohse argumentiert auch der Jenenser Pfarramtskandidat Christian Friedrich S EIDELMANN in seinem 1724 erschienenen Tractatus philosophico-philologicus, der frühesten sprachenübergreifenden Methodik des modernen Fremdsprachenunterrichts. Als neue Facette erscheinen hier allerdings die Humaniora: „Was z.B. die Gelehrten betrifft: die Juristen, allerdings mit Ausnahme derjenigen, die im Herzogtum Hannover und am Hof von Braunschweig und Lüneburg arbeiten wollen, können leichter auf Englisch verzichten als die Theologen und Mediziner, weil es eine Vielzahl englisch geschriebener Bücher gibt, die ihr Arbeitsgebiet betreffen. In der Geschichts- und in der Altertumswissenschaft leisten die Engländer Einmaliges. [...] Der Beitrag der Königlichen Gesellschaft zur Medizin ist hinlänglich bekannt. Und da die Juristen sowohl Philosophie als auch Geschichte und Literatur kennen müssen, ist offensichtlich, dass auch für sie die Kenntnis des Englischen äußerst nützlich ist. [...] Wer sich für politische Schriften interessiert, findet sie bei den Engländern in großer Zahl, und er hat an diesen Büchern die größte Freude“ (zitiert nach Z APP / S CHRÖDER 1984: 17 ff) . Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 19 39 (2010) 4. Ästhetisierend-emotionale Argumente für das Englische Neben der Tradition des sachlichen Begründens bei Bohse und Seidelmann findet auch die ästhetisierend-emotionale Argumentation im Verlauf des 18. Jahrhunderts weitere Jünger; in der Vorromantik wird sie beherrschend, wobei sich zunehmend jene Gegnerschaft zum Französischen etabliert, die im 19. Jahrhundert dann bestimmend wird. Ein ausgeprägtes frühes Beispiel für die Glorifizierung des Englischen längs der zuvor für das Französische genutzten Bahnen ist die Vorrede zur Neuen englischen Grammatica des Theodor Arnold von 1718: Wer die englische Sprache genauer kennt, „der wird versichert gestehen müssen, dass sie allen anderen europäischen Sprachen sowohl an Lieblichkeit als Leichtigkeit nichts nachzugeben pflege, inmaßen sie gleich einer delikaten Fricassé eine angenehme und beliebte Vermischung, diese eine Veränderung, und die Veränderung eine süße Anmut erwecket. Sie ist ihrer Lieblich- und Leichtigkeit wegen der italienischen zu vergleichen; ihrer Majestät halber [...] der spanischen; in Ansehung ihrer männlichen Gravität der deutschen […]; in Ansehung ihrer Volubilität, die doch nicht obskur und weibisch, sondern klar, hell, distinkt und mannhaft ist, der französischen; ja der vielen emphatischen Wörter und mannigfaltigen Veränderungen derer Sonorum wegen der arabischen. […] Ja ich bin der Meinung, dass wir Deutschen Ursache hätten, solche [Sprache] der französischen noch vorzuziehen, […] weil die Religion der unsrigen viel näher kommt, die Engländer mehrenteils aus deutschem Geblüte herstammen, das Volk nicht so negligent und leichtsinnig ist, mehr Liebe zu uns trägt, die Engländer ebenso ingeniös und sinnreich, ja darnebst noch weit realer sind, ihre Sprache eine genauere Verwandtschaft mit der deutschen hat, auch nicht so gemein ist, und endlich, weil die Hochachtung der englischen Sprache unter uns zu noch genauerer Verbündnis und Vertraulichkeit unserer Nation mit der ihrigen Anlass geben dürfte“ (A RNOLD 1718: unpaginiert). Das Zitat bietet in den Sprach-Charakterisierungen Rückbezüge auf Komenskýs Linguarum Methodus. Gleichzeitig werden zukünftige Entwicklungen bereits angedeutet: die Ausbildung eines an britischen Standards orientierten Geschmacks, damit verbunden die Abwertung der Romania als obskur, weibisch, negligent und leichtsinnig, schließlich dann der Hinweis auf die ethnische Verwandtschaft. Letztere verhilft dem Englischen 1937 endgültig zur Position der ersten Schulfremdsprache. Der Charakter des Englischen als Mischsprache ist seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ein Handicap im Kampf um Marktanteile. Arnold macht daraus eine „delikate Fricassé“. Sieben Jahre nach Ludwig versucht auch der Arnold-Kritiker Thomas Lediard, ein in Hamburg ansässiger Brite und Sprachmeister des Englischen, im Vorwort zu seiner Grammatica Anglicana Critica, die „übelgefasste und unbegründete Meinung, welche viele […] von der englischen Sprache haben, als wenn sie nur eine verwirrte und verdorbene Mélange, ja sogar die Hefe und Ausschuss aller europäischen Sprachen sei“ (L E - DIARD 1725: unpaginiert), zu entkräften. Zugleich wendet er sich gegen die Auffassung, das Englische könne nicht in Regeln gefasst werden, ein gewichtiges Argument gegen Englisch im 18. und 19. Jahrhundert. 20 Konrad Schröder 39 (2010) 5. Die Rolle Göttingens und die belletristisch-literarische Komponente Um 1750 ist das Französische auf dem Höhepunkt seiner internationalen Geltung. Maupertuis, Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, nennt es „plutôt la langue de l’Europe entière que la langue des Français“ (B EHRENS 1919: 86). Doch das Englische holt auf, und es ergibt sich seit den 1740er Jahren ein Schneeball-Effekt: Weil angesehene Hochschulen ihren Studierenden die Gelegenheit zu Englischunterricht geben, muss man selbst auch entsprechende Vorsorge treffen. Stellvertretend seien in diesem Zusammenhang die Reformvorschläge des Rektors der Erfurter Universität, Bellmont, von 1756 genannt, in denen es heißt: „An einem italienischen und englischen Sprachmeister fehlet es noch, beide Sprachen […] werden auf den blühenden Universitäten gelehrt“ (S TIEDA 1934: 42). Zentrum des Englischlernens ist die 1737 (von Georg II. von England und Schottland) gegründete Universität Göttingen, die seit 1751 über ein Extraordinariat der englischen Sprache, seit 1762 dann über ein Ordinariat verfügt. Es ist mit dem Engländer John Tompson besetzt, einem - in moderner Terminologie - Kulturwissenschaftler, dessen erfolgreiche Anthologie English Miscellanies als Lehrmaterial weit ausstrahlt und mittelbar die deutsche Klassik beeinflusst. Von den Kollegen hochgeachtet gilt Tompson als Verkörperung des „perfect gentleman“; Göttingen wird in den 1760er Jahren, wie Caroline Michaelis es einmal ausdrückt, zu einem „Londres en miniature“ ( VON S ELLE 1937: 183 ff), Katalysator des Paradigmenwechsels vom französischen zum englischen Geschmack, des Shakespeare-Kults und auch Vorreiter in der Ausbildung von Englischlehrern, nicht zuletzt für das protestantische Süddeutschland. Zahlreiche später bedeutende Briten und auch die königlichen Prinzen haben hier studiert. „In Göttingen wurde englischer Geist ein Mittel zur Entfaltung deutschen Wesens“ (a.a.O.) - ein Ansatz, den das Dritte Reich pervertiert, der aber das gesamte 19. Jahrhundert hindurch trägt. Im Zusammenhang mit der hier skizzierten Entwicklung erfährt der Kanon der Begründungen von Englischunterricht eine Erweiterung: Die belletristische Komponente tritt hinzu; Englischkenntnisse werden zum Mittel, sich literarische Schätze zu erschließen. Im späten 18. Jahrhundert floriert der Buchimport aus England, später dann werden die Werke in großem Stil im deutschsprachigen Raum selbst nachgedruckt. Zahlreiche Göttinger Professoren unternehmen Englandreisen. Lichtenberg berichtet bei seiner ersten Reise aus London, Göttingen stehe in allgemeiner Achtung. König Georg III. besucht ihn in seiner Wohnung, und er lernt den Schauspieler Garrick kennen, der im Rahmen der Wiederbelebung Shakespeares eine wichtige Rolle spielt. Lichtenberg gibt seine ausgezeichneten Kenntnisse der englischen Literatur in Göttingen weiter, u. a. an die Dichter des Göttinger Hainbundes, so auch an Gottfried August Bürger, unter dessen Leitung August Wilhelm Schlegel seine Shakespeare-Übersetzung beginnt. Auch Ludwig Tieck ist Göttinger Student. Bürger übersetzt Teile von Percys Relics of Ancient Poetry und schafft damit die Voraussetzung für den Ossian-Kult der Romantiker. Von Percy führt der Weg zu Achim von Arnim und Clemens Brentano. In regionalem Kontakt zu Göttingen stehen Bildungseinrichtungen wie das Collegium Carolinum zu Braunschweig, an dem der bedeutende Englischlehrer Johann Arnold Ebert Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 21 39 (2010) bereits im Studienjahr 1751/ 52 - noch vor Beginn des Siebenjährigen Krieges also - laut Lektionskatalog nicht nur die Anfangsgründe der Sprache vorträgt und Tompsons Miscellanies erklärt, sondern auch Miltons Paradise Lost liest. Ein weiteres Beispiel, das den neuen Ansatz zeigt, liefern die Wöchentlichen Hallischen Anzeigen vom April 1759 für die Universität Halle: Hier wird Magister Thomas Abbt „das Genie der englischen Sprache erklären, die Regeln geben, ihre Schriftsteller zu verstehen und poetische Stücke kritisch durchgehen“ (D IETRICH 1956: 1043). Selbst in den Schriften der Prinzenerzieher wird nun der literary turn sichtbar, obgleich der politische Wert der behandelten Sprachen weiterhin im Vordergrund steht. In seiner Schrift Unterricht von den wahren Vorzügen (1763) argumentiert Adolph Friedrich von Witzendorf für das Englische wie folgt: „Ich will nur noch einen Beweggrund hinzusetzen, welchen Sie in den schönen Büchern finden können, die vornehmlich diese Sprache in allen und besonders in den Schönen Wissenschaften aufweisen kann. Die Engländer sind es, […] welche in der Poesie und Rednerkunst das Erhabene und Schöne der alten Schriftsteller der güldenen Zeiten in den Wissenschaften glücklich nachgeahmt haben, und sie verbinden einen edlen Schwung der Gedanken mit einem ungekünstelten Witze“ (Witzendorf 1763: 65 f) Das zeitgenössischen Argument, gute Übersetzungen könnten - gerade im literarischen Bereich - an die Stelle des Originals treten und den Erwerb des Englischen als einer (zumal phonetisch-prosodisch) so schwierigen Sprache überflüssig machen, weisen gleich mehrere Lehrwerkautoren in den Vorworten zu ihren Werken zurück, so Johann Christoph Prager in seiner Englischen Grammatik (Coburg 1764): „Die Übersetzungen sind nicht allezeit so beschaffen, dass man sie wie das Original verehre. Entweder ist der Übersetzer dem Originale nicht gewachsen […], oder es lässt sich gar nicht ohne Nachteil des Originals und des Genies der Sprache übersetzen; welches man an den Übersetzungen englischer Dichter deutlich sieht. Milton, Pope und Young werden in der Übersetzung billig verehrt, aber in der Grundsprache erst bewundert“ (unpaginiert). 6. Martin Ehlers: Vorromantische Sichtweisen in neuer Diktion Die Erfolge Großbritanniens im Siebenjährigen Krieg, aber auch der ökonomische und technologische Fortschritt des Landes und sein politischer Liberalismus lösen seit dem Ende der 1760er Jahre jene Anglomanie aus, von der auch der junge Goethe sowie einige Jahre später Schiller erfasst werden. Ein bemerkenswertes Zeugnis dieser Entwicklung ist das Reformwerk Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen notwendigen Erfordernissen (Altona, Lübeck 1766) des Schulmanns, Englischlehrers und späteren Kieler Ordinarius der Philosophie Martin E HLERS . Er nimmt zur Frage neusprachlicher Studien ausführlich Stellung, wobei er insgesamt unvoreingenommen die zeitgenössische Rolle des Französischen würdigt. Ganz ähnlich wie später Johann Christoph S CHWAB (1785) beschreibt er die aurea mediocritas der Franzosen: „Die Franzosen machen überhaupt […] zwischen sehr kleinen Seelen und sehr starken Geistern eine Mittelgattung aus. Das 22 Konrad Schröder 39 (2010) Schlechte und Niedrige und das Tiefsinnige und Erhabene wird durchgängig an ihnen vermisst“ (E HLERS 1766: 13 ff). Dann aber fordert er, dass „nächst der französischen […] mein Schullehrer die englische Sprache verstehe. Dass England in allen Wissenschaften, in allen Werken der Kunst und des Geschmacks die größten und erhabensten Seelen und sich über die Menschheit fast erhebende Genies hervorgebracht habe, wird mir jetzt […] hoffentlich ohne Beweis zugegeben. […] Es ist ausgemacht, dass die Gründlichkeit den Hauptzug zum Gemälde des Nationalcharakters der Deutschen hergebe. […] Endlich fangen die Deutschen an, die Engländer kennenzulernen. Sie finden unter ihnen die gründlichsten und tiefsinnigsten Köpfe, sie finden, dass auch die gründlichsten Gelehrten die größten Liebhaber der Schönen Wissenschaften sind, sie lernen, was die Franzosen sie nicht gelehret hatten, dass die Beschäftigungen des Verstandes sich auch über die Werke der Kunst erstrecken und kommen also nach der Anmerkung der größten Kunstrichter unserer Zeit über die Metaphysik zu den Werken des Geschmacks. […] Man liest hierbei die vortrefflichsten Schriften der Engländer, man fühlt sich von sympathetischen Empfindungen dahingerissen, und nun bricht das sonst in der Brust der Deutschen verschlossene und erstickte Feuer für die Schönen Wissenschaften allenthalben in den hellsten Flammen hervor“ (a.a.O.). Der Text markiert schon durch seine Sprache, die Intensität der Bilder, aber auch durch den partiellen Verzicht auf rationale Argumente den Übergang auf Sturm und Drang, Klassik und Romantik. Die belles lettres rücken nun ins Zentrum der Argumentation, und Autostereotypen des Deutschseins, die dann das 19. Jahrhundert beherrschen und entsprechendes Unheil anrichten werden, dienen als Bezugspunkt. Der Einfluss der französischer Sprache und Kultur wird abgewertet: Volk und Sprache sind ohne Höhen und Tiefen, eben mittelmäßig und damit für den Deutschen wesensfremd. 7. Das Ende des Jahrhunderts: eine Trias der modernen Schulsprachen, auch im katholischen Raum Damit ist das Arsenal, mit dem man dann bis weit ins 19. Jahrhundert hinein für das Englische als Schul- und Universitätsfach eintritt, komplett. Bis zur Jahrhundertwende kommt wenig Neues hinzu. Die Sichtweisen Ehlers’ werden Gemeingut. Sie werden wörtlich zitiert, wie etwa im Vorwort zu einer 1772 anonym und ohne Ortsangabe erschienenen Kurzen Anweisung zur Englischen Sprache für Anfänger, oder aber dem Sinne nach wiederholt. Gleichzeitig kommt das Englische im Schulbereich weiter voran, so etwa in Weimar selbst, dem Gravitationszentrum der deutschen Klassik: In einem Visitationsbericht des Jenenser Professors Ernst Jakob Danov auf Geheiß der Herzogin Anna Amalia (1769) heißt es, „von den neuen Sprachen sei die Erlernung des Französischen, Englischen und Italienischen jetzt für alle Stände ganz unentbehrlich geworden; daher dürften die Schüler nicht eher die Akademie beziehen, als bis sie diese Sprachen erlernt hätten“ (F RANCKE 1916: 66 f). Was den Sprachenkanon angeht, so bildet sich nun jene Trias heraus, die die Ausbildungsgänge der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrscht: Französisch (erste Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 23 39 (2010) moderne Fremdsprache trotz eines preußischen Verbotes von 1816), Italienisch (langsam auslaufend) und Englisch (aufsteigend). „Diese drei Sprachen sind nicht bloß den Gelehrten zum Lesen […] der darin geschriebenen Bücher, sondern auch in der kultivierten Welt zum Reden und Schreiben nötig“ (Johann David Michaelis 1773 in seinem Standardwerk Raisonnement über die protestantischen Universitäten Deutschlands - zitiert nach A EHLE 1938: 69). Das Englische ist nun nicht mehr auf den protestantischen Raum beschränkt: Es wird zunehmend auch im katholischen Deutschland und in Österreich gelernt, trotz der 1778 von Maria Theresia attestierten religions- und sittenverderblichen Prinzipien. Bestes Beispiel ist Wien selbst: Zwar durchkreuzt Maria Theresia mit ihrem Dekret einen Antrag der Wiener Universität auf Anstellung eines Lehrers der englischen Sprache, doch gleichzeitig fordert der Wiener Universalhistoriker Ignaz Mathes von Hess, wenn auch posthum, in seinem (freilich im protestantischen Halle erschienen) Werk Gedanken über die Einrichtung des Schulwesens neusprachlichen Unterricht ab der 3. Klasse der k. k. Mittelschule. Unter den zu unterrichtenden Sprachen befindet sich das Englische. Ein Jahr später verlegt der Wiener Drucker von Trattner eine Kurze Einleitung zu der englischen Sprache von Jakob Kemper. Am Wiener Theresianum, einer Ritterakademie mit Schwerpunkt auf den abend- und morgenländischen modernen Sprachen, wird bereits 1769 Englisch unterrichtet (A EHLE 1938: 115). Maria Theresias Dekret, das im Hochschulbereich der k. k. Staaten durchaus retardierend wirkt, muss gesehen werden vor dem Hintergrund der im Zeitalter des erwachenden Nationalismus erforderlichen neuen Mehrsprachigkeitspolitik für die habsburgischen Staaten, aber auch als eine Reaktion auf das Eindringen republikanischen Gedankenguts über englische Übersetzungen in Frankreich indizierter Schriften. Um solche Texte lesen zu können, greift schließlich auch der rheinische Kaplan zum Englischbuch. Die Französische Revolution wirft ihre Schatten voraus. 8. Ein Stück Exotik: Die American Connection Der Überblick wäre nicht komplett ohne den Hinweis auf einen weiteren, eher marginalen Begründungszusammenhang, die American Connection. Zwar kommt es erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Massenemigration nach Amerika und zu eigenen Lehrbüchern für Auswanderer (F RANZ 2005), doch bereits 1710 erscheint, konfessionell motiviert (Mennoniten), in London anonym ein kleiner Leitfaden A Short and Easy Way for the Palatines to Learn English, oder Eine kurze Anleitung zur englischen Sprache, zum Nutz der armen Pfälzer. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776-1783) kommen auf britischer Seite deutsche Truppenkontingente zum Einsatz, für die auch wieder eigene Lernmaterialien auf den Markt gelangen, vor allem aus der Feder Johann Nikolaus Karl Buchenröders, so etwa Der getreue englische Dolmetscher, welcher denen Hannoverisch-, Braunschweigisch- und Hessischen Truppen das unentbehrlichste der englischen Sprache in Kurzem zu erlernen mitteilt (Hamburg, Schwerin 1776 u.ö.). Und dann ist da Johann Christoph S CHWAB s 1785 in Tübingen veröffentlichtes Werk Von den Ursachen 24 Konrad Schröder 39 (2010) der Allgemeinheit der französischen Sprache und der wahrscheinlichen Dauer ihrer Herrschaft, eine von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin preisgekrönte Arbeit des an der Hohen Karlsschule zu Stuttgart tätigen Philosophieprofessors. Schwabs Argumentation kulminiert in der Annahme, dass der zeitgenössische Status quo (Französisch als internationale Sprache) so lange erhalten bleibt, wie die Franzosen nichts unternehmen, das dem Rang ihrer Sprache und Kultur abträglich sein könnte: „Es müsste entweder die französische Sprache oder die Kultur der Nation, die sie spricht, oder die politische Größe derselben herabgewürdigt werden, und diese Dinge müssten bei einer anderen Nation in eben dem Maße wachsen. Allein wer wollte so etwas vorhersagen, ohne sich die Miene eines Propheten zu geben“ (S CHWAB 1785: 136 f). Der Sieg über Napoleon, die in England ihren Ausgang nehmende Industrielle Revolution und die fortdauernde kulturpolitische Ausstrahlung Großbritanniens werden nach 1813 bzw. 1815 die Voraussetzungen für die zunächst schleichende Umgewichtung schaffen. Noch geht für Schwab vom Englischen keine Gefahr für die Weltgeltung des Französischen aus, trotz der Tatsache, dass „die englische Sprache […] eine der leichtesten [sic! ] in Europa“ ist, „die englische Nation einen hohen Grad der Kultur“ erreicht hat, „der englische Staat durch seine vortreffliche Verfassung und die Energie des englischen Geistes“ eine „große Macht“ verkörpert, „die wissenschaftliche Kultur der englischen Nation seit dem Anfang unseres Jahrhunderts ungemein gestiegen“ ist und „diese in der Tat große Nation durch ihre Eroberungen und Triumphe in dem Siebenjährigen Kriege ganz Europa erfüllte“. Denn das Naturell des Engländers ist anders: „Diese Ursachen aber sind bleibend, denn der Engländer wird durch seinen Charakter, der ohne Zweifel im Klima gegründet ist, eben sowohl als durch die Lage seines Landes, der toto divisus orbe Britannus bleiben“ (S CHWAB 1785: 104 ff). Unmittelbar im Anschluss an dieses Zitat folgt dann aber der wohl prophetischste Satz der ganzen Schrift: „Ich rede aber bloß von Europa, denn in dem nördlichen Amerika kann diese Sprache mit der daselbst wachsenden Volksmenge eine ungeheure Herrschaft erlangen.“ Als Schwab den Satz niederschreibt, ist der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg gerade erst zu Ende. Literatur A EHLE , Wilhelm (1938): Die Anfänge des Unterrichts in der englischen Sprache, besonders auf den Ritterakademien. Hamburg: Riegel. A RNOLD , Theodor (1718): Neue englische Grammatica oder Kurzgefasste, jedoch deutliche und sichere Anweisung zur richtigen Pronunziation, Akzentuation und völligen Begreifung der englischen Sprache. Hannover: Förster. Zur Begründung des Englischlernens im Deutschland des 18. Jahrhunderts 25 39 (2010) B EHRENS , Dietrich (1919): „Beiträge zu einer Geschichte der französischen Sprache“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 45, 157-234. C OMENIUS , Johann Amos (1657): Opera Didactica Omnia. Variis hucusqve occasionibus scripta, diversisqve locis edita: nunc autem non tantum in unum, ut simul sint, collecta, sed & ultimo conatu in Systema unum mechanice constructum, redacta.Pars II. Ea comprehendens qvae ab Anno 1642 ad 1650 scripta & edita fuere. Novissima Linguarum Methodus. Fundamentis Didacticis solide superstructa: Latinae L. exemplo realiter demonstrata: Scholarum usibus jam tandem examussim accommodata: Sed & insuper aliis Studiorum generibus magno usu accommodanda. Anno 1648. Amsterdam: Laurentius de Geer. D IETRICH , Gerhard (1956): „Zur Geschichte der englischen Philologie an der Martin-Luther-Universität Halle/ Wittenberg“. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle/ Wittenberg, Gesellschafts-Sprachwissenschaftliche Reihe 5, 1041-1056. D IETZE , Hugo (1927): Methodik des fremdsprachlichen Unterrichts an Handelsschulen. Leipzig: Gloeckner. E HLERS , Martin (1766): Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen notwendigen Erfordernissen. Altona, Lübeck: Iversen. F RANCKE , Otto (1916): Geschichte des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums in Weimar. Weimar: Böhlau. F RANZ , Jan (2005): Englischlernen für Amerika. Sprachführer für deutsche Auswanderer im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt. F RIEDLÄNDER , Ernst, Hrsg. (1892-1894): Matrikel der Universität Greifswald 1456 - 1700. 2 Bände. Berlin: Hauptstaatsarchiv. G ENTHE , Hermann (1879): Kurze Geschichte des Fürstlich Waldeckischen Landesgymnasiums Friedericianum zu Korbach. Mengeringhausen: Weigel. K INK , Rudolf (1854): Geschichte der Kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, Teile 1 und 2. Wien: Gerold. 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Dr. Herbert C HRIST , Im Heidkamp 2, 40489 D ÜSSELDORF E-Mail: herbert.ingeborg.christ@t-online.de Arbeitsbereiche: Geschichte der Fremdsprachendidaktik und des Fremdsprachenunterrichts, Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Mehrkulturalität. 39 (2010) H ERBERT C HRIST * Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts Abstract. In the course of the 19 th century, French teaching was implemented in schools. Only those teachers who received a specific university education and passed the academic examinations were employed. Depending on the teachers’ university education, the quality and function of teaching literature altered. The so-called “language masters” (maîtres de langue) of preceding centuries made use of literature in order to teach languages. However, the philologists belonging to the new generation intended to achieve further aims by teaching literature. How those aims were developed is shown by giving examples of didactic theory, by the choice of authors as well as texts, and by methods of teaching literature. 1. Der sozialhistorische Rahmen Im 19. Jahrhundert wurden moderne Fremdsprachen in den Fächerkanon der Gymnasien und der Realanstalten aufgenommen. Damit kündigt sich ein folgenreicher Bruch in der Entwicklung der Lehre der modernen Sprachen an, gehörten sie doch bis dahin - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - zum Bereich der privaten Unterweisung. Nun wurden sie zu „Fächern“, die staatlich reguliert, beaufsichtigt und auf ihre Ergebnisse überprüft wurden. Nunmehr wird der Fremdsprachenunterricht von der öffentlichen Hand alimentiert: die Lehrer werden regelmäßig besoldet, von den Schülern werden für diesen Unterricht keine besonderen Beiträge erwartet (wie etwa für den Musik- oder den Tanzunterricht). Die Zahl der „höheren“ Schulen nimmt zu, sie werden von einer größeren Zahl von Schülern frequentiert. Die Lehrer müssen eine besondere Ausbildung nachweisen und Eignungsprüfungen bestehen (z. B. das examen pro facultate docendi). Dass die Vorbereitung für das höhere Lehramt in Deutschland den ausdrücklich nicht für die berufliche Ausbildung vorgesehenen Philosophischen Fakultäten anvertraut wurde, hatte weitreichende Folgen. In diesem Beitrag wird die Rolle untersucht, die die „schöne Literatur“ im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts spielte und wie und in welcher Absicht und zu welchem Zweck sie in den schulischen Lehrgang integriert wurde. Literatur spielte beim Lehren und Lernen fremder Sprachen zwar immer schon eine Rolle. Die maîtres wie auch vor allem die demoiselles hatten sie ihren Schülerinnen und Schülern im privaten Unterricht keineswegs vorenthalten. Hier soll nun dargestellt werden, wie sich in dieser Traditionslinie der schulische Literaturunterricht entwickelte. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 27 39 (2010) 2. Ein Beispiel zum Literaturunterricht aus der ersten Jahrhunderthälfte Les aventures de Télémaque, Fénelons für die Prinzen des Hauses Bourbon verfasster Erziehungsroman, 1699 publiziert, war im 18.und 19. Jahrhundert weit verbreitet und wurde in viele Sprachen übersetzt. Das Buch machte auch eine beispiellose Karriere als Lehrmittel für den Unterricht in Französisch als Fremdsprache (M INERVA 2003a, 2003b). Dazu musste es allerdings annotiert und kommentiert werden. Als Beispiel einer didaktischen Bearbeitung ziehe ich eine Ausgabe von Johann Ludwig K ÖHLER (1798) heran, die uns ins 19. Jahrhundert führt. Köhler überarbeitete und ergänzte die erste didaktisierte Ausgabe für das deutschsprachige Publikum von Joseph Antoine VON E HRENREICH (1732), die im 18. Jahrhundert mehrere Auflagen erlebt hatte. Für ihn sind Les aventures de Télémaque lt. „Vorrede“ „ein classisches und unentbehrliches Schulbuch für alle diejenigen […] welche die französische Sprache lernen wollen“, denn „Herr von Fenelon (sic) [habe] in diesem unsterblichen Werk alle Reichthümer und Schönheiten der französischen Sprache aufgeschlossen und dargestellt“ (Köhler 1798, zit. nach C HRIST 2003: 12; [Hervorhebungen von H.C.]). Die ästhetische und die sprachliche Qualität, aber - wie an anderer Stelle ausgeführt - auch seine erzieherische moralische, empfehlen den Télémaque als Lehrwerk für den Französischunterricht. Köhler bearbeitete den Text, indem er erstens in Fußnoten „durch deutsche Anmerkungen schwere Wörter, Redensarten und Constructionen, Gallicismen, Antiquitäten, Mythologie, Historie und Geographie deutlich [und das heißt auch unmittelbar am Text] erklärt und erläutert“ (a.a.O.: 12), indem er zweitens dem Text ein Register beigibt, „welches alle Worte, Wortfügungen oder Constructionen, Gallicismen und dergleichen vorzüglich merkwürdige Redensarten, die etwas Besonderes haben“ (a.a.O.: 21) im systematischen Zusammenhang darstellt und drittens ein „Zweytes Register“, das „eine Erklärung der vorkommenden Fabeln, Historien, die Namen und Beschreibung der Personen, Götter, Helden, Städte, Landschaften, Flüsse, Berge und dergl.“ liefert (a.a.O.: 24). Von den „Schönheiten der französischen Sprache“ ist in den Kommentaren und Registern nur wenig die Rede, dagegen sehr viel von Lexik und Grammatik sowie von Mythologie und Geographie. Zu Köhlers Methodenarsenal gehören Übersetzung ins Deutsche, kontextuelle Erklärung der Inhalte, semantischer und grammatischer Kommentar und der 64-seitige, deutschsprachige, alphabetisch geordnete beschreibende Text zur Mythologie und zu den „Sachen“. Die Literaturlehre ist Sprachlehre und vor allen Dingen Inhaltslehre. Auf der Basis solcher kommentierter und annotierter Ausgaben konnten Lehrer ihre Schüler „Fenelons (sic) Schrift: les Aventures de Télémaque übersetzen lassen, und die Übungen im Sprechen fortsetzen“, wie der Königlich Westfälische „Allgemeine Lehrplan für das Lyceum und die Bürgerschule“ aus dem Jahr 1812 es verlangt (C HRIST / R ANG 1985: III, 14). 28 Herbert Christ 1 Zu Daulnoye: C HRIST (1992), H AUPTMANN (1986). 39 (2010) 3. Wie Heinrich Heine mit der französischen Literatur Bekanntschaft machte Der Französischlehrer von Heinrich Heine war ein Zeitgenosse von Köhler: Jean-Baptiste Daulnoye, geb.1765, ehemaliger Priester, 1790 aus Frankreich geflohen. In Deutschland lebte er zunächst als Privatlehrer, publizierte in rascher Folge Lehrbücher und Anthologien. 1799 wurde er Professor am Gymnasium in Dortmund, 1805 am Lycée de Düsseldorf (damals Grand Duché de Berg), zunächst als professeur de seconde classe, nach langer Korrespondenz mit den Behörden von 1810 ab - Napoleon war auf dem Höhepunkt seiner Macht - als professeur de première classe mit den doppelten Bezügen, welche ihm die preußische Verwaltung sogleich nach der Eroberung des Rheinlandes im Jahr 1814 wieder entzog. Er verbrachte seine letzten Berufsjahre im Herzogtum Nassau in Weilburg. 1 Daulnoyes Lebenslauf spiegelt die wechselhafte Konjunktur des Französischunterrichts zwischen 1790 und 1820 wider. Auf dem Höhepunkt dieser Konjunktur war nach dem „Programm“ des lycée de Düsseldorf von 1812 der Französischunterricht folgendermaßen gestuft: Im ersten Jahr wurden die Redeteile, im zweiten die Syntax unterrichtet. Im dritten und vierten Lehrjahr folgten Übersetzungen ins Deutsche, Übersetzungen ins Französische und Stilübungen (version, thème und exercices de style): Eine Komödie von Florian und ein Abriss der deutschen Geschichte wurden ins Deutsche, Texte über die deutsche Geschichte ins Französische übersetzt. Jede Woche schrieben die Schüler einen französischen Aufsatz, der korrigiert wurde. In den letzten beiden Jahren standen die Rhetorik und die Poetik auf dem Programm, und zwar in folgender Form: Vorlesung zur Literaturgeschichte, explication littéraire, praktische Übungen u. a. zur metrischen Übersetzung von Gedichten. Heinrich Heine erregt sich noch 30 Jahre später in seinen Memoiren, dass Daulnoye ihn die Hexameter aus Klopstocks Messias in französische Alexandriner übersetzen ließ: „Es war ein Raffinement von Grausamkeit, die alle Passionsqualen des Messias selbst übersteigt, und die selbst dieser nicht ruhig erduldet hätte“ (H EINE 1968: IV, 531). Literaturunterricht ist für Daulnoye in erster Linie praktischer Unterricht. Die Sprachlehre wird in der Beschäftigung mit der Literatur fortgeführt. Sie ist kontrastiv angelegt: daher die Vielzahl der Übersetzungen in beiden Richtungen, inklusive der Versuche zur metrischen Übersetzung von Dichtung. Aber Literaturunterricht ist nicht nur praktisches Tun; Daulnoye lehrt Literatur auch geschichtlich und systematisch. Als Grundlage hierfür hat er einige Bücher verfasst, Chrestomathien auf der einen und einen Abrégé des règles de l’art oratoire und einen Abrégé des règles de l’art poétique auf der anderen Seite. Zu diesen seinen Schulbüchern schreibt Heine in seinen Memoiren: Er hatte mehrere französische Grammatiken sowie auch Chrestomathien, worin Auszüge deutscher und französischer Klassiker, zum Übersetzen für seine verschiedenen Klassen, geschrieben; für die oberste veröffentlichte er auch eine « Art oratoire » und eine « Art poétique », zwei Büchlein, Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 29 2 Karl Mager, 1810 in Gräfrath bei Solingen geboren, studierte u. a. in Bonn, Examen pro facultate docendi, Dr. phil. Nach Tätigkeit als Deutschlehrer in Frankreich und in Genf Gymnasiallehrer in Stuttgart, Aarau und Eisenach, 1856 in Wiesbaden verstorben. 3 Auf das methodische Konzept gehe ich aus Raumgründen nicht ein. Mager versteht die „genetische Methode“ als eine Weiterentwicklung von analytischer und synthetischer Methode. 39 (2010) wovon das erstere Beredsamkeitsrezepte aus Quintilian enthielt, angewendet auf Beispiele von Predigten Fléchiers, Massilions, Bourdaloues und Bossuets, welche mich nicht allzu sehr langweilten. Aber gar das andere Buch, das die Definitionen von der Poesie: l’art de peindre par les images, den faden Abhub der alten Schule von Batteux, auch die französische Prosodie und überhaupt die ganze Metrik der Franzosen enthielt, welch ein schrecklicher Alp! (H EINE 1968: IV, 530-531) L’Abbé Daulnoye unterrichtete im französisch dominierten Rheinland Literatur methodisch gestuft, historisch und systematisch, nicht immer zum Vergnügen von Heinrich Heine. 4. Literatur im Rahmen „Moderner Humanitätsstudien“: Karl Wilhelm Eduard Mager 2 Drei Stichworte charakterisieren Magers didaktischen Ansatz: der „schulmäßige Unterricht“, die „genetische Unterrichtsmethode“ 3 und die „Modernen Humanitätsstudien“. Schulmäßiger Unterricht ist diejenige Art des Unterrichtes, welche der Schule und ihren Zwecken gemäß ist, also erstens kein Unterricht, wie ihn das Leben gibt […]: wer also hier eine sogenannte Naturmethode kennen zu lernen hofft, eine Anleitung auf ähnliche Weise in der Schule fremde Sprachen zu lernen, wie wir als Kinder die Muttersprache gelernt haben, der kehre nur gleich wieder um - der Unterricht […] ist Kunst […] Schulmäßiger Unterricht [ist] zweitens kein bloßes Doziren, wie es bis auf den heutigen Tag mißbräuchlich von vielen Professoren unsrer Universitäten geübt wird. Ein Lehrer, der dem Schüler gegenüber nur ein sich selbst ablesendes Buch ist, unterrichtet nicht schulmäßig. […] Schulmäßiger Unterricht verbindet mit der Lehre […] daß der Schüler die Lehre auch verstehe, merke, einübe, anwende, mit einem Worte, daß er auch lerne, wenigstens lernen zu können (M AGER 1851: 492-493). Gegenstand des schulmäßigen Unterrichts sind die „modernen Humanitätsstudien“. Diese schulischen Studien grenzt Mager deutlich von dem wissenschaftlichen Studium an der Universität ab, etwa dem Studium der Philologie. So wenig aber der Unterricht in alten Sprachen, Litteraturen und Geschichte auf unseren Gymnasien Philologie ist oder classische Philologen bilden soll, was billig der Universität verbleibt, so wenig ist es von mir darauf abgesehen, als solle der Schulunterricht in neueren Sprachen und Litteraturen moderne Philologie sein. Nur studium humanitatis soll er sein (M AGER 1844: 26). Moderne Humanitätsstudien betreffen Sprache, Literatur und „Leben“ (an anderen Stellen spricht Mager von „Cultur“). Es erscheint ihm falsch, sie einengend unter der Rubrik „Sprachunterricht“ zu führen, wie es in den Lehrplänen steht. Richtig wäre es, Sprache 30 Herbert Christ 39 (2010) bzw. Sprachen und die sie bearbeitenden Wissenschaften in das anthropologische Fach, die übrigen Wissenschaften dagegen in das natürliche Fach einzuordnen. Ein Drittes ist nicht gegeben, denn „Recht, Sitte, Staat und Völkerleben“ wie auch Kunst und Religion sind Hervorbringungen des Menschen und der Menschheit und sind also dem anthropologischen Fach zugeordnet, das die (modernen und klassischen) Humanitätsstudien vermittelt. In dem Kreise dieser ethischen (oder historischen, oder anthropologischen) Wissenschaften und Künste haben die Sprachen und Literaturen nun die doppelte Stellung, dass sie einerseits rein als solche (dies ist der Gesichtspunkt der Linguisten und Philologen), andererseits als Inhalt der ganzen sittlichen und natürlichen Welt betrachtet werden können (M AGER 1843: 220-221). Moderne Humanitätsstudien betreiben Sprachbetrachtung und Sprachlehre „rein als solche“ wie auch Literaturlehre „rein als solche“. Dies ist jedoch nur die eine, die formale Seite dieser Studien. Der anderen Seite, der inhaltlichen, gebührt im Schulunterricht der Vorrang. Denn Sprachen und Literaturen transportieren den Inhalt der „ganzen sittlichen“ und auch der „natürlichen“ Welt. Die pädagogische Beschäftigung mit den Sprachen und Litteraturen, die somit zugleich ein Reale sind […] läßt den letzteren Gesichtspunkt vorwalten, so daß ein himmelweiter Unterschied zwischen wissenschaftlichem und schulmäßigem (humanem) Sprach- und Litteraturstudium ist (M AGER 1843: 221-222). Somit geht der Sprach- und Literaturunterricht in den Schulen ein neues Verhältnis zu den anderen Schulfächern - den Sach- oder Inhaltsfächern - ein. „Sprachen“ und „Litteraturen“ und „Wissenschaften“ sollen sich in der Schule auf neue Weise begegnen. Seiner wahren Natur und Bestimmung nach ist aber der Sprach- und Litteraturunterricht nicht nur dieses, er ist zugleich ein hochwichtiger Theil des Realunterrichts, ohne den der sonstige Unterricht in Naturkunde, Geographie, Geschichte u.s.w. gar nicht gedeihen kann; er ist endlich die wirksamste Schule der Denk- und Redekunst, wie denn auch eine hochwichtige Seite der praktischen Bildung (die ethische) großentheils auf ihm beruht (M AGER 1843: 223). Sprachenlernen und Sprachlehre sind demnach für Mager nur ein Moment des Sprach- und Literaturunterrichts, aber nicht deren Zentrum. 5. Das Problem der Auswahl der Literatur und die Suche nach einem Literaturkanon In den theoretischen Schriften Magers findet man keine Antwort auf die Frage, welche literarischen Texte für den Unterricht in der Schule auszuwählen seien. Diese Entscheidung wurde von den Behörden bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts weitgehend den Lehrern überlassen. Ein einziger Richtlinientext aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ging auf die Auswahlfrage ansatzweise ein, der badische „Lehrplan der Gelehrtenschulen“ von 1836. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 31 4 Der Allgemeine Deutsche Neuphilologen Verband setzte in den 90er Jahren „Kanonausschüsse“ für die Fächer Französisch und Englisch ein, die Vorschläge zur Auswahl von literarischen Texten und Textausgaben machten. Zum Ergebnis dieser Arbeiten s. exemplarisch T APPERT (1912). 5 Abgedruckt in C HRIST / R ANG 1985: II, 74-76. 39 (2010) In der vierten Klasse: fortgesetzte Uebung in dem Uebersetzen aus dem Französischen ins Deutsche, und umgekehrt, […] Gebrauch von Berquins Jugendschauspielen, von Florians und Lafontaines Fabeln; im zweiten Jahre von Voltaires Charles XII. In der fünften Klasse wird eine ausführliche Chrestomathie eingeführt, welche prosaische und poetische Stücke enthält […]. In der sechsten Klasse fortgesetzter Gebrauch der Chrestomathie, mit besonderer Berücksichtigung auf Redner und Dramatiker (C HRIST / R ANG 1985: III, 21). In der zweiten Jahrhunderthälfte häufen sich allerdings die Äußerungen zur Auswahl literarischer Texte. In der preußischen „Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen und der höheren Bürgerschulen“ von 1859 heißt es dazu: Das Französische und das Englische sind für die Realschule nicht nur als moderne Verkehrssprachen wichtig, sondern auch deshalb, weil beide Sprachen im Gebiete der Realwissenschaften eine reiche Literatur besitzen, deren Verständniß auf der Schule vorbereitet werden muß. […] Das Ziel des Unterrichts ist diejenige Sicherheit in der Grammatik und eine solche Kenntniß des Wortvorraths und der eigenthümlichen Ausdrucksweisen, welche zum Verstehen der prosaischen und poetischen Literatur beider Sprachen befähigt […] Französische Theaterstücke sind nicht unbedingt vom Schulgebrauch auszuschließen; doch ist alles Unpassende fernzuhalten. Die Schule hat es am meisten mit der historischen, beschreibenden und oratorischen Prosa, wobei die Auswahl nach ethisch-pädagogischen Gesichtspunkten zu treffen ist (C HRIST / R ANG 1985: II, 62-63). Angaben zu Autoren werden hier nicht gemacht und von einem Kanon der zu lesenden Texte ist nicht die Rede. Zwei Anweisungen fallen jedoch auf: die Studien sind in den Realanstalten auf die „Realwissenschaften“ auszudehnen (s. Magers Konzept der Humanitätsstudien) und die Auswahl muss nach ethisch-pädagogischen Gesichtspunkten getroffen werden. Daher sollte man bei französischen Theaterstücken besondere Vorsicht walten lassen. Ein Kanon wird jedoch spätestens in der Periode der neusprachlichen Reform von Lehrern auf Tagungen debattiert. 4 Es bestand offensichtlich auf ihrer Seite ein Bedürfnis der Abstimmung und der Absicherung, zumal sich manche mittleren Schulbehörden über die Auswahl literarischer Texte berichten ließen und zu der Praxis übergingen, diese zu genehmigen bzw. abzulehnen. So wurden Lehrer und Schulen mit einer nicht offen gelegten Kanonisierung konfrontiert, wie von Seiten des Provinzialschulkollegiums Koblenz im Jahr 1897: Nachdem es sich bei Gelegenheit der jährlich einzureichenden Vorschläge für die Schriftstellerlektüre gezeigt hat, daß innerhalb unseres Bezirks hinsichtlich der französischen und englischen Werke auch nach unserer Rundverfügung vom 12. Juni 1894 5 vielfache Unsicherheit nicht blos in der Wahl der Schriftwerke an sich, sondern insbesondere auch in der Abschätzung ihrer Schwierigkeit und in der entsprechenden Vertheilung auf die Schulklassen geblieben ist, lassen wir den Anstalten anliegend ein Verzeichnis derjenigen neusprachlichen Schriften zugehen, bei deren Wahl für die mitverzeichnete Klassenstufe unsere Genehmigung mit Sicherheit erwartet werden kann. 32 Herbert Christ 6 Z. B. Skandinavien, Russland, Ungarn, Norditalien. 7 Ich begann mit 1845, weil mit diesem Jahr die Programmschriften in Bayern obligatorisch wurden. Zu bemerken ist, dass die Pfalz im genannten Zeitraum zu Bayern gehörte. 39 (2010) Dieses Verzeichnis bezweckt nicht, einen Kanon darzustellen, an welchen die Schulen gebunden wären. Keineswegs sollen andere als die aufgeführten Schriftwerke ausgeschlossen sein. Vielmehr werden dahin gehende Vorschläge, namentlich wenn frühzeitig hierher eingereicht, von uns einer gebührenden Prüfung unterzogen werden, während bei den aufgeführten - die übrigens wesentlich nach den uns seither am häufigsten vorgeschlagenen Werken zusammengestellt sind - von vorn herein die Gewißheit der Genehmigung bis auf weiteres besteht (C HRIST / R ANG 1985: II, 77 [Hervorhebung von H.C.]) . Für das Französische werden 49 Textausgaben bzw. Sammlungen aus den Gattungen Geschichtsschreibung und -betrachtung, Reden, Erzählungen, „Naturwissenschaftliches, Geographisches, Technisches“, Dramen und „sonstige Dichtungen“ genannt. Das ist eine geringe Zahl. Die Bandbreite der Gattungen ist jedoch beachtlich. Die fiktionale Literatur ist gut repräsentiert, aber keineswegs dominant. Die Gattung „Naturwissenschaftliches, Geographisches, Technisches“ ist, so ist zu vermuten, vor allem mit Rücksicht auf die Realanstalten vertreten. „Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung, Zeitschilderung, Biographisches“ sollten ebenso den Gymnasien empfohlen werden. Die am Ende des Jahrhunderts sich etablierende „Realienkunde“ findet keine ausdrückliche Erwähnung, ihre Anhänger konnten jedoch in den historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Gattungen ausreichend Textbeispiele finden. Die Beteuerung der Behörde, sie bezwecke nicht, einen Kanon darzustellen, an welchen die Schulen gebunden wären, sicherte den Lehrern eine gewisse Freiheit zu, konnte aber auch als Erwartung verstanden werden, dass sie das behördliche Auswahlangebot akzeptierten. 6. Die Auswahl seitens der Französischlehrer Welche Autoren und welche Texte wählten nun die Lehrer tatsächlich aus? Wir können uns davon ein ziemlich genaues Bild machen, denn seit den 30er Jahren mussten die höheren Schulen jährlich gedruckte „Schulprogramme“ vorlegen, die neben einer wissenschaftlichen Abhandlung eines Lehrers der jeweiligen Schule einen statistischen Teil enthielten, in dem auch die Lehrbücher und die Lektüren in den einzelnen Sprachen, nach Klassen eingeteilt, aufgeführt wurden. Die Zahl der Programme, die unter den Schulen ausgetauscht wurden und daher eine rasche Verbreitung fanden, ist sehr groß. Franz K ÖSSLER (1987) hat ca. 50 000 aus dem gesamten deutschen Sprachraum und einigen angrenzenden Gebieten 6 für die Zeit zwischen 1825 und 1914 erfasst. Ich habe exemplarisch die bayerischen Schulprogramme von 1845 bis 1913 analysiert - insgesamt 4708 Programmschriften 7 (C HRIST 1990). In 2178 Programmen fanden sich Angaben über die Klassenlektüre in Französisch. In den übrigen wurden darüber keine Angaben gemacht. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 33 8 Zur Diskussion um die Literaturgeschichte im Französischunterricht im 19. Jahrhundert s. das Kapitel « Traiter l’histoire littéraire? » in C HRIST (1999: 256-260). 39 (2010) Die Zählung ergab 203 Autoren und annähernd 550 Werktitel - das ist im Vergleich zu der oben zitierten rheinischen Liste eine beachtliche Zahl, wobei allerdings zu bedenken ist, dass hier die Daten von einigen Jahrzehnten festgehalten sind. Die Mehrzahl der Titel sind „Ganzschriften“. Außerdem wurden 33 Anthologien und 13 Titel zur Literaturgeschichte genannt, die darauf schließen lassen, dass die Schüler auch damit befasst wurden, obwohl die Richtlinien und Lehrpläne in der Regel von einer systematischen Beschäftigung mit dieser abrieten. 8 Unter den ca. 550 Titeln (C HRIST 1990: 189-211) ist die klassische Literatur des 17. Jahrhunderts stark vertreten (u.a. Texte von Boileau, Bossuet, Corneille, Descartes, Fénelon, La Bruyère, La Fontaine, La Rochefoucauld, Molière, Racine, Madame de Sévigné), während aus dem 18. Jahrhundert erheblich weniger Autoren gelesen wurden (z. B. Beaumarchais, André Chénier, Montesquieu, Rousseau und Voltaire). Die Autoren des 19. Jahrhunderts - also die Vertreter der zeitgenössischen Literatur - stellen die weitaus größte Zahl. Dieses Interesse findet seine Rechtfertigung vor allem in der Modernität ihrer Sprache und ihrer Themen, so P LOETZ (1866). Allerdings wird die große Zahl der Titel aus dem 19. Jahrhundert relativiert, wenn man diese im Einzelnen betrachtet. Spitzenreiter ist Fénelon mit « Télémaque ». Er wurde in 289 Klassen gelesen, allerdings im Wesentlichen nur bis 1860. Voltaires « L’Histoire de Charles XII » nimmt den zweiten Platz ein: das Werk wurde in 279 Klassen studiert. Molière folgt mit « L’Avare » an dritter Stelle: er wurde 252 mal behandelt, öfter als « Le Misanthrope », « Les femmes savantes », « Le bourgeois gentilhomme » und « Le Malade imaginaire ». Auf dem vierten Platz steht Racines « Athalie » (229), allerdings im Wesentlichen vor 1880, auf dem fünften « Les considérations sur les causes de la grandeur et de la décadence des Romains » von Montesquieu (189), weit vor Corneilles « Cid » (145 mal). Einige Titel des 19. Jahrhunderts seien zum Vergleich den älteren gegenübergestellt: An der Spitze stehen Erckmann & Chatrian, vor allem wegen « L’histoire d’un conscrit de 1813 » (114 mal). Philippe Paul Ségur folgt mit « Histoire de Napoléon et de la Grande Armée » auf dem zweiten Platz (103 mal). Eugène Scribe besetzt mit « Le verre d’eau » den dritten Platz (94 mal). Hippolyte Adolphe Taines « Les Origines de la France contemporaine » bringt es auf 75 Erwähnungen, Alphonse Daudet « Lettres de mon moulin » steht 74 mal in unserer Liste. Prosper Mérimées « Colomba » ist 70 mal studiert worden. Flaubert, Maupassant und Stendhal werden nicht genannt, Balzac und Zola spielen eine ganz marginale Rolle. Interessant ist der starke Anteil von Historikern, Geschichtserzählern und Biographen. Das entspricht durchaus der Absicht der Richtlinienverfasser. 34 Herbert Christ 9 Diese Anthologie hat bis 1910 vierzehn Auflagen erreicht. - Zu Ploetz: geb. 1819, gest. 1881. Dr. phil., 39 (2010) 7. Ganzschrift oder Anthologie Die Frage Ganzschrift oder Anthologie wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Im Programm der Realschule in Krotoschin (Bezirk Posen) von 1852 schreibt G. Rodovicz: Quant au choix des auteurs […] les professeurs de langue se sont divisés en deux camps opposés […] Les uns préfèrent les pièces en entier; ils lisent, du moins dans les classes supérieures, d’un bout à l’autre, quelques traités touchant l’histoire, la morale, la philosophie, quelques peintures poétiques en vers ou en prose, et principalement quelques drames tant de l’école classique que du temps moderne. […] Les autres maîtres de langue […] n’hésitent pas de blâmer grandement cette allure, en applaudissant la maxime suivant laquelle on a, de toute ancienneté, accordé la préférence aux chrestomathies, aux anthologies, aux bons recueils des plus beaux morceaux, mûrement choisis dans l’intention d’écarter des jeunes âmes sensibles tout ce qui pût leur porter atteinte (R ODOVICZ 1852: 44-45). Rodovicz plädiert - du moins dans les classes supérieures - für die Ganzschrift, denn kein Lehrer der klassischen Sprachen und kein Deutschlehrer würde seinen Schülern in den Oberklassen das Studium von Textauszügen zumuten und man gelange aus dem Studium vieler Einzelteile nie zu einer Sicht des Ganzen. Sein Kollege Heinrich Neubauer von der Realschule Halle/ Saale unterstützt Rodoviczs Argumentation. Un des buts principaux de la lecture française en première, c’est de former, de corriger, d’ennoblir les expressions dont l’élève se sert en écrivant et en parlant. Il faut donc qu’il fasse attention au style de son auteur ; ce qu’il ne peut faire s’il en lit un autre tous les quinze jours (N EUBAUER 1860: 9). In der Sekunda dagegen sei es sinnvoll, Anthologien zu benutzen. Denn dort gehe es den Schülern darum, « de se convaincre par l’apparence, c’est-à-dire la lecture, que la grammaire n’existe pas seulement dans les têtes des savants ». Sie sollen also im Sprachkunstwerk die Sprache in Funktion erleben. Die Diskussion führte im Ergebnis zu einer Teilung der Aufgaben zwischen Anthologien und Ganzschriften. T IMME (1882) schlägt vor, vom fünften Lernjahr an ausschließlich mit Ganzschriften zu arbeiten, weil die Schüler eine „persönliche Beziehung“ zu den gelesenen Werken aufbauen sollten. Das ist ganz im Sinne der preußischen Lehrpläne für die höheren Schulen aus dem gleichen Jahr, die nachdrücklich fordern: „Es ist […] möglichst bald von dem Gebrauche der Chrestomathien zur Lektüre von ganzen Schriftwerken fortzuschreiten, deren Inhalt und Darstellung dem Standpunkte der einzelnen Klassen entspricht“ (C HRIST / R ANG 1985: II, 66). 8. Exemplarische Betrachtung einer Anthologie Ich wähle das Manuel de Littérature française eines außerordentlich erfolgreichen Lehrbuchautors: Karl Ploetz (P LOETZ 1866). 9 In seinem Avant-propos schreibt der Autor: Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 35 Gymnasiallehrer, seit 1860 Privatgelehrter. Zu seiner didaktischen Konzeption vgl. P LOETZ (1868). 39 (2010) Mon livre a pour but non seulement d’initier les élèves à la connaissance élémentaire de la littérature, mais encore d’offrir aux jeunes étrangers des lectures par lesquelles ils puissent apprendre la langue. Voilà ce qui explique la part considérable que j’ai accordée à la forme dramatique dans ce Manuel, qui contient l’analyse de plus de trente tragédies, drames et comédies (P LOETZ 1866: VI). Ploetz nimmt Magers Begründung für die Auswahl von Texten in veränderter Form wieder auf. Das erste Ziel der Sammlung ist die elementare Kenntnis der Literatur (als Teil der Humanitätsstudien), das zweite die Sprachlehre. Was versteht Ploetz unter „elementarer Kenntnis der Literatur“? Dazu gehört zuerst ein Überblick über die Geschichte der Literatur. Dieser wird im Manuel geliefert. In einer Introduction von 30 Seiten gibt Ploetz einen Überblick über die Entwicklung der französischen Sprache und Literatur von den Anfängen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Dann folgt auf mehr als 700 Seiten der Überblick über die Literatur seit Corneille, mit der Darstellung des Lebens und des Werks von ca. 90 Autoren und der Präsentation und dem Abdruck von ca. 150 Auszügen oder kurzen Texten (z. B. Gedichten, Briefen). Ploetz diskutiert nicht über den Sinn und Unsinn literaturgeschichtlicher Unterweisung, sondern präsentiert die Texte im Rahmen eines historischen Handbuchs zur Literatur (und Sprache) Frankreichs. An einem Auszug aus einer Komödie von Scribe (« Bertrand et Raton ou l’art de conspirer ») soll Ploetz’ Konzept der elementaren Kenntnis der Literatur näher erläutert werden. Der Auszug wird durch eine den Autor betreffende Notice biographique et littéraire eingeleitet (1866: 502-503). Leben und Werk werden dargestellt, Scribes herausragende Produktivität - er hat ca. 350 Stücke geschrieben - wird kritisch beurteilt. Sein Stil - « qui est vif et léger, [mais qui] manque souvent de force et de correction » - verdient nach Ansicht von Ploetz gelegentlich Tadel. « Mais un mérite qu’on ne peut pas lui contester, c’est l’art de la mise en scène et l’agrément du dialogue ». Nach dieser Notice folgt eine Einführung in das Stück, die den Inhalt erläutert und die abgedruckten Textpassagen in ihren Zusammenhang einordnet (1866: 503-504). Sodann folgen quelques scènes du second acte de la pièce. (1866: 504-513). Diese Szenen werden in Fußnoten sparsam erklärt und kommentiert. Einige Beispiele zur Erklärung und Kommentierung: Der Ladendiener Jean bezeichnet seinen Herrn als « le bourgeois ». Erklärung: « Bourgeois était la dénomination dont se servaient les ouvriers, les domestiques, les garçons de boutique, etc. pour désigner leur maître ; dans ce sens, le mot patron tend aujourd’hui à remplacer bourgeois » (1866: 505, Fn. 1). Pérorer, Erklärung: « parler, discourir longuement et avec emphase» (1866: 506, Fn. 1) Par exemple ! Erklärung: « exclamation qui s’emploie souvent dans le langage familier pour exprimer l’étonnement, l’incrédulité ou l’indignation ». Toast, Erklärung und Kommentierung: « (on prononce tōste) un des mots que la langue française de nos jours a empruntés à l’anglais sans nécessité, car on dit très bien en français : porter une santé à quelqu’un, boire à la santé de qn. etc. » (1866: 512, Fn 1). Die Satzkonstruktion « tu l’as fait entrer auprès d’un grand seigneur, où il n’a éprouvé que des chagrins » wird kritisch kommentiert: « Chez qui ou chez lequel serait plus exact » (1866: 506, Fn. 6). 36 Herbert Christ 10 Vgl. hierzu das Kapitel « En quelle langue enseigner la littérature française? » in C HRIST (1999: 251-255). 39 (2010) Aus den Beispielen geht hervor, dass Ploetz normativ erklärt und kommentiert. Bourgeois ist in der gegebenen Bedeutung veraltet und durch patron zu ersetzen, Anglizismen sind unnötig, où als Relativpronomen mit Bezug auf eine Person ist unexakt, umgangssprachliche Ausdrücke wie Par exemple ! akzeptiert Ploetz zwar, aber er macht ihre Stilebene kenntlich. Das angestrebte Lernziel ist der gute Gebrauch - le bon usage -, der gehobene Stil. Dementsprechend ist das Lehrbuch geschrieben. « Un manuel de littérature française destiné [aux grandes classes] doit être écrit en français » (P LOETZ 1866: I). Die Lehrer sollen mit ihren Schülern konsequent Französisch sprechen. Denn « toute leçon, qu’elle soit consacrée spécialement à l’étude de la grammaire ou à celle de la littérature, doit être en même temps une leçon d’usage pratique. Il faut que les élèves des classes supérieures soient assez avancés pour que le maître puisse, sans inconvénient, leur parler la langue qu’il leur enseigne (P LOETZ 1866: I). In Sachen Unterrichtssprache war die Meinung der Französischlehrer jedoch keineswegs einhellig. Im Gegenteil: Diese Frage wurde bis in die Periode der Reform (und darüber hinaus) heftig diskutiert. 10 9. Zum Schluss: Ausbildung der Französischlehrer im 19. Jahrhundert Wenn ich zum Schluss nach der Ausbildung der Französischlehrer im 19. Jahrhundert frage, dann gerade auch im Hinblick auf den Literaturunterricht und auf das zuletzt behandelte Thema der Wahl der Unterrichtssprache. Es stellt sich natürlich die Frage, wie die Neuphilologen auf den Französischunterricht und auf den Literaturunterricht vorbereitet wurden. Ploetz’ Manuel war von einem gebildeten Neuphilologen für Neuphilologen geschrieben. Diese hatten in der Regel (wie er selbst) ein dreijähriges Universitätsstudium (das sogenannte Triennium) zu absolvieren und mit einem Staatsexamen abzuschließen. Daran schloss sich ein Kandidatenjahr an. Was wurde im Universitätsstudium vermittelt? Wer z. B. sein Studium für Französisch 1868 am Giessener Romanischen Seminar unter Ludwig Lemke aufnahm, (ich habe den Fall exemplarisch in C HRIST 2003: 54-56 dargestellt) dem wurde in seinem ersten Semester ein Seminar „Altfranzösische Grammatik“ und eine dreistündige Vorlesung „Literaturgeschichte der abendländischen Völker im Mittelalter“ angeboten, im folgenden Wintersemester ein Seminar „Italienisch“ und eine dreistündige Vorlesung „Geschichte der französischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert“. Im Sommersemester 1869 stand ein Seminar „Die drei ersten Gesänge von Ariostos Orlando furioso“ auf dem Programm sowie eine zweistündige Vorlesung „Syntax der französischen Sprache Erster Teil“. Im nächstfolgenden Semester wurden ihm zwei Vorlesungen, „Einleitung in die romanische Philologie“ und „Französische Syntax Zweiter Teil“, sowie ein Seminar „Provenzalische Grammatik und Erklärung ausgewählter Gedichte der Troubadours“ geboten. Daneben wurden Veranstaltungen der Lektoren und Übungen im Interpretieren und Anleitungen zu Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 37 11 Zitiert in Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie. IV Unterricht in den romanischen Sprachen und Literaturen, 1911/ 1912, 6-24. 39 (2010) schriftlichen Arbeiten in einer „Gesellschaft für neuere Sprachen“ angeboten, die auch für Anglisten gedacht war. Lemke unterrichtete also Geschichte der romanischen Literaturen vom Mittelalter bis zur Neuzeit (mit Ausblicken auf germanische Literaturen), Grammatik der romanischen Sprachen, historische Sprachwissenschaft und das Handwerk der Philologie. Er leitete auch zum Interpretieren und zum Schreiben in Französisch und Englisch an. Das Lehrprogramm, das er als einziger Professor anbot, mag aus heutiger Sicht als wenig umfangreich erscheinen, es muss jedoch als Teil eines Mehrfachstudiums betrachtet werden. Denn die Studenten wurden nicht nur als Romanisten ausgebildet. Sie studierten Anglistik und Germanistik und die alten Sprachen, in der Regel auch noch Sachfächer wie Geschichte und Erdkunde. Darauf, dass der Student einmal Lehrer werden sollte, wurde wenig Rücksicht genommen. Von Berufsvorbereitung war keine Rede. Eine Ankündigung wie die des Marburger Privatdozenten Hinkel vom Wintersemester 1845/ 1846 « Première partie de la grammaire française accompagnée d’explications de textes français à l’usage de futurs enseignants » 11 ist eine große Seltenheit. Das auf den Hochschulabschluss folgende Kandidatenjahr war ein Jahr der Meisterlehre. Zumeist hatte ein verdienter Lehrer den Auftrag, sich des Neulings anzunehmen. Es war natürlich nicht garantiert, dass er selbst einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Französischen sah. Es gab nur wenige Schulen, die die Kandidaten in Seminaren empfingen, in denen die Ausbildung systematischer erfolgen konnte, wie z. B. schon am Ende des 18. Jahrhunderts im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin unter Friedrich Gedikes Leitung. Wir wissen aus zahlreichen Biographien von Fremdsprachenlehrern (s. hierzu C HRIST 1987), dass sie nach einer im Allgemeinen wenig spezifischen Ausbildung ihre Spezialisierung in den Berufsjahren nachholten. Ein beliebter Weg, die Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern war ein Auslandsaufenthalt, der häufig durch Deutschunterricht in Universitäten oder Schulen oder durch eine Tätigkeit als Hauslehrer finanziert wurde (so machten es z. B. Mager und Ploetz). Ein anderer Weg der beruflichen Qualifizierung war das, was wir heute als Fortbildung bezeichnen würden, und zwar z. B. Fortbildung durch regelmäßige Diskussion mit Kollegen. Ein Prototyp solcher Diskussionszirkel war der von Adolf Ey 1879/ 1880 in Hannover begründete „Verein für neuere Sprachen“ (zu Ey s. C HRIST 1987), der später zur Keimzelle des „Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes“ wurde. Ein weiteres wichtiges Medium der Fortbildung waren ohne Zweifel die oben genannten Schulprogramme mit den Programmschriften, die die Lehrer bewusst als Diskussionsforen benutzten, wie später dann die neusprachlichen Zeitschriften. Es erscheint heute erstaunlich, wie groß die Zahl der publizierenden Französischlehrer im 19. Jahrhundert war. Schließlich waren die Kongresse ein Ort, an dem man sich fortbilden konnte. Sie vor allem haben die neusprachliche Reform zu einer machtvollen Bewegung gemacht. 38 Herbert Christ 39 (2010) Zusammenfassend: Die Universität bildete nicht zum Französischlehrer aus, sondern zum Philologen. Der bloße Begriff der Ausbildung war verpönt. In der Universität erfuhr man nach deren Selbstverständnis Bildung, man erhielt jedoch durch das Studium die Lizenz zur Lehre. Was der „schulmäßige Unterricht“ (Mager) leisten sollte, das wurde von der Philologie kaum je reflektiert - wohl gelegentlich von den Prüfungsämtern (H AENICKE 1982), in den Richtlinien und in der didaktischen Literatur. Die Französischlehrer waren also auf ihre eigene Initiative zur Ergänzung ihrer Hochschulstudien angewiesen, und wie wir aus vielen Beispielen wissen, ergriffen sie diese. Literatur C HRIST , Herbert (1987): „Fremdsprachenlehrer im Porträt. 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E-Mail: klippel@lmu.de Arbeitsbereiche: Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Lehrerbildung, Methodik, interkulturelles Lernen, Unterrichtsforschung. 1 Mein wissenschaftliches Interesse an den Entwicklungen des Fremdsprachenunterrichts im 19. Jahrhundert und den Anteilen, die Ludwig Herrig und Hermann Breymann daran hatten, besteht schon seit vielen Jahren. So motivierte ich Esther K AUSCHKA (2001) zur Untersuchung des Herrigschen Seminars im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit und Michael R IEDL (2004) zu einer Dissertation, deren Thema die Analyse des Wirkens von Breymann im Kontext der Neusprachlichen Reform darstellt. Auf diese Vorarbeiten konnte ich mich für diesen Beitrag stützen, und ich danke meinen beiden früheren Studierenden dafür, dass sie meine wissenschaftliche Neugier geteilt und wertvolle Vorarbeiten geleistet haben. 39 (2010) F RIEDERIKE K LIPPEL * Sprache, Literatur, Lehrerbildung: die Leistungen von Ludwig Herrig und Hermann Breymann im Prozess der Professionalisierung im 19. Jahrhundert Abstract. In the 19th century modern language teaching was established at German secondary schools. This development was supported by changes in teaching materials as well as by the increasing attention paid to teacher education and professional exchange. Within this period highly motivated and highly competent language teachers and university professors played a crucial role as authors, policy makers, (academic) teachers and teacher educators. The article focuses on Ludwig Herrig and Hermann Breymann, two influential figures of the time, whose importance has not been fully recognized in historical research so far. It is argued that their involvement in practical questions of teaching and training may have been more influential than that of mere theorists. 1. Einleitung Bei jeder Untersuchung von historischen Entwicklungen stellt sich die Frage nach den Faktoren, die diese Entwicklungsprozesse angestoßen, vorangetrieben oder verzögert haben. Der gewählte historiographische Ansatz bedingt, ob politische Ereignisse, institutionelle Entwicklungen, technischer Fortschritt, Demographie, wirkmächtige Theorien oder Ideen, soziale Gegebenheiten oder einzelne Personen im Mittelpunkt der Erkenntnisinteressen stehen. Mit Ludwig H ERRIG und Hermann B REYMANN 1 , deren Namen in Verbindung mit der Entwicklung des Unterrichts in den modernen Sprachen und der Ausbildung der Fremdsprachenlehrer weniger häufig genannt werden als etwa die von Karl M AGER (vgl. H ÜLLEN 2008), Wilhelm V IËTOR , Karl E LZE oder Gustav K ÖRTING (vgl. F INKENSTAEDT 1983: 77 ff) soll zwei Neuphilologen Aufmerksamkeit geschenkt werden, die man als Eckpunkte der Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts in den lebenden Sprachen und der Etablierung einer gleichermaßen wissenschaftlich fundierten Sprache, Literatur, Lehrerbildung ... 41 2 Eine Fußnote zur geschlechterneutralen Sprachregelung erübrigt sich, da im 19. Jahrhundert nur Männer studieren und an Gymnasien und Realanstalten unterrichten durften. Zur Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts für Mädchen und der Lehrerinnenbildung siehe D OFF (2002). 39 (2010) und praxisorientierten Lehrerbildung verstehen kann. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sich diese Entwicklung linear, ohne Brüche oder Kontroversen vollzogen oder es zur damaligen Zeit keine Opposition zu den Ideen und Aktivitäten von Herrig und Breymann gegeben hätte. Beide waren dennoch - jeder auf seine Weise - in erheblichem Maße an der Gestaltung des Unterrichts und an der Vorbereitung von Lehrern 2 für diesen Unterricht beteiligt. 2. Der historische Kontext Im 19. Jahrhundert ist der Fremdsprachenunterricht durch zwei institutionelle und bildungspolitische Prozesse gekennzeichnet: Zum ersten war dies die stetig wachsende Bedeutung der modernen Sprachen, insbesondere an den Realanstalten, an denen auch das Englische ab 1859 neben dem Französischen verpflichtend wurde (vgl. K LIPPEL 1994: 287 ff). Verknüpft damit wächst die Regelungsaktivität des Staates, diesen Unterricht durch Lehrpläne und Verordnungen zu vereinheitlichen und auf gemeinsame, schulformspezifische Ziele auszurichten (vgl. die Dokumentation von C HRIST / R ANG 1985). Der zweite, zeitlich versetzte Prozess ist für die Lehrerbildung und die Etablierung von neuphilologischen Professuren an den Universitäten zu beobachten. Mit der Einführung des Lehrerexamens - pro facultate docendi - durch Humboldt in Preußen im Jahre 1810 war der erste Schritt getan, grundsätzliche Anforderungen an den Berufseintritt zu formulieren (M ANDEL 1989: 26 ff). Dieses Examen verlangte von den Kandidaten philologische, mathematische und historische Kenntnisse sowie eine Probe der „Lehrgeschicklichkeit“ (M ANDEL 1989: 27). „Dies war in nuce der Anfang einer Entwicklung, die erst im Laufe der nächsten Jahrzehnte zum Fachwissenschafts- und Fachlehrersystem gleicherweise auf der Universität wie in den gelehrten Schulen geführt hat“ (M ANDEL 1989: 27). Zwar wollte man um der pädagogischen Bestimmung der Gymnasien willen so weit wie möglich ein Fachlehrersystem vermeiden, doch war eine Ergänzung der universitären Studien gerade in den Fächern dringend geboten, in denen an den Universitäten aus Mangel an einschlägigen Professuren gar keine Ausbildung erfolgen konnte. Das betraf insbesondere die modernen Fremdsprachen, denn neuphilologische Professuren gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum. Erst ab der Mitte des Jahrhunderts wurden sie sukzessive eingerichtet (vgl. H AENICKE 1979; F INKENSTAEDT 1983). In den Überlegungen zur Lehrerbildung spielte damals wie heute des Weiteren die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis eine Rolle. Ging es doch nicht nur darum, dass angehende Lehrer über ausreichendes Wissen verfügten, sie benötigten „praktische“ und „methodische“ Fähigkeiten. Bereits im 18. Jahrhundert hatte Friedrich Gedike am Friedrichswerderschen Gymnasium in Berlin ein Seminar für die praktische Ausbildung der Lehrer errichtet (M ANDEL 1989: 9 ff). Ludwig Herrig führte diese Tradi- 42 Friederike Klippel 39 (2010) tion mit einer fachlichen Schwerpunktsetzung fort, als er 1860 ein sprachpraktischliterarästhetisches Seminar zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrern in Berlin gründete (H AENICKE 1979: 119). Der Aufschwung des modernen Sprachunterrichts an den höheren Schulen mit steigenden Schüler- und Studentenzahlen erforderte Unterrichtsmaterialien in größerem Umfang, als dies in der Zeit autodidaktischen Sprachenlernens im 18. Jahrhundert der Fall gewesen war. Zugleich mit der Professionalisierung des Lehrkörpers erfolgte daher eine Ausweitung und Differenzierung der Sprachlehren, Chrestomatien und Übungsbücher, deren erfolgreichste hohe Auflagen erreichten (vgl. K LIPPEL 1994: 314 ff). Ein als Lehrgang organisierter Schulunterricht konnte sich nicht länger auf Werke stützen, die keinerlei Rücksicht auf sprachliche Progression nahmen, wie dies etwa in den weit verbreiteten Grammatiken von A RNOLD (1736) und K ÖNIG (1706) oder den Sammlungen von Lesetexten durch T OMPSON (1737) oder E BELING ( 4 1784) hundert Jahre früher die Regel war. Schulbücher müssen die zu lernenden grammatischen Regeln und Vokabeln sowie die Texte didaktisch aufbereitet darbieten. In dieser von großen Debatten und Veränderungen im Schulwesen beeinflussten Zeit des 19. Jahrhunderts haben einerseits Schulmänner und Wissenschaftler den Diskurs geprägt, die lautstark für Veränderungen stritten wie Wilhelm V IËTOR , Carl M AGER (H ÜLLEN 2008) oder Julius O STENDORF (O STERMEIER 2008), andererseits erkennt man im historischen Rückblick aber auch, dass langfristige oder breite Wirkung auch von den Menschen ausging, die beharrlich und auf der Basis fester Überzeugungen in schriftstellerischer, schulischer und universitärer Praxis gewirkt haben. Dort haben sie in verschiedenen Funktionen - etwa als Wissenschaftler und Hochschullehrer, Lehrerbildner, Autor, Lehrplangestalter, Herausgeber, Mitwirkender an bildungspolitischen Prozessen - sowohl direkt als auch mittelbar die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts beeinflusst. Zwei herausragende Beispiele für solch nachhaltiges Wirken finden sich im Leben und Werk von Ludwig Herrig und Hermann Breymann. 3. Biographischer Abriss Will man im historischen Rückblick die Kreise der Wirkungen von Personen erforschen, so muss die jeweilige Biographie Teil der Darstellung sein. Bevor daher in den auf diesen folgenden Abschnitten besonderes Augenmerk den Arbeiten und Leistungen von Ludwig Herrig und Hermann Breymann gewidmet wird, sollen deren Lebensstationen kurz skizziert werden (zu Herrig vgl. v.a. S CHMIDT 1889 und F INKENSTAEDT / H AENICKE 1992: 106 f; zu Breymann vgl. v.a. R IEDL 2004 und 2005). Ludwig Herrig wurde 1816 in Braunschweig geboren und besuchte dort nach dem Obergymnasium auch das Collegium Carolinum, aus dem später die Technische Hochschule erwuchs. Für die Förderung des Englischen spielte das Collegium Carolinum bereits im 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle, als einer der ersten Shakespeare-Übersetzer, Johann Joachim Eschenburg (vgl. dazu u.a. M AURER 1987: 292 ff; K LIPPEL 1994: 43 u.ö.), dort unterrichtete. Herrig befasste sich in seinem knappen Jahr am Collegium Sprache, Literatur, Lehrerbildung ... 43 39 (2010) Carolinum nicht nur mit der Literatur und den Sprachen des klassischen Altertums sondern daneben auch mit dem Englischen, Französischen, Italienischen, Hebräischen, Spanischen und Arabischen (vgl. S CHMIDT 1889: IV). Sein Studium der Theologie und Klassischen Philologie absolvierte er in Göttingen und Halle. Er schloss es 1837 ab und begann 1838 als Gymnasiallehrer am Katharineum in Braunschweig; im gleichen Jahr erfolgte die Promotion in Philosophie in Tübingen. Dem Lehrberuf blieb er über zahlreiche Stationen treu: ab 1838 Braunschweig, dann ab 1841 Elberfeld (Real- und Gewerbeschule), ab 1851 in Berlin an Realschulen und Töchterschulen, ab 1854 am Friedrichs- Gymnasium in Berlin und später an der dortigen Kadetten-Anstalt und der Kriegsakademie. Das Lehrerexamen bestand er 1842 in einer Reihe von Fächern, darunter die Sprachenfächer Deutsch, Lateinisch, Französisch und Englisch. Bis zu seinem Tod (1889) war er als Pädagoge aktiv. Neben seiner Unterrichtstätigkeit in öffentlichen Schulen setzte er seine fremdsprachendidaktischen Ideen auch in der von ihm 1859 gegründeten Privatschule um, dem Viktoria-Institut. Über einen längeren Auslandsaufenthalt Herrigs ist nichts bekannt. Anders als einige seiner Zeitgenossen, etwa Christian Friedrich Falkmann (vgl. K LIPPEL 1992), ging er nach dem Studienabschluss offenbar nicht als Haus- oder Privatlehrer nach England oder Frankreich. Typisch für Lehrerkarrieren der Zeit sind allerdings die Ortswechsel und die Tätigkeiten an mehreren Schulformen, wobei gerade die Real-, Gewerbe- und Töchterschulen eine wichtige Rolle spielen, da an diesen Schulen der Unterricht in den modernen Fremdsprachen stärkere Berücksichtigung fand als an den meisten Gymnasien der Zeit. Zwischen Ludwig Herrig (1816 bis 1889) und Hermann Breymann (1843 bis 1910), dem knapp drei Jahrzehnte Jüngeren, bildet die Stadt Braunschweig einen Berührungspunkt, denn auch Breymann ging dort zur Schule, und zwar zunächst bei Ludwig Lemcke, der später als Ordinarius der Neuphilologie in Marburg und Gießen lehrte und dessen Student Breymann in Marburg war. Zuvor verbrachte er jedoch einige Zeit als Schüler in Lüttich in Belgien, eher er Neuphilologie, insbesondere die romanische Philologie in Bonn (bei Diez), in Marburg (bei Lemcke), Göttingen (bei Delius und Theodor Müller) sowie in Paris und Manchester studierte. Im Jahre 1868 wurde Breymann in Göttingen mit einer romanistischen Arbeit promoviert. Anschließend verbrachte er fünf Jahre in England, und zwar zunächst als Hauslehrer in London und Manchester, wo er dann ab 1873 als Lecturer am Victoria College lehrte. Dort fand sein Interesse für Altfranzösisch und Provençalisch allerdings wenig Resonanz bei den Studierenden (vgl. R IEDL 2005). Im Oktober 1875 wird Hermann Breymann zum Ordinarius für romanische und englische Philologie an der Universität München ernannt (F INKENSTAEDT / H AENICKE 1992: 47). An der Münchener Universität vertritt er von 1890-1892 auch die germanische Philologie, ab 1892 jedoch nur noch die romanische, weil mit Emil Koeppel ein Professor für englische Philologie ernannt wird (H AENICKE 1979: 159). Während seiner Professur bekleidet er die Position des Vorstands des Seminars für neuere Sprachen und Literatur. In die Kultus- und Bildungspolitik der Stadt München ist er als Vertreter für die neueren Sprachen im Obersten Schulrat und als Ministerialkommissar für die Absolutorialprüfungen (Abitur) eingebunden. Als Mitbegründer und Ehrenpräsident des Bayerischen Neu- 44 Friederike Klippel 39 (2010) philologenverbandes wirkt er über die Universität und die Stadt München hinaus für den Fremdsprachenunterricht und die Fremdsprachenlehrerausbildung in Bayern. Hermann Breymann stirbt 1910; in den 35 Jahren seiner Tätigkeit an der Münchener Universität hat er 52 Dissertationen zur französischen, englischen, spanischen und italienischen Philologie betreut. Mit diesem kurzen Überblick sind die Lebens- und Wirkungsstationen von Ludwig Herrig und Hermann Breymann umrissen, die etwa 100 Jahre der Entwicklung der Neuphilologie und des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen umfassen und damit die Epoche, die für die Konsolidierung dieser Fächer in Schule, Lehrerbildung und Forschung ausschlaggebend waren. So wie die Lebensläufe fast als prototypisch auch für andere Vertreter der Neuphilologie und der neueren Fremdsprachen in den Schulen gelten können, nämlich durch langjährige Auslandserfahrungen und den damit verbundenen Erwerb exzellenter Sprachkompetenz wie im Falle von Breymann einerseits und durch die Sammlung von Unterrichtserfahrungen in unterschiedlichen Orten und Bildungsstätten wie bei Herrig andererseits, so spiegeln auch die Veröffentlichungen und die fachbzw. bildungspolitischen Aktivitäten von Breymann und Herrig zum ersten die beeindruckende Breite und den sprachenübergreifenden Charakter der Fachinteressen, zum zweiten das in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen starke Engagement, wie es für andere Neuphilologen ebenfalls typisch war. Zum dritten stellt für beide die Frage der Ausbildung der Lehrer für den Fremdsprachenunterricht einen Brennpunkt ihrer Tätigkeit dar. Um das Wirken und die Wirkung beider Persönlichkeiten verstehen zu können, soll auf diese Aspekte im Folgenden näher eingegangen werden. 4. Kenntnisreich und vielfältig belesen: Sprachen und Literaturen Wie bereits die Lebensläufe von Ludwig Herrig und Hermann Breymann belegen, waren beide außerordentlich breit interessiert. Während bei Herrig das Engagement für Englisch und die englischsprachigen Literaturen sein Interesse für Französisch übertraf, lagen Breymanns Forschungsinteressen stärker auf romanistischem Gebiet. Als wissenschaftlich gebildete, auslandserfahrene (im Breymanns Fall), überaus belesene Fachexperten stellten sie die positive Seite der vielfach noch umstrittenen Neuphilologie dar. M ANGOLD (1902) schildert Herrig folgendermaßen: Ludwig Herrig verkörperte als Professor, Examinator und Mitglied der Prüfungskommission jahrzehntelang in Preußen die junge, noch nicht zur Geltung gekommene Wissenschaft. Er gab treffliche Bücher heraus, die damals einzig in ihrer Art waren und zum Teil noch benutzt werden, wie La France littéraire und British classical authors, Première lectures françaises and First English reading book (M ANGOLD 1902: 193). Herrig war vor allem ein Kenner der Literaturen Englands, Frankreichs und Amerikas. Seine höchst erfolgreichen und langlebigen Anthologien haben den Englisch- und Französischunterricht mehr als 100 Jahre lang begleitet. Insbesondere The British Classical Authors (H ERRIG 1849, 3 1852) hat zahlreiche Neuauflagen und Bearbeitungen erfahren. Sprache, Literatur, Lehrerbildung ... 45 39 (2010) Die Geschichte dieses Schulbuchs, das Herrigs Namen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt machte (die 101. Auflage erschien 1947, eine weitere Bearbeitung 1965) und die Rezeption der englischen Literatur im Schulunterricht viele Jahrzehnte hindurch beeinflusste, müsste dringend geschrieben werden. Herrig sieht das Ziel seiner Anthologie als etwas umfassender an, als es die Tradition der bekanntesten Chrestomathie des ausgehenden 18. Jahrhunderts von N OLTE / I DELER ( 2 1808 und 3 1811) darstellt, die die literarischen Texte als Sprachlernhilfe und als chronologischen Überblick über die besten Autoren der englischen Literatur ausgewählt haben. Herrig argumentiert: If the study of modern languages may lay claim to intrinsic value and an honourable position in our educational establishments, equal to that of the classic languages, they should be taught so as to impart with the language, both the general information possessed by the respective people, and their history which is always found embodied in their literature. The language of a people elucidates only one point of its existence, is inseparable from it, and becomes, as it were, the corporeal mind of the nation; whilst the various phases of that mind indicate the nation’s history. Hence the teaching of a language imparts not the language alone, but - and this more particularly - furnishes the pupil with a key to the civilization, the social habits and the political organization of the people, all of which are most faithfully reflected in the national literature (H ERRIG 1852: X). Sein Modell ist das deutsche Lesebuch von W ACKERNAGEL (1835-41) (vgl. H ERRIG 1852: XI). Herrigs Anthologie setzt mit Chaucer ein, weil er die englische Literatur des Mittelalters ausschließlich als Domäne des Universitätsstudiums ansieht. Zu jeder Epoche liefert er Beispiele aus Prosa, Lyrik und Drama; von Shakespeare druckt er Richard II als Ganztext ab. Mit über 300 Seiten des insgesamt 726 Seiten umfassenden Werks ist die zeitgenössische Literatur (von 1780 bis zum Erscheinungsdatum) sehr umfangreich vertreten. Herrigs Anthologie der amerikanischen Literatur (H ERRIG 1854) war jedoch kein Erfolg beschieden, und er fügte den späteren Auflagen der British Classical Authors einen Anhang zur amerikanischen Literatur an. Seinen didaktischen Auftrag formulierte er klar: My object has been to present the student with a full picture of social, political, moral and intellectual life in England, to serve as an introduction to a more comprehensive and accurate study of English literature in general (H ERRIG 1852: VIII). Herrigs übrige Publikationen werden von den literarischen Textsammlungen fast überschattet. Mit seiner Bearbeitung von Karl Franz Christian W AGNER s Grammatik der englischen Sprache (1857) bewies er dem Grammatiker der Jahrhundertwende seine Reverenz, der in Deutschland als die weitgehend unangefochtene Autorität der englischen Sprache galt (K LIPPEL 1994: 180 ff), und stellt sich - bewusst - in eine Tradition der Förderung der englischen Sprache mit einer Vorbemerkung im Vorwort (H ERRIG 1857: VI). Herrig war Englischlehrer und als solcher vertraut mit den Anforderungen des Unterrichts. Neben den Anthologien und der Wagnerschen Grammatik verfasste er weitere Lehrbücher, darunter eine Übungssammlung mit Texten zum Übersetzen (H ERRIG 7 1864a, 46 Friederike Klippel 39 (2010) 15. Aufl. 1902), ein Lesebuch (H ERRIG 1864b, 24. Aufl. 1904); als Herausgeber war er für eine der erfolgreichen Tauchnitz Lektürereihen verantwortlich und bearbeitete dafür einen Text von Thomas Carlyle (H ERRIG 1886). Betrachtet man die Zahl und die Breite der Publikationen Ludwig Herrigs, die über fast ein halbes Jahrhundert den Fremdsprachenunterricht mitgestaltet haben, so muss man bedenken, dass in einer Zeit, in der die wissenschaftliche Lehrerbildung in der Neuphilologie nur sehr langsam durch die sukzessive Einrichtung von Professuren ab der Mitte des Jahrhunderts etabliert wurde (vgl. F INKENSTAEDT 1983: 54 ff; H AENICKE 1979: passim), den Lehrmaterialien in den Händen von schlecht oder kaum ausgebildeten Lehrern eine viel größere Leitwirkung für den Unterricht zufällt als heutzutage, wenn Lehrkräfte über ein wissenschaftliches Studium und somit hinreichendes Fachwissen und fremdsprachendidaktische Kompetenz verfügen. Des Weiteren waren gerade die Lehrer der modernen Fremdsprachen aus eigenem Interesse und aufgrund des fast schon missionarischen Eifers, mit dem sie für den Ausbau des Fremdsprachenunterrichts eintraten, viel stärker als die heutige Lehrerschaft in die Entwicklung der neuphilologischen Wissenschaft - sei es Literatur- oder Sprachwissenschaft - eingebunden. Es überrascht daher nicht, wenn eine der frühen Enzyklopädien der Neuphilologie (S TORM 1896), die einen Überblick über die junge Wissenschaft liefert, Herrigs „Classical Authors“ als einzige in Deutschland erschienene, wichtige literarische Anthologie aufführt (S TORM 1896: 664). Auch Hermann Breymann war Lehrbuchautor, was damals für einen Ordinarius an der Universität weniger ungewöhnlich war als heute. Breymanns wissenschaftliches Interesse galt sowohl der altfranzösischen Literatur als auch insbesondere der Sprachwissenschaft, die er auf historischer Grundlage betrieb. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. die Herausgabe eines handschriftlich überlieferten altfranzösischen Gedichts (B REYMANN 1874), mehrere Schriften zu seinen akademischen Lehrern Diez und Lemcke (B REYMANN 1878, 1883, 1885a), Arbeiten zur französischen Grammatik (B REYMANN 1882, 1884), Herausgaben von Marlowe (B REYMANN 1889) sowie eine Bibliographie zur Calderón Literatur (B REYMANN 1905a). Dazu treten zahlreiche Lehrbücher des Französischen (B REYMANN / M ÖLLER 1890 u.ö.), fremdsprachendidaktische Schriften und das Werk, dessentwegen man seinen Namen heute noch kennt, die überaus akribische Bibliographie der neusprachlichen Reformliteratur (B REYMANN 1895, 1900). Dieser kurze Abriss verdeutlicht die Spannbreite des Schaffens von Hermann Breymann und belegt, dass die Neuphilologen des 19. Jahrhunderts sich mit sprach- und literaturwissenschaftlichen, fremdsprachendidaktischen und bildungspolitischen Fragen gleichermaßen beschäftigten. Für Breymann bildete die Grammatik - ähnlich wie es die Literatur für Herrig tat - den Brennpunkt seiner fremdsprachendidaktischen Überlegungen zum Sprachunterricht. Sein Ansatz lässt sich als etymologisch-vergleichend beschreiben, was bedeutet, dass er die bei Gymnasiasten der Zeit gegebenen Vorkenntnisse der lateinischen Sprache als Lernhilfe im Französischunterricht nutzen wollte. Wer hat es nicht schon oft aussprechen hören, dass die Kenntnis des Lateinischen von gar großem Nutzen für die Erlernung des Französischen sei! Das hat auch seine volle Richtigkeit. Um so mehr ist es daher zu bedauern, dass die Kenntnis des Lateinischen bei der praktischen Erlernung des Französischen so gut wie gar nicht verwerthet wird, und zwar aus dem Grunde nicht verwerthet Sprache, Literatur, Lehrerbildung ... 47 39 (2010) wird, weil nur eine verschwindend kleine Zahl von Lehrern es für der Mühe werth halten, ihre Schüler auf die zwischen jeden beiden Sprachen bestehenden Analogien aufmerksam zu machen (B REYMANN 1876: 18 f). Breymann hat zwar die Schriften der Neusprachenreformer und die ihrer Gegner akribisch bibliographiert und kommentiert, zählt aber mit seinem eigenen Ansatz keineswegs zu den radikalen Reformern, sondern eher zum Lager derer, die eine sogenannte vermittelnde Methode vertreten. „Die radikale Reform [ist] für die gedeihliche Fortentwicklung des neusprachlichen Unterrichts wenig günstig. [...] Ein völliger Bruch mit den historisch Gewordenen, [...] ist weder wünschenswert noch überhaupt ausführbar“ (B REYMANN 1905b: 2). In seinen Französischlehrbüchern vertritt Breymann insofern eine vermittelnde Methode, als er die zusammenhängende Lektüre von Texten für zentral hält, was ihn mit den Reformern verbindet und von der auf dekontextualisierten Einzelsätzen basierenden Methode von Plötz (P LÖTZ 1848) unterscheidet. Im Gegensatz zu den Reformern schreibt er der Grammatik jedoch nicht nur eine dienende Funktion zu. Zwar schlägt er ein induktives Vorgehen vor, empfiehlt jedoch intensives Üben und Lernen der aus den Texten abstrahierten Regeln (B REYMANN 1907: IV). In Weiterentwicklung der bis ins 19. Jahrhundert üblichen Darstellung der Grammatik anhand der Wortarten stützt sich Breymanns Lehrbuch auf eine grammatische Progression, die von der Syntax, und zwar konkret vom Prädikat und damit vom Verb ausgeht. Nur so sei seiner Ansicht nach bei den Schülern ein Verstehen der „syntaktischen Verhältnisse“ (B REYMANN 1907: V) zu erreichen. Denn Breymann geht es nicht nur um ein Memorieren der grammatischen Regeln, sondern um einsichtiges Lernen (vgl. B REYMANN 1876: 17), um - modern ausgedrückt - language awareness. 5. Im Zentrum: die Lehrerbildung Das 19. Jahrhundert brachte die Konsolidierung des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen in den höheren Schulen, wobei das Englische als Schulfach fast überall dem Französischen nachgeordnet blieb. Die steigenden Schülerzahlen und vor allem der Aufschwung der Realschulen erforderten eine große Anzahl an Lehrkräften. Karl Elze verwies in seiner 1864 veröffentlichten Denkschrift zur Lage der englischen Sprache und Literatur in Deutschland darauf, dass die Mehrzahl der Englischlehrer Autodidakten seien, weil die moderne Philologie noch immer nicht als Wissenschaft anerkannt sei (vgl. E LZE 1864: 82). Schon sechzehn Jahre zuvor hatten Ludwig Herrig und Heinrich Viehoff in der von ihnen 1845 gegründeten ersten neuphilologischen Zeitschrift Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen vehement für ein wissenschaftliches Studium der neueren Sprachen und eine wissenschaftliche Lehrerbildung in diesen Fächern plädiert: Die Wichtigkeit der neueren Sprachen, besonders der germanischen und romanischen, für unsere Gymnasien sowohl, als ganz besonders für die Realschulen, scheint hiermit genügend angedeutet 48 Friederike Klippel 3 Zur 150jährigen Geschichte der Herrigschen Gesellschaft vgl. S CHELER (2007). 39 (2010) und es ist unerklärlich, wie es einerseits die Behörden bis jetzt ruhig ansehen, daß der Unterricht in so vielen Anstalten noch so ganz jämmerlich und handwerksmäßig betrieben wird, andererseits aber wenig oder fast gar nichts thaten, um tüchtige Lehrer für diesen Unterrichtszweig zu gewinnen und sie gründlich für den Beruf vorzubereiten (H ERRIG / V IEHOFF 1848: 225). Die Autoren beklagen die Tatsache, dass es an den Universitäten bestenfalls Lektoren für Französisch und Englisch gebe, aber kaum Professoren, die für eine Ausbildung in der Literatur sorgen könnten. Man benötige zum ersten eine bessere Ausstattung der Universitäten, damit die zukünftigen Lehrer dort „eine gründliche philologische Kenntnis dieser Sprachen und Literaturen (H ERRIG / V IEHOFF 1848: 229) gewinnen können. Dazu müssten zum zweiten sprachpraktische Übungen treten und eine fachdidaktische Ausbildung, die die „schulmäßige Behandlung dieses ganzen Unterrichtszweiges“ (ebd.) betrifft. Zum dritten fordern Herrig und Viehoff Reisestipendien für die tüchtigen Studenten, damit diese ins Zielland fahren könnten. Nur wenn die Lehrer gut ausgebildet seien, könnte der Fremdsprachenunterricht seine bildende Wirkung entfalten. Es reiche jedoch nicht aus, allein die Universitätsstudien zu etablieren, man benötige für die gute Ausbildung der Lehrer auch eine Art Seminar, das eine doppelte Aufgabe erfüllen sollte: Sprachpraxis im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der Fremdsprache einerseits und pädagogisch-didaktische Ausbildung andererseits (vgl. H ERRIG / V IEHOFF 1848: 233). Ein solches Seminar gründete Herrig im Jahr 1860; allerdings gelang es ihm nicht, das Seminar an die Universität anzugliedern - trotz oder wegen seines Renommees als Schulmann (so C HRISTMANN 1985: 32). Es bestand am Berliner Friedrichs-Gymnasium bis 1877, als die Berliner Universität schließlich nach anderen Universitäten ein romanisch-englisches Seminar einrichtete (H AENICKE 1979: 224 ff). In den achtzehn Jahren seiner Seminarleitung bildete Ludwig Herrig mehr als zweihundert Lehrer aus (vgl. H AENICKE 1979: 225 f), so dass er in Preußen auf indirekte Weise einen beträchtlichen Einfluss auf den Fremdsprachenunterricht an den Schulen ausgeübt haben muss, denn im Jahr 1864 schätzt Elze, dass es in Deutschland insgesamt etwa fünfbis siebenhundert Englischlehrer (von denen die meisten auch Französischunterricht erteilten) gebe (vgl. E LZE 1864: 82). Mit der Zeitschrift Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen schuf Herrig zusammen mit Viehoff ein wissenschaftliches Organ für den Fachdiskurs vor allem der Fremdsprachenlehrer. Die Seminargründung legte den Grundstock für eine wissenschaftliche und praxisbezogene Lehrerbildung. Im Jahre 1857 rief Ludwig Herrig zusammen mit Georg Büchmann und Karl Sachs die „Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen“ ins Leben, die durch Vorträge bei einem breiteren Publikum Interesse an den neueren Sprachen weckte und - so wie von Herrig und Viehoff 1848 gefordert - Reisestipendien für begabte Studenten bereitstellte. 3 Ludwig Herrig hat seine Energie buchstäblich bis zum letzten Atemzug in die Verbesserung des Unterrichts und die Lehrerbildung investiert, weil er es als seine Lebensaufgabe verstand, für die neueren Sprachen einzutreten. Sprache, Literatur, Lehrerbildung ... 49 39 (2010) Ähnlich stand es auch um das Engagement von Hermann Breymann, wenn auch auf anderen Ebenen. Breymann wollte angehende Lehrer der neueren Sprachen auf der Universität möglichst umfassend und gründlich ausbilden, wobei auch die Vorbereitung auf die Schulpraxis sein Anliegen war. Als Doppelziel des neuphilologischen Studiums sieht Breymann sowohl die theoretisch-wissenschaftliche Bildung als auch die (sprach-) praktische. Eine vorrangige Berücksichtigung der fremdsprachlich praktischen und (fach-)didaktischen Ausbildungsteile hält er für falsch, denn sonst „erzieht man keine Philologen, sondern die genugsam bekannten Sprachmeister, denen noch niemand nennenswerte Erfolge im Unterrichte, eine allgemein bildende, tiefgehende, segensreiche Einwirkung auf die heranwachsende Jugend, oder eine Hebung der neusprachlichen Unterrichtsdisziplin nachgerühmt hat“ (B REYMANN 1885b: 6 f). Um diese Ziele zu erreichen, forderte Breymann eine bessere sprachliche Vorbildung an den Schulen, die Einrichtung von Professuren für das Englische und Französische sowie die Anstellung wissenschaftlich und sprachlich kompetenter Dozenten (vgl. B REY - MANN 1885b: passim). Seine eigene Lehre an der Münchener Universität spiegelt seine Zielvorstellungen in hohem Maße wieder, da er neben Überblicksvorlesungen zu Sprache(n) und Literature(n) Übungen zu bestimmten Werken, Gattungen, Epochen oder Autoren anbot, daneben auch sprachpraktische und fremdsprachendidaktische Veranstaltungen (vgl. R IEDL 2005: 241). Viele seiner außeruniversitären Tätigkeiten als Prüfer, Mitwirkender bei Lehrplänen, Lehrbuchautor und Vorsitzender des Bayerischen Neuphilologenverbandes verstärken den Eindruck, dass Breymann mit einigem Erfolg seine wissenschaftlichen und bildungspolitischen Vorstellungen umsetzen konnte. Die Tatsache, dass Hermann Breymann allenthalben für seine hervorragende Sprachkompetenz im Englischen und Französischen gerühmt wurde, mag als Marginalie erscheinen, doch dürfte diese gelebte Mehrsprachigkeit auf angehende Fremdsprachenlehrer ihre Wirkung im Zuge des Lernens am Modell nicht verfehlt haben, auch wenn sich so etwas kaum empirisch nachweisen lässt. Hermann Breymann und Ludwig Herrig waren sich des Qualitätskreislaufs zwischen Schule, Universität und Lehrerbildung bewusst. Guter Unterricht in den modernen Fremdsprachen in den Schulen führt zu besseren Studienergebnissen und wiederum zu einer guten Vorbereitung der Lehrer, die in Folge einen besseren Unterricht halten können. 6. Fazit Entwicklungen im Bildungswesen und in der Wissenschaft werden von vielen Faktoren ausgelöst und angetrieben, unter anderem durch Entdeckungen und neue Ideen, durch staatliche Regelungen und die Umgestaltung von Institutionen, durch Ausweitung oder Verengung der gesellschaftlichen Nachfrage und Wertschätzung. Für die Neuphilologie und den Fremdsprachenunterricht waren die Veränderungen im 19. Jahrhundert dramatischer als in dem Jahrhundert zuvor oder seitdem. Im 19. Jahrhundert wurden die Grundlagen des heutigen Fremdsprachenunterrichts an den Schulen und der heutigen Lehrer- 50 Friederike Klippel 39 (2010) bildung gelegt. Die Suche nach den treibenden Kräften dieser Entwicklungen richtete sich in der Historiographie des Fremdsprachenunterrichts bislang tendenziell auf die großen Theorienentwürfe und die innovativen Ideen (wie bei H ÜLLEN 2005 oder H OWATT 2005), während das Wirken einzelner Schulmänner, Wissenschaftler oder Lehrbuchautoren und die Diskurse, die in den Fachzeitschriften und entstehenden Verbänden und Vereinen geführt wurden, noch kaum in großem Umfang Gegenstand des historiographischen Interesses waren. Nach heutigen Erkenntnissen wissen wir, wie sehr uns die Menschen beeinflussen, denen wir in der Schule und der Ausbildung begegnen, die uns fördern und als beispielhaft und nachahmenswert empfunden werden. Könnte es nicht sein, dass das Verhältnis von (akademischen) Lehrern und Schülern auch schon vor 150 Jahren zu lebenslangen Prägungen und beruflichen Weichenstellungen geführt hat? Wenn man dieser Annahme folgt, dann könnte eine genauere Untersuchung des Lebens und Wirkens solcher Lehrerpersönlichkeiten in der Frühphase des schulischen Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachenlehrerbildung weiteren Aufschluss über die treibenden Kräfte einer breiten Entwicklung geben. Ludwig Herrig und Hermann Breymann waren zwei herausragende, einflussreiche Neuphilologen, deren breite und langfristige Wirkungen auf junge Fremdsprachenlehrer und die Gestaltung des Unterrichts man nicht unterschätzen sollte. Es ist an der Zeit, sich mit solchen Persönlichkeiten im Kontext des historischen Diskurses näher zu beschäftigen. Literatur 1. Quellen: A RNOLD , Theodor (1736): Grammatica Anglicana Concentrata. Leipzig: Frommann. B REYMANN , Hermann (Hrsg.) (1874): La Dime de Pénitance. Altfranzösisches Gedicht verfasst im Jahre 1288 von Jehan von Journal und aus einer Handschrift des British Museum. Tübingen: Fues. B REYMANN , Hermann (1876): Sprachwissenschaft und neuere Sprachen. 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Even in the modern languages - at the time usually French and English - teachers were expected to train students to become ‘consciously German’. Since the teachers of modern languages were looking for arguments to ensure the future continuity of their subjects, they reverted to the concept of a national slant in education, a step which eventually led to the Kulturkunde-movement. The increasing importance of English as a school subject seems to be closely connected with this development, as the concept of Nationalerziehung placed particular emphasis on the knowledge of the English language and culture. 1. Einleitung Bei einem Blick in die Literatur zu Bildung und Erziehung in den Ländern des ehemaligen Deutschen Reiches trifft man das Schlagwort ‚Nationalerziehung‘ 1 seit dem 18. Jahrhundert immer wieder an, also seit dem Entstehen der politischen Strömung des Nationalismus. Wie Horst Joachim F RANK in seiner Geschichte des Deutschunterrichts (1973) zeigt, spielte dieses Konzept vor allem in der Unterweisung in der Muttersprache eine herausragende Rolle: „Nichts hat die Entwicklung des Deutschunterrichts vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus stärker bestimmt als die Überzeugung, daß es seine höchste Aufgabe sei, alle Schüler zu einem bewußten Deutschtum zu erziehen“ (F RANK 1973: 375). Es gibt Hinweise darauf, dass diese Erziehung zu einem ‚bewussten Deutschtum‘ auch als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts gesehen wurde, auch wenn uns dies aus heutiger Perspektive vielleicht paradox anmuten mag. Wie kann ein solches Konzept in einem Unterricht umgesetzt werden, der ja im Grunde nicht die eigene, sondern vor allem die Zielkultur zum Inhalt hat? 54 Felicitas Strehlow 2 Für den Deutschunterricht wird das Konzept der Nationalerziehung in Frank (1973) ausgiebig erläutert. 3 Vgl. hierzu die Werke von L EHBERGER (1986), R ADDATZ (1977) und A PELT (1967). 39 (2010) Die Sichtung der Quellen zeigt: Zwar existierte das Konzept der Nationalerziehung bereits seit dem 18. Jahrhundert, und auch die Forderung, nationale Inhalte verstärkt zu berücksichtigen, stand in Bezug auf den Deutschunterricht bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Raum. 2 Dieselbe Forderung wurde für den Unterricht in den modernen Fremdsprachen jedoch erst viel später laut, nämlich mit Einsetzen des Ersten Weltkrieges. Interessant ist, dass dies zu einer Zeit geschah, in der die durch Krieg und Kriegsgeschehen zunehmende Entfremdung vom Ausland vermehrt als Argument gegen den Unterricht in den modernen Sprachen ins Feld geführt wurden. Diese gerieten unter Druck, und die Rechtfertigungsdebatte unter den Neuphilologen, die sich bis weit in die Nachkriegszeit hinein zog, lässt erkennen, dass das Konzept Nationalerziehung nun auch verstärkt für die neueren Sprachen diskutiert wurde. Vieles deutet darauf hin, dass deren Verteidiger damals auf das Konzept der nationalen Erziehung, das sich bereits vor 1914 in anderen Fächern hatte durchsetzen können, zurückgriffen, um eine Begründung für die Daseinsberechtigung ihrer Fächer zu finden. In der Mitte der 1920er Jahre etablierte sich dann mit der Kulturkunde eine inhaltliche Füllung des Fremdsprachenunterrichts, die dafür sorgte, dass deutschkundliche Themen Eingang in den Unterricht auch in den modernen Fremdsprachen fanden. Damit war der Weg zur rassekundlichen Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts im Nationalsozialismus nicht mehr weit. 3 Der vorliegende Beitrag ist Teil einer größeren Studie, die noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb wird es hier in erster Linie darum gehen, wie die Umsetzung der Idee der Nationalerziehung im Englischunterricht vor und nach dem ersten Weltkrieg diskutiert wurde. Die Frage, inwieweit dies im Unterrichtsalltag in die Tat umgesetzt wurde, muss erst noch geklärt werden. Nach einem Blick auf die Entwicklung des Nationalismus in Deutschland, vor deren Hintergrund eine Diskussion von Nationalerziehung immer gesehen werden muss, soll die Bedeutung des Englischunterrichts für dieses Erziehungskonzept dargestellt werden. Als Hauptquellen dienen Monographien von Schulmännern, wie man sie damals nannte, aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die aufzeigen sollen, welche Vorstellungen von einer Integration von Nationalerziehung in den Englischunterricht als denkbar propagiert wurden. 2. Der politische Kontext: Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung Der Begriff ‚Nationalerziehung‘ existiert seit Entstehen des Nationalismus im 18. Jahrhundert. Deshalb muss er bei jeder Betrachtung stets im jeweiligen historischen Kontext der Begrifflichkeiten von ‚Nation‘ und ‚Nationalismus‘ gesehen werden. Genauso wie sich deren Bedeutung im Laufe ihrer Entwicklung veränderte, verstanden die Menschen im 18. Jahrhundert unter Nationalerziehung etwas anderes als dies zum Ende des 19. Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 55 4 Wehler sieht neben der Frage, ob eine groß- oder kleindeutsche Lösung, also die Gründung eines Nationalstaats unter Ein- oder Ausschluss Österreichs, bevorzugt werden sollte, den Grund für das Scheitern der Revolution von 1848/ 49 darin, dass die Vielzahl von zu bewältigenden Modernisierungsaufgaben, von der Gründung eines liberalen Verfassungsstaats über die Neuordnung der Wirtschaft bis hin zum Umbau des sozialen Systems „schließlich eine unüberwindbare Hürde schuf“ (W EHLER 2007: 74). 39 (2010) Jahrhunderts der Fall war. Da „Unterricht in den modernen Fremdsprachen […] zu allen Zeiten immer auch Ausdruck auswärtiger politischer Einflüsse oder aber eigener politischer Bestrebungen gewesen“ (S CHRÖDER 2004: 124) ist, soll zunächst ein Blick auf die Entwicklung des Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung deutlich machen, vor welchem Hintergrund die Idee der Nationalerziehung gesehen werden muss. Nach Norbert Elias tritt Nationalismus „immer dann auf, wenn eine Gesellschaft unter Modernisierungsdruck gerät“ (E LIAS 1992: 196). Das heißt, die Gesellschaft gerät in Umbruch; alte Strukturen weichen auf und müssen durch neue ersetzt werden, mit deren Hilfe es gelingen soll, die Komplexität des modernen Lebens zu strukturieren (vgl. J ANSEN / B ORGGRÄFE 2007: 10). „Nationalismus ist demnach eine Ideologie, die Zerfall und Zerstörung der überlieferten Ordnung legitimiert und an deren Stelle etwas Neues setzen will - vom Anspruch her, dieses Neue als eine Gesellschaft mit einer egalitären Wertordnung, verfaßt als Staat mit einem kollektiven, ebenfalls egalitären Souverän“ (L ANGEWIESCHE 1994: 14). „Historisch als Befreiungsideologie entstanden“ (ebd.) erfuhr der Nationalismus je nach Nation und Entwicklungsstufe unterschiedliche Ausprägungen. In den Gebieten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation setzte der Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein. Vor allem in der Literaturszene waren dieser Entwicklung bereits seit Mitte des Jahrhunderts Debatten über eine deutsche Kulturnation vorausgegangen. Als Schlagworte nennt der Historiker Hans-Ulrich W EHLER (2007: 63) die Diskussionen über deutsche Nationalliteratur, deutsches Nationaltheater und eine deutsche Nationalsprache. Erst die napoleonische Fremdherrschaft bewirkte, dass sich nationale Kräfte auch auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet durchsetzen konnten. Zu Beginn definierte sich der Nationalismus über eine „vornehmlich bildungsbürgerliche soziale Trägerschicht“ (ebd.: 64), deren erklärtes Ziel die „Förderung der Nation in einem ihre Einheit garantierenden Nationalstaat“ (ebd.: 65) war. Anfang des 19. Jahrhunderts konnte sich „die neue politische Religion“ (ebd.), wie Wehler den frühen deutschen Nationalismus bezeichnet, jedoch noch nicht durchsetzen. Obwohl sie bei der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1815) durchaus als politische Kraft wahrgenommen wurde, gelang es der viel stärkeren reaktionären Seite, diese neue Entwicklung völlig zu übergehen (vgl. ebd.: 63-65). In der Zeit bis 1848 gewann dieser frühe Nationalismus immer mehr an Boden, so dass er bei Ausbruch der Revolution „bereits ein beachtliches Reservoir an Aktivisten und Sympathisanten [besaß], die auf die Gründung eines liberalen, konstitutionellen, gesamtdeutschen Nationalstaats hindrängten“ (ebd.: 73 f). Diese große Möglichkeit, einen liberalen deutschen Nationalstaat zu gründen, scheiterte aus diversen Gründen 4 , so dass die 56 Felicitas Strehlow 5 Die italienische Nationalstaatsbildung erfolgte 1861, also zehn Jahre früher als die deutsche. 39 (2010) antirevolutionären Kräfte schnell wieder die Oberhand bekamen. Trotz dieses Rückschlags gelang es letztendlich, die verschiedenen Teile des deutschen Nationalismus nach italienischem Vorbild 5 im ‚Deutschen Nationalverein‘ zu bündeln. Welche Bedeutung diese politische Kraft damit rasch erlangte, zeigt sich an einem Zitat des späteren ‚Reichseinigers‘ und ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck, in dem er bereits 1858 seine Erkenntnis zugab, dass sich „künftige preußische Politik großen Stils […] nurmehr in Kooperation mit der deutschen Nationalbewegung betreiben“ (vgl. W EHLER 2007: 75) lassen werde. Trotz dieses Bedeutungsaufschwungs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte die Gründung des deutschen Nationalstaates nicht ‚von unten‘ durch „eine machtvolle, populäre Nationalbewegung“ (ebd.), sondern ‚von oben‘ durch „die großpreußische Expansionspolitik Bismarcks“ (ebd.). Vergleichbar mit der Situation in Italien, wo ein Abgeordneter in der ersten Sitzung des neuen Parlamentes sagte: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener erschaffen“ (zitiert nach W EHLER 2007: 75), musste auch im neu geschaffenen Deutschen Kaiserreich erst noch ein deutscher Nationalgeist erschaffen werden. Die Aufgabe der politischen Sozialisation kam dabei neben den anderen Bildungseinrichtungen des Reiches wie Universitäten und Rekrutenanstalten der Schule zu, wie unter 3.1. genauer dauergestellt wird. Das Hauptziel des Nationalismus, die Schaffung eines Nationalstaates, war also mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches erreicht worden. Dass sich in der Folgezeit eine zunehmende Aggressivität nach außen entwickelte, lag unter anderem daran, dass die Ausrichtung dieses Staates eine ganz andere war, als den Anhängern des frühen Liberalnationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgeschwebt hatte. Durch die Verbindung des ursprünglich revolutionären linken Nationalismus mit der beharrenden Kraft des Konservativismus vollzog sich ein grundlegender Wandel, an dessen Ende der rechte, konservative Nationalismus des Kaiserreichs stand (vgl. L ANGEWIESCHE 1994: 14): Der neue Nationalstaat beruhte auf einer „erfolgreich stabilisierte[n] Fürstenherrschaft“ (W EHLER 2007: 77), das vom Volk gewählte Parlament spielte eher eine untergeordnete Rolle. Neben der Forderung nach autoritärer politischer Führung des Nationalstaats begünstigte diese gewandelte Auffassung von Nationalismus auch die Ausdehnung völkischer Ideen und kulminierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Auslösung des Ersten Weltkriegs. Dieser selbst wurde als „Verteidigungskampf“ (ebd.: 83) angesehen, bei dem es um die Existenz der Nation ging. Nach dessen Scheitern und der heftig empfundenen Demütigung des Nationalstolzes im Frieden von Versailles in Kombination mit der wirtschaftlichen Belastung in der Weimarer Republik, war der Weg frei für „eine radikal-nationalistische Massen- und Protestbewegung“ (ebd.: 84), an deren Spitze sich schon bald Adolf Hitler stellte. Der Historiker Dieter Langewiesche beurteilt die Geschichte des Nationalismus als widersprüchlich und zeigt auf, dass diese politische Strömung auch heute noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat: Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 57 6 Der zunehmende Zuspruch, den euroskeptische Parteien in vielen Ländern erfahren, bestätigt diese Einschätzung. 39 (2010) „Im Rückblick zeigt sich die Wirkungsgeschichte des Nationalismus zwar voller Widersprüche, in ihren großen Linien aber doch klar erkennbar: Im 18. Jahrhundert als eine antiständische, egalitäre Befreiungsideologie entstanden, veränderte der Nationalismus die staatliche und auch die gesellschaftliche Ordnung Europas im Laufe eines Jahrhunderts völlig, griff im Gefolge der imperialistischen Eroberungszüge weltweit aus und wurde zu einem zentralen Bestandteil der Europäisierung der Welt, häutete sich aber erneut zur Befreiungsideologie, entlegitimierte die imperialistischen Zentren und half so, die Kolonialreiche, die er zuvor mitgeschaffen hatte, wieder aufzulösen“ (L ANGEWIESCHE 1994: 7). Auch wenn das Ende des Zweiten Weltkriegs häufig als „das blutige Ende des nationalistischen Zeitalters begriffen" (ebd.) wurde, das durch die Gründung supranationaler Organisationen wie der Europäischen Union überwunden werden konnte, so sieht Langewiesche jedoch den Nationalstaat noch immer als „vorrangige Ordnungsmacht im Leben des einzelnen Bürgers“ (ebd.: 8) 6 und erkennt in der Entwicklung nach Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur das Wiedererstehen alter sondern auch das Neuenstehen neuer Nationalstaaten (vgl. ebd.: 7 f). 3. Englischunterricht im Zeichen des Nationalimus An der bewegten Geschichte des Nationalismus, allein in Deutschland, wird deutlich, wie wichtig es ist, Nationalerziehung in ihrem historischen Kontext zu betrachten, und zwar sowohl im Hinblick auf politische als auch pädagogische Aspekte. Im Rahmen des Beitrags werden sich die Ausführungen auf die für die Nationalerziehung wichtigsten Entwicklungen und insbesondere auf den Englischunterricht beziehen. 3.1. Bildungsgeschichtliche Rahmenbedingungen Als sich die Idee der Nationalerziehung am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte, verstand man darunter zunächst im aufklärerischen Sinne die Erziehung des ganzen Volkes, die alle Bevölkerungsschichten einschließen sollte (vgl. R OCHOW 1962 [1779]). Aber auch ein anderes Deutungsmuster existierte bereits zu dieser Zeit: Nationalerziehung im Sinne einer Erziehung zur Liebe zur Nation, wobei die deutsche Nation damals zumeist über die Sprache definiert wurde. Wer die deutsche Sprache sprach, gehörte zur deutschen Kulturnation. Je mehr die Schaffung eines eigenen Nationalstaats Ziel der Nationalbewegung wurde, desto mehr trat auch diese Auffassung von Nationalerziehung in den Vordergrund. Bereits Johann Gottfried Herder definierte den Nationalcharakter eines Volkes über dessen Sprache und wies somit insbesondere dem schulischen Unterricht in der Muttersprache eine besondere Rolle bei der Nationalerziehung zu. Seiner Ansicht nach sollte erst dann mit dem Unterricht fremder Sprachen begonnen werden, wenn ausreichende Kennt- 58 Felicitas Strehlow 7 Zum Ausbau der Realschulen vgl. K EMPER (1990: 167 ff). Zu den wichtigsten Stationen für den Ausbau des Englischen als Unterrichtsfach an Realschulen vgl. H ÜLLEN (2005: 76 f) sowie K LIPPEL (1994: 287-294). 39 (2010) nis der Muttersprache vorhanden sei (vgl. H ERDER 1961 [1769]: 104 f). Aufgegriffen und weiter ausgeführt wurde diese Idee durch den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (F ICHTE 1967 [1808]) gegen die territorialen Unterschiede innerhalb des seit Napoleon in Einzelstaaten zerfallenen Deutschen Reiches wandte und für den Erhalt der Nation nur ein Mittel sah: „eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens“ (F ICHTE 1967 [1808]: 27). Zu seiner Auffassung von Nationalerziehung gehörte neben dem Bezug auf die Bildung aller Schichten der deutschen Bevölkerung insbesondere der kulturelle Führungsanspruch des deutschen Volkes, der es erforderte, die Schüler zum Deutschsein zu erziehen (vgl. F RANK 1973: 419 ff oder F ICHTE 1967 [1808]: 19-31). Diese Sichtweise von nationaler Erziehung, wie sie Herder und Fichte vertraten, setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Nationalstaatsbewegung immer mehr durch. Noch eine weitere Entwicklung gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung: der Aufstieg des Englischen zu einer bedeutenden modernen Fremdsprache an den Schulen des Deutschen Reiches. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die politische Ideologie der Zeit vor der Revolution von 1848/ 49 das Englische dem traditionell gelehrten Französisch, der Sprache der napoleonischen Besatzer, vorzog, da die Länder, in denen Englisch gesprochen wurde, in mehrfacher Hinsicht als Vorbilder empfunden wurden: Englisch war die Sprache der Freiheit, des freien Handels sowie der konstitutionellen Monarchie, die vielen auch als die für Deutschland am besten geeignete Staatsform erschien (vgl. S CHRÖDER 2004: 104 f). Schulpolitisch wurde die Ausbreitung des Englischen als Unterrichtsfach vor allem durch den Ausbau des Realschulwesens vorangetrieben. In dieser neuen Schulform, als deren Grundlage „ein politisch durchaus national geprägtes, wissenschaftlich und wirtschaftlich rational-pragmatisches Denken“ (H ÜLLEN 2005: 76) diente, spielten die alten Sprachen eine untergeordnete Rolle. Das Hauptaugenmerk lag auf der so genannten realistischen Bildung, also auf den Naturwissenschaften und den modernen Sprachen. Neben dem Ausbau der Realschulen 7 gewann das Englische vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch an den Gymnasien immer mehr an Bedeutung: Im Lehrplan für die höheren Schulen in Preußen von 1892 wird erstmals die Forderung nach „Verstärkung der modernen insbesondere nationalen Bildungselemente“ (C HRIST / R ANG 1985 II: 31) erwähnt. Dass die preußische Schulverwaltung dieser dann auch tatsächlich entsprach, lag in erster Linie am Druck, den Kaiser Wilhelm II. auf sie ausübte. Die Rede, die er bei der Eröffnung der Berliner Schulkonferenz 1890 hielt, markiert einen gewissen Wendepunkt: „Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Coulissen gesehen hat, der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer“ (V ERHANDLUNGEN ÜBER F RAGEN DES HÖHEREN U NTERRICHTS 1891, S. 72). Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 59 39 (2010) Diese Forderung war für das Gymnasium nahezu revolutionär und wurde erst nach und nach umgesetzt. Der Kaiser nahm auch weiterhin Einfluss auf das Unterrichtswesen. In seinen „Allerhöchsten Erlassen“ betonte er immer wieder die herausragende Bedeutung der englischen Sprache und forderte ihre Stärkung insbesondere im gymnasialen Kontext (vgl. C HRIST / R ANG 1985 II: 42; 46). Er setzte damit nicht nur eine deutliche Stundenerhöhung und Stärkung von Deutsch als Abiturprüfungsfach durch, sondern zeichnete auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass Englisch zunächst wahlfreies Fach wurde und 1901 schließlich sogar als Abiturfach an den Gymnasien in Preußen anerkannt wurde (vgl. C HRIST / R ANG 1985 II: 42; H ÜLLEN 2005: 76 f). Konrad Schröder sieht einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Englischen in den Fächerkanon der deutschen Schulen und der Ausbreitung der Idee der nationalen Erziehung: „[Es wird] deutlich, daß sich der Aufstieg des Englischen als Schulsprache in einem für das deutsche höhere Schulwesen wenig rühmlichen Klima aus neuhumanistisch-idealistischer Halbbildung, teutonischer Kraftmeierei und nationalem Dünkel vollzieht, in einem Klima, das Rassenhaß begünstigt und das Dritte Reich von langer Hand vorprogrammiert“ (S CHRÖDER 1989: 58). Die Kenntnis der Sprache des Landes, das als wichtigste Kolonial- und Handelsmacht empfunden wurde, war für die imperialistischen Ziele des jungen Wilhelm II. genauso unverzichtbar wie die Ausrichtung des Unterrichts auf eine Erziehung zum ‚Deutschsein‘. 3.2 Erziehung zu nationaler Einheit im Kaiserreich Der Blick auf die politischen und bildungsgeschichtlichen Hintergründe macht deutlich, dass die Idee der nationalen Erziehung in ihrer Ausprägung als Erziehung zum ‚Deutschsein‘ nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 und insbesondere unter Kaiser Wilhelm II. verstärkt Eingang in den Unterricht an den Schulen des Reichs fand. Es stellt sich also die Frage, wie diese Idee im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht und vor allem den Englischunterricht diskutiert wurde, dessen Bedeutungszuwachs ja zu keinem geringen Teil mit ähnlichen Argumenten verteidigt wurde. Im Folgenden soll deshalb die Diskussion exemplarisch an zwei Monografien zu nationaler Erziehung aus der Zeit des Kaiserreichs dargestellt werden. Das Werk von M ARQUARDT (1872), erschienen als wissenschaftliche Beilage des Schulprogramms des städtischen Gymnasiums mit Realabteilung in Greiz, stammt aus der Zeit direkt nach der Reichsgründung und greift die unmittelbare Bedeutung einer nationalen Ausrichtung der schulischen Bildung für den neu gegründeten Nationalstaat auf, während R ICHTER (1903) das Konzept Nationalerziehung in seiner Ausprägung um die Jahrhundertwende vorstellt. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere in Bezug auf den Englischunterricht gegen Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Fragen, wie z. B. die neusprachliche Reform, die Sprachenfolge oder die Überbelastung der Schüler die Aufmerksamkeit der bildungspolitischen Öffentlichkeit beschäftigten. Die Diskussion einer nationalen Erziehung kann zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch nicht als vorherrschend bezeichnet werden, noch dazu, da sich ihr Konzept nur schwerlich mit den Inhalten des Sprachenlernens in Einklang bringen ließ, wie insbesondere bei Marquardt deutlich wird. 60 Felicitas Strehlow 8 Religion sollte insbesondere der „geistigen Wehrhaftmachung des Volkes“ dienen (R ICHTER 1903: 75). 39 (2010) In seinem kurz nach der Reichsgründung erschienenen Werk über nationale Erziehung an preußischen Gymnasien macht es sich der Pädagoge Paul Marquardt zur Aufgabe, für ein Konzept von nationaler Erziehung insbesondere an Gymnasien zu plädieren, da er die nationale Bildung der Jugend als Voraussetzung für die Entsprechung der nationalen Einheit auf politischer Ebene sieht. Dabei schließt er den Unterricht in den neueren Sprachen für sein Unterrichtskonzept aus (vgl. M ARQUARDT 1872). „Für eine gründliche innere und nationale Bildung“ (ebd.: 100) sei er nicht notwendig. Zwar gesteht er den Fremdsprachen an sich bildenden Wert zu, dieses Ziel könne jedoch im Unterricht in den alten Sprachen wesentlich besser verfolgt werden. In seinen Ausführungen wendet er sich insbesondere gegen das Französische, das seiner Meinung nach in seinem literarischen Wert hinter dem Englischen zurückstehen müsse (vgl. ebd.: 101). Als Hauptargument gegen den Unterricht in den modernen Fremdsprachen führt er den sonst so hochgelobten Nützlichkeitsaspekt an; es sei schließlich nicht die Aufgabe des Gymnasiums, „auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens ausschließlich und unmittelbar vorzubereiten“ (ebd.: 103). Interessanterweise bezeichnet er das Erlernen möglichst vieler moderner Fremdsprachen trotzdem als „wünschenswert“ (ebd.: 104). Dieses solle aber lieber privat stattfinden, am besten durch einen Auslandsaufenthalt, da man sich nur dabei profunde Sprachkenntnisse aneignen könne (vgl. ebd.). Zwanzig Jahre später beschäftigte sich der Gymnasiallehrer Otto Richter ebenfalls mit der nationalen Bewegung und ihrem Verhältnis zur Bildung. An seinen Ausführungen wird deutlich, dass das Konzept nationale Erziehung mittlerweile auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. Unter Bezugnahme auf die Forderungen von Presse, Parteien und Verbänden wie dem Alldeutschen Verein, verschiedener Schriften und nicht zuletzt auf Kaiser Wilhelm II. setzt er sich für eine Ausrichtung des Unterrichtswesens auf die „nationale Weltanschauuung“ (R ICHTER 1903: 39) ein (vgl. ebd.: 40). Dabei steht für ihn, genauso wie für Marquardt, die Bildung der Jugend im Mittelpunkt, insbesondere die Erziehung der „Führer der Massen“ (ebd.: 48), weshalb er sich besonders für die nationale Prägung des höheren Schulwesens und der Universitäten stark macht. Dabei stellen seiner Meinung nach die Fächer Deutsch und Geschichte neben Sport und Religion 8 die wichtigsten Bildungsinhalte dar (vgl. ebd.: 73-81). Was den Fremdsprachenunterricht angeht, so kann man beobachten, dass er im Gegensatz zur späteren Debatte nicht zwischen alten und neueren Sprachen unterscheidet. Obwohl es Ziel seiner Schrift ist, dem Leser als Orientierunghilfe in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Meinungen im Bereich Nationalerziehung zu dienen, scheint die Argumentation mit der besonderen Bedeutung insbesondere des Englischen für die nationale Erziehung für ihn noch keine Rolle zu spielen. Der Frage, ob das Ziel nationaler Erziehung „durch Bevorzugung des eigenen oder des fremden Volkstums“ (ebd.: 76) besser erreicht werden könne, nähert er sich, indem er die zwei in der zeitgenössischen Diskussion vorherrschenden Meinungen anführt: Während auf der einen Seite behauptet werde, dass höchste Bildung nur „durch möglichst frühzeitige und gründliche Einführung in das Griechen-, Römer- , Franzosen- oder Engländertum“(ebd.) erreichbar sei, führe die andere Seite als Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 61 39 (2010) Argument an, dass „die Beschäftigung mit demselben für die deutsche Jugenderziehung nur insofern Wert hat, als dadurch das Verständnis für das eigene Volkstum gefördert wird“ (ebd.). Deshalb dürfe der Fremdsprachenunterricht erst einsetzen, wenn sich der Schüler „als Deutscher hat fühlen lernen“ (ebd.). Im Rahmen des Konzepts von Nationalerziehung, wie es sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert, scheint genau dieses Argument, nämlich die Bedeutung, die der Erwerb einer fremden Sprache für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft hat, der zentrale Anknüpfungspunkt für den neusprachlichen Unterricht zu sein. Dies betont auch Anna Ohlemann in ihrem Beitrag in der Zeitschrift Die Mädchenschule: „Die richtig geleitete Beschäftigung mit dem fremden Volkstum führt ohne Zweifel zu einer besseren Würdigung des heimatlichen Kulturlebens“ (O HLEMANN 1897: 207) und diene der „Vertiefung und Läuterung des nationalen Bewußtseins“ (ebd.). Obwohl es für viele Schulmänner in der Kaiserzeit schwer vorstellbar war, den Fremdsprachenunterricht, insbesondere den in den neueren Sprachen, auf nationale Inhalte auszurichten (vgl. die Ausführungen zu M ARQUARDT 1872), zeigt sich vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass es doch auch damals schon Pädagogen gab, die eine Einbeziehung des Fremdsprachenunterrichts in das Konzept der Erziehung zum ‚bewussten Deutschtum‘ für möglich hielten. Dabei stand der Rückbezug des Fremden auf das Eigene im Mittelpunkt, eine Entwicklung, die zwar Ende des 19. Jahrhunderts noch kaum offensichtlich wurde, in der Folgezeit aber weiter an Bedeutung gewinnen sollte. 3.3 Der Unterricht in den modernen Fremdsprachen im Zuge der Rückbesinnung auf die nationale Einheit nach dem Ersten Weltkrieg Obwohl, wie anhand der Beispiele gezeigt, der Gedanke der Nationalerziehung bereits in der Kaiserzeit zumindest in Ansätzen auch für den neusprachlichen Unterricht diskutiert wurde, kam eine vertiefte Diskussion für den Fremdsprachenunterricht erst durch die durch den Krieg ausgelöste Krise des Unterrichts in den neueren Sprachen zustande. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs - einerseits die Krönung der Wünsche der deutschen Nationalisten - stellte andererseits einen so tiefgreifenden Einschnitt in das Leben der Nation dar, dass bereits in den ersten Kriegsjahren etliche Schriften erschienen, die sich damit beschäftigten, wie es nach dem Krieg weitergehen könnte (vgl. F RANK 1973: 553). Die Auseinandersetzung mit dem feindlichen Ausland führte in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer noch stärkeren Rückbesinnung auf die eigene Nation. Insbesondere von der Schule erwartete man, „eine Pflegestätte deutscher Kulturideale“ (S PRANGER 1916: Klappentext) zu sein. Im Zuge dessen veranstaltete beispielsweise das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin „eine Reihe von Vorträgen, die für die neue Gestaltung des deutschen Unterrichtes Anregungen bringen sollen“ (ebd.). Der bekannte Pädagoge Eduard Spranger konstatierte in seinem Vortrag, das humanistische Bildungsideal habe seine Aufgabe erfüllt und müsse aus gegebenem Anlass einem politischen Bildungsideal weichen: Nicht mehr die Allgemeinbildung, „die freie, allseitige, schöne Entfaltung der Individualität zum Menschentum“ (ebd.) sondern die Erziehung des Individuums „zum Dienen und Herrschen in einem überindividuellen Zusammenhang“ (ebd.: 15), also 62 Felicitas Strehlow 9 Als Begründung dafür führt er an, dass sich beide Fächergruppen „abseits von allen nationalen Beziehungen“ (T IMERDING 1918: 4) befänden: „Ein mathematischer Lehrsatz, eine physikalische Tatsache, eine fremd- 39 (2010) für die Dienste des Staats sollte in den Mittelpunkt des Bildungswesens rücken. Wie genau dies zu geschehen habe, darüber herrschten verschiedene Meinungen vor. Einig war man sich jedoch über den Kern der Sache, „daß die Bildung zur Individualität nicht mehr das einzige Erziehungsziel sein durfte, sondern daß die Ansprüche der staatlichen, der nationalen oder der Volksgemeinschaft mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar höher zur Geltung kommen mußten“ (F RANK 1973: 568). Auch der Fremdsprachenunterricht sah sich dieser verstärkten Rückbesinnung auf die eigene Nation ausgesetzt. Gerade hier, wo viele Verfechter nationaler Erziehung bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaum eine Möglichkeit gesehen hatten, nationale Bildung verwirklichen, entstand somit ein Rechtfertigungsdruck. Die Frage, „in welcher Beziehung der fremdsprachliche Unterricht zu dem Gedanken einer nationalen Erziehung stehe, ob er diesem Gedanken widerspreche oder ob er nicht gerade vielmehr ein Moment in sich schließe, das gerade eine wesentliche Stütze für die Erweckung und Förderung des nationalen Bewußstseins bedeute“ (T IMERDING 1918: 3), spiegelt sich in der pädagogischen Diskussion der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre wider. Als Beispiele für die Reflexion über eine Zukunft des Fremdsprachenlernens mit nationaler Ausrichtung dienen in diesem Beitrag die Schriften von Hans Borbein und Heinrich Emil Timerding. Da beide gegen Ende des Ersten Weltkriegs und unter dem Eindruck der damit verbundenen Ereignisse verfasst wurden, lässt sich an ihnen die Besinnung auf nationale Inhalte im Zuge der Rechtfertigungsdebatte gut darstellen: Bereits 1917 setzte sich der in der preußischen Unterrichtsverwaltung für die neueren Sprachen zuständige Regierungs- und Provinzialschulrat Hans Borbein in seiner Schrift „Auslandsstudien und neusprachlicher Unterricht im Lichte des Weltkriegs“ (B ORBEIN 1917) mit dieser „neu erkannte[n] nationale[n] Aufgabe“ (ebd.: V) auseinander. Schon in seinem Vorwort greift er die Frage auf, „ob wir [vor dem Krieg] überhaupt auf dem richtigen Wege gewesen sind, indem wir Sprache und Kultur unserer jetzigen Todfeinde die Stellung einräumten, die sie bislang in unserem höchsten Bildungswesen eingenommen haben“ (ebd.: III). Den Vorwurf, im Fremdsprachenunterricht sei „Ausländerei“ (R ICHTER 1903: 69) betrieben worden, versucht er zu entkräften, indem er zwar einräumt, der Geist, in dem der Fremdsprachenunterricht erteilt werde, müsse sich ändern, indem er andererseits jedoch damit argumentiert, dass in Zukunft nur das Wissen über die anderen Völker zum Sieg führen könne: Die Freiheit der Meere und den ungehinderten Zugang zu den Ländern, welche sie umspülen, können unsere Waffen uns wohl erringen, auszunützen vermögen wir sie nur, wenn wir rechtzeitig das geistige Rüstzeug schmieden, und dazu gehört […] die Beherrschung der lebenden Fremdsprachen und die Kenntnis der fremden Kultur (B ORBEIN 1917: IV). Der Hochschullehrer und Mathematiker Heinrich Emil Timerding, der nach dem Krieg den Unterricht in den modernen Fremdsprachen in einer ähnlichen Rolle sah wie die schulische Unterweisung in den Naturwissenschaften 9 , beschreibt in seinen Überlegungen Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 63 sprachliche Ausdrucksform haben, könnte man sagen, nichts zu tun mit den Gedanken und Empfindungen, die wir als vaterländisch oder national bezeichnen“ (ebd.). 39 (2010) zur Zukunft dieses Faches dasselbe Problem: Er fragt sich, ob man tatsächlich danach streben solle, die Sprache von Völkern zu erlernen, „die auf das Entschiedenste jegliche Kulturbeziehung zu uns abgelehnt haben“ (T IMERDING 1918: 18 f). Er spricht sogar von einer möglichen ‚Hemmung‘ des nationalen Erziehungsgedankens durch eben diesen Unterricht (vgl. ebd.: 3).Wie Borbein gelangt aber auch er zu der Einsicht, dass Kenntnisse in den modernen Fremdsprachen für eine genaue Beobachtung der verfeindeten Nationen unerlässlich seien. Nur so könne man die dortigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen verfolgen: „Ob freundlich oder feindlich, die Beziehungen zu den Westmächten sind vorhanden und bleiben bestehen. Nichts ist wichtiger, als gerade die Sprache seiner Feinde zu kennen“ (ebd.: 19). Beide Pädagogen betonen, dass sich die Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Kultur anderer Völker von nun an nur noch daran orientieren sollte, „welche inneren und äußeren Vorteile sie uns als Einzelmenschen und Gliedern des deutschen Volkes bieten“ (B ORBEIN 1917: 6). Aller Schulunterricht müsse nun eine „Beziehung […] zu den nationalen Aufgaben“ (T IMERDING 1918: 6) herstellen und damit „zur Bereicherung und Veredelung unserer nationalen Eigenart“ (ebd.) beitragen. Neben der Erleichterung des Lebens an der Front, wo die Kenntnis der fremden Sprache den Soldaten die Kommunikation mit dem Feind ermöglicht hätte, betont Borbein, dass die offensichtlich falsche Einschätzung der verfeindeten Völker durch eine entsprechend andere Ausrichtung des Unterrichts hätte vermieden werden können (vgl. B ORBEIN 1917: 7 f). Dabei bemängelt er insbesondere das fehlende Wissen über die angelsächsischen Völker, denen er im Grunde zwar eine enge Beziehungen zur deutschen Nation attestiert, die jedoch aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu den Feinden gezählt und deshalb aufs Gründlichste studiert werden müssen, um „mit der äußeren die geistige Überlegenheit [zu] verbinden“ (ebd.: 11). Bisher habe man Großbritannien und die USA in verschiedener Hinsicht - von der Politik bis hin zur Literatur - viel zu sehr als Vorbild gesehen; dies müsse sich nun ändern (vgl. ebd.: 11-13). Unter dem Eindruck der Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Suche nach Argumenten für ihre zukünftige Daseinsberechtigung beginnt also nun auch der Unterricht in den modernen Fremdsprachen, sich der Idee der nationalen Erziehung zu öffnen: Sowohl Timerding als auch Borbein fordern in ihren Schriften eine veränderte Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts im Rahmen eines Konzepts der nationalen Erziehung in allen Unterrichtsfächern (vgl. B ORBEIN 1917: 6-14; T IMERDING 1918: 4-6). Dabei steht eben jener Nützlichkeitsaspekt im Vordergrund ihrer Argumentation. Neben den oben erwähnten praktischen Gesichtspunkten zählt für Timerding insbesondere auch der Bildungswert der modernen Fremdsprachen zu diesem dazu. Neben der Literatur Großbritanniens und Frankreichs ist ihm vor allem wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen an der fremden Sprache „Fähigkeiten des Gedächtnisses, des Denkens, des Sprachgefühles und damit der allgemeinen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit“ (T IMERDING 1918: 27) erlernen. Es geht ihm also nicht nur um den Erwerb von Kenntnissen über die 64 Felicitas Strehlow 10 Bei Timerding ‚Auslandskunde‘ genannt, die er aufgrund der sprachlichen Komplexität eher im Geschichts- und Geographieunterricht angesiedelt sähe (vgl. T IMERDING 1918: 18-22). 11 Siehe Kapitel 3.1. 12 Wie zum Beispiel das Reformgymnasium in Altona mit der Sprachenfolge Französisch - Englisch - Latein, gegründet 1877 (vgl. H ÜLLEN 2005: 77). 39 (2010) Sitten und Gebräuche des Auslands 10 oder um die perfekte sprachliche Beherrschung, sondern auch um ganz allgemeinbildende Aspekte (vgl. ebd.). Borbein argumentiert zudem, dass ein möglichst großer Anteil der deutschen Bevölkerung die Beherrschung fremder Sprachen anstreben sollte, um die fremdsprachliche Presse und Literatur zum einen in ihrer ganzen Fülle ohne Beschränkung auf Übersetzungen und zum anderen ohne mögliche „Verschiebung des Urteils“ (B ORBEIN 1917: 37), bedingt durch die Meinung des Übersetzers, lesen zu können. Dies sei nicht nur wichtig, um über die Geschehnisse im Ausland informiert zu sein, sondern auch um die Beurteilung des eigenen Landes in der fremden Publizistik verfolgen zu können (vgl. ebd.: 36 f). Aus demselben Grund setzt er sich auch für einen Auslandsaufenthalt angehender Neuphilologen ein: Sie sollten in die Lage versetzt werden, sich über die Vorgänge im In- und Ausland ihr eigenes Urteil bilden zu können (vgl. ebd.: 81 f). In Bezug auf die Frage, welche der neueren Sprachen denn nun besonders geeignet sei, die Ziele nationaler Erziehung zu verwirklichen, geben beide Autoren einhellig der englischen Sprache den Vorzug gegenüber dem Französischen, wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck. Timerding führt neben der leichteren Erlernbarkeit des Englischen, zumindest in der Anfangsphase, vor allem die größere Nähe der englischen Sprache und Literatur zur deutschen als Argumente an: Aufgrund von „Stammesverwandtschaft und […] Gleichartigkeit von Wesen und Denkweise“ (T IMERDING 1918: 30) könnten die Schüler die Struktur und Entstehung der Muttersprache besser nachvollziehen „als durch das stammesfremde Französisch“ (ebd.: 31). Borbein, der dem Französischen zwar in literarisch-ästhetischer Hinsicht eine höhere Stellung einräumt, argumentiert zusätzlich mit der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Großbritanniens und vor allem der Vereinigten Staaten (B ORBEIN 1917: 57). Borbeins und Timerdings Ansicht nach verliehen all diese Gründe dem Englischen eine größere Bedeutung für die nationale Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts als dem Französischen. Sowohl Borbein als auch Timerding fordern im Zuge dessen institutionelle Folgen: Statt einer Einschränkung des neusprachlichen Unterrichts unterstützen sie seine Ausdehnung: So sollte nach Borbein das Lernen der ersten modernen Fremdsprache so frühzeitig wie möglich einsetzen (vgl. B ORBEIN 1917: 39-41). Für die Gymnasien wünschte er sich unter Bezug auf die Vorkriegsforderungen des Kaisers 11 und die mit Englisch oder Französisch statt Latein beginnenden Reformschulen 12 eine Stärkung des Englischunterrichts mit Erhebung zum Pflichtfach (vgl. ebd.: 50-52; 60), während Timerding noch einen Schritt weitergeht und für die Mittelschulen den Französischunterricht vollständig abschaffen und durch Englischunterricht ersetzen möchte (vgl. T IMER - DING 1918: 35). Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 65 39 (2010) Beide Autoren sind sich also darin einig, dass der neusprachliche Unterricht trotz aller Vorwürfe, denen er sich im Zuge des ersten Weltkriegs ausgesetzt sah, auch weiterhin seine Berechtigung in der Stundentafel der mittleren und höheren Schulen haben sollte. Um dies zu begründen, greifen beide auf das Konzept der nationalen Erziehung zurück, indem sie die Bedeutung insbesondere des Englischunterrichts für die nationale Ausrichtung der Schulbildung aufzeigen. Mit dieser Auffassung waren Borbein und Timerding keineswegs allein. Ebenfalls unter den Eindrücken des Weltkriegs verfasst, erschien 1920 Hans Richerts Schrift zur deutschen Bildungseinheit, in deren Einleitung er insbesondere der höheren Schule den Vorwurf macht, dem Ziel der Nationalbildung in der Vergangenheit nicht gerecht geworden zu sein (vgl. R ICHERT 1920: 1-15). Seine Überlegungen mündeten 1925 in einer Umgestaltung der preußischen Lehrpläne, in den so genannten Richert’schen Richtlinien. Dass diese von den Lehrern gerade der neusprachlichen Fächer keineswegs als „Reform von oben“ wahrgenommen wurden, sondern vielmehr einem in der Lehrerschaft weit verbreiteten Konsens entsprachen, bestätigt der Neuphilologe Paul Hartig in seinen Lebenserinnerungen: [Die Richtlinien] entsprachen […] voll und ganz unserem eigenen philosophischen und pädagogischen Bewußtsein und auch dem, was wir von der Universität an philosophischem, psychologischem, weltanschaulichem und pädagogischem Gedankengut mitgebracht hatten (H ARTIG 2 1983: 30). Auch diese Äußerung zeigt, dass das Gedankengut der nationalen Erziehung spätestens nach dem Ersten Weltkrieg auch in den Unterricht in den modernen Fremdsprachen Einzug gehalten hatte. 4. Das Paradoxon der Erziehung zum ‚Deutschsein‘ im Fremdsprachenunterricht Aus der Darstellung des historischen Hintergrunds wurde deutlich, dass es nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 allseits wünschenswert erschien, die politische Einheit des Nationalstaats auch auf anderen Ebenen zu erwirken. Eine besondere Rolle sollte dabei die Bildung und Erziehung der Jugend spielen. Auch der Unterricht in den modernen Fremdsprachen, der in derselben Zeitspanne zunehmend an Bedeutung gewann, kam nach anfänglichem Zögern eben dieser Forderung nach national ausgerichteten Bildungsinhalten nach. Dabei konnte der Englischunterricht aufgrund der politischen und historischen Konstellation der Länder, deren Muttersprache er zum Gegenstand hatte, auf besonders gute Argumente zählen. Dass Erziehung zum ‚Deutschsein‘ auch im Fremdsprachenunterricht möglich sein sollte, war im 19. Jahrhundert noch keineswegs selbstverständlich. Erst der drohende Bedeutungsverlust nach dem Ersten Weltkrieg veranlasste die Neusprachler, das Konzept der nationalen Erziehung auch auf ihren Fachbereich anzuwenden. Die Frage, inwiefern sich dies auch anhand von Unterrichtsinhalten zeigen lässt, wird im Rahmen einer größeren Forschungsarbeit untersucht und kann hier noch nicht beantwortet werden. 66 Felicitas Strehlow 39 (2010) Literatur 1. Quellen B ORBEIN , Hans (1917): Auslandsstudien und neusprachlicher Unterricht im Lichte des Weltkrieges. Leipzig: Quelle & Meyer. C HRIST , Herbert / R ANG , Hans-Joachim (Hrsg.) (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Band II. Tübingen: Narr. F ICHTE , Johann Gottlieb (1967 [1808]): Reden an die deutsche Nation. München: Goldmann. H ARTIG , Paul ( 2 1983): Lebenserinnerungen eines Neuphilologen. Augsburg: Universität (I & I Schriften). H ERDER , Johann Gottfried (²1961 [1769]): Herders Reisejournal. 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In the early 19 th century literal translation was established by James Hamilton as the central technique of an „analytical“ method of language teaching. This technique was conceived as a means of approaching the conceptual forms of foreign languages via the mother tongue. In Germany, however, it was most commonly practised only in conjunction with translation by sense. Thus the „double traduction“, which was given its theoretical basis by Du Marsais and Radonvilliers in 18 th century Latin teaching in France, was further developed in Germany in the teaching of modern languages. In addition to new variants of semantisation based on the mother tongue, this led to an intensive theoretical discussion of meaning in language and its comprehensibility, which was strongly influenced by idealist linguistic philosophy. In the last quarter of the 20 th century, the traditional „multiple“ translation was modified in the bilingual method propagated in Germany by Wolfgang Butzkamm by combining it with the principles of communicative language teaching. 1. Einleitung Im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte sich Unterricht in den neueren Fremdsprachen, vor allem Französischunterricht, an allen höheren Schulen. Diese schulische Institutionalisierung und Normierung, die sich auch in Lehrplänen und Lehramtsprüfungen niederschlug, die allmähliche Herausbildung einer über Fremdsprachenunterricht reflektierenden Lehreröffentlichkeit und die starke Verbreitung einiger Lehrbücher trugen zum Entstehen von „großen“ Methodenkonzeptionen bei. Drei Viertel des 19. Jahrhunderts standen vorrangig unter dem Einfluss einer Übersetzungsmethode, die - unter starker Betonung oder auch weitgehender Vernachlässigung der grammatischen Bewusstmachung, und dies in Abhängigkeit von den jeweiligen Lernerpublika - unterschiedliche Formen annehmen konnte. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam es zur neusprachlichen Reformbewegung, in deren Verlauf vor allem die direkte Methode propagiert wurde. Damit wurde ein Fremdsprachenunterricht, in dem in vielen Phasen Bezüge zur Muttersprache hergestellt wurden, durch eine Unterrichtskonzeption ersetzt, in der jede Sprache möglichst von den anderen getrennt erlernt werden sollte, um ein eigenes, in Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 69 39 (2010) sich geschlossenes Assoziationssystem auszubilden. Der neu entstandene Trend zur Einsprachigkeit wurde auch in einigen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts betont, trat aber ebenso zeitweilig wieder in den Hintergrund; die Verabsolutierung der direkten Methode wurde ab den 1980er Jahren eher durch eine „funktionale Einsprachigkeit“, die phasenweise auch den Gebrauch der Muttersprache zulässt, ersetzt. Ab der neusprachlichen Reformbewegung, d. h. ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert, hat sich (bis heute) im Unterricht der Einsatz fremdsprachiger Texte als Grundlage für eine systematische Wortschatz- und Grammatikvermittlung sowie für inhaltsbezogene Gespräche fest etabliert. Dazu gibt es unterschiedliche Semantisierungsverfahren, die traditionellerweise entweder auf einem (der eigentlichen Texteinführung vorangestellten) Wortschatzerklärungsgespräch in der Zielsprache oder auf der eigenständigen Texterschließung durch die Lernenden beruhen (vgl. R EINFRIED 2006: 177 ff) und im vergangenen Jahrzehnt durch weitere, handlungsorientierte zielsprachige Formen der Wortschatzvermittlung ergänzt worden sind (vgl. z.B. G RÜNEWALD / L USAR 2006: 252). Seltener wird heute (ganz im Gegensatz zum 19. Jahrhundert) die Übersetzung in die Muttersprache als Standardverfahren im fremdsprachendidaktischen Schrifttum empfohlen; meist handelt es sich dann um unterrichtsmethodische Vorschläge zur „bilingualen Methode“, als deren wichtigster Vertreter in Deutschland Wolfgang Butzkamm gilt. Diese Methode greift auf unterschiedliche Übersetzungstechniken zurück, Formen der sinngemäßen, der wörtlichen und der „strengwörtlichen“ Übersetzung, die wiederholt in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts auftauchten, aber heute weniger bekannt sein dürften. Sie wurden in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in Verbindung mit der „analytischen“ oder „Interlinearmethode“ in deutschen Veröffentlichungen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts thematisiert (vgl. M ACHT 1986; K LIPPEL 1994: 221-247; E TTINGER 1994). Im folgenden Beitrag werden sie differenziert in ihrer Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der mit ihnen verbundenen Sprach- und Lernkonzepte dargestellt. Dabei kann die lernerstrategische Orientierung stärker wortsemantisch oder stärker textsemantisch eingeplant werden. In diesem Spannungsfeld zwischen langue und parole, zwischen Bedeutung und Referenz, auch zwischen Synchronie und Diachronie bezieht die didaktische Diskussion, die in den folgenden Abschnitten beschrieben wird, unterschiedliche Positionen. Dieses Bezugsfeld, das stark von lexikologischen Konzepten beeinflusst wird, ist Ekkehard Z ÖFGEN , dem der vorliegende FLuL-Band als Festschrift gewidmet ist, vertraut wie kaum einem anderen - hat er es doch bereits in seiner Dissertation Strukturelle Sprachwissenschaft und Semantik (1977) mit dem ihm eigenen analytischen Scharfsinn, mit seiner großen Genauigkeit und Gründlichkeit und seiner umfangreichen Kenntnis linguistischer Theorien behandelt und sich auch in seinen späteren Schriften öfter darauf bezogen. Die Positionen, die dazu im 19. Jahrhundert im Rahmen fremdsprachendidaktischer Debatten vertreten wurden, erreichen allerdings noch nicht den Differenziertheitsgrad und das umfangreichere theoretische Spektrum einer breit gefächerten strukturalen Linguistik, sondern bleiben dem noch weniger ausdifferenzierten Theorieangebot ihrer Zeit verhaftet. 70 Marcus Reinfried 1 W ECKER s’ Lehrwerk enthält beispielsweise Auszüge aus französischen Kinder- und Jugendbüchern; Les Aventures de Télémaque von François F ÉNELON (siehe Abb. 1) war anderthalb Jahrhunderte lang die beliebteste französischsprachige Schullektüre für Jungen in und außerhalb Frankreichs. Das Johannesevangelium hingegen (siehe Abb. 2) wurde von Leonhard T AFEL auf Empfehlung von James H AMILTON , der diesen Text für einfach hielt (W URM 1831: 11), ausgewählt. Vielleicht hat H AMILTON sich auch für den Text entschieden, weil er im damals sehr protestantisch geprägten angloamerikanischen Raum (durch die häufige Bibellektüre) relativ vielen Schülern bereits teilweise bekannt war. 39 (2010) 2. Von der synthetischen zur analytischen Methode Die bekanntesten Vertreter der synthetischen Grammatik-Übersetzungs-Methode waren unter den Lehrwerkautoren Johann Valentin M EIDINGER und Carl P LOETZ . M EIDINGER s Practische französische Grammatik, die 1783 erstmals erschien und 37 Auflagen bis 1850 erreichte, war das erste Lehrbuch, in dem die (zu Lektionsbeginn präsentierten) grammatischen Inhalte schülergerecht auf sehr kleine „Portionen“ reduziert und systematisch durch jeweils darauf bezogene Übersetzungen eingeübt wurden (M ACHT 1989: 9 f). Doch dieses neu entstandene Grammatikübungsbuch, das als innovatives Sprachlernmedium in einigen Teilen Europas wahrgenommen wurde, wies noch die Schwäche auf, dass es fast ausschließlich Übersetzungen in die Zielsprache (sog. Hinübersetzungen) enthielt. Es fehlten im Anfangsunterricht fremdsprachige Texte, ja sogar fremdsprachige Einzelsätze, mithin das, was man heute als fremdsprachlichen Input bezeichnet. Diese Schwäche wurde durch Carl P LOETZ ’ Lehrbuch der französischen Sprache behoben, das erstmals 1848 erschien und 48 Auflagen bis 1920 erreichte: Seine Übungsteile beginnen mit Sätzen in der Zielsprache (von zusammenhängenden Texten kann man überwiegend noch nicht sprechen), und erst im Anschluss an diese zahlreichen grammatischen Anwendungsbeispiele (die zur gründlichen sprachlichen Verarbeitung in die Muttersprache der Schüler übersetzt werden sollen) folgen die Hinübersetzungen zur synthetischen Konstruktion der Zielsprache. Als Gegenbewegung zur ersten, noch mit einigen Schwächen behafteten Phase der synthetischen Grammatik-Übersetzungs-Methode (siehe dazu C HRIST 1993: 5 ff) bildete sich ab den 1830er Jahren in Deutschland, mit Provenienz aus dem französischen und den angloamerikanischen Kulturräumen, eine „analytische“ Übersetzungsmethode aus. Es handelt sich um eine holistische Methode, die auf einer intuitiven Lernkonzeption basiert (mit Verzicht auf grammatische Bewusstmachung im Anfangsunterricht oder unter deren weitgehender Einschränkung) und sich authentischer Texte (vgl. z.B. Abb. 1 [ ( S. 72] und Abb. 2 [ ( S. 75]) 1 bedient. Die Bezeichnung „analytische Methode“ fokussiert somit keinesfalls auf grammatische Strukturen, sondern ist eher in einer ganzheitlichen Bezugnahme auf die Wahrnehmung von Einzelheiten im Verstehensakt gemeint und kann auch im lexikalischen Sinne, wie unten noch erläutert wird, aufgefasst werden. Sie wurde von Zeitgenossen (teilweise zu Unrecht) oft auf Joseph J ACOTOT s fächerübergreifendes holistisches Unterrichtskonzept bezogen (das allerdings in seinen didaktischen Begründungen vage bleibt und sich methodisch wenig für den Anfangsunterricht in einer Fremdsprache eignet, vgl. D ÜRIETZ 1830: 60 ff). In einer klaren und konkreten Form wurde sie eher durch James H AMILTON ausgestaltet, der damit auch für seine private Sprachschule warb. Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 71 2 Die Geschichte der Interlinearversion ist bereits über 2000 Jahre alt. Zweisprachige Textfassungen, bei denen fremd- und muttersprachliche Zeilen einander abwechselten, gab es schon zu Zeiten der Einführung des Christentums in die germanischen Länder für die Bibel. Auch im Rahmen des humanistischen Unterrichtsbetriebs für klassische Lektüren wurden gelegentlich Interlinearversionen eingesetzt, obwohl hier die typographische Präsentation nach interlingualen Wortäquivalenten entweder gar nicht oder nur inkonsequent berücksichtigt wurde, wie César Chesneau D U M ARSAIS im 18. Jahrhundert bemängelte (vgl. B ESSE 1996b: 294). Das erste Lehrbuch für neuere Sprachen, in dem die Interlinearversion (allerdings ebenfalls ohne eine präzise Anordnung nach Wort-für-Wort-Entsprechungen) eingesetzt wurde, dürfte An Introductorie for to lerne, to pronounce and to speke French trewly (1534) von G. D UWES , alias Giles D U G UEZ , gewesen sein (B ESSE 1996b: ebd.). Für den deutschsprachigen Raum erschien 1711 in Nürnberg ein von Matthias C RAMER verfasstes Übungsbuch mit Interlinearversionen für den Französischunterricht (S CHMITZ 1859: 94). In der pädagogischen Literatur wurde die Interlinearversion als methodisches Hilfsmittel für einen imitativen und naturgemäßen Fremdsprachenunterricht erstmals 1693 von dem Philosophen John L OCKE empfohlen (vgl. L OCKE 1989: 219 f). Im 18. Jahrhundert fanden Interlinearversionen vor allem im französischen Lateinunterricht eine größere Verbreitung; dort hat sie d’A NGELI , der Lehrer H AMILTON s, wahrscheinlich in seiner Jugend kennen gelernt. Bekannt wurde D U M ARSAIS ’ Proklamation der „traduction littérale“, die der traditionellen sinngemäßen 39 (2010) James H AMILTON war, wie seiner Autobiographie (1829) zu entnehmen ist, ein schottischer Geschäftsmann, der nach dem Verlust seines Vermögens in die USA ausgewandert und dort zum Sprachmeister geworden war. Mit seiner Sprachlehrmethode, nach deren Grundzügen er selbst von einem gewissen D ’A NGELI , einem ehemaligen, aus Frankreich stammenden General in der deutschen Sprache unterrichtet worden war, verfolgte er ausschließlich utilitaristisch-praktische Lernziele. Den Kern dieser Methode, die im Anfangsunterricht ihren Schwerpunkt vor allem auf die Ausbildung des Leseverstehens legt, stellt die „analytical translation“ eines authentischen fremdsprachlichen Textes dar. Der Lehrer soll den Text bei der Einführung Wort für Wort vortragen und übersetzen, die Schüler müssen die fremden Ausdrücke mitsamt den muttersprachlichen Äquivalenten mehrfach wiederholen. Nach der Behandlung eines kleineren Textabschnitts wird jeweils eine Retroversionsphase eingeschaltet, in der die Schüler einzelne Wörter oder auch Sätze von der Mutterin die Fremdsprache (rück-)übertragen müssen. Diese Rückübersetzungen wurden oft als Hausaufgabe wiederholt; dazu verfügten die Lernenden über eine gedruckte Interlinearversion (siehe z. B. Abb. 1 [ ( S. 72), die zeilenweise abgedeckt werden konnte. H AMILTON (1829: 5, 30) wollte die Bewusstmachung grammatischer Phänomene aus dem Elementarunterricht verbannen (wohingegen die meisten seiner deutschen Anhänger - zumindest bei komplexeren grammatischen Strukturen - für eine induktive, möglichst an den Schülerbedürfnissen orientierte Erarbeitung von Regeln oder Paradigmen waren). Die „analytical translation“ sollte ein intuitives Verstehen fremdsprachiger Strukturen ermöglichen. Sie hatte Formen und Strukturen von der Zielin die Ausgangssprache zu übertragen: die Syntax der Fremdsprache, ihre Morphologie, spezifische Kollokationen und das Genus der Substantive. Als wörtliche Übersetzung sollte sie außerdem nach H AMILTON (1829: 8, 35 f) das Verstehen und Behalten der Wortbedeutungen erleichtern. Dieser lehnt alle sinngemäßen Übersetzungen und doppelten Übertragungen kategorisch ab (ebd.: 7, 32, 45). In diesem Punkt distanziert er sich auch von interlinearistischen Vorläufern 2 , denen er mangelnde Konsequenz vorwirft. 72 Marcus Reinfried Übersetzung vorangestellt werden sollte (1722 / 1797). D U M ARSAIS stützt sich dabei vor allem auf assoziationspsychologische Erwägungen: „De cette sorte le jeune disciple lie si bien l’image du mot françois avec le mot latin, qu’il ne sçauroit plus entendre prononcer l’un, sans songer à l’autre.“ Weitere Vorteile sieht er in folgenden Kennzeichen der Interlinearmethode: 1. „Elle oblige à la précision, à la propriété des termes.“ 2. „[Elle] fait sentir la différence des deux langues.“ 3. „Elle fait connoître le génie de la langue latine.“ (D U M ARSAIS 1797: 9, 13 f). Eine Weiterentwicklung erfuhr die „double traduction“ durch Claude François Lizarde de R ADONVILLIERS (1768), der die Aufeinanderfolge von wörtlicher und sinngemäßer Herübersetzung in eine schrittweise Überführung verwandelte und durch eine Theorie der lexikalischen Äquivalenzen fundierte (vgl. B ESSE 1996a: 74 f). Die Diskussion der unterrichtstechnischen, sprach- und lerntheoretischen Ähnlichkeiten zwischen D U M ARSAIS ’ und R ADONVILLIERS ’ Konzepten mit der analytischen Methode des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland sowie das wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Problem befinden sich außerhalb des zeitlichen Rahmens des vorliegenden Beitrags und können wegen der inhaltlichen Komplexität der Fragestellung nicht berücksichtigt werden. Diese Parallelen wurden bisher in der Literatur zur Geschichte der „analytischen Methode“ kaum behandelt (E TTINGER 1994: 726 weist als einziger darauf hin); wie viele andere länderübergreifende und -vergleichende Entwicklungen in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts sind sie noch zu wenig (und vor allem nur allzu oberflächlich) untersucht worden und bedürfen vielleicht auch der Aufarbeitung in internationalen Teams. 39 (2010) Abb. 1: Peter Joseph W ECKERS : Lehrbuch der französischen Sprache nach Hamilton’schen Grundsätzen, Mainz: von Zabern, 4. Aufl. 1839, S. 129 Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 73 39 (2010) Interessanter als H AMILTON s methodische Reflexion, die sehr oberflächlich bleibt, sind die Begründungen seiner deutschen Anhänger (bei denen es sich übrigens oft um Realschullehrer handelte) zur didaktischen Funktion der „analytischen Übersetzung“. Von ihnen wurden erstmals Gedanken zum Verstehen sprachlicher Elemente geäußert, die in einer theoretisch vertieften Form wieder bei Carl Wilhelm Eduard M AGER (mit dessen genetischer Methode wir uns im 3. Kapitel des vorliegenden Beitrags befassen) und anderen sprachtheoretisch interessierten Didaktikern auftauchen. Johann Adam P FAU (1844: 55) sieht den Nutzen der analytischen Übersetzung darin, „leichter und anschaulicher über den Sinn und Werth der einzelnen Wörter Auskunft zu geben, als es Lexikon und Grammatik thun“. Leonhard T AFEL (1837: 10 f) versucht die Eigenart der begrifflichen Anschauung näher zu bestimmen: als ein kulturspezifisches inneres „Bild“, „das irgend einer sinnlichen Entsprechung wegen aus dem äußeren Anschauungskreise geborgt worden ist“. Es handelt sich dabei, wie T AFEL (1845: 17 f) in einer späteren Veröffentlichung präzisiert, um die Versinnlichungen der Geistestätigkeit eines fremden Volkes. Die Aufgabe der „strengwörtlichen Übersetzung“ soll darin bestehen, den Schülern durch eine intuitive Vergleichung von fremdsprachigen mit muttersprachigen Begriffen den Zugang zum fremden Sprachgeist zu ermöglichen und ihnen das Denken in der Fremdsprache zu erleichtern (T AFEL 1835a: XXXIV). Die Unterschiebung der fremdsprachigen Anschauung unter die muttersprachigen Wortformen, die „Abprägung“ des fremdsprachigen in den muttersprachigen Begriff sichere die „gründlichste Kenntnis des fremden Sprachidioms“, indem sie „die fremden dem deutschen Sprachgenius nicht selten widerstrebenden Sprachbilder im Deutschen nachzubilden sucht und zu diesem Behufe, wo es nöthig ist, selbst neue Wörter schafft“ (T AFEL 1837: 24, 26). Um die Lernenden zum Verstehen der fremden „Begriffsanschauung“ hinzuführen, sollten sie bei der analytischen Übersetzung möglichst mit den Grundbedeutungen der Wörter bekannt gemacht werden. Dabei wurde dieser mehrdeutige Terminus unterschiedlich aufgefasst: Für einige zeitgenössische Methodiker (siehe P FAU 1844: 24 f) war die Grundbedeutung die bekannteste und psychisch dominante Teilbedeutung eines polysemen Worts, für andere war es die etymologische Wortbedeutung (siehe S CHMID 1838: 54 f). Leonhard T AFEL gehört zu dieser letzteren Gruppe; er ging von der Prämisse aus, dass die meisten Wörter auf eine konkrete und anschauliche „Urbedeutung“ zurückgehen. Für die Lernenden der französischen Sprache liegen diese Urbedeutungen in den lateinischen Etyma, mit denen sie sich vertraut machen sollen: „Wie alle unsere Erkenntnis von der Wiege an mit Anschauungen [...] beginnt, so sollte auch die Erlernung einer Sprache, deren Wörter ursprünglich größten Theils Bilder sind, mit dem Auffassen dieser Bilder beginnen. Wenn nun diese Wörter im Satze selbst memoriert werden, so erhalten die betreffenden Bilder aus dem Zusammenhang, meist von selbst die weitere Deutung“ (T AFEL 1833b: XI). Im Einklang mit dieser etymologisierenden Semantisierungskonzeption übersetzt T AFEL in seinen Interlinearversionen (siehe Abb. 2 [ ( S. 75]) beispielsweise voici mit „siehehier“ und ne...pas mit „nicht...Schritt“. Diese Art „Interimsprache“, die sich damals bei den analytischen Übersetzungen herausbildete, stieß oft auf Ablehnung. Eine Reihe zeitgenössischer Methodiker beklagte sich über das „Kauderwelsch“ (B LUME 1840: XV) oder die „widernatürlich-abenteuerli- 74 Marcus Reinfried 39 (2010) che Verunstaltung der Muttersprache“ (S CHWARZ 1837: 21). Wilhelm Hermann B LUME (1840: XV) übte Kritik an der Neigung mancher deutscher Hamiltonianer, über die Grundbedeutung einen Verständniszugang zur „innersten und tiefsten Wesenheit“ eines Wortes zu bahnen. Dies sei aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt. Zum einen lasse sich die „fremde Vorstellungsform“ durch eine Übersetzung nicht klar vermitteln, und der Unterschied in der Ausprägung zweier Sprachen könne nur abstrakt begriffen werden. Die Lernenden könnten tiefer in den Geist einer Fremdsprache eindringen, wenn sie langsam vom Eigenen zum Fremden hingeführt würden: „Zuerst muss die fremde Vorstellungs- und Sprechweise der dem Schüler vertrauten so nahe als möglich gebracht werden, und nur allmälig und stufenweise kann man in ihm das Bewusstsein der Differenz wecken“ (B LUME 1840: ebd.). Außerdem könnten Grundbedeutungen das vorrangige Verständnis eines Wortes in einem konkreten Zusammenhang nicht ersetzen. Auch S CHWARZ (1837: 24) merkt kritisch an, dass analytische Übersetzungen vielfach jüngere Lernende überfordern müssten: „Das Kind hat einmal das Combinationsvermögen noch nicht, um die geeigneten Wörter und Verbindungen statt der ungeeigneten zu finden.“ Diese drohende Gefahr des Missverstehens war allerdings fast allen deutschen Vertretern der analytischen Methode auch bewusst; kaum jemand beharrte (so wie H AMIL - TON ) auf der Ausschließlichkeit wörtlicher Übersetzungen. Selbst T AFEL (1837: 40), der sich ansonsten ziemlich eng an H AMILTON s methodische Konzeption hält, weicht in diesem Punkt von seinen Ratschlägen ab. Für den Anfangsunterricht empfiehlt er den Lehrern, beim analytischen Übersetzen den Sinn unklarer Sätze in einem Unterrichtsgespräch zu klären: „Wenn ein Wort in einer abgeleiteten Bedeutung oder in einem fremdartigen Sprachbilde vorkommt, so wird gleichfalls durch Fragen auf den zur Stelle gehörigen Sinn hingeleitet“ (ebd.: 49). Als eine weitere Erklärungshilfe soll der Anmerkungsapparat in T AFEL s Lehrbüchern (siehe z. B. Abb. 2) dienen, der vor allem für die häusliche Wiederholung bestimmt ist. Die regelmäßige Überleitung von der wörtlichen zur sinngemäßen Übersetzung sieht T AFEL (1837: 28) allerdings erst für den fortgeschrittenen Unterricht vor: „Erst nachdem sich die in der fremden Sprache niedergelegten Bilder in dem Gedächtnis bleibend festgesetzt haben, versucht man den in der fremden Sprache gegebenen Gedanken in dem ächt deutschen Gewande nach deutscher Denk- und Sprechweise auszudrücken.“ Dann sollen die Lehrer erstmals besondere Unterrichtsstunden ansetzen, in denen analytische Übersetzungen „mündlich ins Reindeutsche übertragen“ werden (T AFEL 1833b: XX). Unmittelbar in ein idiomatisches Deutsch soll erst übersetzt werden, wenn der Unterricht schon sehr weit fortgeschritten ist. Ganz im Gegensatz zu T AFEL empfiehlt Carl Adolf S CHMID (1838: 48 f), „dass der Schüler von Anfange an aus der wörtlichen Uebersetzung eine richtig deutsche zu machen angeleitet werden“ müsse. Er sieht die analytische Übersetzung als ein „Mittelglied“ in einem Umformungsprozess, in dem es für die Lernenden darauf ankommt, eine geistige Brücke zwischen Fremd- und Muttersprache, zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen zu schlagen. Dabei sei es „fördernd für die Deutlichkeit des Verständnisses, wenn diese Operation nicht nur im Geiste, sondern auch in Worten vollzogen“ werde. Ähnlich wie S CHMID bezeichnen auch B LUME (1840: XV) und P FAU (1844: 22 f) das sinngemäße Übersetzen als einen - von Anfang an - notwendigen Bestandteil der analyti- Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 75 3 Dazu geht R ADONVILLIERS (1768: 69 ff), der seine methodischen Überlegungen primär noch für den Lateinunterricht angestellt hat, von vier Erarbeitungsstufen aus: 1) Umgestaltung der fremdsprachlichen Syntax zu einer muttersprachlichen Wortfolge; 2) Ersetzung der fremdsprachlichen Ausdrücke durch muttersprachliche Entsprechungen; 3) Ergänzung der muttersprachlichen Morphosyntax; 4) Berücksichtigung der muttersprachlichen Idiomatik. Diese schematische Stufenfolge wurde allerdings nicht von den deutschen Vertretern der analytischen Methode adaptiert. 39 (2010) schen Methode. Dadurch dürfte sich diese Methode, soweit sie tatsächlich im Fremdsprachenunterricht praktiziert wurde, in der Regel der von Claude François Lizarde DE R ADONVILLIERS (1768) beschriebenen Variante angenähert haben: Der französische Jesuit hatte bereits empfohlen, die version des mots stets in die version de la pensée umzuformen. 3 Abb. 2: Leonhard T AFEL , Lehrbuch der französischen Sprache nach Hamiltonischen Grundsätzen, 1. Kurs, Bd. 2: Interlinearübersetzung, Stuttgart: Löflund, 2. Aufl. 1835, S. 1 76 Marcus Reinfried 4 Dieses Konzept wurde auch durch die Erkenntnistheorie Immanuel K ANT s fundiert, die auf eine gleichrangige Berücksichtigung von „Sinnlichkeit“ und Verstand, von Empirismus und Rationalismus ausgerichtet war (vgl. R EINFRIED 1995: 49 f). 39 (2010) 3. Zwischen „innerem Sprachverständnis“ und interlingualem Wortvergleich Die Auseinandersetzung um die analytische und die synthetische Methode des Fremdsprachenunterrichts hatte in Deutschland gerade ihren Höhepunkt überschritten, als der Französischlehrer Carl Wilhelm Eduard M AGER als pädagogischer Publizist bekannt wurde. In seiner Trilogie Die modernen Humanitätsstudien (1840, 1843, 1846) und in zwei längeren Aufsätzen (1838, 1851) schlägt Mager eine Lehrmethode vor, die dem praktischen Sprachkönnen und dem theoretischen Sprachkennen gleichermaßen Rechnung tragen soll: die genetische Methode. Sie soll eine dialektische Verbindung der analytischen und der synthetischen Methode verkörpern, in der sowohl die beiden Methoden „als Momente aufgehoben sind“ als auch ein Ausgleich zwischen beiden Methoden „auf eine mehr innere, geistige Weise“ vollzogen wird (M AGER 1846: 14, 110 f). Dabei soll „von vorn herein darauf hingearbeitet“ werden, „die Vorstellungsweise der fremden Sprachen dem Geiste unmittelbar zugänglich zu machen“ (ebd.: 112). Dazu muss der Lernende die zielsprachigen Wörter umfassend und vertieft verstehen und in ihrer Eigentümlichkeit empfinden lernen, damit er „nicht nur den Inhalt, sondern auch den Umfang des einem fremden Worte anhaftenden Begriffes lebendig fühlt und deutlich übersieht“ (M AGER 1851: 503). Dieser Lernkonzeption, welche die Wortschatzarbeit (von M AGER als „Onomatik“ bezeichnet) ins Zentrum des Fremdsprachenunterrichts rückt, entspricht ein holistisches lexikalisches Konzept, das dieser von Wilhelm von H UMBOLDT entlehnt hat. Wortbedeutungen konstituieren sich für H UMBOLDT (1907: 155) wie auch für M AGER (1844: 61) stets in einem geistigen Feld zwischen anschaulichen Vorstellungen und abstrakten Verstandesoperationen. 4 Die Semantisierung eines Wortes muss folglich beiden Erkenntnisquellen gerecht werden. Sie muss die referentielle Funktion der Sprache ebenso wie die sprachimmanente Sinnkonstitution berücksichtigen: „Im guten Sprachunterrichte [...] erfährt der Schüler nicht nur, was die fremden Vocabeln bezeichnen, sondern zugleich, was sie bedeuten, und damit werden sie durchsichtig, man sieht dem Worte in die Seele, man sieht ihm auf den Grund, indem man den Grund der Benennung hat“ (M AGER 1843: 58). Dadurch kommt M AGER (1844: 49 f) zu einer etymologisierenden Wortkonzeption, die derjenigen T AFEL s (siehe Abb. 2 [ μ S. 75]) ähnelt; indem der Lernende die begriffliche Entwicklung nachvollzieht, soll ihm die sprachliche Anschauung vermittelt werden: „Es hat jede Vocabel ihre Grundbedeutung, das deutsche Wort Schlange correspondirt keineswegs dem lateinischen serpens und dem französischen serpent, wir haben das Schlingende, die Römer haben das Kriechende in dem Thiere gesehen.“ Bildungstheoretisch war M AGER (1838: 260 ff) noch stark von neuhumanistischen Vorstellungen beeinflusst, obwohl er diese auf den Bereich der modernen Sprachen und Kulturen, vor allem auf die französische Sprache und Kultur, anwenden wollte. Deshalb Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 77 5 Dabei versteht M AGER (1843: 90 f) Metaphysik in einem Kantschen Sinne als Teildisziplin, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis beschäftigt. Da er die Erkennbarkeit des Seienden in einem engen Bezug zur Sprache sieht, stellt die vergleichende Sprachanalyse für ihn eine Näherungsmöglichkeit an „das absolute, das metaphysische Erkennen“ dar. 39 (2010) ist für ihn die Analyse des Wortschatzes „ein unvergleichliches Mittel metaphysischer Bildung“ 5 , das „schlechterdings durch gar Nichts auch nur von ferne ersetzt werden“ könne (M AGER 1843: 89 f). Dabei beruft M AGER (1844: 79) sich auf eine Äußerung des Altphilologen Friedrich August W OLF (1807: 91), deren Inhalt dieser wiederum von Gottfried Benedict F UNK (1784: 124) übernommen hat: „Die Sprachen, die ersten Kunst- Schöpfungen des menschlichen Geistes, enthalten den ganzen Vorrath von allgemeinen Ideen und Formen unseres Denkens, welche bei fortschreitender Cultur der Völker sind gewonnen und ausgebildet worden.“ Dabei macht Mager sich H UMBOLDTS (1907: 42) berühmte These zu eigen, „in jeder Sprache“ liege „eine eigenthümliche Weltansicht“. M AGER (1843: 275) drückt diese Weltbildthese, die aus der damals von vielen idealistischen Philosophen angenommenen Quasi-Identität von Sprache und Denken resultiert, mit folgendem Zitat H UMBOLDTS (1907: 60) aus: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich [...] so, wie die Sprache sie ihm zuführt. [...] Jede [Sprache] zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen [Sprache] hinübertritt.“ Folglich bleibt - vor allem bei abstrakten Wortbedeutungen - nur der zwei- oder mehrsprachige kontrastive Vergleich, der es den Sprachbenutzern ermöglicht, „zu einer richtigeren Vorstellung der Dinge zu kommen, als mit Hülfe einer einzigen Sprache zu gewinnen ist“ (M AGER 1846: 358). So trage das Erlernen von Fremdsprachen „zur Gewinnung eines neuen, höheren und reicheren Standpunktes der Weltansicht“ bei (M AGER 1843: 79). Diese bildungstheoretische Begründung wurde jedoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder in den Hintergrund gedrängt. Zur Zeit der neusprachlichen Reformbewegung gewannen andere Sprach- und Lernkonzepte an Relevanz. Traditionellerweise war die Meinung unter den Etymologen verbreitet, sie würden mit ihrer Forschung den eigentlichen Gehalt der Wörter offenlegen, wobei sie die aus dem Griechischen abgeleitete Bezeichnung ihrer Teildisziplin wörtlich als „Lehre vom Wahren und Wirklichen“ deuteten (W ANDRUSZKA 1970: 108). Der dänische Sprachwissenschaftler Johan Nicolai M ADVIG übte daran deutlich Kritik; er bezeichnete (bereits 1871) die Meinung, „etymologische Einsicht sei eine wesentliche Bedingung des wahren vollen und sichern Besitzes unserer eigenen Sprache“, als „ein sehr großes Mißverständnis, [...] welches die Sprachforschung selbst energisch abweisen muß“ (1977: 167 f). Derselben Ansichten waren auch die meisten Anhänger der neusprachlichen Reformbewegung. Sie unterschieden deutlich zwischen Sprachkönnen und Sprachwissen; dem ersteren rechneten sie die Kenntnis der Wortgeschichte nicht mehr zu, weil sie sie nicht mehr als ein konstitutives Element des Sprachbewusstseins der Gegenwart einschätzten. Dabei wurden im Wesentlichen zwei Auffassungen zur Stellung der Etymologie im Unterricht moderner Fremdsprachen von den Reformern vertreten: eine „radikale“ und eine „vermittelnde“ Position. Die Vertreter der radikalen Position (z. B. S WOBODA 1889: 78 Marcus Reinfried 6 Bei den Romanisten sorgte vor allem Karl V OSSLER s programmatisch-methodologische Schrift Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904) für die Verbreitung dieser neoidealistischen Ideen. In der Vergleichenden Indogermanischen Sprachwissenschaft wurden ähnliche Gedanken bereits vorher von Franz Nikolaus F INCK (1899) vertreten. 7 Für S TEINTHAL handelt es sich bei dem Terminus „innere Sprachform“ um einen Schlüsselbegriff, der in seinen gesamten sprachtheoretischen Schriften eine große Rolle spielt. Steinthal hat den Terminus von H UM - BOLDTS monumentaler Einleitung zur Grammatik der javanischen Kawi-Sprache (1907: 94 ff), dem bedeutenden Alterswerk, entlehnt - wo er allerdings nur an einigen wenigen Stellen auftaucht und nirgends definiert wird. Aspekte des Begriffs wurden von S TEINTHAL erstmals in seiner Monographie Die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldt’s und die Hegel’sche Philosophie (1848: 95 ff) diskutiert. In den 1850er Jahren entwickelte S TEINTHAL dann seine Konzeption in Auseinandersetzung mit dem (befreundeten) Sprachphilosophen Moritz L AZARUS weiter (zu dessen Auffassung der inneren Sprachform vgl. L AZARUS 1857: 102 ff). Ab den 1860er Jahren wurde der Terminus (bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) von vielen Sprachwissenschaftlern und Philosophen übernommen (vgl. B UMANN 1965: 125 ff). 39 (2010) 414; W ENDT 1901: 11) lehnten den Einbezug der Etymologie prinzipiell ab - zumindest im Elementarunterricht. Das konnte mit der Begründung geschehen, dass etymologische Erklärungen nur wenig zur Ausbildung praktischer Sprachfertigkeiten beitragen oder dass eine etymologische Herleitung neusprachlicher Wörter aus dem Lateinischen primär beim geschriebenen (und nicht beim gesprochenen) fremdsprachigen Ausdruck ansetzt. Vertreter der vermittelnden Position (z. B. V OELKEL 1883: 546 f; J OSUPEIT 1883: 350; O H - LERT 1886: 41 ff) hingegen lehnten den gelegentlichen Vergleich französischer oder englischer Formen mit lateinischen Wörtern nicht ab, obwohl sie eine durchgängige genetische Wortschatzbetrachtung oder gar eine systematische Ableitung neusprachlicher Wörter aus dem Lateinischen über Lautgesetze (die von vielen romanischen Sprachwissenschaftlern und auch von Altphilologen für den neusprachlichen Unterricht empfohlen wurde) zurückwiesen. Als hilfreich wurde ein solcher etymologisierender Vergleich am ehesten dann eingeschätzt, wenn von ihm ein Nutzen für das Behalten der französischen oder englischen Wortformen erwartet werden konnte und wenn die Lernenden selbst am Auffinden von Wortähnlichkeiten beteiligt wurden. Doch es kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die neusprachliche Reformbewegung allmählich an Schwung verlor und die direkte Methode in den didaktischen Veröffentlichungen zugunsten der vermittelnden Methode an Bedeutung einbüßte (S TEINMÜLLER 1909: 151 f), wieder zu einer Renaissance der genetischen Methode, ohne dass der Name Carl M AGER s dabei noch erwähnt worden wäre (vgl. vor allem S IEPER / H ASENCLEVER 1914: 4 ff über die biogenetische Methode Wilhelm R ICKEN s). Parallel zur Ausbildung einer neoidealistischen Strömung in der Sprachwissenschaft 6 kamen im neusprachlichen Fremdsprachenunterricht erneut Bestrebungen auf, „in den Geist der [Ziel-]Sprache einzudringen“ und den Schülern einen „Einblick in die psychologischen Ursachen gewisser Spracherscheinungen zu verschaffen“ (M EDER 1904: 49). Von den fremdsprachendidaktischen Autoren entwickelte vor allem Ernst von S ALLWÜRK (1898: 14 ff) eine entsprechende Bedeutungstheorie; er entlehnte, wie er selbst mitteilt, aus Heymann S TEIN - THALS Sprachtheorie den Terminus der „inneren Wortform“. S TEINTHAL (1888: 120), der allerdings den leicht abweichenden Terminus der „inneren Sprachform“ benutzt hat 7 , versteht darunter die Art und Weise, wie eine Anschauung oder ein Begriff in einem Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 79 8 S TEINTHAL (1855: 306 ff) unterscheidet drei Stufen der inneren Sprachform, wobei diese zu einer immer größeren Klarheit und Geistigkeit aufsteigen soll: 1) die pathognomische Stufe, auf der Analogien zwischen den Lauten und der Anschauung des Sachverhalts bestehen (typisch für sie sind Onomatopöien und Interjektionen); 2) die charakterisierende Stufe, auf der die Wörter stehen oder standen, die ursprünglich dadurch entstanden sind, dass sie ein charakteristisches Merkmal eines angeschauten Sachverhalts benennen (ihr können die Mehrzahl aller Substantive und ein erheblicher Teil der Verben und Adjektive - überwiegend allerdings nur mit ihren historischen Bedeutungen - zugeordnet werden); 3) die „Stufe der geschichtlichen Zeit, wo Laut und objective Anschauung oder Bedeutung ohne Vermittlung verbunden sind“, d. h. die Stufe der unmotivierten Assoziation. S ALLWÜRK hingegen denkt bei seiner „inneren Wortform“ oder „sprachlichen Anschauung“ fast nur an die zweite Stufe, noch genauer: ihm schwebt vor allem die „figürliche innere Sprachform“ im Sinne Anton M ARTY s (1908: 134 ff) vor. 39 (2010) Ausdruck vorgestellt wird. Sein Bedeutungskonzept ist weiter gefasst als dasjenige Sallwürks. 8 Dieser versteht unter „innerer Wortform“ eine Art inneres Bild (wie z. B. das Vorstellungsbild eines Feldes beim französischen Ausdruck sur-le-champ, das mit der Bedeutung ‚auf der Stelle‘, ‚sofort‘ mitschwingt). S ALLWÜRK (1898: 15) betont sehr die Wichtigkeit dieses Vorstellungsbildes, ja er scheint ihr sogar noch eine größere Bedeutung als der eigentlichen Vorstellung vom Referenten beizumessen: „Die Sprache meint, was die ihr eigene Anschauung meint, nicht was das Wort sagt.“ Eine kontrastive Wortschatzvermittlung, durch welche die Schüler in die geistigen Strukturen der Zielkultur eingeführt werden sollten, wurde nach der Jahrhundertwende öfter in der didaktischen Literatur empfohlen. So schlug beispielsweise S EEGER (1903: 12 f) vor, fremdsprachige Metaphern und Phraseologismen intensiv im Unterricht auf der Folie muttersprachlicher Entsprechungen zu analysieren. Daran sollten die Schüler erkennen, „wie anders das Sprachbewusstsein des Franzosen und Engländers die Dinge der Außenwelt apperzipiert, wie verschieden die Sprachen entsprechend der inneren sprachlichen Anschauung bei der Verbindung von Vorstellungen verfahren, wie anders sich, psychologisch ausgedrückt, im Französischen und Englischen das Verhältnis des Bewußtseins zur Realität stellt.“ Auch M EDER (1904: 12 f) empfahl, Phraseologismen und morphologische Komposita in ihre Bestandteile zu zerlegen und den Schülern zu erklären. O TTO (1925: 259 f) bezeichnete es als gängiges Verfahren, bei Katachresen wie la chauve-souris (‚Fledermaus‘, wörtlich: ‚kahle Maus‘) oder l’œuillet (‚Nelke‘, wörtlich: ‚Äuglein‘)„den ursprünglichen Sinn neu zu beleben“, um die Lernenden zur inneren Sprachform zu führen. 4. Semantisierung im Rahmen der bilingualen Methode Kontrastive Ansätze bei der Wortschatzvermittlung setzten sich nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen der Kulturkunde fort, gerieten aber in Deutschland (wie auch in den meisten anderen mittel- und westeuropäischen Ländern) nach dem Zweiten Weltkrieg durch den wachsenden Einfluss der direkten Methode, die Ende der 1960er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, wieder in Vergessenheit. Es waren daher Gegner einer konsequenten Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht, die ab der Mitte der 1970er Jahre 80 Marcus Reinfried 9 Auch S ALISTRA (1962: 56) plädiert für ein „Prinzip der Bezugnahme auf die Muttersprache“: „Bei der Vermittlung einer Fremdsprache in der Schule soll der Lehrer zielstrebig und bewußt die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Spracherfahrung der Schüler auf dem Gebiet der Muttersprache ausnutzen.“ 10 K LEIN (1984 / 1992: 124) definiert das Weltwissen als „allgemeines, im Verlauf des bisherigen Lebens angesammeltes Wissen über physikalische, soziale und sonstige Gegebenheiten.“ Unter Situationswissen versteht er „all jene Informationen [...], die die Sprecher aufgrund ihrer Wahrnehmung der jeweiligen Situation entnehmen können - abgesehen natürlich von den Schallwellen, von denen die Äußerungsinformation getragen wird“ (ebd.: 125). Und mit „Vorgängeräußerungen“ meint er diejenige Information, „die Vorgängeräußerungen entnommen wurde - aus dem (vorausgehenden) ‚sprachlichen Kontext’ der Äußerung, um die es gerade geht“ (ebd.: 126). 39 (2010) muttersprachenbasierte Semantisierungstechniken wiederentdeckten. Eine besonders wichtige Rolle spielte dabei Wolfgang B UTZKAMM , der damals den Standpunkt einer grundsätzlich muttersprachlichen Semantisierung zu vertreten begann. Für Butzkamm bildet die Muttersprache - ähnlich wie für den sowjetischen Methodiker S ALISTRA (1962) 9 - eine „positive Lernhilfe“ (1980: 117) und „die Orientierungsgrundlage für die Grammatik- und Wortschatzarbeit“ (2002: 283). Die von B UTZKAMM propagierte bilinguale Methode, deren Grundkonzeption er von dem walisischen Sprachdidaktiker Charles Joseph D ODSON (1967: 65 ff) übernommen hat, stellt nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, eine modernisierte Version der Grammatik-Übersetzungs-Methode des 19. Jahrhunderts dar: Denn es gehört zu den Charakteristika dieser Methode, dass Lehrer, die nach ihr unterrichten, auch im Elementarunterricht weitgehenden Gebrauch von der Zielsprache als Unterrichtssprache machen sollen (allerdings kaum bei der Semantisierung des Wortschatzes und auch nicht bei manchen Sprachübungen), und dass sie erstrebt, die Schüler möglichst schnell zum freien Kommunizieren in der Fremdsprache zu führen (vgl. B UTZKAMM 1980: 15 ff; B UTZKAMM / E SCHBACH 1985). Die Verstehensproblematik spielt in B UTZKAMM s didaktischer Reflexion, die nicht mehr auf einer idealistischen Sprachtheorie gründet, eine große Rolle. B UTZKAMM (1979: 138) bezeichnet (unter Anlehnung an Hans H. S TERN ) das Verlangen nach Sinngebung als eine besonders wichtige Eigenschaft erfolgreicher Sprachenlerner. Er geht davon aus, dass beim Verstehen eine Approximation an das beim Äußerungsakt Gemeinte prinzipiell möglich ist; mit den Lernern einer Fremdsprache sollen sprachliche Mitteilungen soweit analysiert werden, dass diese den Sinn „mit allen Zwischen- und Untertönen“ auffassen können (B UTZKAMM / E SCHBACH 1985: 141 f). Da Verstehen sich „durch Anknüpfung an Vorhandenes“ vollzieht, plädiert B UTZKAMM (1977: 115) aber nicht nur für die gründliche Bewusstmachung von Inhalten und Strukturen, sondern auch für den prinzipiellen Einbezug der Muttersprache: „Diese Anbindung macht überhaupt erst ein Verstehen möglich, da sie gleichzeitig Anbindung der fremdsprachlichen Inhalte an die erlebte Welt bedeutet.“ Neben den sprachlich-strukturellen Verstehenskomponenten bedürfen aber auch die für eine Mitteilung spezifischen Wissensvoraussetzungen einer Klärung; dazu können Weltwissen, Situationswissen sowie „Vorgängerinformationen“ gehören (B UTZ - KAMM 2002: 41 ff, in Anlehnung an K LEIN 1984: 123 ff 10 ). Dies alles trägt zum Verstehen bei, das sich als ein vielschichtiger Vorgang erweist. Verstehen bedeutet für B UTZKAMM (1989: 242): „(1) wissen, was gemeint ist, und der Situation angemessen reagieren Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 81 11 Bezüglich der Begriffsbildung vertritt B UTZKAMM (1977: 101 ff) hingegen einen empiristisch-nominalistischen Standpunkt, mit dem er sich von der „starken Version“ der These des sprachlichen Relativitätsprinzips (wie sie von H UMBOLDT , W EISGERBER , T RIER und W HORF vertreten wurde) distanziert. 12 B UTZKAMM selbst unterscheidet allerdings nur zwischen sinngemäßem Übersetzen, in dem „Mitteilungsäquivalente“ gegeben werden, „die den kommunikativen Wert (semantisch-pragmatischen Gehalt) einer Äußerung so gut wie möglich wiedergeben“ (2002: 181), und „wörtlicher Übersetzung“, die von ihm zusammen mit der „Spiegelung der fremden Struktur“ (und nicht deutlich abgegrenzt von ihr) genannt wird (ebd.: 183). Allerdings fördert es die Präzision, wenn man bei der zweiten Kategorie auch noch zwischen denjenigen Sprachformen unterscheidet, die muttersprachlichen Normen syntaktisch und / oder morphologisch entsprechen, und den „Spiegelungen“ fremdsprachlicher Strukturen, die zu unidiomatischen Wortbildungen oder -anordnungen führen. 39 (2010) können; (2) die Verbindung erkennen, die die formale Ordnung mit der inhaltlichen eingeht.“ Ein adäquates Verstehen impliziert somit drei Zugangsebenen: eine pragmatisch-situative, eine semantisch-lexikalische und eine syntaktisch-morphologische. Um die letztere Ebene, den strukturell-formalen Bereich, in das Verstehen zu integrieren, führt B UTZKAMM (2002: 247 f) die Grammatik auf die Semantik zurück: Er definiert Grammatik inhaltsbezogen als „die in der Sprache ausgelegte Sinngliederung unserer Menschenwelt“. Damit nähert er sich in diesem Punkt 11 (vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein) einer psychologisierenden Grammatikkonzeption an, wie sie im Rahmen des neoidealistischen Paradigmas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertreten worden ist. Dieser kognitivistisch-holistische Ansatz wird auch deutlich erkennbar, wenn B UTZKAMM (2002: 248) empfiehlt: „Die Devise für den Lehrer kann nur lauten, über die Verkürzungen der Schulgrammatik nach Kräften hinauszugehen und Einzelfragen immer wieder zu dem Grundproblem zurückzuführen, wie die Grammatik die Grundstruktur unserer menschlichen Wirklichkeit in ihre Ordnung übersetzt.“ Im Einklang mit seiner Verstehenskonzeption, die einen wiederholten Informationszugriff auf verschiedenen Ebenen voraussetzt, hat B UTZKAMM (2002: 178 ff) ein Prinzip der Mehrfachübersetzung für die Semantisierung von fremdsprachlichen Texten entwickelt. Er bedient sich dabei dreier Übersetzungsarten: 1) der sinngemäßen Übersetzung, 2) der wörtlichen Übersetzung, 3) der „Spiegelung der fremden Struktur“. 12 Die letztere Übersetzungsvariante hat B UTZKAMM der Interlinearversion entlehnt, mit der er sich bereits in seiner Dissertation (1973/ 1978: 102 ff) auseinander gesetzt hat; allerdings lehnt er die analytische Methode, wie sie von Hamilton und seinen Adepten praktiziert wurde, ab, weil sie die Wort-für-Wort-Übersetzung nicht nur gelegentlich und funktional einsetzt, sondern als methodisches Prinzip streng durchhält (2002: 199). Den Ausgangspunkt und den zentralen Teil des Semantisierungsverfahrens der bilingualen Methode stellt die sinngemäße Übersetzung dar. Ihr Zweck besteht darin, den Schülern Mitteilungsäquivalente anzugeben, die das Gemeinte so genau wie möglich treffen. „Die Schüler erhalten also zunächst keine Vokabelgleichungen, sondern Entsprechungen auf Textebene: Äquivalenzen der parole, nicht des Sprachsystems“ (B UTZKAMM 1980: 104). Diese Äußerungsganze oder Sinneinheiten einer Äußerung (in der Regel ein Satz oder ein Teilsatz) sollen pragmatische sowie (propositional-)semantische Gehalte erkennbar werden lassen und dafür sorgen, „daß sich die Schüler sofort in die Gesprächs- 82 Marcus Reinfried 39 (2010) situation [oder auch in die Gedankenführung eines deskriptiven Texts] hineinfinden“ (B UTZKAMM / E SCHBACH 1985: 136). Die Lernenden sollen „dem Sinn und der Tonlage der fremden Äußerung so nahe wie möglich“ kommen (ebd.: 137). Bei der Vermittlung soll daher der Lehrer nicht nur die Körpersprache, sondern ebenfalls seine Stimme bewusst einsetzen: „Er kann flüstern, brüllen, einlullen, gedehnt sprechen, Ironie durchklingen lassen usw. und mit der ganzen Strahlkraft seiner Stimme den Sinn verlebendigen“ (B UTZKAMM 2002: 181). Aber auch die Schüler sollen sich schauspielerischer Mittel bedienen, um den Sinn eines Textfragments nachdrücklicher und einprägsamer zum Ausdruck zu bringen. So wurden beispielsweise Schüler einer 7. Hauptschulklasse, die (im Rahmen einer „Musterstunde“ nach der bilingualen Methode) von ihrem Lehrer Stefan E SCHBACH 1983 auf dem 10. Fremdsprachendidaktikerkongress in Aachen unterrichtet wurden, bei der Wiederholung des Textsatzes I never lie to you aufgefordert, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, um die emotionale Empörung und den Grad der Zurückweisung, die mit der Aussage verbunden sind, zu verdeutlichen (B UTZKAMM / E SCHBACH 1985: 137 f). Außerdem stellt die wiederholte Übersetzung, wobei der Ausdruck immer wieder variiert wird, einen wesentlichen Grundsatz des sinngemäßen Übersetzens dar: Nicht nur der Lehrer trägt bisweilen mehrere Übersetzungsäquivalente vor (wenn der Text ein freieres Übersetzen erfordert und ein Ringen nach pragmatischsemantischer Adäquanz einsetzt), sondern auch die Lernenden werden aufgefordert, weitere (und möglichst noch bessere) Übersetzungslösungen zu finden. So schlugen beispielsweise Schüler in der oben erwähnten Lehrprobe für remember, das der emotiven Aussage I never lie to you unmittelbar vorangestellt ist, die Äquivalente erinnere dich, denk mal dran und lass dir das gesagt sein vor. Ein nützlicher Nebeneffekt dieser Suche nach pragmatisch-semantischen Äquivalenten dürfte die Tatsache sein, dass bei den Lernenden das Bewusstsein dafür geschärft wird, „daß es zwischen Sprachen selten vollständige Eins-zu-Eins-Entsprechungen gibt und daß Bedeutungen kontextabhängig sind“ (ebd.: 137). Komplementär zur sinngemäßen Bedeutungsübertragung in die Muttersprache empfiehlt B UTZKAMM (2002: 183) auch noch für manche Textstellen die wörtliche Übersetzung als eine „zusätzliche Erklärungshilfe, die den fremden Ausdruck durchschaubar machen soll“. Eine solche Wort-für-Wort-Übersetzung erweise sich vor allem dann erforderlich, wenn die Äußerung in ihrer internen Struktur von den Lernenden nicht durchschaut wird. Dies kann zum einen Redewendungen betreffen (z. B. frz. j’ai fait beaucoup de choses pendant mes vacances vs. dt. ich habe viel in den Ferien unternommen), deren Fügungsweise in der fremden Sprache transparent gemacht werden soll (B UTZKAMM 1990: 12). Zum anderen tangiert es den übertragenen Wortgebrauch. In der bereits mehrfach erwähnten Lehrprobe Eschbachs wird beispielsweise das englische Lexem see gemäß einer konventionalisierten Metaphorik im Sinne von ‚einsehen‘, ‚erkennen‘ gebraucht (B UTZKAMM / E SCHBACH 1985: 139). Ein präzises Verstehen im Sinne B UTZKAMM s müsste hier auch ein Bewusstsein für die Kern- oder Grundbedeutung semantischer Ableitungen schaffen, weil diese im Gemeinten „mitschwingt“. Noch weiter als die wörtliche Übersetzung geht das von B UTZKAMM (1980: 109 ff, 2002: 233 ff) empfohlene „mirroring“, die Nachbildung fremder Strukturen in der Mutter- Zwischen wörtlichem und sinngemäßem Verstehen ... 83 13 Bereits D ODSON trat für den Einsatz dieser Unterrichtstechnik ein (vgl. B UTZKAMM 1975: 268 f). 39 (2010) sprache (eine Technik, die, wie bereits oben erwähnt, der Interlinearversion entlehnt wurde). 13 Das mirroring durchbricht muttersprachliche Formprinzipien und schmiegt sich dem fremden Ausdruck ganz an. Auch hier handelt es sich (wie bei der wortgetreuen Übersetzung) um eine zusätzliche Erklärungshilfe, deren Aufgabe es ist, formale Eigenschaften der fremden Sprache zu verdeutlichen. „Auf diese Weise kann man ohne aufwendige grammatische Terminologie und zeitraubende Erklärung die fremdsprachige Struktur bewußtmachen und einüben“ (B UTZKAMM 1980: 111). Als Erklärungstechnik wurde das mirroring auch schon beim Zweitsprachenerwerb von Kindern in natürlichen Kontaktsituationen beobachtet (1989: 248 f). Im Fremdsprachenunterricht soll es „nur als vermittelndes Zwischenglied“ fungieren, „das im weiteren Übungsprozeß fortfällt“ (1980: 114). Dabei hat B UTZKAMM sowohl den morphologischen als auch den syntaktischen Anwendungsbereich im Auge. Im ersten Fall geht es beispielsweise darum, Komposita wie nose dive (‚Sturzflug‘) oder arc-en-ciel (‚Regenbogen‘) durch Lehnübersetzungen transparent zu machen (2002: 243); dieser Ansatz weist Analogien zu S ALLWÜRK s und O TTO s Bestrebungen auf, beim Verstehen zur „sprachlichen Anschauung“ bzw. zur „inneren Sprach-“ oder „Wortform“ vorzudringen (siehe 3. Kapitel des vorliegenden Beitrags). Im zweiten Fall soll die Syntax eines Teilsatzes verdeutlicht werden, wobei allerdings auch morphosyntaktische Angleichungen der Mutteran die Fremdsprache vorgenommen werden. Zum Beispiel übersetzt E SCHBACH in seiner Lehrprobe den bereits oben erwähnten Satz I never lie to you mit der deutschen Entsprechung Ich niemals lüge zu dir, um die andersartige Konstruktion der englischen Sprache möglichst eindringlich zu vermitteln (B UTZKAMM / E SCHBACH 1985: 136). 5. Schlussbemerkung Die wörtlichen Übersetzungen und die verschiedenen Varianten des morphologischsyntaktischen mirroring weisen eine lange Tradition auf. Der vorliegende Beitrag hat versucht, die Entwicklung dieser Unterrichtsverfahren in Verbindung mit den darauf bezogenen theoretischen Begründungen in den letzten zwei Jahrhunderten darzustellen, auch wenn die (insgesamt noch nicht präzise erforschte) Vorgeschichte nur in einigen Anmerkungen gestreift werden konnte und auch wenn die Geschichte der interlinearistischen Selbstlernmaterialien aus Platzgründen ausgespart werden musste. Diese muttersprachenbasierten Semantisierungstechniken verdienen - genauso wie die einschlägigen Techniken der direkten Methode (vgl. z. B. R EINFRIED 2006: 179) - einen festen Platz im Repertoire von Fremdsprachenlehrenden, wenn sie maßvoll eingesetzt werden und in einer Weise, die Satzaussagen nicht (wie das zuweilen bei „analytischen“ Übersetzungen geschehen ist) schwer verständlich macht, sondern vielmehr Sinnstrukturen klärt. Eine Anwendung erscheint vor allem im primaren Fremdsprachenunterricht sehr sinnvoll sowie auch im Fremdsprachenunterricht mit bereits jugendlichen oder erwachsenen Lernenden, bei denen metasprachliche Erklärungen wenig nützen, weil sie vom (wenig abstrakt 84 Marcus Reinfried 39 (2010) denkenden) Adressatenkreis öfter nicht begriffen werden. Auch Lehrkräfte, die nicht mit allen Bestandteilen der bilingualen Methode Butzkamms einverstanden sind, werden diese Semantisierungstechniken gelegentlich mit Gewinn einsetzen können. Das Anknüpfen an muttersprachliche Strukturen sollte dabei möglichst nur ein erster Schritt auf dem Weg zu mehrsprachigen Vergleichen sein. 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A detailed discussion of Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande from 1900 shows that phraseology was already being taught with a surprisingly modern approach in a book on French-German vocabulary at the turn of the century. 1. Einleitung In einem philologisch mustergültig ausgearbeiteten Beitrag aus dem Jahre 1994 hat Z ÖFGEN (1994), der Jubilar der Festschrift, den topikal angeordneten Vocabulaire François von Louys Charle[! ] DU C LOUX aus dem Jahre 1678 eingehend untersucht und von heutiger Sicht aus folgendes Fazit gezogen: „ Als Zwischenbilanz dieses kursorischen Überblicks können wir festhalten, daß es sich bei aller Unvollkommenheit im Detail und trotz fehlender methodischer Stringenz insgesamt gesehen um einen bemerkenswerten Versuch handelt, ein thematisch-sachlich organisiertes Wörterbuch mit einer syntagmatischen und kommunikativ-pragmatischen Komponente auszustatten und somit Grundvoraussetzungen für ein auf die Bewältigung von Alltagssituationen abzielendes Wortschatzlernen mit dem Wörterbuch zu schaffen“ (Z ÖFGEN 1994: 177). Die Zusammenfassung seines Beitrages betitelt Z ÖFGEN dann programmatisch mit „Lernen aus der Geschichte oder: Was die (zweisprachige) Sachgruppenlexikographie bedenken sollte“, und abschließend bringt er eine sehr positive Würdigung des Vocabulaire François (Z ÖFGEN 1994: 180): „Vor allem aber lassen sich aus der Beschäftigung mit diesem frühen Zeugnis eines primären Lernwörterbuchs Anregungen für die ,moderne‘ Sachgruppenlexikographie gewinnen. Denn fest steht, daß der Vocabulaire François über ein nachgerade ,kommunikatives Potential‘ verfügt. Er verdankt dies der konsequenten Verbindung von Paradigmatik und Syntagmatik und dem in der Grob- und Feingliederung der Themenbereiche zum Ausdruck kommenden Bemühen um Vermitt- Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 89 1 Vgl. zu den Innovationsfaktoren der Lehrbuchgestaltung H EUER (1969: 386). 39 (2010) lung von Fertigkeiten, die das Zeichen von Oralität tragen und die der Bewältigung von Situationen dienen. Im Vergleich dazu wirken die sterilen Vokabellisten, wie sie in vielen Sachgruppenwörterbüchern immer noch gang und gäbe sind, wie ,großangelegte Vokabelfriedhöfe‘ (Schröder 1984: 328). So gesehen hat dieses Wörterbuch kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt und verdient größere Aufmerksamkeit, als ihm in der metalexikographischen Forschung bislang zuteil geworden ist.“ Mit diesen beiden Zitaten aus Z ÖFGEN sind treffend die beiden Pole angegeben, die sich bei der Beschäftigung mit Sprachlehrwerken früherer Jahrhunderte ergeben. Einerseits finden wir hier noch manche zeitbedingte „Unvollkommenheit im Detail“ und vielfach auch „fehlende methodische Stringenz“, andererseits aber können nicht wenige gelungene Lehrwerke früherer Zeiten sogar für die moderne Sprachdidaktik noch wertvolle Anregungen geben. Schließlich sollte man bei der Fremdsprachendidaktik die simple Tatsache nicht vergessen, dass die vier sprachlichen Fertigkeiten (Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben) ein sehr begrenztes Inventar darstellen und dass daher auch die Methodenvielfalt zu ihrer Vermittlung überschaubar bleibt. Lehrplanbedingt wird heute diese Methodenvielfalt sogar noch weiter reduziert. Die vorherrschende Einheitsunterrichtsmethode reicht aber nicht aus, um individuelle Sprachbedürfnisse, wie z. B. den Erwerb von aktiven oder passiven Sprachkenntnissen zu befriedigen, die Auswahl und Gewichtung im Bereich der Sekundär- und Tertiärsprachen zu steuern oder den Fremdsprachenerwerb mit Hilfe schon bekannter, strukturell ähnlicher Sprachen (z.B. Portugiesischlernen mit Hilfe von Spanischkenntnissen) zu erleichtern. 1 Mit unserem - an Z ÖFGEN (1994) angelehnten - methodisch ähnlich konzipierten Beitrag möchten wir dem Jubilar, mit dem uns über Jahre hinweg gemeinsame Interessen an sprachpraktischen und sprachdidaktischen Fragen verbunden haben, eine kleine Freude bereiten. 2. Lernen aus der Geschichte? Es war gerade diese historische Neugier, die uns während unserer langjährigen Tätigkeit als Sprachlehrer an einem universitären Sprachenzentrum immer wieder gereizt hat, einen Blick zurück zu werfen und gängige moderne Sprachlehrmethoden mit früheren Ansätzen zum Fremdsprachenerwerb zu vergleichen. 1984 befassten wir uns in einem Beitrag für die Festschrift Kröll mit der „Vermittlung von Sprechfertigkeit in einigen Französischlehrwerken des späten 17. Jahrhunderts und des 18. Jahrhunderts“ (E TTINGER 1984). Wir konnten dort zeigen, wie a) das Satzkonjugieren, b) das Üben mit Satzteilen, die modernen Pattern(-Drill)-Übungen bzw. Satzbautafeln ähnelten, c) das Erlernen von Einzelsätzen zu verschiedenen Sprechakten sowie d) das Auswendiglernen von praktisch anwendbaren Alltagsdialogen zur Förderung der Sprechfertigkeit im Französischen eingesetzt wurden. In den Lehrwerken dieser Zeit findet sich schon eine Fülle von „Diskussionswendungen“, wie sie später H OHMANN (2006) in seinem nützlichen Büchlein Discuter en français in ähnlicher Weise präsentieren sollte. Noch im 20. Jahrhundert sprechen Sprach- 90 Stefan Ettinger 39 (2010) praktiker und Sprachdidaktiker mit Respekt vom Satzkonjugieren (E HRKE 1930). Die wesentliche Funktion des Satzkonjugierens beschreibt B UTZKAMM (1976: 37): „Wie der pattern drill in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Satzkonjugieren oft als Alternative zur grammatischen Bewußtmachung und zum Regelwissen betrachtet“. „Probleme einer Geschichte des neusprachlichen Unterrichts“ diskutierten wir 1985 (E TTINGER 1985) bei der Besprechung zweier Dissertationen, die sich mit - über einen längeren Zeitraum verwendeten - Französischlehrbüchern bzw. Schulgrammatiken befassten. Zwei kleinere Beiträge von uns aus dem Jahre 1988 (E TTINGER 1988a, E TTINGER 1988b) gehen auf die Anfänge des Portugiesischunterrichts im deutschsprachigen Raum ein und versuchen zu verdeutlichen, wie sich allmählich die Beschreibungspräzision einiger ausgewählter, für den Fremdsprachenerwerb besonders wichtiger Grammatikkapitel, im Laufe der Zeit entwickelt hat. Der ketzerischen Frage, ob Wörterbuchneuauflagen wirklich immer eine Verbesserung darstellen, gingen wir 1991 nach (E TTINGER 1991). Es ergaben sich ziemlich überraschende Ergebnisse. Besonders ergiebig erwies sich eine solche Rückschau auf frühere Epochen im Bereich der zweisprachigen Lexikographie des Sprachenpaares Deutsch und Portugiesisch. (E TTINGER 1991a). Hier haben wir auf der einen Seite im 19. Jahrhundert grundsolide Wörterbücher, die über Jahrzehnte hinweg mit beeindruckendem Kärrnerfleiß von einzelnen idealistisch gesinnten Philologen nach der alten Zettelmethode erarbeitet wurden. Auf der anderen Seite müssen wir uns heute mit stark abgespeckten Produkten der kommerziellen, auf schnelle Rendite und auf Vielfachverwertung ausgerichteten Lexikographie begnügen (E TTINGER 1991a: 3022 f): „Klammert man die diachronisch bedingten Veränderungen des Wortschatzes aus, dann braucht der vierbändige Wagener 1811/ 1812, das erste Wörterbuch dieser Art, hinsichtlich der Zahl der Lemmata wie auch bei der Berücksichtigung der Kollokationen und Redewendungen keinen Vergleich zu scheuen mit den heute allein noch zur Verfügung stehenden zweibändigen Taschenwörterbüchern. Später kommen Wollheim da Fonseca (1844) und Bösche (1858) hinzu. Mit Michaëlis 1887 blüht diese Linie auf und erreicht so beachtliches Ansehen, daß fast ein Jahrhundert portugiesisch-deutscher und deutsch-portugiesischer Lexikographie davon zehren sollte.“ Ein Blick auf die Behandlung der Präfixverben des Deutschen, einem relativ zeitlosen Wortschatzbereich, lässt diese Unterschiede sofort erkennen (E TTINGER 1987). In einem Beitrag für die Festschrift Christmann, dem wohl profundesten Kenner der Geschichte der französischen Sprachwissenschaft und der neueren Philologie, haben wir uns mit der Interlinearversion befasst (E TTINGER 1994), die von D U M ARSAIS (1722) in Anlehnung an frühere Ansätze propagiert wurde, im 18. Jahrhundert in Frankreich große Bedeutung erlangt, im 19. Jahrhundert - häufig durch französische réfugiés - auch in andere europäische Ländern gelangte, in den deutschen Landen von einzelnen Adepten engagiert und geradezu missionarisch vertreten wurde, aber später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der Einführung einheitlicher Lehrpläne, in den Bereich des außerschulischen Sprachunterrichts sowie des Selbstunterrichts abgedrängt wurde. In der Form der Toussaint-Langenscheidts Unterrichtsbriefe wurde die Interlinearversion sogar Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 91 39 (2010) bis zum Ende des zweiten Weltkrieges für verschiedene Sprachen verwendet. Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts finden sich sogar Empfehlungen, die Interlinearversion im spät beginnenden Lateinunterricht zu verwenden (B ARIÉ 1979). Welche wechselhafte Rolle das Übersetzen sowohl als Hinals auch als Herübersetzung im Fremdsprachenunterricht gespielt hat, seit V IËTOR s „Trompetenstoß der neusprachlichen Reformbewegung“ erklang, haben wir in dem von Z ÖFGEN (1988) herausgegebenen Themenheft dieser Zeitschrift „Übersetzung und Übersetzen“ dargelegt (E TTIN - GER 1988). Mit dem zeitlichen Abstand von über 20 Jahren wäre zur Funktion des Übersetzens noch resignierend nachzutragen, dass heutzutage jegliche Reform des schulischen und universitären Fremdsprachunterrichts immer von oben nach unten erfolgt, d.h. von Ministerien oder von Schulbehörden ausgeht, keineswegs aber von Sprachwissenschaftlern, von Sprachdidaktikern oder gar - horribile dictu - von Sprachpraktikern vor Ort. Nicht hinterfragbare, einseitig festgelegte Prüfungsbestimmungen prägen die Lehrmethoden des Fremdsprachenunterrichts und steuern die Lehrbuchproduktion. Die Zeiten sind längst verflossen, in denen selbstbewusste Sprachlehrer à la M EIDINGER , H AMILTON , J ACOTOT , R OBERTSON , S EIDENSTÜCKER , P LÖTZ , G OUIN , M AGER , R OSENTHAL oder T OUS - SAINT und L ANGENSCHEIDT ihren Lehrmethoden den eigenen Namen geben konnten. Ob B UTZKAMM mit seiner „bilingualen Methode“ bzw. mit seinem Modell der „aufgeklärten Einsprachigkeit“ (www.de.wikipedia.org/ wiki/ Wolfgang_Butzkamm ) oder M ARTIN mit seiner Methode „Lernen durch Lehren“ Erfolg haben werden, wird die Geschichte zeigen. (www.de.wikipedia.org/ wiki/ Jean-Pol_Martin). Selbständig denkenden Lehrbuchautoren bleibt lediglich die Möglichkeit, für weniger zentrale und daher auch weniger verplante Bereiche des Sprachunterrichts, wie z. B. der Phraseologie, in ausführlichen Vorreden ihrer Lehrwerke die eigene Lehrmethode zu erklären (H ESSKY / E TTINGER 1997, B ÁRDOSI / E TTINGER / S TÖLTING 2003; E TTINGER / N UNES 2006; H OHMANN 2006). Einen lesenswerten Überblick zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachlehre im 18., 19. und 20. Jahrhundert verdanken wir C HRISTMANN (1976) und zum Verhältnis von Staat und Schule H ÜLLEN (2005). 3. Sachgruppenwörterbücher ohne und mit Phraseologie 3. 1 Les mots allemands Wie H AUSMANN (1976) in einem faktenreichen und immer noch aktuellen Beitrag gezeigt hat, blickt der Wortschatzerwerb des Deutschen und des Französischen mit Hilfe von zweisprachigen Sachgruppenwörterbüchern, oftmals auch nur Vokabularien oder Wortkunden genannt, auf eine sehr lange Tradition zurück. 1847 erschien der berühmte zweisprachige Vocabulaire systématique von Karl P LOETZ (www.de.wikipedia.org/ wiki/ Karl_Ploetz), der bis ins 20. Jahrhundert hinein aufgelegt wurde. H AUSMANN bezieht sich in seiner Untersuchung auf die 22. Auflage aus dem Jahre 1913 mit dem Titel Vocabulaire systématique et guide de conversation française. Während P LOETZ im deutschen Sprachgebiet Verbreitung fand, lässt sich in Frankreich eine nicht minder kontinuierliche 92 Stefan Ettinger 2 Zu B RÉAL s sprachpraktischen Aktivitäten siehe C LAVÈRES (1995). 39 (2010) Entwicklungslinie feststellen, die ebenfalls im 19. Jahrhundert begann und sogar bis in die Gegenwart reicht. 1887 bringt die Librairie Hachette ein schlichtes, kleinformatiges Büchlein von 162 Seiten mit dem Titel Les mots allemands groupés d'après le sens heraus. Die beiden Autoren haben sich bereits im französischen Erziehungssystem einige Meriten erworben: Adolphe B OSSERT ist Inspecteur général honoraire de l’instruction publique und (Jean-)Théodore B ECK ist Agrégé de l’Université und Directeur de l’Ecole Alsacienne. Im Vorwort erklären sie kurz ihr Ziel und zitieren für Romanisten bekannte Namen (B OSSERT / B ECK 1887: VII): „Nous essayons de faire pour la langue allemande ce que MM. Bréal et Bailly ont fait pour la langue latine et la langue grecque. Nous donnons, dans un ordre logique, les mots allemands les plus fréquemment employés, les plus nécessaires à la lecture des textes, à la traduction par écrit ou de vive voix, à la conversation. Nous ne donnons pas tous ceux qui peuvent se présenter, et notre première préoccupation a été de nous restreindre.“ 2 Dieses Sachgruppenwörterbüchlein enthält 12 Kapitel, in denen die einzelnen Wörter nach Wortarten, d.h. nach Substantiven, nach Adjektiven und nach Verben aufgelistet sind. 1939 werden Les mots allemands von B ARNIER und D ELAGE überarbeitet, der Wortschatz modernisiert und ergänzend zu der Unterteilung nach Substantiven, Adjektiven und Verben am Ende einer jeder Wortschatzeinheit ein kleiner Abschnitt, Locutions betitelt, angehängt, in dem sich gängige Kollokationen, Routineformeln, idiomatische Redewendungen und Sprichwörter finden. Der korrekte vollständige Titel lautet daher Les mots allemands et les locutions allemandes groupés d'après le sens. Zeitbedingt erschien 1939 noch eine besondere Ausgabe Petit vocabulaire militaire allemand-français. Armée, marine, aviation. Mit ihrem eigenwilligen, aber lernfördernden taschenbuchähnlichen Format (11,5 cm x 21,5 cm), mit ihren sympathischen kleinen, scherenschnittähnlichen Vignetten zu den jeweiligen Kapitelanfängen von Jacques T OUCHET (http: / / fr.wikipedia. org/ wiki/ Jacques_Touchet. ) dürften Les mots allemands sicherlich zu den Sachgruppenwörterbüchern gehören, die jedem deutschen Romanistikstudenten der 50er, der 60er und der frühen70er Jahre bekannt waren. Es wurde laufend neu aufgelegt und zum „Studium des Vokabulars nach Sachgruppen“ wärmstens empfohlen (K LEIN 1960: 49). Les mots allemands waren fast alternativlos auf dem französischen und deutschen Markt - in Deutschland trat erst 1962 Walter F ISCHER auf den Plan - und vom Umfang her eher lernbar als entmutigend. Gerne wurde es für universitäre Prüfungen zur Begrenzung des Wortschatzes herangezogen. Auch unser eigenes Exemplar, 1961 schon in der gymnasialen Oberstufe erworben, dank der Empfehlung eines sehr progressiven Studienreferendars, weist - im Gegensatz zu den zahlreichen Antiquariatsangeboten von Les mots allemands mit dem Vermerk „intérieur frais“ - deutliche Gebrauchsspuren auf und dies nicht nur in den ersten Kapiteln! Die Neubearbeitung von Les mots allemands im Jahre 1974 durch Raymond-Fred N IEMANN änderte nichts am traditionellen Aufbau des Buches, sondern beschränkte sich auf die Einbeziehung des modernen Wortschatzes. Der Autor der Neubearbeitung veröffentlichte 1993 ein auf Recht und Handel spezialisiertes Wörter- Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 93 39 (2010) buch, das an den inzwischen bestens bewährten Titel anknüpft: Les mots allemands. Droit et Commerce. Eine einschneidende Veränderung des Sachgruppenwörterbuches Les mots allemands erfolgte im Jahre 1997. Die alten Autorennamen werden durch den neuen Bearbeiter ersetzt: Raymond-Fred N IEMANN , Agrégé de l'université. Docteur ès lettres. Der Wortschatzumfang wird beträchtlich erweitert und auf die gewaltige - für Lernende geradezu beängstigende - Zahl von „42 000 mots et locutions“ hochgeschraubt. Auch inhaltlich ergeben sich nun umfangreiche Veränderungen. Die Gesamtzahl der Kapitel wird zwar beibehalten, aber die 20 Kapitel strukturieren den Gesamtwortschatz unter anderen Überschriften. Zudem wird die traditionelle Untergliederung nach Substantiven, Adjektiven, Verben und Locutions aufgelöst, und alle Wörter werden nun in semantisch irgendwie zusammengehörenden Gruppen aufgelistet, wie z.B. im Kapitel IV Religion unter den Überschriften: la foi; croyances, superstition, mythologie; les églises chrétiennes; le clergé; les autres religions. Die in den früheren Ausgaben unter Locutions aufgelisteten syntagmatischen Ergänzungen, wie z.B. wichtige Kollokationen (Adjektiv und Substantiv bzw. Verb und Substantiv), werden nun direkt neben den einzelnen Wortgleichungen erwähnt. In grau unterlegten kleineren und größeren Kästchen finden sich einige wenige Redewendungen, Sprichwörter oder auch Routineformeln. Im Vergleich zum beeindruckenden Gesamtumfang des Werkes fallen diese phraseologischen Angaben aber eher spärlich aus, und man ist geneigt, von einer gewissen Phraseophobie zu sprechen. Zwei Jahre (1999) später erscheint im selben Verlag vom selben Autor eine Schulbzw. Grundstudiumausgabe mit 18 000 Wörtern und im Jahre 2007 schließlich eine aktualisierte Ausgabe der Edition Complète. Habent sua fata libelli! Als vorläufiges Fazit können wir festhalten, dass Les mots allemands sich seit ihrer Erstauflage im Jahre 1887 erfolgreich über einen Zeitraum von über 100 Jahren, man kann auch von drei Jahrhunderten sprechen, im Sprachunterricht behauptet haben, wobei die Betreuung durch einen einzigen Verlag (Librairie Hachette) sicher wesentlich zu dieser Kontinuität beigetragen haben mag. Der Schwerpunkt dieses Sachwörterbuchs liegt eindeutig auf den reinen Vokabelgleichungen ohne weitere zusätzliche syntagmatische Angaben. Die kleinere Schulbzw. Grundstudiumausgabe kann mit ihrem auf 18 000 Wörter begrenzten Wortschatz sicherlich mit Erfolg zum Auswendiglernen verwendet werden, während die Edition Complète mit ihren nach „centres d’intérêt“ gegliederten 42 000 Wörtern sich hervorragend dafür eignet, einen bestimmten Sachgruppenbereich wortschatzmäßig schnell und vollständig zu erfassen. 3.2 Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande Beim Aus- und Aufräumen seiner Bibliothek stieß N IEMANN vor einigen Jahren auf ein kleines Büchlein von Alfred(-Victor Marie) M ARTIN und Francis L ERAY (1914, 5. Auflage), das er mir in kopierter Form zusandte, kannte er doch durch unsere Korrespondenz meinen „penchant phraséologique“. Obwohl die äußere Aufmachung des Büchleins eher bescheiden, fast verstaubt und antiquiert wirkte, war ich sogleich von seinem Inhalt gefesselt. Es handelt sich - so viel sei vorweg schon verraten - um ein exzellentes, zweisprachiges, phraseologisches Wörterbuch, dem es geschickt gelingt, ein schlichtes Sach- 94 Stefan Ettinger 39 (2010) gruppenwörterbuch durch eine reiche phraseologische Syntagmatik aufzuwerten und zu einem Begriffswörterbuch umzugestalten. A. M ARTIN und L. L ERAY haben sich nämlich inhaltlich eng angelehnt an das uns inzwischen gut bekannte Sachgruppenwörterbuch Les mots allemands von B OSSERT und B ECK . Der vollständige Titel des 1900 erschienenen Werkes lautet nämlich: Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande classés suivant le plan des mots allemands groupés d'après le sens de MM. Bossert et Beck. Die im Titel ausgedrückte Einschränkung auf die Konversation erscheint uns allerdings zu bescheiden zu sein, da sehr viele Beispiele auch für die Textproduktion verwendet werden könnten. An einem kleinen Unterkapitel (Chapitre III) der Huitième Partie „Die Eigenschaften und Tugenden - Les qualités et les vertus“ sollen diese Veränderungen verdeutlicht werden. Bei B OSSERT und B ECK finden wir ganz einfache Vokabelgleichungen, wie z.B. zu den Verben: sich auszeichnen = se distinguer; gefallen = plaire; erfüllen = accomplir; ausüben = mettre en pratique; sich bestreben = s'efforcer; beharren = persévérer; sich gut betragen = se bien conduire; es schickt sich = il convient. Bei den insgesamt 36 deutschen und 37 französischen Substantiven finden sich unter anderen: die Pflicht = le devoir; die Würde = la dignité; die Sittlichkeit = la moralité; die Sitten = les mœurs; die Frömmigkeit = la piété; die Ordnung = l’ordre; die Genauigkeit = l’exactitude; die Reinlichkeit = la propreté; die Klugheit = la prudence; die Vorsicht = la prévoyance; die Redlichkeit = la probité, la loyauté usw. Bei den 32 deutschen und 33 französischen Adjektiven werden neben anderen erwähnt: tugendhaft = vertueux; sittlich = moral; würdig = digne; unschuldig = innocent; fromm = pieux; klug = prudent usw. Kurz und gut: das uns schon hinreichend bekannte Wortskelett der traditionellen Sachgruppenwörterbücher mit ihren nackten Vokabelgleichungen. Die Leistung von M ARTIN / L ERAY bestand nun darin, die vorhandenen Vokabelgleichungen des Sachwörterbuchs in eine konsequente onomasiologische Systematik übergeführt zu haben, indem sie eine begrenzte Zahl von Substantiven, nämlich ca. ein Drittel als übergeordnete Schlüssel-, Leit- oder Oberbegriffe auswählten und nach Art eines Thesaurus (vgl. P ÉCHOIN 1991) unter diesen Oberbegriffen jeweils durchnummerierte Satzfragmente bzw. ganze Einzelsätze auflisteten, die für beide Sprachen ausschließlich Phraseme enthalten mit den bekannten phraseologischen Untergruppen wie Kollokationen, idiomatische Redewendungen, Routineformeln, Interjektionen und Sprichwörter. Wir erhalten so z.B. bei „Die Pflicht - Le Devoir“ (M ARTIN / L ERAY 1900: 108-109) insgesamt 17 syntagmatische Einheiten: 1. seine Pflicht erfüllen, faire son devoir 2. seine Schuldigkeit thun, @ 3. sich einer Verpflichtung entledigen, s'acquitter d'un devoir 4. es ist meine Pflicht, zu ..., il est de mon devoir 5. ich bin verpflichtet, zu..., @ 6. ich mache mir eine Pflicht daraus, je m'en fais un devoir 7. sich etwas zur unerläßlichen Pflicht machen, se faire une religion de qc. 8. seine Pflicht versäumen, manquer à son devoir 9. zur Pflicht zurückkehren, rentrer dans le devoir 10. mit gutem Beispiel vorangehen, donner le bon exemple 11. ein Beispiel an jemand(em) nehmen, prendre exemple sur qn. Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 95 39 (2010) 12. sein Bestes tun, faire de son mieux 13. es sich zum Gesetz machen, dass..., se faire une règle de..., 14. es gebührt sich, dass..., il convient que..., on doit..., 15. jemand(em) etwas ans Herz legen, recommander chaudement qc. à qn. 16. erfülle deine Pflicht, alles andere kümmere fais ce que dois, advienne que pourra dich nicht, 17. kein Mensch muß müssen (Lessing) on ne doit pas forcer la volonté des gens Der im syntagmatischen Wortschatzlernen versierte Leser wird hier unschwer Parallelen zu Les mots allemands dans la phrase von K LEIN / H UDA (1997) oder zu Langenscheidts Kontextwörterbuch Französisch-Deutsch (1989) erkennen. Wenn bei diesem Substantiv („Die Pflicht - le devoir“) die Verb-Substantiv-Kollokationen recht zahlreich sind, wie etwa bei den Beispielen 1, 2, 3, 6, 8 und 9, so finden sich bei den 31 Satzbeispielen zum Oberbegriff „Klugheit und Vorsicht - La Prudence et la Prévoyance“ eine Reihe von idiomatischen Redewendungen (RW), von Kollokationen (K), von Routineformeln bzw. Interjektionen (R) und von Sprichwörtern (SprW). Ein Fragezeichen in Klammer drückt aus, dass uns die Redewendung unbekannt erscheint, und ein Ausrufezeichen in Klammer weist auf die Besonderheiten der Orthographie hin. Die Pronomina quelque chose und quelqu’un haben wir aus Platzgründen zu qc. und qn. verkürzt (M ARTIN / L ERAY 1900: 109-110): 1. die Grenzen nicht überschreiten, (RW) ne pas sortir des bornes. (RW) 2. auf seiner Hut sein, (RW) prendre garde à soi. (RW) 3. auf der Hut sein, (RW) être sur le qui-vive. (RW) 4. sich beherrschen, réprimer ses passions. (K) 5. er legt jedes Wort auf die Goldwage (! ), (RW) il pèse chaque mot. (K) 6. ein Auge auf etwas haben, (RW) sein Augenmerk auf etwas richten, avoir l'œil sur qc. 7. jemand(en) auf dem Rohr haben (? ) (RW) surveiller qn. de près. 8. ihn aufs Korn nehmen, (RW) épier ses démarches. 9. wachsam sein faire bonne garde. (RW) 10. scharf aufpassen, (K) veiller au grain. (RW) 11. sich vor einer Gefahr schützen, se mettre à l'abri d'un danger. 12. eine Gefahr wittern, (K) flairer un danger. (K) 13. es steckt etwas dahinter il y a anguille sous roche (SprW) 14. auf den Busch klopfen, (RW) battre les buissons. (RW); tâter le terrain; chercher à débusquer. 15. jemand(em) zuvorkommen prendre les devants. 16. sich davor hüten, ihm unter die Klauen se garder de tomber entre ses griffes. (RW) zu gerathen (RW) 17. unter Glas und Rahmen bringen (? ) mettre sous verre ou sous cloche. (? ) 18. die Luft ist rein, (RW) nous sommes à l'abri des indiscrets. 19. auf einen anderen Tag aufschieben, remettre à un autre jour. 20. das geht mich nicht (! ) an, cela ne me regarde pas. (R) 21. das ist nicht meine Sache, (R) ce n’est pas mon affaire. (R) 22. das soll mir nicht wieder passieren, on ne m’y prendra plus 23. Achtung! Vorgesehen! Vorsicht! (R) prenez garde! Gare! (R) 24. Kopf weg! (R) gare la tête! (R) 96 Stefan Ettinger 3 Internetangaben vom 1. Februar 2010: http: / / pagesperso-orange.fr/ grison.librairie/ catalogue/ livres_ scolaires.html; http: / / www.galaxidion.com/ home/ catalogues.php? LIB=grison&CAT=10952; www. priceminister. com/ s/ martin+et+leray; http: / / www.abebooks.fr 39 (2010) 25. zurück da! ausgewichen! (R) en arrière! Garez-vous! (R) 26. Platz da! Macht Platz! (R) place! Faites place! (R) 27. aus dem Wege! (R) gare! (R) 28. eine Sache ins Gleiche (? ) bringen, arranger une affaire. 29. das Seinige zu Rate halten (? ) conduire bien sa barque. (RW) 30. trau, schau wem! (SprW) ne te fie qu'à bonnes enseignes.(SprW); 8 méfiance est mère de sûreté (SprW) 31. man muß nicht alles auf eine Karten setzen il ne faut pas mettre tous les oeufs dans un (SprW) même panier (SprW) Man könnte sich jetzt berauschen und voller phraseologischer Begeisterung noch viele weitere Beispiele zitieren. Da der interessierte Leser das Buch heute noch (zu recht unterschiedlichen Preisen von 7 bis 31 Euro) antiquarisch in Frankreich erwerben kann 3 , begnügen wir uns hier lediglich mit einigen ausgewählten Beispielen. Zu den Oberbegriffen „Überraschung und Erstaunen - La surprise et l'étonnement“ listen die beiden Autoren Ausrufe und syntagmatische Versatzstücke auf, die man auch heute noch ohne Einschränkung in einer französischen bzw. deutschen Konversation verwenden könnte (M ARTIN / L ERAY 1900: 107-108): 1. gerechter Himmel! juste ciel! 2. das ist ja sonderbar! voilà qui est étrange! 3. was ist das für ein wunderlicher Einfall! quelle drôle d’idée! 7. seinen Augen nicht trauen, en croire à peine ses yeux. 9. so was hat man nie gesehen, on n’a jamais vu pareille chose 10. vor Erstaunen verstummen, demeuer muet d'étonnement 11. mein Verstand steht still, les bras m’en tombent 12. ich bin ganz versteinert vor Erstaunen, je suis pétrifié d’étonnement 13. verblüfft dastehen, demeurer tout ébahi 15. ich kann mich nicht genug darüber wundern, je n'en reviens pas 17. ich wundere mich zu hören, dass..., je suis étonné d’apprendre 18. was Teufel machen Sie da? que diantre faites-vous là? 19. was soll das heißen? qu’est-ce à dire 21. wie aus den Wolken gefallen sein, tomber des nues Versuchen wir nun, Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande in dem größeren Zusammenhang des Wortschatzerwerbs kritisch zu würdigen, wobei wir uns auch noch fragen, wie mit dem Büchlein gearbeitet und gelernt wurde und weshalb im Gegensatz zu Les mots allemands dieser vielversprechende Ansatz nicht weitergeführt wurde. a) Nach einem Zeitraum von gut 100 Jahren muss man nüchtern feststellen, dass manche Phraseme (Kollokationen, idiomatische Redewendungen, Routineformeln und Sprichwörter) heute nicht mehr aktuell klingen. Vielleicht waren sie es auch schon beim Erscheinen des Werkes nicht mehr. Als Beispiel könnte man hier für das Deutsche die Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 97 39 (2010) weiter oben zitierte Redewendung „ jemand(en) auf dem Rohr haben (? ) (RW) = surveiller qn. de près. erwähnen. Einige deutschen Belege klingen heute bisweilen recht holprig und dürften sich aus der Tatsache erklären, dass die beiden Autoren das Büchlein in Frankreich vermutlich ohne Überprüfung durch einen deutschen Muttersprachler erarbeitet haben. Erstaunlich gut gelungen sind die diastratischen Äquivalenzen, die bei zweisprachigen phraseologischen Wörterbüchern häufige Fehlerquellen darstellen. Besonders hervorzuheben ist aber die wichtige Tatsache, dass sich in dieser Sammlung ausschließlich kurze Sätze, Satzfragmente oder kleinere Sinneinheiten mit phraseologischen Charakter finden, aber keine einzige nackte Vokabelgleichung. b) Da das Büchlein von M ARTIN / L ERAY (1900) kein Vorwort enthält, kann man nur vermuten, wie mit diesem Werk gelernt wurde. Wahrscheinlich wurden zunächst die einfachen Vokabelgleichungen von B OSSERT / B ECK (1887) erarbeitet, an die sich ja das Werk explizit anlehnt, und dann ging man im Schul- oder Privatunterricht dazu über, den gelernten Wortschatz eines bestimmten Sachfeldes phraseologisch zu vertiefen. Die systematische Durchnummerierung aller Beispiele war didaktisch nicht ungeschickt. Vielleicht wurden aber auch in Anlehnung an den Erwerb der phrases-types von B RÉAL (1893: 43) die Phraseme zuerst gelernt (vgl. hierzu H AMMER 2007, zu den phrases-types vor allem 284-286). Im Jahre 1900 wurden nicht nur Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande veröffentlicht, die bis zum Jahre 1915 verlegt wurden, sondern der Verlag Hachette brachte auch ein Übungsbuch derselben Autoren heraus (Exercices sur les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande), das allerdings nach den Angaben des Institut National de Recherche Pédagogique (www.inrp.fr) nur eine „durée éditoriale“ von vier Jahren aufweisen sollte. c) Noch schwieriger und hypothetischer ist die Beantwortung der Frage, weshalb Les idiotismes et les proverbes de la conversation allemande keine Neuauflagen bzw. Bearbeitungen erlebten, um sich ähnlich wie Les mots allemands in zäher Langlebigkeit über einen längeren Zeitraum zu behaupten. Wir wissen leider zu wenig über die beiden Autoren und sind auch zu wenig informiert über die Hintergründe des französischen Verlags- und Unterrichtswesen. Ob die intensive Übersetzertätigkeit der beiden biederen Schulmänner M ARTIN und L ERAY in Bezug auf das Werk Autour d'une vie. Mémoires d'un révolutionnaire von P. K ROPOTKIN (1898), eines russischen Revolutionärs und Anarchisten, hier eine Rolle spielte und sich für die didaktischen Publikationen negativ auswirkte, mögen andere erforschen (http: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ Pierre_Kropotkine). Immerhin erlebten die beiden Bände der Memoiren von K ROPOTKIN bis zum Jahre 1921 insgesamt 15 bzw. 21 Auflagen. Revolution und Anarchie verkaufen sich in Frankreich offensichtlich besser als Phraseologie! d) Dass sich bei M ARTIN / L ERAY keine näheren phraseologischen Unterscheidungen finden, wie sie heute seit F LEISCHER (1982, 1997), B URGER (1998, 2010), P ALM (1995) oder D ONALIES (2009) üblich sind, versteht sich von selbst. Intuitiv haben die Autoren aber die wesentlichen Differenzierungen innerhalb der Phraseologie erkannt und verwendet. Die Entwicklung der Phraseologie als eigene wissenschaftliche Disziplin mit ihrem Beginn bei Charles B ALLY (1909), ihrer intensiven und fruchtbaren Weiterentwicklung in der Sowjetunion und nach dem 2. Weltkrieg auch in Osteuropa und in Ostdeutschland, 98 Stefan Ettinger 4 Siehe hierzu unsere Sammelbesprechung (E TTINGER 1992) in dem von Z ÖFGEN (1992) herausgegebenen Band dieser Zeitschrift mit dem Themenschwerpunkt „Idiomatik und Phraseologie“. 39 (2010) ihre Wiederentdeckung durch B URGER und J AKSCHE Anfang der 80er Jahre für die westeuropäische Forschung und die westeuropäischen Sprachen, ihr Aufblühen in den letzten drei Jahrzehnten, gerade diese erstaunliche und wenig geradlinige Entwicklung ist an sich schon ein Lehrbeispiel für die fehlende Kontinuität im Bereich der Sprachwissenschaft und eine Aufforderung, sich intensiver auch mit den Werken unserer Altvorderen zu befassen. Diesen Umweg in der Entwicklung der Phraseologie hat H AUSMANN (2007: 165-166) sehr packend beschrieben. e) Als Ergebnis dieser unterschiedlichen Entwicklung der Sachgruppenwörterbücher mit und ohne Phraseologie lässt sich daher folgendes feststellen. Der Sieg der Sachgruppenwörterbücher mit ihren zumeist „sterilen Vokabellisten“ hatte zur Folge, dass für das Erlernen der Phraseologie eigene Sammlungen entstanden, wie z.B. Kollokationswörterbücher, phraseologische Wörterbücher mit idiomatischen Redewendungen und Sprichwörtern oder auch Sammlungen von Diskussionswendungen (vgl. hierzu H ALM / G AUDRAY (1997) und L ALANA L AC / R OSCHBACH (1997)). Die sich durch diese Aufspaltung ergebenden didaktischen Probleme sind bis heute noch nicht gelöst. 4 4. Aus der Geschichte lernen! Für den Erwerb des Wortschatzes stehen uns heute für das Sprachenpaar Deutsch und Französisch umfangreiche und solide Wortschatzsammlungen und Lernwörterbücher für Schule und Hochschule zur Verfügung. In einer Sammelrezension hat uns S IEPMANN (2001) einen ersten Überblick gegeben. Durch die fruchtbare Konkurrenz der großen Verlage (Cornelsen, Hueber, Klett, Langenscheidt) sind beeindruckende Werke entstanden, die den Grund- und Aufbauwortschatz umfassen, bei recht vielen Wortgleichungen auch Kollokationen und Einzelsätze anfügen und oftmals über 10 000 Wortschatzeinheiten enthalten, die typographisch sehr gelungen präsentiert werden. Einen anderen Ansatz praktiziert H AUSMANN (2005), dessen Lernwortlisten einen interessanten, eigenwilligen Ansatz zur Wortschatzbegrenzung darstellen. Diese Wortlisten und vor allem die Listen der Redewendungen müssten noch didaktisch bearbeitet werden. Die Vokabularien von P FISTER (2008, 2009) sind erst seit kurzem auf dem Markt und müssten noch eingehender besprochen werden. Auch im Bereich der so genannten Satzwörterbücher gibt es in Deutschland und in Frankreich modernere Publikationen. So verkaufen sich in Frankreich - offensichtlich mit gutem Erfolg - zweisprachige Sammlungen von Einzelsätzen, die ohne irgendwelche Logik zusammengestellt sind (D EMARCHE 1986, 1999; D EMARCHE / C HARPIOT 1993). In Deutschland hat Z IMMER (1990) ein äußerst umfangreiches Satzwörterbuch herausgebracht, das teilweise nach Sachgruppen, teilweise nach translatorischen Kriterien gegliedert ist und das trotz vieler schöner Belege weder zum Lernen noch zum Nachschlagen verwendbar ist. Der von M ARTIN / L ERAY begonnene Ansatz, nämlich ein phraseologisches Lernwörterbuch mit den üblichen Untergruppen Phraseologie und Wortschatzerwerb. Anmerkungen zu A. Martin und F. Leray ... Paris 1900 99 39 (2010) (Kollokationen, idiomatische Redewendungen, Routineformeln und Sprichwörter) nach onomasiologischen Gesichtspunkten zu gliedern, die in einem engeren Zusammenhang mit einem Sachgruppenwörterbuch stehen und die vom Inhalt und Wortschatzumfang auch für den Anfangsunterricht geeignet sind - dieser vielversprechende Ansatz wurde bislang leider nicht weitergeführt. Autoren und Verlage könnten hier - wie von Z ÖFGEN gefordert - aus der Geschichte lernen. Literatur B ALLY , Charles (1909): Traité de stylistique française. 2 volumes. Heidelberg: Winter & Paris: Klincksieck. B ÁRDOSI , Vilmos / E TTINGER , Stefan / S TÖLTING , Cécile (2003): Redewendungen Französisch / Deutsch. Thematisches Wörter- und Übungsbuch. 3. Auflage. Tübingen: Francke. B ARIÉ , Paul (1979): „Formen späten Lateinbeginns“. In: H ÖHN , Wilhelm / Z INK , Norbert (Hrsg.) (1979): Handbuch für den Lateinunterricht. Sekundarstufe II. Frankfurt/ M.: Diesterweg, 82-92. 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The examples chosen, in particular those from France and Sweden, highlight the different types of contacts and developments which show a tendency towards a progressive compartmentalisation affecting each of the different foreign languages in the curriculum as well as their links with the main language used in schooling. Subsequently, the paper outlines the present European scene, concentrating on the tools produced by the Council of Europe to promote societal multilingualism and individual plurilingualism. This may herald a new period where a more global and integrated conception of language education will slowly occur, producing modes and formats of implementation that differ from those employed at present. 1. Présentation Dans cette brève contribution, je souhaite me limiter à une sorte de survol de quelques variations historiques ayant à voir avec les contacts et confrontations entre langues, que ce soit au niveau des rapports de prestige et de pouvoir dans tel ou tel secteur de l’espace européen ou à celui - non disjoint - des organisations curriculaires dans les systèmes éducatifs. Deux temps pour ce parcours rapide et partiel : un rappel de certaines des évolutions en système scolaire au XIX ème siècle ; une interrogation sur le sens de l’attention accordée aujourd’hui au multilinguisme sociétal et au plurilinguisme individuel. 2. Des langues dans l’école : institutionnalisation, mise en contact, mise en ordre L’introduction des langues modernes dans les programmes scolaires, à partir surtout du XIX ème siècle, apporte une nouvelle dimension aux rapports des langues entre elles dans une perspective d’apprentissage. C’est sur quelques aspects de ces relations trouvant place dans les systèmes éducatifs, mais dont les déterminations se jouent d’abord aussi ailleurs, que se focalisent les développements ci-dessous. 104 Daniel Coste 39 (2010) 2.1 L’affirmation des langues nationales et vivantes : des transversalités au cloisonnement ? Il est possible de souligner ici deux paradoxes apparents. Le premier tiendrait à ce que, mutatis mutandis, de même que l’ontogénèse passe pour reproduire la phylogénèse, l’institutionnalisation scolaire des langues et leur mise en contact, voire en concurrence, dans l’espace éducatif au XIXème siècle reproduise le parcours qui a vu, dans les époques antérieures et plus ou moins fortement selon les espaces et les régimes, les vernaculaires s’affirmer et se positionner d’abord au niveau du latin (A RGAUD 2010), puis se situer par rapport aux autres langues modernes tout en mettant à l’écart les « patois » et langues régionales. Cette sorte de reproduction décalée, il est possible de la caractériser pour la France. André Chervel (C HERVEL 2006) date du milieu du XIX ème siècle la pleine disciplinarisation de la matière « français » dans le dispositif scolaire, le moment où elle trouve sa place structurée dans les plans d’étude. Mais il y a aussi lieu de noter que, par ailleurs, le latin reste présent dans les épreuves ultimes de la distinction académique (pour la philosophie et la rhétorique, dans les lycées, jusqu’à la fin du siècle, pour les thèses jusqu’au début du XX ème ). A quoi, poussant plus avant, on ajoutera que, toujours pour ce qui est de la France, les agrégations de lettres classiques et de grammaire précèdent de longtemps celle de lettres modernes (qui ne sera créée qu’en 1957, non sans quelques rudes résistances) et que, si l’Association des professeurs de français et de langues anciennes de l’enseignement public secondaire (où les enseignants de latin et de grec ont la main haute) date de 1909, l’Association française des enseignants de français (tout court) ne voit le jour qu’en 1968, après de vifs combats d’arrière-garde. Il aura d’ailleurs fallu, dans un cas comme dans l’autre que les nouveaux venus modernistes « en rajoutent » dans l’exigence certificatrice, les garanties scientifiques ou les égides prestigieuses pour obtenir leur reconnaissance. Quant aux langues vivantes étrangères, leur intégration au cursus scolaire après 1820 ne s’opère pas, dans les textes sinon toujours dans les faits, sans quelques fortes concessions aux « standards » de qualité du traitement des langues anciennes (nature des exercices, choix des textes, appareillage métalinguistique). Mais, pour le coup, dans la pratique et dans les évolutions de la fin du XIX ème , la professionnalisation des enseignants de langues modernes (allemand, anglais et autres) va s’accélérer, avec l’appui des instances ministérielles, par une scission ou du moins une tension forte entre tenants des méthodes « traditionnelles » et militants du mouvement de la réforme et de la méthode directe. Toujours est-il que, avec la création de l’Association des professeurs de langues vivantes en 1903, l’émancipation disciplinaire complète des langues vivantes étrangères s’effectue bien avant celle des enseignants de français, même si, notamment autour de Ferdinand Brunot ou de Charles Bally, les débats sur « la crise du français » sont vifs au début du XX ème siècle (C HISS / P UECH 2000). Paradoxe dans le paradoxe, tout se passe comme si le premier dispositif scolaire de coprésence des langues fonctionnait au profit principal de la langue nationale. Non pas seulement parce que les patois, dialectes et langues régionales seraient tenus en dehors et Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire 105 39 (2010) à l’écart de l’école élémentaire (ce qui, on le rappellera ci-dessous, exige quelques nuances), mais aussi du fait de l’interaction entre les langues qui, dans les pratiques de thème, version, grammaire, à forte charge réflexive et médiatrice, qui caractérisent dans les approches « traditionnelles » l’enseignement des langues anciennes et des langues modernes étrangères au secondaire, la principale bénéficiaire est bien la langue nationale, directement ou indirectement sollicitée par le travail conduit pour chacune des autres langues. Là encore, forme inattendue mais efficace (du moins pour la population scolaire sélectionnée qui y a accès à l’époque par la voie des filières classiques longues) de « didactique intégrée » avant l’heure. Latin et grec, allemand, anglais et/ ou autres langues étrangères sont, jusqu’à un certain point, langues apprises selon des modalités similaires et se trouvent - en principe et pour un temps - à parité, quelles que soient les différences de prestige entre langues anciennes et langues modernes et quelles que soient aussi, dans les premières décennies de l’introduction scolaire de ces dernières, les décalages de formation entre les enseignants. Mais la parité est rompue avec la langue majeure de scolarisation qui, quand même elle peine, dans les établissements secondaires, à s’émanciper institutionnellement des langues classiques, tire parti d’une bonne part de ce qui se fait en dehors d’elle et se développe, s’affine, se complexifie par ces contacts et échanges avec d’autres langues dans les espaces du programme attribués à ces dernières. Du coup se dessine un troisième paradoxe : c’est le processus même de disciplinarisation et de professionnalisation singularisante, langue par langue, qui introduit ensuite des cloisonnements internes plus forts entre les disciplines. Respectés ou non dans les faits, les principes de la méthode directe introduisent dans les esprits des interdits ou des limites quant au recours à la langue « maternelle » dans la classe et quant aux démarches réflexives et traductrices (pourtant maintenues dans les concours de recrutement et, plus généralement, la formation des enseignants). Cette tendance à ce que chaque langue joue son propre jeu et s’interdise les passages avec et vers d’autres se voit renforcée, dans nombre de pays, par la disparition progressive des départements universitaires de langues romanes, slaves, germaniques, etc., qui étaient en mesure d’assurer des formations plurielles ouvrant aux langues « voisines », par des départements ou sections monolingues, fût-ce - sur le papier - au sein d’entités à intitulés plus englobants. (Au point qu’il n’est pas rare qu’aujourd’hui même, tel ou tel département universitaire de langue « isolée », même menacé de fermeture pour cause de faible attractivité, tergiverse plutôt que de se réunir à des langues proches). 2.2 Dialectes et langues régionales à l’école de la République La fin du XIX ème et le début du XX ème siècles sont marqués en France, dans ce qui est devenu un lieu de mémoire et quasiment partie du « récit national », par l’école de Jules Ferry et ses instituteurs, « hussards noirs de la République » stigmatisant la pratique des langues locales en vue de contribuer à les éradiquer et de faire en sorte que la nation se rassemble autour de la langue de scolarisation, le français langue nationale. On aurait donc là aussi, dès l’entrée à l’école, une forme de cloisonnement entre le dedans et le 106 Daniel Coste 39 (2010) dehors, un rejet de ce qui relèverait d’un développement de formes de plurilinguisme tenant à l’origine et à l’environnement et pas seulement au système éducatif. Une telle lecture est historiquement fondée et de nombreuses études, ainsi que bien des témoignages, l’ont dès longtemps étayée. Qui plus est, ce rejet quasiment institutionnel du répertoire langagier dont les enfants arrivant à l’école sont porteurs s’est poursuivi depuis lors dans nombre de contextes, notamment créolophones, et on le voit perdurer sur le territoire métropolitain français quand, au nom du projet d’intégration et d’une certaine conception de l’égalité des chances, des projets de recommandations officielles invitent les mères immigrées à ne pas utiliser la langue d’origine mais seulement le français dans les échanges avec leurs enfants. La présente contribution n’est pas le lieu pour s’engager dans un tel débat, encore que l’on perçoive bien que, mutatis mutandis, il y a d’évidentes proximités entre (1) les options cloisonnantes de la méthode directe pour l’enseignement des langues étrangères, (2) la manière dont est conçue une scolarisation primaire ne prétendant laisser place qu’à la langue nationale et (3) les choix de l’école coloniale à la française où seule la langue du colonisateur est en droit d’éduquer et de « civiliser » la petite part scolarisée des populations indigènes. Dans tous ces cas, le plurilinguisme semble être considéré comme un risque, voire comme un danger pour les apprentissages tant langagiers que disciplinaires autres. On a retenu le nom de l’inspecteur Irénée Carré comme vigoureux promoteur de la méthode « intuitive » ou « naturelle » ou « maternelle », autre noms (inscrits dans une déjà longue histoire) de la méthode directe pour l’école primaire de la République. Irénée Carré s’en prend au breton, perçu non seulement comme langue distante du français, mais aussi, dans le non-dit, comme langue de l’église, de la religion, des Chouans de jadis et de ceux qui n’acceptent pas la république. Félix Pécaut (P UCCINI 2010) oppose le français au basque, en termes de centre par rapport à une périphérie, de communication par rapport à un isolement et presque de civilisation par rapport à la barbarie. Ailleurs, l’entrée éventuelle du flamand dans l’école est présentée comme relevant quasiment de la trahison à l’égard de la patrie ; ainsi, en 1882, cette prise de position d’un instituteur du Pas-de- Calais dans un journal pédagogique de son département (cité par C HANET 1996: 224) : « Voilà deux siècles que ce pays nous appartient et l’on n’y parle pas encore français ; au point que j’étais comme un étranger au milieu de ces populations flamingantes. Les Prussiens nous ont ravi l’Alsace-Lorraine sous prétexte qu’on y parlait allemand ; ils nous réclameront un jour la Flandre sous prétexte qu’on y parle flamand. Dieu ! que nous avons la tête dure et que nous profitons peu des leçons de l’expérience. » Mais quelques modalisations doivent être introduites dans le sort fait aux dialectes et patois. D’autres positions plus nuancées ont existé à l’époque, s’agissant de la place à donner ou non aux langues régionales. Si les consignes officielles nationales étaient claires quant à l’usage exclusif de la langue nationale, les instances plus régionales et locales de l’instruction publique disposaient d’une marge de manœuvre plus tolérante. Comme l’a rappelé Jean-François Chanet dans son remarquable ouvrage sur l’Ecole républicaine et les petites patries (1996), les possibilités d’usage à l’école des dialectes se Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire 107 39 (2010) retrouvent dans un certain nombre de revendications et publications locales, dans la lignée du courant comparatiste initié par Bréal. En effet, chez le linguiste et éducateur fortement ancré dans l’institution qu’est Michel Bréal, on peut lire, dès 1868 et donc bien avant les lois Ferry, ces lignes dont, au-delà du constat dressé, la dernière phrase peut surprendre par une sorte d’actualité au regard des débats d’aujourd’hui : « La plupart de nos instituteurs enseignent le français comme une langue tellement au-dessus du patois qu’on ne peut même pas songer un instant à les mettre en parallèle : le patois pour eux est non avenu, ou s’ils en parlent, c’est comme d’un antagoniste qu’il faut détruire. L’élève qui arrive à l’école apportant son patois est traité comme s’il n’apportait rien avec lui ; souvent même on lui fait un reproche de ce qu’il apporte, et on aimerait mieux la table rase que ce parler illicite dont il a l’habitude. Rien n’est plus fâcheux et plus erroné que cette manière de traiter les dialectes. Loin de nuire à l’étude du français, le patois en est le plus utile auxiliaire » (cité in C HANEL 1996: 226). Toutefois, outre qu’il ne sera pas vraiment entendu sur le terrain, Bréal lui-même, quelques années plus tard, pose des limites claires à cette prise en compte. D’une part, elle semble surtout valoir pour les dialectes romans, comme le provençal, promu par les félibres ; d’autre part, même dans ce cas, le Bréal inspecteur, écrit Chanet, « se refuse décidément à franchir le pas qui tente le linguiste » et déclare à ces mêmes félibres : « Je ne crois pas que le dialecte doive faire partie du programme officiel de l’école. […] Ce que nous avons le droit de demander, c’est que l’instituteur ait la considération qui convient pour un langage français, et qui, bien qu’il ne soit pas le langage officiel, n’en a pas moins ses lois régulières » (Bréal, cité in C HANET 1996: 228-229). Même si la désignation « langage français » préfigure presque les « langues de France » dénombrées par le rapport de Bernard Cerquiglini (C ERQUIGLINI 1999), on voit bien qu’elle ne s’applique ici qu’aux langues de la famille (romane) et qu’elle s’inscrit dans le processus que le même Cerquiglini a mis en évidence dans son ouvrage Une langue orpheline (C ERQUIGLINI 2007). A ces nuances apportées au rejet par l’école républicaine des dialectes et patois, il convient d’ajouter que les déclarations officielles ne disent évidemment pas tout. Nul doute que, dans la pratique des classes de l’école primaire, il y eut aussi des enseignants qui, dialectophones ou pas et n’en déplaise aux inspecteurs, non seulement ne bloquaient pas toute irruption du répertoire des élèves dans les échanges de classe, mais s’appuyaient à l’occasion sur ces productions spontanées pour leur conférer une reconnaissance et stimuler la réflexion sur la langue de scolarisation elle-même. Pratiques marginales sans doute, relevant plus du bilinguisme de transition que de la construction d’une compétence plurilingue sur la base de l’existant en contexte ? Il y a là à s’appuyer plus sur des témoignages et souvenirs d’enseignants ou d’anciens élèves, voire sur des rapports d’inspection de l’époque, que sur des textes officiels. 108 Daniel Coste 39 (2010) 2.3 Argumenter pour ou contre quand les langues se trouvent en concurrence Pour les langues étrangères qui trouvent place dans les systèmes éducatifs au XIX ème siècle, l’évolution des hiérarchies inter pares qu’on peut constater, au cours des siècles précédents, à propos notamment des manuels ou glossaires plurilingues (M INERVA 1996, 2010, M INERVA / C OLOMBO -T IMELLI 2008, K OK -E SCALLE 2010) va s’affirmer plus nettement, même si c’est avec des décalages entre pays européens dans l’espace et la durée. La question, toujours d’actualité, dans les programmes scolaires où plusieurs langues étrangères peuvent être offertes est bien celle des choix qui sont pratiquement effectués, soit par les instances éducatives elles-mêmes à tel ou tel niveau de responsabilité, soit par les familles et les élèves. Dans ces choix, les images des langues, les représentations sociales et les argumentaires auxquels elles donnent lieu les situent différentiellement les unes par rapport aux autres. A ce jeu, dans la plupart des pays européens et selon des pondérations variables, trois langues tirent leur épingle et occupent l’essentiel du terrain : l’allemand, l’anglais et le français (voir aussi K OK -E SCALLE 2010). Cela ne signifie pas qu’on ne puisse trouver, par exemple en France, dans tel ou tel lycée, un professeur de polonais ou un professeur d’arabe, sous la pression parfois de notables locaux. Marie- Hélène Clavères (C LAVÈRES 1995, 2002) a mis au jour patiemment des cas de cette nature. Mais les gros bataillons d’apprenants s’orientent ou sont orientés vers le tiercé gagnant. Particulièrement éclairante à cet égard, l’étude publiée par Elisabet Hammar sous le titre « L’essor et le déclin du français, de l’allemand et de l’anglais en Suède. 1807- 1946 » (H AMMAR 2001). L’intérêt de ce travail pour le présent propos est que, les trois langues étant proposées dans ce petit pays dont la langue nationale est peu répandue, il s’agit de les ordonner entre elles dans la durée du cursus scolaire et, pour ce faire, des arguments de nature diverse sont invoqués, qui peuvent tout aussi bien se retourner quelques années ou décennies plus tard. Sans entrer dans le détail des analyses très stimulantes faites par E. Hammar, relevons quelques traits saillants des évolutions constatées dans l’enseignement public : C Le latin est la première langue étrangère enseignée dans les écoles secondaires jusqu’en 1856, puis le français (1856-1859), puis l’allemand (1859-1946) et enfin l’anglais depuis 1946. C En termes de nombre d’heures sur le total de la scolarité, le français l’emporte jusque dans les années 1860-1870, l’allemand domine ensuite jusqu’après la seconde Guerre mondiale et laisse alors le premier rang à l’anglais (qui n’a pris place dans le système éducatif qu’après 1870 pour les filières classiques et à partir de 1856 dans les options non-classiques). C Elisabet Hammar note que, « au cours des années 1780 et 1790, on parlait déjà des trois langues modernes, comme étant nécessaires pour tous les citoyens. » Commence aussi à apparaître un argument de mise en ordre selon lequel « l’anglais était la langue qui avait besoin de peu de cours et serait donc apprise en dernier, surtout à cause de ses affinités avec le latin, l’allemand et le français. ». Signe que l’on raisonne ou que du moins on argumente en faisant appel au parcours d’apprentissage Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire 109 39 (2010) des élèves et à ce que les apprentissages antérieurs apportent aux suivants, donc - jusqu’à un certain point - à des rapports de transferts entre les langues apprises. C Apparaissent aussi dans les débats complexes qui se poursuivent au XIX ème siècle autour de l’enseignement des langues des questions telles que : faut-il que la première langue introduite à côté du suédois soit une langue typologiquement distante ou une langue proche ? Quelle langue autre est la plus susceptible de permettre une réflexion grammaticale comparative et donc une bonne formation de l’esprit ? A défaut du latin, le français passe pour mieux répondre à ces conditions. Mais les défenseurs de l’allemand font valoir proximité avec le suédois et utilité sociale comme le feront ensuite ceux de l’anglais… Ces quelques points sont loin de rendre justice à la complexité et à la finesse de cette étude des changements successifs intervenus en Suède, mais ils suffisent à marquer tout à la fois le caractère hégémonique des trois langues modernes, l’inversion de leurs poids respectifs (français-allemand-anglais devient anglais-allemand-français), la mise en œuvre d’argumentations qui jouent tour à tour sur la formation intellectuelle des élèves, l’économie d’ensemble du curriculum, l’utilité pratique de telle ou telle langue. L’évolution enregistrée traduit évidemment des rapports de forces extérieurs à l’école, mais que celleci enregistre et renégocie selon aussi ses logiques propres. De la lecture du texte d’E. Hammar on tire en outre l’impression que les débats suédois du XIX ème siècle prennent d’abord fortement en compte une cohérence d’ensemble de l’apprentissage langagier et du rapport des langues entre elles dans la dynamique du cursus, mais que peu à peu les facteurs plus instrumentaux d’une géopolitique linguistique l’emportent et séparent les langues plus qu’elles ne les articulent entre elles, y compris au regard de la langue de scolarisation majeure, le suédois. Quand E. Hammar résume ainsi quelques-unes des questions en débat au début de la période qu’elle examine : « […] celle de savoir quelle langue est la plus utile pour une profession éventuelle ou pour les études, ou avec quelle langue il faut commencer, vu l’âge de l’élève, ou encore quelle langue est la plus adaptée comme langue étrangère de base, pour servir à l’étude ultérieure d’autres langues. Est-il pédagogiquement favorable que l’enfant commence par une langue qui est proche de la sienne ou par une langue qui en est plus éloignée ? Quelle langue demande le plus grand nombre d’heures de cours ou la plus grande période d’apprentissage ? » (H AMMAR 2001: 147) on ne peut que se demander s’il ne serait pas « utile » aujourd’hui de ne pas s’en tenir à la première de ces interrogations et de prêter un peu plus attention aux suivantes. A la vérité, certaines de ces questions resurgissent de manière que d’aucuns diront inattendues. C’est ainsi que, dans certains des cantons suisses alémaniques, il a été récemment décidé d’introduire l’apprentissage de l’anglais à l’école primaire avant celui du français, autre langue officielle du pays et langue seconde obligatoire, alors que l’inverse avait force de règle auparavant. Et parmi les arguments employés pour donner cette préséance à l’anglais ont figuré la proximité linguistique avec l’allemand, qui devrait faciliter l’apprentissage, et l’hypothèse qu’on arriverait aussi vite à de bons résultats en français avec ce dispositif qu’avec le précédent parce que la séquence allemand-anglais 110 Daniel Coste 39 (2010) (pour des enfants déjà exposés par ailleurs, avant et hors de l’école, à un dialecte alémanique) développerait des capacités d’apprentissage plus riches pour l’acquisition ultérieure d’autres langues. C’est aussi à la Suisse, au XIX ème siècle et dans l’espace romand, que Blaise Extermann (E XTERMANN 2010) s’est intéressé, mais sous l’angle du point de vue des enseignants eux-mêmes, tel qu’il ressort des procès-verbaux des conférences des maîtres de l’époque, à deux moments distincts : celui de l’introduction de l’allemand dans les plans d’études à côté du latin et celui où l’anglais et l’italien sont à leur tour pris en compte. Comme en Suède et en France, mais dans des configurations différentes, les processus de disciplinarisation des langues modernes, leur rapport au latin et à la langue majeure de scolarisation (le français en la circonstance), leur rôle dans l’émergence et l’affirmation de nouvelles identités professionnelles marquent fortement la période prise en considération. Comme le souligne Michel Berré, à propos de la Belgique et de la réforme engagée par le gouvernement libéral (1878-1884), alors qu’il s’agit de penser l’articulation de six langues au programme de l’enseignement moyen : « La relecture des débats de l’époque illustre la difficulté (pour ne pas dire l’impossibilité) de parler de l’apprentissage ou de la connaissance d’une langue sans prendre en compte l’ensemble des langues enseignées » (B ERRÉ 2008). D’autres contributions proposées lors d’un colloque international à Grenade en 2008 présentent aussi des situations où, dans un même espace scolaire, des langues se trouvent en concurrence dans le curriculum. Celle de Danielle Omer (O MER 2010), portant sur le cas très spécifique des classes primaires de l’Alliance Israélite Universelle de Bulgarie, montre bien comment des langues telles que le judéo-espagnol, le français, le bulgare et l’hébreu se trouvent, sur une période brève et s’agissant de langues de scolarisation bien plus que de langues « étrangères », tour à tour prises dans des enjeux qui, loin de se réduire à des ajustements internes des programmes, touchent en profondeur aux représentations et à la construction identitaires d’une micro-communauté exposée à des modifications profondes de son environnement. Les rapports des langues entre elles et la gestion de leur pluralité ne sont alors pensés ni en relation à leur seule utilité pratique ni pour des raisons d’économie curriculaire, ni même en termes de formation des personnes, mais bien au regard de la continuité et de l’avenir d’une collectivité inscrite dans son histoire et sa trajectoire. Les évolutions de la situation multilingue de Jérusalem à la fin de la période ottomane, telles que retracées par Karène Sanchez Summerer (S ANCHEZ S UMME - RER 2010) sont aussi, dans un contexte différent, très révélatrices. - A partir de ces quelques considérations rapides, il est possible de dégager, sans prétention à l’originalité, quelques traits récapitulatifs majeurs : C Si les langues anciennes conservent de fortes positions dans les filières classiques du secondaire, l’institution scolaire voit la montée progressive des langues modernes, le rapport entre les unes et les autres, leurs vertus respectives font l’objet de débats importants et significatifs. C Selon les pays et les contextes considérés, les évolutions tendancielles et leur rythme peuvent varier, mais la convergence s’opère sur l’allemand, l’anglais et le français Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire 111 39 (2010) et si le français s’impose encore le plus au début du XIX ème siècle, les inversions d’ordre vont intervenir peu à peu (plus rapidement en Europe du Nord que dans le Sud) au profit final de l’anglais. C L’enseignement scolaire s’inscrit en principe dans des finalités larges de formation, de Bildung, pour ce qui est des langues anciennes et modernes, mais les visées pratiques y prennent plus d’importance au fil des décennies. C Même si les langues enseignées le sont, à différents moments, selon des approches méthodologiques et des conceptions pédagogiques largement communes, l’affirmation de chacune comme discipline scolaire autonome introduit peu à peu des distances entre elles et risque de nuire à ce que serait une véritable intégration dans un projet éducatif d’ensemble. 3. Les langues entre monde globalisé et contextes particuliers Aujourd’hui, à l’heure où les Etats-Nations sont conduits à se repositionner dans un monde globalisé et des espaces macro-régionaux, le multilinguisme sociétal est officiellement reconnu comme un état de fait et - plus difficilement - comme une ressource, le plurilinguisme individuel comme une visée et comme une valeur. Cette assertion générale recouvre sans conteste des réalités extrêmement diverses et il ne manque pas d’exemples européens récents de résurgences violentes de mouvements nationalistes où le rejet des langues des autres se trouve en bonne place. Mais il n’en demeure pas moins que la reconnaissance du multilinguisme et la valorisation du plurilinguisme relèvent du politiquement correct, tout particulièrement au niveau des instances européennes. 3.1 De certaines tendances générales Par rapport aux périodes antérieures, quelques traits sont notables, bien connus et sur lesquels il n’y a pas à s’attarder : C Les outils plurilingues ne manquent pas, qu’il s’agisse des énormes banques de données terminologiques dont dispose l’Union européenne ou des glossaires et aides à la traduction que tout un chacun peut télécharger sur son ordinateur, voire sur son téléphone mobile. Les « manuels du voyageur » sont désormais numérisés et la portabilité a changé de format. Il est toutefois permis de s’interroger sur les effets que peuvent avoir les progrès (relatifs) de la traduction en ligne sur les consultations plurilingues. C Plus largement, les médias dans leur pluralité et dans leurs modalités d’accès permettent à tout individu ou groupe qui le souhaite d’établir ou de garder le contact, à distance, avec les locuteurs / scripteurs d’autres langues. C L’apprentissage des langues est objet d’une forte demande sociale et constitue un marché économique important, diversifié mais fortement déséquilibré en faveur de l’anglais. Cette demande et ces offres se développent en dehors de l’école mais affectent aussi directement les systèmes éducatifs. 112 Daniel Coste 39 (2010) C A côté de l’anglais, qui se diffuse « de lui-même », des politiques officielles viennent en appui du français, de l’espagnol, de l’allemand, de l’italien, du russe et d’autres langues à présence internationale. C Par ailleurs, des langues régionales et de communautés, des langues de minorités, des langues de la migration se trouvent, à des degrés divers et plus souvent qu’autrefois, valorisées, protégées, « enrichies », admises et enseignées en dehors de et dans l’école. 3.2 Pluralité des langues et actions du Conseil de l’Europe Sur la scène européenne, c’est depuis un demi-siècle que le Conseil de l’Europe a mis à son programme des recommandations et actions intéressant spécifiquement les langues. Dans les années 1960 à propos des enquêtes sur les langues parlées, les méthodologies audiovisuelles, l’enseignement précoce, à partir des années 70, sur les unités capitalisables et les « niveaux-seuils », au tournant du siècle, avec le Cadre européen commun de référence pour les langues (CECR) et les Portfolios européens des langues (PEL), le Guide pour l’élaboration des politiques linguistiques éducatives (B EACCO & B YRAM 2007) et les Profils nationaux ou régionaux de politique linguistique éducative. Sans entrer ici dans le détail, quelques points s’inscrivent dans le propos général de cette contribution : C L’élaboration des Niveaux-Seuils pour plus d’une trentaine de langues s’est faite selon la même matrice (approche dite notionnelle / fonctionnelle), qu’il s’agisse de « grandes » langues ou de « petites » langues, de langues nationales ou de langues régionales ou de communautés. Pour l’Espagne, des niveaux-seuils ont été produits pour l’espagnol, pour le catalan, pour le basque, pour le galicien. Le letton a son niveau-seuil tout autant que l’allemand ou le français. L’entreprise établit donc une forme de parité entre les langues, quels que soient leurs statuts et leurs « poids » respectifs et a pu servir aussi à donner à certaines de ces langues des modalités de description pragmatique dont elles ne disposaient pas auparavant. Mais cette valorisation linguistique et symbolique ne saurait faire perdre de vue que la langue de première référence dans laquelle les catégories de base ont d’abord été produites est l’anglais, le Threshold Level restant l’instrument qui a connu la plus large diffusion et l’impact le plus marqué. Le transfert de technologie linguistique ne s’appuyait décidément plus sur le latin ! C Le CECR, surtout connu pour les caractérisations qu’il propose de niveaux de maîtrise dans l’usage d’une langue, introduit aussi la notion de compétence plurilingue et autorise la définition de profils plurilingues. Quant aux PEL, ils permettent aux apprenants de faire état de leur biographie langagière et de mettre en valeur leur répertoire langagier sans du tout se limiter aux langues étrangères apprises à l’école. C’est une représentation plurielle et plurilingue de l’identité langagière qui se trouve ainsi suggérée. Mais on sait que la mise en œuvre effective de ces portfolios dans les établissements scolaires ne va pas de soi, sans doute en raison des cloisonnements - rappelés plus haut - entre les langues. Sur quelques aspects historiques des relations entre langues en contexte scolaire 113 39 (2010) C Quant au Guide élaboré par Jean-Claude B EACCO et Michael B YRAM (2003-2007) et aux Profils de politique linguistique éducative, c’est une approche globale des contextes sociolinguistiques qu’ils retiennent. D’une part, en postulant une interdépendance écologique entre toutes les langues présentes dans un environnement national ou régional donné, lui-même inclus dans un espace plus large , d’autre part en posant qu’une politique linguistique éducative, pensée en relation à cet environnement, doit aujourd’hui viser le développement de la compétence plurilingue des jeunes, en relation notamment à des finalités d’inclusion et de cohésion sociale et de participation citoyenne responsable. Dans cette perspective de promotion d’une éducation plurilingue et interculturelle, les langues, dont la langue de scolarisation majeure, sont partie d’un projet intégrateur qui peut se décliner selon des modalités et des temporalités diverses, contextualisées, mais qui toutes tendent à établir des synergies et des complémentarités entre les différents apprentissages langagiers (www.coe.int). 4. Quelques remarques pour conclure A l’issue de ce parcours trop rapide et cavalier, quelques remarques en guise de conclusion : C C’est une histoire de passages : passages synchroniques (mais aussi dans la durée) entre des langues vernaculaires mises sur le même pied quant aux modes de leur description (à partir du latin longtemps, plus tard en référence au français, aujourd’hui souvent à l’anglais) ; passages de relais, si l’on ose dire, entre langues provisoirement dominantes dans tel ou tel espace ; passages entre langues dans les pratiques plurilingues effectives de lettrés, de voyageurs, de commerçants, changements de code et microalternances au quotidien des contacts entre langues. C C’est aussi une histoire de sélections et d’exclusions dans des concurrences entre langues. Prendre en compte la pluralité, c’est poser la question de la gestion de cette pluralité. On en revient aux titres d’ouvrages de Louis-Jean Calvet : il y a une guerre, il y a un marché, il y a une écologie des langues (C ALVET 1887, 1999, 2002). Et les politiques linguistiques, qu’on ne saurait limiter à la seule intervention de l’état et des institutions officielles, jouent sur ces différents tableaux. C Les temporalités sont variables : des évolutions et des tendances qui semblent rétrospectivement de portée très générale obéissent à des rythmes différents suivant les contextes, les langues en présence, les rapports de force locaux. Ainsi, l’institutionnalisation scolaire (ré)amorce un processus complexe entre latin, langue nationale, langues étrangères, dialectes qui se décline différemment selon les pays. De même, l’extension du mouvement de la Réforme, entre XIX ème et XX ème siècles, connaît des décalages et des succès différents entre Europe du Nord et Europe du Sud, même si l’époque est fortement marquée par ces circulations internationales des débats méthodologiques. 114 Daniel Coste 39 (2010) C Pour faire l’histoire de l’enseignement d’une langue, il n’est pas indifférent de s’intéresser aussi à l’histoire de l’enseignement d’autres langues. C Pour faire l’histoire de l’enseignement des langues, on ne saurait s’en tenir aux manuels, aux enseignants, à l’école. Vient toujours un moment, comme l’ont montré notamment les travaux de la S IHFLES (Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Étrangère ou Seconde), où il faut aussi une prise en considération des contextes plus ou moins multilingues, des pratiques culturelles plus larges, des dimensions politiques, économiques, migratoires, démographiques, de l’expansion géopolitique de telle ou telle langue. C Pour la période moderne et contemporaine, l’histoire de l’enseignement des langues étrangères peut difficilement être séparée de celle des langues nationales/ officielles de scolarisation. On a besoin, à un niveau ou à un autre des analyses, d’une approche globale des politiques linguistiques décloisonnant ce qui concerne la langue majeure de scolarisation/ nationale/ officielle, les langues secondes, les langues étrangères, les langues minoritaires et régionales, les langues de la migration. C’est dans ce sens que l’on peut envisager aujourd’hui d’en revenir, sous des formes nouvelles, à une conception de l’appropriation et de l’utilisation des langues (étroitement articulée aux enjeux qui sont ceux des acteurs sociaux en ce début du XXI ème siècle) qui suppose leur mise en relation et non leur simple juxtaposition. 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Um die Lesbarkeit des Aufsatzes zu erleichtern, wird die unmarkierte männliche Form gewählt, die immer auch die weibliche Form einschließt. 39 (2010) C LAUS G NUTZMANN , N ADINE S ALDEN * Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts Abstract. In academic literature methods of and approaches to foreign language teaching are always associated with certain systematic conceptions of teachers but less so with systematic conceptions of the learner (“Lernerbilder”). The paper takes up the issue of learner conceptions by developing a definition of this concept and by supplying a chronological overview of modern foreign language teaching methods and approaches that have been used in an institutionalized context in Germany from 1850 to the present. These methods are presented, their aims illustrated and their supposed learner conceptions described. The description of the foreign language teaching methods and approaches need to take into account their respective historical, sociocultural and educational context since the methods and approaches and the context they are used in are interrelated. 1. Einleitung Jedes Zeitalter hat bestimmte Erwartungshaltungen an seine Lerner 1 , an ihre kognitiven, affektiven, sozialen und politischen Eigenschaften. Diese Erwartungen und die Ausprägung der einzelnen Charakteristika sind zeitabhängig, wobei bestimmte Muster wiederkehren können. Auch an den Fremdsprachenlerner und das mit diesem assoziierte Lernerbild sind bestimmte Erwartungen geknüpft. Diese spiegeln die Prinzipien und Überzeugungen wider, die in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in den jeweiligen Epochen für das Unterrichten und Lernen fremder Sprachen als maßgeblich gelten. Das dem Fremdsprachenunterricht zugrundeliegende Lernerbild ist besonders eng mit den Sprachvermittlungsmethoden verknüpft, die in einer bestimmten Phase des Fremdsprachenunterrichts vorherrschend sind. Deshalb bietet sich für die Reflexion von Lernerbildern ein historischer Überblick über die gängigen fremdsprachlichen Vermittlungs- Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 117 2 Der kommunikative Ansatz des Fremdsprachenlernens verschreibt sich nicht einer einzigen Sprachlehrmethode, so dass dieser als Ansatz oder Unterrichtskonzept bezeichnet werden sollte. 3 Bei den vorliegenden Ausführungen findet eine Beschränkung auf die „alte BRD“ statt. 4 Da alternative Methoden wie bspw. der Silent Way oder die Suggestopädie sich in erster Linie für einen erwachsenen Lernerkreis mit sehr hoher Selbstverantwortung eigneten und keinen nachhaltigen Einzug in den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht hielten, werden sie im Kontext dieses Aufsatzes nicht weiter beleuchtet (vgl. T HORNBURY 2006: 205; J OHNSON / J OHNSON 1999: 311). Es sei jedoch hingewiesen auf H OLT - WISCH (1990) und S CHIFFLER (1989). O RTNER (2007: 238) stellt heraus, dass die alternativen Methoden als gute Impulsgeber für die Unterrichtsgestaltung fungieren. Für die Sichtung zahlreicher alternativer Methoden/ Methoden für erwachsene Lerner vgl. den Band von L ARSEN -F REEMAN (2000). 5 Hierbei wird die zentrale These der Pädagogischen Anthropologie über die grundsätzliche Erziehungsbedürftigkeit des Menschen angenommen, wodurch sich die Erziehung und Bildung des Menschen als absichtsgeleitete Tätigkeit legitimiert (vgl. B ÖRRNERT 2005: 3). 39 (2010) methoden, -ansätze und Unterrichtskonzepte 2 an. Hierbei findet eine Beschränkung auf solche Methoden und Ansätze statt, die für den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht in Deutschland 3 seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von Relevanz sind. 4 Diese Lernerbilder stehen im Zusammenhang mit verschiedenen Funktionen und Zielsetzungen von Fremdsprachenunterricht und haben anthropologische Implikationen, z.B. wie Lerner ihre eigenen Lernprozesse steuern oder mithilfe ihrer fremdsprachlichen Kompetenz kommunikative und ihre Lebenswelt betreffende Ziele verfolgen können. Der vorliegende Aufsatz bietet eine historiographische Skizze des Fremdsprachenunterrichts mit seinen jeweiligen Sprachlehransätzen von ca. 1850 bis heute und damit auch eine ansatzweise fremdsprachendidaktisch-anthropologische Reflexion. 5 Dabei wird davon ausgegangen, dass sich das Lernerbild in den Methoden und Ansätzen des respektiven Fremdsprachenunterrichts widerspiegelt und dieses Ausdruck von gesellschaftlichen, bildungs- und sprachpolitischen Leitvorstellungen bestimmter politischer Strömungen der jeweiligen Zeit ist. Es ist zu bedenken, dass neue Methodenkonzeptionen und Ansätze nie in deutlich abgrenzbaren Epochen eingeführt und umgesetzt wurden. Vielmehr kommt es durch variierende institutionelle Bedingungen und die am Lehr- und Lernprozess Beteiligten auch immer wieder zu parallelen und sich überlappenden Unterrichtskonzeptionen (vgl. N EUNER 2007: 227) wie z.B. am Ende des 20. Jahrhunderts bei den sich parallel etablierenden Ansätzen der kommunikativen Didaktik und der interkulturellen Didaktik. Im Folgenden soll zunächst eine Arbeitsdefinition des Begriffs „Lernerbild“ gegeben werden, an die sich im darauffolgenden Kapitel eine Analyse der schulrelevanten Sprachvermittlungsmethoden und Unterrichtsansätze mit den jeweiligen Zielsetzungen und Lernerbildern anschließt. Die Analyse wird durch einen tabellarischen Überblick vervollständigt. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. 2. Lernerbild(er) Überraschenderweise ist in der Forschungsliteratur keine Definition des Begriffs „Lernerbild“ zu finden, obwohl dieser in hoher Frequenz benutzt wird. B AUSCH (1993: 8) schreibt 118 Claus Gnutzmann, Nadine Salden 6 Der Begriff des Lernerbildes ist unbedingt vom Konzept des Lern(er)typen zu unterscheiden, wie dieser bspw. von T ÖNSHOFF (2010: 196 f) anhand von Präferenzen eines Wahrnehmungskanals oder anhand eines dominanten Lernstils beleuchtet wird. 7 W OLFF (1994) verdeutlicht die Dichotomie von Instruktivismus und Konstruktivismus als literaturtheoretische Ansätze der Rezeptionsästhetik und wendet diese als Lerntheorie auf das Fremdsprachenlernen an. Darüber hinaus wendet W OLFF (2007) das pädagogische Konzept der Lernerautonomie auf den Fremdsprachenunterricht an und spricht der Lernerautonomie Relevanz als übergeordnetes Erziehungsziel zu (vgl. hierzu auch H OLEC 1981 und L ITTLE 1995). 39 (2010) die Vagheit des Lernerbegriffs dem Umstand zu, dass die Sprachlehrmethoden stets konkrete Angaben zum jeweiligen Lehrerbild machen „und sich deshalb […] auf einen abstrakt-globalen, lediglich episodisch ausgelegten (Fremdsprachen-)Lernerbegriff begrenzen mußten.“ Der Begriff scheint Charakteristika und Erwartungen zu umfassen, die eine angenommene Lernerschaft aufweist. 6 Das Lernerbild umfasst kognitiv-intellektuelle, affektiv-emotionale, soziale sowie politische Eigenschaften der Lerner in der Phase des Fremdsprachenlernprozesses und auch danach. Um individuelle Ausprägungen dieser angenommenen Eigenschaften wissend, scheint es sich beim Lernerbild um eine konsensfähige Vorstellung von Lernern zu handeln, aufgrund derer Unterricht geplant, durchgeführt und ausgewertet wird. Außerdem geht man augenscheinlich beim Lernerbild stets davon aus, dass Lernen als Verhaltensänderung zum einen von außen organisiert und vom Lehrenden initiiert wird („poiesis“) und zum anderen vom Inneren des Lerners, also selbstorganisiert vollzogen wird („autopoiesis“) (vgl. T REML / B ECKER 2006: 107). Je nach Ausprägung der jeweiligen Lehrmethode in Richtung Lehrer- oder Lernerzentrierung ist das implizite Lernerbild ein eher aktiv-konstruktivistisches oder ein passiv-instruktivistisches. 7 Ferner scheint das Lernerbild in einem komplementären Verhältnis zum jeweiligen Lehrerbild zu stehen. Wird vom Lerner Eigenständigkeit erwartet, fungiert der Lehrer als Lernberater und Moderator, soll der Lerner stark gelenkt werden, ist der Lehrer für Instruktion und Steuerung verantwortlich (vgl. hierzu auch B AUSCH [et al.] 1993). Im Kontext des Lernerbilddefinitionsversuchs erscheint es hilfreich, einen Blick auf den good language learner zu werfen, wie D OFF / K LIPPEL (2007: 231 ff) ihn charakterisieren (ursprünglich R UBIN 1975). Sie schreiben diesem Lerner, der besonders erfolgreich Fremdsprachen lernt und den es idealiter nicht gibt, die Eigenschaften Extrovertiertheit, Risikobereitschaft, Toleranz gegenüber Ambiguität und Selbstvertrauen zu. Dennoch weisen sie darauf hin, dass auch Lerner, die diese Persönlichkeitsmerkmale nicht aufweisen, sehr erfolgreiche Lerner von Fremdsprachen sein können, da die jeweilige Lernerpersönlichkeit eng verknüpft ist mit den lernerseitigen Einstellungen zum Erlernen der Fremdsprache und der Motivation des Lerners, diese zu erlernen (vgl. D OFF / K LIPPEL 2007: 233). Die folgende Analyse unterschiedlicher fremdsprachlicher Vermittlungsmethoden und Unterrichtsmethoden mit ihren Lernerbildern zeigt systematische Zusammenhänge zwischen Methoden und Ansätzen und ihren Zielen, Lernerbildern und sozioökonomischen Zusammenhängen. Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 119 8 Englisch wird als Pflichtfach an preußischen Realanstalten im Jahr 1859 eingeführt (vgl. D OFF / K LIPPEL 2007: 15). 9 Der erste Grammatik-Übersetzungs-Lehrgang wurde von Johann Christian Fick im Jahr 1793 in Erlangen publiziert (vgl. H OWATT / W IDDOWSON ²2004: 152). 39 (2010) 3. Analyse der wichtigsten Sprachvermittlungsmethoden und Unterrichtsansätze im institutionalisierten Fremdsprachenunterricht 3.1 Die Grammatik-Übersetzungs-Methode Die Tatsache, dass in der vorliegenden Skizze mit dem traditionellen, der Grammatik- Übersetzungs-Methode verpflichteten Fremdsprachenunterricht begonnen wird, trägt dem Umstand Rechnung, dass die Grammatik-Übersetzungs-Methode mit der Etablierung der modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch als Schulfächer in Deutschland verbunden ist (vgl. N EUNER 2007: 227). 8 Die Grammatik-Übersetzungs-Methode wurde im 19. Jahrhundert als Sprachlehrmethode für preußische Sekundarstufen entwickelt und von da an erst in Preußen, dann weltweit genutzt (vgl. H OWATT / W IDDOWSON ²2004: 152). 9 Diese Methode, die für die modernen Fremdsprachen analog zur Vermittlungsmethode der ‚alten‘ Sprachen Griechisch und Latein genutzt wird, konzentriert sich auf die Schriftsprache, wobei Grammatikregeln den Lernern stets explizit und erst einmal abstrakt ohne Kontext in ihrer Muttersprache erläutert und dann von den Lernern in meist schriftlichen Übersetzungsaufgaben angewendet werden. Der Präsentation von formalgrammatischem Regelwerk wird eine formalbildende Kraft zugeschrieben, sie folgt einer ‚zweckfreien‘ Allgemeinbildung - so die Apologeten der Methode (vgl. S CHRÖDER 1971: 23, L EHBERGER 2007: 612). Die Beherrschung der Fremdsprache zeigt sich in der Übersetzungskompetenz, aber auch in der eigenen Konstruktion von Sätzen und Texten. Somit betont die Grammatik-Übersetzungs-Methode die fremdsprachlichen Fertigkeiten Leseverstehen und Schreiben und blendet die Fertigkeiten Sprechen und Hörverstehen aus. Das Ziel der Methode ist also, bildungsrelevante Inhalte mit der modernen Fremdsprache genauso gut unterrichten zu können wie mit einer ‚alten‘ Sprache und damit ebenfalls eine humanistische Bildung der Lerner zu erreichen. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode legt besonderen Wert auf Sprachrichtigkeit und geht davon aus, dass die Lerner bei entsprechend ‚vollständiger‘ Instruktion ‚komplette‘ Fremdsprachenkenntnisse haben müssten. Sowohl der Unterricht der Fremdsprache als auch die ‚Sprache‘ an sich haben hier einen Bildungs- und keinen Gebrauchswert. Noch heute wird die Methode mutatis mutandis teilweise in manchen Ländern angewendet, da sie sich besonders für große Lernergruppen eignet. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode wurde innerhalb der Reformbewegung und besonders von den Vertretern der Direkten Sprachlehrmethode wegen ihrer Vernachlässigung des Mündlichen und einer vermeintlich falschen Annahme dessen, was Sprachbeherrschung ist, kritisiert. Das angenommene Lernerbild der eindeutig lehrerzentrierten Grammatik-Übersetzungs-Methode ist also eines, das anfangs auf der angenommenen Unselbstständigkeit der Lerner basiert, diese abzubauen fördert, die reine Instruktion der Lerner propagiert und somit von einem reaktiven Lerner ausgeht. 120 Claus Gnutzmann, Nadine Salden 39 (2010) Dieser Lerner wird in der Grammatik-Übersetzungs-Methode zunächst „uniformartig“ und weniger als Individuum betrachtet, da davon ausgegangen wird, dass jeder Lerner positiv auf die angebotene Methode reagieren und somit die angestrebten Lernziele erreichen könne. 3.2 Die neusprachliche Reformbewegung Als Reaktion auf einen Fremdsprachenunterricht, der mit der Grammatik-Übersetzungs- Methode einem bildungsorientierten Ansatz folgte, publizierte Wilhelm Viëtor im Zuge der neusprachlichen Reformbewegung im Jahr 1882 seine Streitschrift „Der Sprachunterricht muss umkehren. Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage“, deren Inhalte und Ziele im Kontext eines gewünschten Anwendungsbezugs der modernen Fremdsprachen und ihres Unterrichts zu sehen sind. Diese Schrift initiierte die Reformbewegung, weshalb sie bis heute als eines der wichtigsten fremdsprachendidaktischen Dokumente bewertet werden kann (vgl. H OWATT / W IDDOWSON ²2004: 188). Viëtor betont hierin emphatisch die Bedeutung der Phonetik und Phonologie beim Erlernen einer Fremdsprache und verhilft damit den Fertigkeiten des Hör-/ Hör-Sehverstehens und des Sprechens zum Durchbruch. Hier empfiehlt Viëtor besonders das Mündliche als Ausgangspunkt des Lernens. In seiner Kritikschrift hat Viëtor den Lerner im Blick - dies zeigt sich schon im Untertitel seiner Schrift, die die seitens der Schüler festgestellte „Überbürdungsfrage“ (V IËTOR 1882/ 1886, in H ÜLLEN 1979) fokussiert, aber auch, wenn er fragt, „[w]ie kommt der Schüler dabei weg? “ (V IËTOR 1882/ 1886, in H ÜLLEN 1979: 23). In Bezug auf die formalgrammatische Bildung und das reine Auswendiglernen von Vokabular nimmt Viëtor an, dass der Lerner kein „nachhaltiges Interesse“ (V IËTOR 1882/ 1886, in H ÜLLEN 1979: 23) am Unterricht und damit an der Sprache entwickeln könne, sondern lediglich „mechanisch“ (V IËTOR 1882/ 1886, in H ÜLLEN 1979: 24) das durchführe, was der Lehrer von ihm verlange. Eine Praxisorientierung von Fremdsprachenunterricht erscheint Viëtor als einzige Möglichkeit für die Lernenden, sich in einer von Industrialisierung und dem Aufbau eines Welthandels geprägten Gesellschaft behaupten zu können (vgl. M UGDAN / P APPROTÉ 1983: 74). Dieser eher lerner- und anwendungsorientierte Ansatz der Reformbewegung nimmt also einen Lerner an, der die (gesprochene) Sprache so gut wie möglich lernen möchte, weniger an formaler Bildung interessiert ist und den Anwendungsbezug im Schutzraum des Unterrichts ausprobieren möchte. Er soll seine erworbenen Fremdsprachenfähigkeiten später in realen Begegnungssituationen anwenden können. 3.3 Die direkte Methode Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts etablierte sich durch die neusprachliche Reformbewegung die direkte Methode als Vermittlungsmethode für die neusprachlichen Fächer. Hier wurde ein besonderer Schwerpunkt auf die modernen Sprachen als trans- und internationale Kommunikationsmittel und damit auf eine pragmatisch-utilitaristische Bildung gelegt. In dieser Phase kam es zur Ablösung der Grammatik-Übersetzungs- Methode, die der Vermittlung der ‚alten‘ Sprachen vorbehalten blieb, aber nicht mehr Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 121 10 Bei der Kulturkunde-Bewegung handelt es sich nicht im engeren Sinn um eine Sprachlehrmethode. Dennoch soll die Bewegung in diesem historiographischen Aufsatz nicht fehlen, da sie für das Fremdsprachenlernen in Deutschland von ca. 1900-1945 eine wesentliche Rolle spielte und Auswirkungen auf das Fremdsprachenlernen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hatte (vgl. hierzu auch G NUTZMANN / K ÖNIGS 2006). 39 (2010) adäquat für die modernen Fremdsprachen erschien. Die gesprochene Sprache wird in der direkten Methode betont, wobei sich die Methodik analog zum natürlichen Spracherwerb gestaltet und der Verzicht auf die Muttersprache und auf Übersetzung im fremdsprachlichen Unterricht methodenkonstituierend ist (vgl. N EUNER 2007: 228). Ein kommerziell besonders erfolgreicher und bekannter Vertreter dieser Methode war Maximilian Berlitz, der die direkte Methode in seinen Sprachlehrinstituten anwendete und ausschließlich Muttersprachler als Fremdsprachenlehrer einsetzte (vgl. R ICHARDS / R ODGERS 2 2001: 12). Da diese Methode neben den skizzierten Ansätzen auf erfahrungsorientiertes und induktives Lernen setzt, kann hier von einem Lernerbild ausgegangen werden, das den zukünftigen Sprachanwender im Blick hat. Der Fremdsprachenerwerbsprozess wird an den natürlichen Erstsprachenerwerb angelehnt, wobei der Lerner seinen eigenen Lernprozess bis zu einem gewissen Maße plant, durchführt und evaluiert. Somit werden dem Lerner eine gestalterische Tätigkeit und ‚learning by doing‘ zugestanden. 3.4 Die Kulturkunde-Bewegung 10 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Unterricht in den modernen Fremdsprachen aufgrund ihrer Betrachtung als „‚Feindessprachen‘“ (L EHBERGER 2007: 613) in Frage gestellt, da man sich in dieser Zeit im Zuge der eigenen kulturellen Erhöhung auf sein eigenes Sprach- und Kulturgut konzentrierte. Auch übergeordnete Ziele von Unterricht wie die Erziehung zur Demokratie standen in dieser deutschnationalen Betonung von Bildung nicht im Blickfeld (vgl. M UGDAN / P APPROTÉ 1983: 77). Die Betonung von Kulturkunde, die über die Kenntnis des Fremden das Eigene besser verstehen wollte (vgl. L EHBERGER 2007: 613), spiegelt sich in der Schulreform von 1924/ 25, als Kulturkunde und Arbeitsunterricht offizielle Bestandteile schulischen Unterrichts wurden, und auch in den vom Ministerialrat Hans Richert herausgegebenen Richtlinien von 1925 wider (vgl. H ÜLLEN 2005: 109 f). Ab 1933 wurden die Bildungsziele der modernen Fremdsprachen dann gänzlich in den Dienst der deutschen Nationalerziehung gestellt (vgl. M UGDAN / P APPROTÉ 1983: 77 ff). Der Unterricht wurde zudem funktionalisiert, um Kriegsbereitschaft zu schüren (vgl. M UGDAN / P APPROTÉ 1983: 83), die nationalsozialistische Ideologie zu verbreiten (vgl. Lehberger 2007: 613) und die Lerner zu Kriegswilligen zu erziehen. Hier ist also von einem Lernerbild auszugehen, das die Lerner für aggressiv-politische Ziele instrumentalisieren möchte. Es wird eine kriegsbereite Lernerschaft angenommen, die primär Kenntnisse über ihre eigene Kultur und Sprache erwerben und das Fremde lediglich kennenlernen soll, um sich von diesem abzugrenzen und den „Feind“ im bewaffneten Konflikt leichter besiegen zu können. 122 Claus Gnutzmann, Nadine Salden 11 Die Steuerung von Unterricht und die Lernersteuerung hat in dieser Methode sicherlich ein Höchstmaß erreicht. Andere Methoden sind durch stärkere Öffnung gekennzeichnet. Der Band von B AUSCH [et al.] (1993) gibt klärende Einblicke in die oft missverständlich gebrauchte Dichotomie von Steuerung und Öffnung im Fremdsprachenunterricht. 12 A PELT (1991: 197 f) fasst zusammen, dass die Methodik des fremdsprachlichen Unterrichts bis in die 1980er Jahre häufig vom Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus/ der audiolingualen Methode geprägt war. 39 (2010) 3.5 Die audiolinguale Methode In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts etablierte sich auf der Grundlage der strukturalistischen Sprachanalyse und des Behaviorismus die audiolinguale Sprachlehrmethode, die auf den Erwerb der gesprochenen Sprache und somit die Fertigkeiten Hören und Sprechen ausgelegt war. Diese Methode, zuerst auch army method oder mimicrymemorization-method genannt, basiert auf Sprachprogrammen, die in den 1940er Jahren in den USA entwickelt wurden, um amerikanische Soldaten auf mögliche Auslandseinsätze vorzubereiten (vgl. H ARDEN 2006: 37 f, R ICHARDS / R ODGERS 2 2001: 50). Gekennzeichnet war die Methode durch das Einüben von Satzmustern (pattern drills), wobei man davon ausging, durch diese Form der Imitation die Entwicklung von Sprechfertigkeit möglichst schnell zu ermöglichen. Die Progression im Unterricht orientierte sich ausschließlich an einer Grammatikprogression, von der angenommen wurde, dass sie zu einer mündlichen Interaktionsfähigkeit führen würde. Der Ertrag der audiolingualen Methode sollte sich in mündlicher Interaktionsfähigkeit widerspiegeln, die die Lerner als potentiell Reisende aktiv anwenden können sollten (vgl. H ÜLLEN 2005: 140). Die in Deutschland übernommene audiolinguale Methode beruht auf den Rahmenvorgaben der amerikanischen Vorgängermethode, die technisch nun durch die Einführung von Sprachlabors ergänzt werden konnte. Diese technische Neuerung, verbunden mit der Einführung entsprechender Lehrprogramme, unterstreicht den Steuerungsansatz der audiolingualen Methode. 11 Mit den skizzierten Zielen wurde der Lernende im Fremdsprachenunterricht also als ‚Konsument‘ des Unterrichts bzw. als ‚black box‘ betrachtet, der seine sprachlichen Fähigkeiten später in realen Begegnungssituationen zeigen können sollte. Die audiolinguale Methode wurde zu einer Zeit in die alte Bundesrepublik übernommen, als mündliche Fertigkeiten auch angesichts eines aufkommenden Tourismus und internationaler Wirtschaftsbeziehungen stärker ins Zentrum rückten. Die Tatsache, dass touristische und wirtschaftliche Zwecke im Vordergrund von Fremdsprachenlernen standen, unterstreicht den Konsumentenstatus der Lernenden. Das Interesse an Fremdsprachen war nun gestiegen; man erhoffte sich mithilfe fremdsprachlicher Kompetenz eine Abkehr von deutsch-zentrierten Denkweisen und einen Anschluss an die neue Welt (vgl. H ÜLLEN 2005: 150). Diese Methode erfreute sich später vor allem an Hauptschulen besonderer Beliebtheit, da davon ausgegangen wurde, dass kleinschrittiges Wiederholen und Üben den gewünschten Lernerfolg mit sich bringen müsste. 12 Analog zu den Konzepten des Behaviorismus wurde das Lernerbild von der Vorstellung eines steuerbaren Wesens dominiert, welches auf Stimuli zu reagieren und seine erworbenen Fertigkeiten pragmatisch einzusetzen hatte. Über die Geschwindigkeit, Inhalte und Methoden des Fremdsprachenlernens kann der Lerner in dieser Methode nicht selbst bestimmen. Außerdem Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 123 13 Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich in Ostdeutschland unter dem Vorzeichen des Russischen. 39 (2010) werden die Lerner nicht ermutigt, selbst Interaktionen zu initiieren, da dies zu unerwünschten Fehlern und somit wiederum zu „falschen“ Stimuli führen könnte (vgl. R ICHARDS / R ODGERS 2 2001: 62). 3.6 Re-Education und Demokratisierung Der Fremdsprachenunterricht nach dem 2. Weltkrieg markierte zunächst keinen Neuanfang, sondern knüpfte an die Konzepte der 1920er Jahre an. Die katastrophalen äußeren Umstände der Nachkriegszeit sowie die anfängliche politische Isolation Deutschlands brachten es mit sich, dass im Fremdsprachenunterricht nicht die Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten im Vordergrund stand, sondern dass die Fremdsprache als Bildungsgut - in Anlehnung an die Tradition der Grammatik-Übersetzungs-Methode wie auch an die frühe Kulturkunde-Bewegung - gelehrt wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Fremdsprachenunterricht bis Anfang der 1960er Jahre fast ausschließlich den Gymnasien vorbehalten war. Anknüpfend an den Begriff des „christlichen Abendlandes“ wurde in der politischen Diskussion nach dem Krieg in Westdeutschland eine Gemeinsamkeit mit den westlichen, demokratischen Siegern beschworen und ideologisch eine Trennung vom „kommunistischen Osten“ vollzogen (H ÜLLEN 2005: 136). 13 Die Relevanz, die dem Fremdsprachenlernen zunehmend zugestanden wurde, schlägt sich auch im Hamburger Abkommen von 1964 nieder, mit dem Unterricht in einer Fremdsprache (in der Regel Englisch) auch für die Volksbzw. Hauptschulen verpflichtend eingeführt wurde. Diese unabhängig von den Schultypen erreichte Gleichbehandlung aller Schüler/ -innen kann sicherlich als Demokratisierung des Fremdsprachenunterrichts gewertet werden. Die Festlegung auf das Englische begünstigte in der Phase der Re-Education Westdeutschlands im Zusammenhang mit neu aufkommenden bildungs- und sprachpolitischen Zielsetzungen das Bestreben der Alliierten, Deutschland zu einer demokratischen Gesellschaft mit einer westlichen Werteorientierung umzuerziehen. Ziel des allgemeinbildenden und damit auch besonders des Englischunterrichts war es nun, die Lerner zu mündigen Bürgern zu erziehen, die aktiv am Leben in einer Demokratie teilhaben sollten. S CHRÖDER (1971: 369) spricht in diesem Zusammenhang einer sinnvollen Englischmethodik die Fähigkeit zu, „ein Maximum an gesellschaftsrelevanter Sprachvermittlung mit einem Maximum an Einübung in demokratische Gesellschaft zu verknüpfen“. 3.7 Der kommunikative Ansatz Seit Mitte der 1970er Jahre hat sich mit der kommunikativen Didaktik ein Ansatz etabliert, der sich eher auf die Lernenden und ihren Lernprozess als auf die Lehrenden und die Lehrstoffvermittlung konzentriert. Der Lernende steht mit seinen individuellen Bedürfnissen und seiner Persönlichkeitsentwicklung im Zentrum des fremdsprachlichen Unterrichts. Die Bedürfnisse, Interessen und die Motivation der Lernenden sowie lerngruppen- 124 Claus Gnutzmann, Nadine Salden 39 (2010) spezifische Faktoren für das erfolgreiche Fremdsprachenlernen stehen im Vordergrund, wobei sich diese Faktoren in alters- und zielspezifischen Lehrmaterialien und Themenstellungen widerspiegeln. Das Fremdsprachenlernen mit seinem übergeordneten Ziel der kommunikativen Kompetenz hat nun einen gesellschaftlich relevanten Bezug, da die Lernenden durch die Anwendung einer Fremdsprache Mündigkeit, Selbstständigkeit und Emanzipation erwerben sollen (vgl. z.B. P IEPHO 1974). Die Inhalte und Kommunikationsgegenstände des Fremdsprachenunterrichts sind vor allem auf Alltagskommunikation ausgerichtet und verwenden entsprechende Textsorten der Alltagskommunikation, die Kommunikationsanlässe schaffen. Der Lernende ist maßgeblich am Lernprozess beteiligt und bekommt Stoffe und Fertigkeiten nicht länger ‚verabreicht‘. Die kommunikative Didaktik verfolgt kein geschlossenes Methodenkonzept, da sie die Methoden lerngruppenspezifisch ausgewählt sehen möchte und durch das Bereitstellen von Curricula Lernziele zu formulieren intendiert, nicht aber den konkreten methodischen Weg dahin (vgl. hierzu beispielsweise B ÖNSCH 1991). Die Muttersprache spielt bei der Bildung und dem Testen von Hypothesen über die neue Sprache eine wichtige Rolle (Transfer/ Interferenz) und beeinflusst maßgeblich die Entwicklung einer sich ständig wandelnden Interimssprache/ Interlanguage (vgl. N EUNER 2007: 231). Das Ziel des kommunikativen Ansatzes ist also die Herausbildung einer Sprach- und Handlungsfähigkeit in der Fremdsprache, um damit eigene Positionen rational zu begründen und dafür zu streiten. Da der Lernende die Fremdsprache für seine Zwecke funktional einbinden kann, ist das Lernerbild hier das eines nach Unabhängigkeit strebenden Lerners, der im Unterricht bestimmte Kompetenzen erwerben und vertiefen können soll, um diese dann in der Realität anwenden zu können. Dieser Anwendungsbezug kann individuell oder auch gesellschaftlich geprägt sein, da der kommunikativ kompetente Lerner seine Fähigkeiten in gesellschaftlich relevanten Zusammenhängen zur Anwendung bringt. 3.8 Autonomes Lernen Im kommunikativen Ansatz ist das selbstbestimmte Lernen bereits angelegt, aber in der Weiterentwicklung des kommunikativen Ansatzes hin zum autonomen Lernen bestimmt der Lerner zunehmend seinen eigenen Lernprozess, gestaltet seinen Spracherwerbsprozess aktiv mit und arbeitet selbstständig und eigenverantwortlich (vgl. W OLFF 2007: 321). Der Lerner wird durch entdeckendes und induktives Lernen aktiviert und entwickelt Lernstrategien, mit denen er individuell und effektiv arbeiten und somit zum autonomen Lerner werden kann. Im Lernprozess ist der Lehrer also eher ein Helfer und Berater als ein Wissensvermittler, das Klassenzimmer wird als Lernwerkstatt verstanden (vgl. W OLFF 2007: 325). Handlungs-, Aufgaben- und Projektorientierung kennzeichnen den Unterricht, der sich an die Schüler ansprechenden, authentischen Inhalten und entsprechenden Materialien orientiert. Die Lerner arbeiten häufig in Kleingruppen und berichten im Plenum sowohl über ihre Ergebnisse als auch ihre Methoden zur Erreichung derselben (vgl. L ENNON 2008: 39). Man folgt also in der Gestaltung des autonom ausgerichteten Fremdsprachenunterrichts konstruktivistischen Annahmen und nicht länger instruktivistischen. Der Lerner „konstruiert“ seinen Spracherwerbsprozess und sein neues Wissen auf Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 125 14 Hier ist besonders darauf hinzuweisen, dass der Ansatz der interkulturellen Didaktik sich maßgeblich von dem der Kulturkunde unterscheidet. Die interkulturelle Didaktik setzt auf Friedenserziehung und Völkerverständigung, die sprachliche und kulturelle Aspekte in den Blick nimmt. 39 (2010) Grundlage des bereits vorhandenen subjektiven Wissens (vgl. W OLFF 1994: 417). Dem Lerner wird zunehmend Verantwortung für den eigenen Lernprozess zugesprochen, wobei autonomes Lernen mit einem Lernerbild verbunden wird, das von Qualitäten wie Selbstmanagement, Selbststeuerung und Individualisierung bestimmt ist. Außerdem setzt dieser Lernansatz auf eine hohe positive Motivation der Lerner, die jeweilige Fremdsprache erlernen zu wollen (vgl. L ITTLE 2004: 70). Darüber hinaus erwerben die Schüler durch Lernerautonomie fördernde Unterrichtsformen Qualifikationen wie Kooperationsfähigkeit, Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit (vgl. W OLFF 2007: 326) - von der Gesellschaft geschätzte und für Studium, Ausbildung und berufliche Tätigkeit höchst relevante Kompetenzen. 3.9 Interkulturelle Didaktik Die sich am Ende des 20. Jahrhunderts etablierende interkulturelle Didaktik geht davon aus, dass es in einer sich öffnenden und globalisierten Welt vermehrt zu Migration, Mobilität und engerer internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit kommt, die (sprachliche) Interaktionsfähigkeit in interkulturellen bzw. intrakulturellen Zusammenhängen benötigt. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Fremdsprachenunterrichts, die Lerner auf diese veränderte Welt und auf entsprechende interkulturelle Begegnungssituationen vorzubereiten und „die Gefahr des Missverstehens, der Vorurteilsbildung, der Xenophobie und des Kulturschocks“ (N EUNER 2007: 232) abzuwehren. Diese Vorbereitung auf interkulturelle Begegnungssituationen erfolgt häufig im Fremdsprachenunterricht durch das Simulieren von prototypischen Situationen. K ORDES (1991) geht jedoch davon aus, dass diese simulierten Situationen nicht ihren Zweck erfüllen können, da sie nicht real und natürlich seien. Vielmehr vertritt er die Auffassung, dass Lehrer die Erfahrungen der Schüler - egal, ob es sich um Vorurteile und Vorbehalte oder Faszination der Schüler gegenüber kultureller Andersartigkeit handelt - zur Kenntnis nehmen müssten und diese nicht ausklammern dürften (vgl. K ORDES 1991: 299). Er nimmt an, dass Kultur im Klassenzimmer nicht ‚lernbar‘ sei und man deshalb dort keine interkulturelle Kompetenz aufbauen könne (vgl. K ORDES 1991: 302), sondern nur durch echte Begegnungen und das Erleben von echten ‚Kulturschocks‘ etwas über die Sprache und die Kultur des Zielsprachenlandes lernen könne. Dennoch scheint die Konfrontation mit prototypischen interkulturellen Begegnungssituationen ihre Relevanz zu haben, da es für den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht in der Regel keine andere Möglichkeit gibt als die Simulation von Begegnungssituationen, über die ein Bewusstsein für sensible interkulturelle Themen zu schulen ist. Die reine Kenntnis einer Fremdsprache ist seit dem ausklingenden 20. Jahrhundert also nicht mehr ausreichend; gefordert sind auch interkulturelle Kenntnisse und Kompetenzen, verbunden mit einer Offenheit gegenüber kultureller Andersartigkeit. 14 In diesem Kontext ist besonders auf das für die Praxis konzipierte 126 Claus Gnutzmann, Nadine Salden 15 Für weitere und neuere Modelle zur interkulturellen Kompetenz und ihrer Anwendung im Fremdsprachenunterricht liegt der Sammelband von H U / B YRAM (2009) vor. 39 (2010) Modell der Intercultural Communicative Competence (ICC) von B YRAM (1997: 34) hinzuweisen, der diese komplexe Kompetenz in fünf Unterkompetenzen unterteilt, nämlich die Fähigkeiten, interkulturelle Unterschiede zu interpretieren und entsprechend zu interagieren, sprachliches und interkulturelles Wissen zu erwerben, interkulturelle Bildung und eine entsprechende interkulturell offene und tolerante Haltung einzunehmen. 15 Mithilfe dieser Einzelkompetenzen kann der Lerner als Vertreter seiner Kultur mit Vertretern der Zielsprachenkultur(en) Bedeutungen aushandeln. Der Fremdsprachenlerner ist also ein Gesandter seines eigenen Landes, der in interkulturellen Begegnungssituationen sein Land so tolerant wie möglich repräsentieren sollte. Eine Basis für interkulturelle kommunikative Kompetenz kann im Fremdsprachenunterricht durch eine Vielzahl von Texten hergestellt werden, die interkulturelle Begegnungssituationen widerspiegeln. Mit Wissen über die eigene und die ‚fremde‘ soziokulturelle Prägung „[…] geht es also um die Frage, welchen Beitrag der Fremdsprachenunterricht zur Friedenserziehung leisten kann“ (N EUNER 2007: 232). Der Fremdsprachenunterricht, der der interkulturellen Didaktik folgt, ist also einer, der rationales Handeln unterstützen und realisieren will. Er trägt zum einen der interkulturellen Kompetenzentwicklung nach außen wie auch der intrakulturellen Kompetenzentwicklung nach innen im Klassenraum bei. Hier wird auf ein ähnliches Lernerbild gesetzt wie beim kommunikativen Ansatz, wobei eine besondere Betonung der Zielsetzung im inter- und intrakulturellen Bereich liegt. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass das übergeordnete Unterrichtsziel, nämlich interkulturelle Sprachhandlungsfähigkeit, im schulischen Kontext mittlerweile einer standard- und kompetenzorientierten Ausrichtung folgt (vgl. K ULTUS - MINISTERKONFERENZ 2003 oder N IEDERSÄCHSISCHES K ULTUSMINISTERIUM 2006). Das Kompetenzmodell zum Fremdsprachenlernen im Allgemeinen (in den Bildungsstandards) und zum Englischlernen im Besonderen (beispielsweise im niedersächsischen Kerncurriculum Englisch), das funktionale kommunikative Kompetenzen, interkulturelle Kompetenzen und Methodenkompetenzen subsumiert, steht in direktem Zusammenhang mit einem stark anwendungs- und weniger bildungsorientierten Fremdsprachen- und damit auch Englischunterricht. Hier schlägt sich wahrscheinlich die besondere Bedeutung des Englischen als Lingua Franca nieder, die von den interkulturell kompetenten Lernern in zahlreichen Kontexten bis zu einem gewissen Grade zu beherrschen ist, um aktiver Teil der globalen Gesellschaft sein zu können. Das Lernerbild ist in der interkulturellen Didaktik im Zusammenhang von Verantwortung gegenüber sich selbst und der globalen Gemeinschaft zu sehen. Politische Verantwortung wird in diesem Lernerbild also besonders betont, wobei der Lerner ein toleranter Mittler zwischen den Kulturen innerhalb und außerhalb des Fremdsprachenunterrichts sein soll. Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 127 16 Hier werden ausschließlich die wesentlichen Methoden und Ansätze mit ihren Zielen und Lernerbildern tabellarisch zusammengefasst. Die Entwicklungsschritte zwischen den Methoden und/ oder Überschneidungen von Unterrichtsansätzen finden keine Berücksichtigung, da sie für die Lernerbilder weniger relevant sind. 39 (2010) 3.10 Tabellarische Zusammenfassung der wichtigsten Sprachlehrmethoden/ Unterrichtskonzeptionen, ihrer Zielsetzungen und Lernerbilder 16 : Sprachvermittlungsmethode/ Unterrichtskonzeption Ziele der Sprachvermittlungsmethode/ Unterrichtskonzeption Lernerbild traditioneller, der Grammatik- Übersetzungs-Methode verpflichteter Fremdsprachenunterricht die Fremdsprache wird als „Bildungsgut“ und nicht als Gebrauchswert gesehen, Unterricht basiert vorwiegend auf schriftlichen und „literarisch wertvollen“ Texten, die Übersetzungskompetenz markiert die Sprachkompetenz humanistisches Lernerbild: C Lerner wird mit bildungsrelevanten Inhalten und Verhaltens mustern ausgestattet C Lerner wird instruiert direkte Methode der Gebrauchswert der Fremdsprache wird betont, es wird erfahrungsorientiert und induktiv gelernt, der mündliche Sprachgebrauch erscheint relevant und die Sprachkompetenz zeigt sich in der Anwendung (Sprachkönnen hat Vorrang vor Sprachwissen) pragmatisch-utilitaristisches Lernerbild: C der Lerner soll die Fremdsprache in lebensnahen Situationen anwenden können C der Lerner soll die Fremdsprache wie eine Muttersprache lernen C der Lerner darf Fehler machen audiolinguale Methode Erwerb von gesprochener Sprache (Fertigkeiten: Hören, Sprechen) durch pattern drills und damit mündliche Interaktionsfähigkeit, Steuerbarkeit von Lernprozessen und Lernern instruktionsbetontes und konsumorientiertes Lernerbild: C der Lerner ist steuerbar und reagiert nur auf Stimuli C der Lerner wird zu westlichen demokratischen Werten umerzogen C der Lerner soll seine Fremdsprachenkenntnisse pragmatisch anwenden kommunikative Didaktik Erwerb von kommunikativer Kompetenz und Handlungskompetenz in der Fremdsprache (ohne dogmatische Nutzung eines bestimmten Methodenrepertoires) durch das Schaffen von Kommunikationsanlässen mithilfe von Alltags- und Gebrauchstexten individuelles Lernerbild: C der Fremdsprachenunterricht trägt zur Entwicklung von Unabhängigkeit, Mündigkeit und Selbstständigkeit des Lerners bei (politische Bildung durch Fremdsprachenunterricht) 128 Claus Gnutzmann, Nadine Salden Sprachvermittlungsmethode/ Unterrichtskonzeption Ziele der Sprachvermittlungsmethode/ Unterrichtskonzeption Lernerbild 39 (2010) C die individuellen Bedürfnisse und Interessen für das Fremdsprachenlernen werden gesehen und es wird entsprechend mit unterschiedlichen Methoden und Inhalten auf sie reagiert C der Lerner gestaltet in diesem konstruktionsbetonten Ansatz seinen Lernprozess aktiv mit und übernimmt Verantwortung für sein Lernen C der Lerner soll seine Positionen in der Gesellschaft auf Grundlage der Fremdsprachenkenntnisse vertreten können autonomes Lernen die Zielsetzungen und Materialien sind denen der kommunikativen Didaktik ähnlich; hier etabliert sich eine noch stärkere Lernereinbindung in die Sprachlernprozesse Lernerbild ähnelt dem der kommunikativen Didaktik: C der Lerner gestaltet weitgehend seine Lernprozesse eigenverantwortlich und selbstbestimmt (Selbstbestimmung, Selbststeuerung und Individualisierung) C die Lehrenden sind „Helfer“ bei der Erreichung dieser Zielsetzung interkulturelle Didaktik die Zielsetzung kommunikative Kompetenz wird durch interkulturelle Kompetenz ergänzt, die durch die Simulation von interkulturellen Begegnungssituationen entwickelt werden soll Lernerbild ähnelt dem der kommunikativen Didaktik: C Lerner als potentieller Botschafter seiner Kultur und als Mittler zwischen den Kulturen, wobei dieser in inter- und intrakulturellen Begegnungssituationen Umsichtigkeit und Toleranz demonstriert C Lerner profitiert vom anwendungsorientierten Fremdsprachenunterricht Lernerbilder in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 129 39 (2010) 4. Zusammenfassung Die Darstellung der wesentlichen schulrelevanten Sprachvermittlungsmethoden und Ansätze lässt deutlich werden, dass die Ziele des jeweiligen Fremdsprachenunterrichts von 1850 bis heute stark differierten und jeweils unterschiedliche Implikationen für das jeweilige Lernerbild hatten. Allerdings lassen sich auch wiederkehrende Muster, z. B. mit Blick auf die positive bzw. negative Einschätzung der Muttersprache und die Lernziele (bildungsorientiert und anwendungsorientiert), erkennen. Von den Schülern wurden im Laufe der Geschichte sehr unterschiedliche Qualitäten und Verhaltensweisen verlangt, die mit den angenommenen Zukunftsperspektiven der Lerner verbunden waren und die nicht aus dem jeweiligen historischen, soziokulturellen sowie bildungs- und sprachpolitischen Kontext herauszulösen sind. Die Pendelbewegung zwischen einem eher bildungs- und einem stärker gebrauchsorientierten Fremdsprachenunterricht („Macbeth vs. McDonald’s“) korreliert mit den Vorstellungen des jeweiligen Lernerbildes. So kann festgestellt werden, dass sich das Lernerbild von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute von einem humanistischen Lernerbild über ein pragmatisch-utilitaristisches Lernerbild und einem instruktionsbetont-konsumorientierten Lernerbild zu einem individuellen Lernerbild entwickelt hat. Die Individualität der Lernenden erkennend, setzt die moderne Fremdsprachendidaktik auf ein funktional orientiertes Lernerbild, das den Lerner als zukünftigen gesellschaftlichen ‚Player‘ und Gestalter in der globalisierten Gesellschaft sieht. Hierbei verschränken sich die Lernziele der kommunikativen Didaktik, des autonomen Lernens und der interkulturellen Didaktik, um die Lerner mit Kompetenzen auszustatten, die eine internationale Partizipation in unterschiedlichen Zusammenhängen ermöglichen. Folglich lässt sich zusammenfassen, dass das Lernerbild besonders ab den 1970er Jahren eine Progression erfahren hat vom Lerner als international bewandertem Anwender der Fremdsprache hin zu einem Lerner, der seinen Lernprozess selbst gestaltet, als Botschafter zwischen den Kulturen fungiert und auf ‚internationalem Parkett‘ neben fremdsprachlichen auch interkulturelle Kompetenzen demonstrieren soll. Literatur A PELT , Walter (1991): Lehren und Lernen fremder Sprachen. Berlin: Volk und Wissen Verlag. B AUSCH , Karl-Richard (1993): „Zur Frage der Tauglichkeit von ‚Steuerung‘ und ‚Offenheit‘ für den eigenständigen Wirklichkeitsbereich ‚Lehren und Lernen‘ von Fremdsprachen“. In: B AUSCH / C HRIST / K RUMM (Hrsg.), 7-17. B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (1993): Fremdsprachenlehr- und -lernprozesse im Spannungsfeld von Steuerung und Offenheit. Arbeitspapiere der 13. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Bochum: Brockmeyer. 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Its essence is the notion of ‘intercomprehension’, which implies the competence to understand a foreign language without having acquired it under natural conditions or by having learned it formally. Intercomprehension takes place when the individual exploits relevant knowledge to identify structures and functions of the target language. The concept of intercomprehension has become popular in recent theories about learning which underline the importance of previous knowledge for the successful acquisition of a foreign language. Although the concept is relatively new, its origins go back to the beginnings of the teaching and learning of modern European languages. The paper attempts to trace a tradition that has been more or less ignored in the historiography of language teaching and learning. 1. Einleitung Die etwas grobflächige Leitfrage, ob eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram existierte, verlangt vorab die Fixierung dessen, was im Wesentlichen diese Didaktik ausmacht und welches die Kriterien sind, die den Blick in die Vergangenheit leiten. Der inzwischen zum Hochwertwort der Fremdsprachendidaktik avancierte Begriff Mehrsprachigkeitsdidaktik (didactics of plurilingualism, didactique du plurilinguisme…) und seine zahlreichen Nachbarbegriffe - integrierte Didaktik, kohäsive Didaktik, Interkomprehensionsdidaktik, lebensweltliche Mehrsprachigkeit, Common Curriculum, classes bilangues, auch ‚echte‘ Mehrsprachigkeitsdidaktik (sic) und weitere (M EI ß NER 2005) - ist ein Orientierungsbegriff der europäischen Sprachenpolitik (L UTJEHARMS 2007). In seinem Kern steht der Wunsch, den Erwerb der Mehrsprachigkeit durch Nutzung von in interlingualen ‚Ähnlichkeiten‘ materialisierten Synergiepotenzialen zu erleichtern. Solche Ansätze verstehen den Erwerb von Mehrsprachigkeit weniger als das Produkt einzelner zu erlernender Sprachen, d.h. additiv, als vielmehr integrativ, in pädagogisch abgestimmter und damit konkret förderbarer Weise. Hier hinter steht die Einsicht, dass der Aufbau Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 133 39 (2010) individueller Mehrsprachigkeit oder Plurilingualismus plan- und steuerbar ist - im Gegensatz zur gesellschaftlichen Vielsprachigkeit oder zum Multilingualismus z.B. als Ergebnis von Migration. Die Komplementärbegriffe Mehr- und Vielsprachigkeit haben zahlreiche gemeinsame Schnittmengen. Die Nutzung von Synergien beim Erwerb mehrerer Sprachen ist lernerseitig im lernrelevanten Vorwissen begründet. Dies betrifft sowohl den lernerbiographisch günstigen Aufbau solchen Wissens - Stichwort Sprachenfolge - als auch seine Beachtung durch die didaktische Steuerung. Schon dies verortet den Ansatz fünfpolig, und zwar zwischen den Faktoren Lerner und seiner kognitiven - d.h. wissensbezogenen, attitudinalen und volitionalen - Dimension, den diesem bereits mental verfügbaren Sprachen und den Zielsprachen, den Lernzielprofilen und dem didaktisch-methodischen Ausbau. Dem Mehrsprachenansatz kommt zugute, dass der heute gültige Lernbegriff - bei aller Unterschiedlichkeit - Faktoren wie Vorwissen, Vernetzung des Lernstoffs, reflexives Lernen, aber auch die beim Lernen wirksamen individuellen Faktoren betont und stark auf die förderliche Rolle der Metakognition setzt. Im Kern der Mehrsprachigkeitsdidaktik und des Gedankens der Lernökonomie stehen Transferprozesse. Auch damit befindet sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik auf dem soliden Boden mehrerer Wissenschaften; hierunter die Deskriptive Linguistik, die Kognitionswissenschaften und die Sprachlehr- und -lernforschung. Von den spezifischen Forschungszugriffen dieser Disziplinen profitiert sie in unterschiedlicher Weise. Dies betrifft die linguistische, aber auch didaktisch-empirische Beschreibung interlingual transferabler und nicht-transferabler Wissensschemata zwischen Sprachen, wie sie bei unterschiedlichen Lernerpopulationen empirisch nachweisbar vorzufinden sind, sowie die Beschreibung der für das Lehren und Lernen, die Lehrenden und Lernenden des Mehrsprachenansatzes relevanten Faktoren. Wer also die historischen Vorläufer der heutigen Mehrsprachigkeitsdidaktik aufspüren will, wird unter semasiologischen und onomasiologischen Aspekten nach folgenden Kriterien suchen müssen, die den Kern dieses Ansatzes ausmachen: 1. Mehr als eine einzelne Sprache in den Blick nehmen; gemeint ist die Orientierung an Mehrsprachigkeit in Verbindung mit einer pädagogischen Absicht bei gleichzeitiger Berücksichtigung einer und/ oder mehrerer Ausgangssprachen. 2. Der Wunsch, lernökonomische Effekte dadurch zu erzielen, dass Sprachen nebeneinander gehalten und miteinander verglichen werden. Der komparatistische Aspekt schließt immer das schon vorhandene Wissen, das dem Lerner die ihm schon bekannten Sprachen und die Erfahrung mit Sprachen liefern, ein. 3. Der deutliche Wunsch nach einer Methodik, die synergetische Effekte zu Gunsten des Mehrsprachenerwerbs erleichtert. Im Kern dieses Gedankens begegnen inhaltlich die Begriffe von Inferenz und Transfer bzw. das von ihnen Bezeichnete. 4. Die Sensibilität für eine Optimierung des Sprachenlernens. 134 Franz-Joseph Meißner 1 Beachtenswert ist für die Fremdsprachendidaktik, dass „das (Hoch-)Deutsche in den Niederlanden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh.“ (G LÜCK 2002: 29), also lange nach der Beschreibung des Niederländischen als 39 (2010) 2. Apropos Quellen: Lernberichte, Lehrwerke, Grammatiken und Mehrsprachenglossare im Spannungsfeld von Varietäten und Sprachen Der Blick in die Vergangenheit verlangt ein Wort zu den schriftlichen Quellen und zu der sie einbettenden geschichtlichen Situation. Wie in historischen Arbeiten zu den Fremdsprachendidaktiken üblich, spielen auch für die vorliegende Fragestellung die Lern- und Lehrmaterialien - historische Wörterbücher, Grammatiken, Sprachlehrwerke - eine herausragende Rolle. Es ist daran zu erinnern, dass frz. manuel und grammaire und deren Serien (sp. gramática, manual, it. grammatica, manuale usw.) über Jahrhunderte hinweg Synonyme waren. Neben den Lehrwerken signalisieren mehrsprachige Wortlisten ein Interesse am Lernen und Lehren ‚mehrerer‘ Sprachen (H ÜLLEN 1989). An der Seite dieser Materialien stehen zeitgenössische Berichte über das Sprachenlernen. Zu all diesen Quellenkreisen sind (mir) nur ganz wenige Studien aus mehrsprachigkeitsdidaktischer Sicht bekannt. Der Begriff Fremdsprachenunterricht unterstellt stillschweigend, dass der zu erlernenden linguistischen Varietät überhaupt der Status einer ‚Sprache‘ zuerkannt wird. Schon dies verbindet die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts der Volkssprachen mit ihrer Benennung und Normierung. In De vulgari eloquentia (vor 1305) unterscheidet Dante die romanischen Varietäten - viel zu grob - nach dem Bejahungspartikel in die si-, oc- und oil-Sprachen. Zur Frage der Benennung erläutert M IGLIORINI (1978: 266) mit Blick auf das 15. Jahrhundert: „Quanto al nome della lingua, ancora si adoperano promiscuamente e quasi indifferentemente i termini di volgare, fiorentino, toscano, italiano: non sono ancora nate le dispute a chiarire le differenze (o, piuttosto, a invelenire la questione senza chiarirle)“. Wie unsicher der Status Sprache war, beobachtet auch G LÜCK (2002: 29): Der Autor der ersten Grammatik des Niederländischen, von Twe-spraak van Nederduitsche letterkunst (1584), sieht „den Zusammenhang seiner Muttersprache mit dem Dänischen, Friesischen und Englischen und nennt sie zusammenfassend verscheyden Duytsche spraak“. Dergleichen Zeugnisse begegnen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein: Matthias Kramer berichtet 1716, dass Sprecher des Niederdeutschen und des Hochdeutschen einander nicht ohne weiteres verstanden, und der Abbé Grégoire bilanziert in den Jahren der Französischen Revolution, dass von den über 25 Millionen citoyennes et citoyens nur drei Millionen des republikanischen Idioms wirklich mächtig waren und weitere 12 es mehr oder weniger radebrechten (B ALIBAR / L APORTE 1976). Im Kontext von Interkomprehension ist also zu resümieren, dass über viele Jahrhunderte hinweg weniger die innerhalb einer gewissen (engen) Bandbreite realisierte statistische Norm das Erlebnis der meisten Menschen mit der eigenen Sprache prägte als vielmehr deren zahlreiche, nicht unbedingt interkomprehensible Varietäten. Manches legt also die Vermutung nahe, dass eine Varietät erst einen Status als fremde ‚Sprache‘ erworben haben musste, ehe sie auch als Fremdsprache im institutionellen Zusammenhang gelehrt werden konnte 1 . Dies hat viel mit dem ‚Prestige‘ einer Sprache zu Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 135 einer eigenen Sprache, eingeführt wurde, während das Französische in den dortigen Schulen bereits im 16. Jh. unterrichtet wurde. 39 (2010) tun (G REIVE 2001) und führt zu den Ursprüngen der questione della lingua-Debatte. Als eine Voraussetzung für ihr hohes Ansehen galt die Fähigkeit einer Volkssprache, dass sich auch ‚sublime‘ Themen in ihr behandeln ließen. Zugleich begann die Emanzipation der Volkssprachen von dem lateinischen Gelehrtenadstrat. Schon angesichts der späten Kodifizierung unserer europäischen Sprachen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert leuchtet es ein, weshalb deren Unterricht methodisch in der Tradition des Lateinischen stehen musste, das ja über tausend Jahre als gelehrtes Adstrat und Vorbild fungierte. Seine Verwendung als lingua franca auch in den Lehrmaterialien sicherte, dass die Metasprache der beschriebenen Sprachen das Lateinische war, was das Werk einem breiten Publikum überall in Europa verständlich machte. Als vortreffliches Beispiel für den Einfluss der lateinischen Grammatiken gilt die Ars grammatica des Aelius Donatus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (S CHÖNBERGER 2008). Mag die Tatsache der Benennung der ersten ‚volkssprachlichen‘ Grammatik, des Donat (sic) Provençal des Hugo Faidit, aus dem 12. Jahrhundert, ebenso für sich sprechen wie die zahlreichen Auflagen der Ars grammatica in der frühen Neuzeit. Alle Grammatiken der Zeit ordnen den Stoff in der Weise, wie sie seit dem Aelius Donatus bekannt war, und zwar u.a. nach den partes orationis (Nomen, Pronomen, Verben, Adverben, Partizipien, Konjunktionen, Präpositionen, Interjektionen; zu denen sich im Falle der Volkssprachen Ausspracheregeln gesellen). Da der grammatikographisch-methodischen Filiation ebenso wenig wie dem folgenden Gedanken in diesem Beitrag weiter nachgegangen werden kann, sei zumindest noch der enge Bezug erwähnt, der sich zwischen den in den Grundzügen weitgehend ähnlichen Beschreibungsschemata der Alten Sprachen, der Allgemeinen Grammatik und den volkssprachlichen Grammatiken feststellen lässt. Für das Französische lässt sich eine Linie zeichnen, die von der Grammaire générale et raisonnée (1660) von Antoine Arnauld und Claude Lancelot, besser als Port Royal-Grammatik bekannt, zu den einschlägigen Werken von François-Séraphin Regnier-Desmarais (1705), Claude Buffier (1709), Pierre Restaut (1730), Gabriel Girard (1747) und Nicolas Bauzée (1771) verläuft, dessen Werk den aufschlussreichen Titel trägt Grammaire générale ou Exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage, pour servir des fondements à l’étude de toutes les langues. Die pädagogische Essenz der Allgemeinen Grammatik liegt in der Annahme begründet, dass deren Kenntnis das Verstehen der für ‚alle Sprachen‘ gültigen Prinzipien erleichtere. Im Falle der romanischen Interkomprehension erscheint eine solche Annahme durch die ungezählten Parallelitäten zwischen den romanischen Schwestersprachen besonders augenfällig … und verführerisch. Hieran sollte auch die Tatsache nichts ändern, dass Dieudonné Thiébault in seiner Grammaire philosophique ou la métaphysique, la logique, et la grammaire, réunies en un seul corps de doctrine (1802) den überhöhten Erwartungen an die grammaire générale mit guten Argumenten (ehe man eine Allgemeine Grammatik behauptet, müsse man alle Sprachen kennen) ein Ende setzte. Das Interesse an Mehrsprachigkeit und Lernökonomie war jedoch viel zu stark, um derlei 136 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) Bedenken aufzunehmen. Dies bezeugt ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts Samuel Barnards A polyglot grammar of the Hebrew, Chaldee, Syriac, Greek, Latin, English, French, Italian, Spanish and German languages, reduced to one common syntax and an uniform mode declension and conjugation as far as practicable, with notes explanatory of the idioms of each language; a succinct plan of their prosody and an extensive index. The whole intended to simplify the study of the languages (Philadelphia). Doch gehen wir noch einmal zurück zum Konnex von Lateinlernen, Allgemeiner Grammatik und Mehrsprachenlernen in das Jahr 1611. Damals erschien in Salamanca die für das Lateinlernen ausgelegte Ianua linguarum sive Modus maxime acommodatus, quo patefit aditus ad omnes linguas intelligendas des Jesuiten W. Bathes. S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992: 129) zitiert in diesem Zusammenhang aus einem Brief des Paters Hernando Vázquez de Guzmán an einen irischen Bruder: „Recibi el methodo breve para aprender lenguas […] he leydo las sentencias todas, y me parece la casa mas ingeniosa […] que jamas he visto a este proposito, fuera de ser un methodo para aprender cualquier lengua muy breve [...]“ 3. Mehrsprachenglossare vor 1750 im Überblick Dass die Volkssprachen vor allem aus Gründen ihrer praktischen Verwendbarkeit gelernt wurden, belegen die zahlreichen, in Umfang und Form sehr heterogenen, zumeist zu praktischen Zwecken verfassten und metalexikographisch schwer einzuordnenden Mehrsprachenglossare (H AENSCH 1991: 2910). Zu ihrem pädagogischen Gehalt bemerkt G LÜCK (2002: 413) mit Blick auf eine frühe Quelle: „In zwei Handschriften des vocabularius quadriidiomaticus [...] des […] Schulmeisters Dietrich Engelhus (um 1362-1434) […] vom Anfang des 15. Jh. wird die Möglichkeit erwogen, diesen Texttyp auch für aliud ydioma ut […] ungaricum, anglicum, bohemicum, jtalicum […] vorzusehen.“ Es ist im vorliegenden Rahmen nicht beabsichtigt, die Mehrsprachenglossare im Detail zu beleuchten. Aus fremdsprachenpädagogischer Sicht ist die ‚Anordnung‘ des Wortmaterials aufschlussreich. H ÜLLEN notiert (1997: 33): „Die enzyklopädische Ordnung selbst (des onomasiologischen Inventars) wurde zum didaktischen Prinzip. Während bei alphabetischen Glossaren immer nur die einzelne Gleichung zwischen dem lateinischen und dem nationalsprachlichen Ausdruck interessierte, war bei dem onomasiologischen die Anordnung insgesamt das Mittel des Sprachenlernens. Der in ihr gesehene ‚natürliche‘ Zusammenhang galt als Lernmethode“. Extrapoliert man diese Notiz mit Blick auf die Mehrsprachenförderung, so ist zu bemerken, dass die Machart der Mehrsprachenglossare auch mit dem Alter der Adressaten in Bezug stand: Wenn der Orbis sensualium pictus…/ Die sichtbare Welt. Aller vornehmsten Welt Dinge und Lebensverrichtungen Vorbildung und Benahmung (Nürnberg: Michaelis Endteri 1658) des Jan Amos Comenius, der im Übrigen für eine strenge Trennung der Sprachen im Unterricht plädierte, die Lemmata in kleinen mentalen Szenarien in Bildern und kurzen Texten (Kollokationen) veranschaulichte, so richtet sich dies an Kinder: Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 137 2 Vgl. zur Problematik der Erfassung von Referenzwerken Z ÖFGEN (1998: 298). 39 (2010) „agnus balat, das Schaf blöcket; cornix cornicatur, die Krähe krächzet,…“ (vgl. R EIN - FRIED 1992). Wurden allerdings anderssprachige Versionen desselben Werkes sukzessiv für den Erwerb weiterer Sprachen benutzt, so bedeutete dies einen eindeutigen Rückgriff auf das zuvor aufgebaute Vorwissen. Eine viersprachige Version des Orbis pictus (Latein, Deutsch, Italienisch, Französisch) erschien im Jahre 1666. Offensichtlich ist es für die didaktisch-historische Einstufung von Lehrmaterial auch wichtig zu wissen, wie dieses pädagogisch genutzt wurde. Die folgenden chronologischen, aus S TENGEL (1890) bzw. N IEDEREHE (1976), P UREN (1988), M INERVA / P ELLANDRA (1991), S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992), G ERMAIN (1993), C ARA - VOLAS (1994), B IERBACH (1997), L ÉPINETTE (2001) und G LÜCK (2002) kompilierten Auflistungen bezeugen das durchgehende Interesse an mehrsprachigen Glossaren und Grammatiken bis zum Jahre 1750. Beide Listen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 2 1502: Ambrosius Calepinus B ERGOMATES , Dictionarium latinarum et graeco pariter derivantium earumque [....]. (1555 Venetiis: Ioann. Gryphius). 1520: A NONYMUS , Vocabulario para aprender Franches, Espannol y Flaminco. (Antwerpen: Willem Vosterman). 1531: Franciscus G ARONUS , Quinque linguarum utilissimus vocabulista Latine, Tusche, Gallice, Hispane, et Alemanice valde necessarius. (Nurimbergae: F. Peypus). 1546: C ALEPINUS , Pentaglottos, hoc est quinque linguis, nemque Latina, Gaeca, Germanica, Flandrica & Gallica constans. (Antwerpiae). 1551: A NONYMUS , Vocabulario de quatro lenguas. Tudesco, francés, latino y español, muy provechoso para los que quisieren aprender estas lenguas. (Louvain). 1554: Noël B ERLAIMONT , Colloquia et dictionariolum septem linguarum. Belgicae, Anglicae, Teutonicae, Latinae Italicae, Hispanicae, Gallicae. (Liège: Henri Hus). 1555: Noël B ERLAIMONT : Vocabulaire (français, flamand, latin, espagnol). (Louvain: B. de Graves). 1572: C ALEPINUS , Dictionarium, quanta maxima fide et diligentia fieri potuit accurate emendatum, ac multis hinc inde locis auctum; in quo latinis dictionibus adiectae sunt graecae, gallicae, italicae et hispanicae; accesserunt insignes loquendi modi, lectiones, etymologiae ... (Antwerpen). 1572: C ALEPINUS , Dictionarium linguarum septem. Auch: Dictionarium septem linguarum iam demum accurata emendatione, atque infinitorum locorum augmentatione, collectis ex bonorum authorum monumentis, omnium vocum significationibus flosculis …; respondent antem latinis vocabulis, graece, italica, gallica, hispanica, germanica, belgica. 1589: A NONYMUS , Colloquila y diccionariolum linguarum Belgicae, Teutonicae, Latinae, Italicae, Hispanicae, Gallicae. (Bruxelles: Apud Henricum Houium). 1624: Isaac H ABRECHT , Janua linguarum quadrilinguis Latina, Germanica, Gallica, Hispanica. 1626: Angel de Z UMARÁN : Thesaurus linguarum, in quo facilis via Hispanicam, Gallicam, Italicam attingendi etiam per Latinam et Germanicam sternitur. (Ingolstadt) Verschiedene Auflagen. 1659: Philemon F ABRI , Dialogues en cinq langues, y compris le latin, revus et augmentés. 2. Auflage der 1656 in Amsterdam gedruckten Dialogues en quatre langues, français, espagnol, italien, allemand. 1666: Johann Amos C OMENIUS , Orbis sensualium pictus quadrilinguis, Hoc est, Omnium fundamentalium in mundo rerum, et in vita actionum, Pictura et Nomenclatura Germanica, Latina, Italica et Gallica; Cum Titulorum juxta, atque Vocabulorum Indice. (Noribergae: Endterus) (mehrfacher Nachdruck, u.a. 1777). 1741: C ALEPINUS , Septem linguarum Calepinus. Hoc est lexicon latinum, variarum linguarum interpretatione adjecta in usum Seminarii Patavini. 1762: Ignatius W EITENAUER , Hexagloton sive modus addiscendi intra brevissimum tempus linguas: gallicam, italicam, hispanicam, graecam, hebraicam, chaldaicam, anglicam, germanicam, belgicam, latinam, lusitanam et syricam. Usw. 138 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) Vieles bliebe zu den einzelnen Glossaren im Kontext der Interkomprehensionsmethode zu bemerken, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Kein Einzelfall ist, dass die Listen oft die Grenzen eines Glossars zum Lehrwerk hin überschreiten und lexikalische mit grammatikalischen Informationen vermengen. Symptomatisch ist die Beobachtung von S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992: 189) zum Hexagloton: „Weitenauer incorpora su propia teoría sobre cómo aprender una lengua. Y para ello se vale del método comparativo y de la traducción interlineal“. Elemente des Hexaglotons waren 1. Ein Grundschema für eine jede Sprache, 2. Ein Vokabularium (soweit es im Hexagloton benutzt wurde), 3. Formenlisten, 4. praktische Beispiele und 5. eine Beschreibung der Ausspracheregeln. 4. Lehrwerke und Grammatiken im Überblick Eine sprachenübergreifende Lernökonomie lässt sich hinter folgenden vor 1750 erschienenen Lehrwerkstiteln vermuten: 1558: Gabriel M EURIER , Coniugaisons, régles et instructions mout propres et necessairement requises pour ceux qui desirent apprendre français, italien, espagnol et flamen, dont la plus part est mise par manière d’interrogations et de reponses. 1560: Mario Alessandro D ’U RBINO , Il parangone della lingua toscana e castigliana. (Napoli: M. Cancer). 1586: Antonio DEL C ORRO : Reglas gramaticales para aprender la lengua española y francesa. (Oxford) 1589: Scipio L ENTULUS , Grammatica italica et gallica in Germanorum, Gallorum et Italorum gratiam latine acuratissime conscripta… huic nuper adjecata interpretatio Gallica tam nominum quam verborum, caeterumque particularum orationis autore Antonio Francisco Madio. 1590: Antonio DEL C ORRO : The Spanish Grammar with certeine Rules teaching both the Spanish and the French. By which they that haue some knowledge in the French tongue, may easier attaine to the Spanish, and likewise… (London: John Wolfe). 1590: John T HORIUS , The Spanish Grammar. With certain rules teaching both the Spanish and the French Tongues. By which they that have some knowledge of the French tongue, may the easier attain to the Spanish, and likewise they that have the Spanish, with more facilitie learne the French: and they that are acquainted with neither of them, learne either of both. 1614: Heinrich D OERGANG , Institutiones in linguam Gallicam, admodum faciles, quales antehac nunquam visae. Quibus omnes eius linguae difficultates ad viuum quàm luculentissime resecantur & dissoluuntur, adeò ut diligens ac generosus proprio eam Marte ex hic addiscere possit. Germanos inprimis qui eius linguae fragrant desiderio, explebunt gaudio & reliquis nationibus multum poterunt adferre fructus. (Colonia: mehrere Auflagen). 1625: Pietro D URANTE , La grammatica italiana per imparare la lingua francese / utilissima per tutti quelli, che saranno / studiosi di detta lingua (Roma: Franceso Corbelletti). 1626: Antoine F ABRE , Grammaire / pour apprendre / les langues / italiennes, francoise et espagnole (…) en la quelle se declairent amplement auec grand fa-/ clitè & propiertè les parties de l’oraison, en Francois, Italien & Espagnol… (Venise: Pour les Guerigl Libraire). NA: 1627, 1637, 1646, 1655, 1656. 1636: Emericus C HAPPIN , Grammatica Trilinguis idiomati trino Italico, Gallico, Hispanico. (Monachi). 1637: Pierre B ENSE , Analogo-Diaphora seu concordantia descrepans et discrentia concordans trium linguarum Gallicae, Italicae et Hispanicae. (vgl. Sánchez Pérez 1993: 127). 1655: Giovanni Alessandro L ONG - CHAMPS & Lorenzo F RANCIOSINO , La novissima / grammatica / delle tre lingue / italiana, franzese / e spagnuola, cioè la franzese e l’italiana di Alessandro Longchamps, et la spagnuola di Lorenzo Franciosino (Venetia : Giunti). NA: 1664, 1667, 1668, 1669, 1673, 1681. 1666: Bartolomé Labrioso DE LA P UENTE , Paralelos de las tres lenguas. Castellana, Francesa y Italiana; dirigidos a los hijos de los señores y de toda la nobleza de España,… (Paris). 1673: Giovanni Alessandro L ONGCHAMPS , Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 139 39 (2010) Grammatica delle lingue italiana e francese con la spagnuola di Lorenzo Franciosini. 1674: Pierre B ESNIER , La réunion des langues ou l’art de les apprendre toutes par une seule. (Louvain/ Paris). (Ein Jahr später erscheint in Oxford eine englische Übersetzung). 1674: J. S MITH , Grammatica quadrilinguis, or: Brief instructions for the French, Italian and Spanish tongues. With the proverbs of each language, fitted for those who desire to perfect themselves therein. (London). 1675: Roberto P ARIS , Nuova / Grammatica / francese, e italiana / nella quale / sono contenute tutte le Rego/ le per imparare a ben leggere/ pronunciare, intendere, parla/ re, e scriuere la lingua France-/ se con molta facilità (Messina: Bisagni). Interessant erscheint der Hinweis: “Il francese si può imparare nello spazio di tre o quattro mesi” und die “lettura (…) in solo otto giorni grazie alle regole semplici di questo metodo“ (Messina: stamperi del Bisagni). NA: 1679, 1681. 1677: Michele B ERTI , L’art d’enseigner / la langue francoise / par le moyen de l’italienne / ou la langue italienne / par la francoise (Florence : A la Conduitte). NA: 1682, 1685, 1689. 1682: Jacques D U B OIS DE G OMICOURT , Nuova grammatica / francese, / spiegata in italiano (...) seconda edizione reuista, corretta e accresciuta dall’autore (...), (Roma: Crozier Librario vicino/ L’Orologia della Chiesa Nuova). NA: 1693. 1728: Josef Anton VON E HRENREICH & Louis P OITEVIN , Le parfait entonnoir des langues, ou la nouvelle grammaire théorique-pratique français - allemand - italien. (Ludwigsburg). Erwähnenswert erscheint, dass von Ehrenreich auch eine italienische Übersetzung des viel gelesenen Télémaque von Fénelon besorgte. 5. Kleinere Fallbeispiele zu einer historischen Mehrsprachigkeitsdidaktik: Scipio Lentulus, Heinrich Doergang, J. Smith, Pierre Besnier Aus der Fülle möglicher Belege für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik avant la lettre seien vier herausgegriffen, die zu unterschiedlichen Bereichen der sprachlichen Architektur und zu unterschiedlichen Sprachen den Wunsch nach Förderung der Mehrsprachigkeit bezeugen. Vorab ist zu erwähnen, dass das Nebeneinanderhalten von vergleichbaren Sprachformen dem pädagogischen Prinzip des auch von E HRENREICH vertretenen difficilis per praecepta via, facilis per exempla entspricht. Zweifellos ist es gerade zwischen Sprachen, deren Formen einander stark ähneln, von besonderer Wirksamkeit. Scipio L ENTULUS (a.a.O.: 13) liefert zahlreiche Beispiele hierfür. Wir greifen das Thema Deklination des Italienischen heraus, das er in den Vergleichssprachen Italienisch, Französisch und Latein präsentiert. No. Sing. Egli, ei, e, quéllo, coluí il, luy is, ille Genit. de lui, colúi, quéllo de luy cuius, illius Dati. a lúi, colúi, quéllo à luy ei, illi Acc. lúi, colúi, quéllo luy eum, illum Ablat. da lúi, colúi, quéllo de luy eo, illo Auch in Heinrich D OERGANG s Institutiones in linguam hispanicam… (1664: 60) ist das explizite interlinguale Vergleichen eine Strategie des Erwerbs. Ein Beispiel hierzu aus dem Bereich der Morphemik: „Latina in ensis, & Italica in ese, Hispanicè terminantur in 140 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) és, ut: Boloniensis, Boloniese, Boliniés, Coloniensis, Coloniese, Coloniés…“ Oder: „Ablativi in ctione & tione mutant ct & t in c, […] ut: Lectione, lecion, actione, acion, corruptione, corrupcion…“ (ebd.) Auch Doergang bietet zahlreiche Belege für sprachenübergreifendes Vergleichen (hierzu G REIVE 1996). Bei J. Smith geht es 1664 in der Grammatica Quadrilinguis. Or Brief Instructions for the French, Italian, Spanish and English Tongues… um die - modern gesprochen - Fehlerprophylaxe in Richtung Spanisch nach Französisch und Italienisch für englischsprachige Lerner: „Cúyo, cúya is both, an Interrogative, and Relative, it makes cúyos, cúyas in the Plural Number, and signifies whose, of whom, whereof, of which. It alwayes agrees with the thing possessed, contrary to the French, which regards the possessor“ (1664: 155). Wie P AUCHARD (2004) notiert, entwickelte der schon erwähnte Pierre Besnier mit La réunion des langues ou l’art de les apprendre toutes par une seule (1774) eine Methodik zum integrativen Erlernen fremder romanischer Sprachen. Dem Titel nach fördert die Methode zwar die (Inter)Komprehension, weniger dagegen die produktive Fähigkeit. Bereits im Jahr darauf erscheint in Oxford eine englische Übersetzung: A Philosophicall Essay for the Reunion of the Languages, or the Art of Knowing all by the Mastery of one (Oxford by Hen Hall for James Good 1975). Auch Besnier, der Ménages Dictionnaire étymologique de la langue françoise (1750) die Abhandlung Sur la Science de l’Etymologie beigefügt hat, nennt interlingual-phonologische Korrespondenzregeln (CADERE, cadere, caer, pikardisch kêr/ câr, choir). Auch er kennt - avant la lettre - so etwas wie den interlingualen Transfer (der ja immer auch einen Lern- oder Erwerbstransfer beinhaltet). Als Voraussetzung für einen solchen nennt er zwei Bedingungen: die Verbreitung (universalité) des Phänomens - er grenzt hier allgemeine deutlich von idiolektalen Merkmalen ab - und seine Stabilität (certitude) in Abgrenzung zum in diachronischen und diatopischen Kategorien entgegentretenden Wandel. 6. Schlözer als Sprachensammler und Erfinder der ‚Wurzel-Methode‘ S CHRÖDER (1983: III, 88 ff) präsentiert in seiner Quellensammlung auch die Erfahrungen des Russlandreisenden und Publizisten August Ludwig von Schlözer (1802), der 1751 an der Universität Wittenberg ein Studium der Theologie aufnahm, das er bei dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis fortsetzte. Zur Vorbereitung einer Reise nach Palästina studierte er orientalische Sprachen, darunter Arabisch. In Schweden verbrachte er drei Jahre als Hauslehrer. Zwischen 1761 und 1770 war er in Russland tätig; u.a. als Adjunkt der Petersburger Akademie. Mit seinem Aufbruch nach Russland verband sich eine akute Sprachnot: „Meine erste Sorge war es nun, Russisch zu lernen“ (zit. bei S CHRÖDER : ebd.; dort auch die weiteren Bemerkungen zu von Schlözer). Von Schlözer war neben dem Deutschen vor allem des Altgriechischen und des Lateinischen, aber auch des Französischen mächtig; rezeptiv kannte er weit mehr Sprachen, darunter das Arabische. Für „das Russischlernen stand ihm Grönings russische Grammatik in schwedischer Sprache (Stockholm 1750…)“ zur Verfügung. Des Weiteren nutzte er einen cellarius, „wo alle Wörter unter ihren (freilich oft ser verfelten) Wurzeln mit der lateinischen Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 141 3 August Ludwig Schlözers öffentliches und Privatleben, von ihm selbst beschrieben. 1. Fragment: Aufenthalt im Dienste in Rußland, vom Jahre 1761-1765. Literarnachrichten von Rußland in jenen Jahren. Göttingen. 39 (2010) Bedeutung standen“. Seinen Aufträgen gemäß wählte Schlözer den Weg über das Übersetzen, was eine gewisse Transparenz der Zielsprache, die sich keineswegs auf den ersten Blick erweisen muss, voraussetzt. Er sicherte sich - modern gesprochen - die Verarbeitung eines erheblichen Inputs, indem er einen Folianten von 781 Bögen einfach abschrieb. Das von ihm gewählte Ensemble von Strategien belegt die äußerste Nähe seines procedere zur heutigen Interkomprehensionsmethode (S CHLÖZER 1802: 40) 3 : In der Verzweiflung fing ich (18. Januar 1762) an, das Opus wörtlich abzuschreiben, die radices mit gröberer Schrift, die derivata und composita kleiner und eingerückt. Ich setzte diese Fron fort, so oft ich von gescheiteren Arbeiten müde war, […] Die noch fehlenden 6 Buchstaben vollendete ich […] bis 26. Juli 1764 […]. Nun hatte ich ein zum Aufschlagen sehr bequemes Lexikon, 34 Alfabete in Folio auf 3 Alfabete in Quarto reduziert, mit breitem Rande; auf dem nun […] unablässig etymologische Bemerkungen, Verbesserungen, Ergänzungen, Vergleichungen und dergleichen eingetragen sind. […] Die russische Sprache kam mir schwerer vor als alle, die ich bis dahin gelernt hatte: dennoch hatte ich in kurzer Zeit ihre HauptSchwierigkeiten überwunden, - wol zu merken, nur um sie zu verstehen, nicht zu schreiben, und noch weniger, sie zu sprechen. Einen großen Vorteil gewährten mir hierbei überhaupt meine bisherigen SprachStudien. Ich hatte bis auf 15 Sprachen (falls ich Plattdeutsch und Chaldäisch besonders zählen darf) grammatisch traktieret. Nun, je mehr Sprachen man versteht, desto leichter lernt man neue hinzu: Ihre Eigenheiten fallen nicht mehr auf, man hat sie auch schon anderswo vorgefunden. Der Walache (Rumäne) hängt den Artikel dem Worte hinten an, das tut ja der Schwede auch: das Russische apud me est für ich habe ist das lateinische est mihi, das griechische, schwedische und russische Medium und das hebräische Hitpael hellen einander wechselweise auf, das w sprechen Briten und Araber auf gleiche Weise aus, das a des Japaners in dem Namen seiner HauptStadt Mako klingt völlig wie das russische ja, usw. „Die ersten 100000 sagt der Millionär, sind mir sauer geworden, mit den folgenden 900000 ging es leichter.“ Nächstdem kam mir auch mein Griechisch […] beim Russischen besonders, und zwar auf eine doppelte Art und Weise zustatten. 1. Es ist immer abschreckend, wenn man bei einer neuen Sprache erst ein neues ABC lernen muss. […] Aber nicht bloß zum Lesen, sondern auch 2. zum Verstehen half mir das Griechische. Alle russischen KirchenWörter, deren eine ungeheure Menge ist, sind griechisch, so wie die der übrigen Christenheit lateinisch sind […]. Das übrige verdanke ich einer SprachMethode, auf die ich, 15 Jahre alt, von selbst verfallen war, die mir aber nachher Hiller in Wittenberg und Gesner und am meisten Michaelis in Göttingen ausbildeten; einer lustigen Methode, die durch Denken weiter als durch Memorieren führt, und den, der Denkens fähig ist, des stupiden Fleißes überhebt. Junge Leser finden hier vielleicht etwas nicht allgemein Bekanntes, wenn ich sie ihnen beschreibe. a.) Seit meinem 11. Jahr an lernte ich Hebräisch und bekam darüber den Kopf voll mit Wurzel(Stamm-)Wörtern (radicibus). In der Folge fiel mir ein, dergleichen WörterGenealogien möchten wohl auch in anderen Sprachen erfindlich sein, und die dem Anschein nach verschiedensten Bedeutungen müßten einen VereinigungsPunct haben. So grübelte ich über alt und Eltern, trübe und betrüben, fünf und Finger, pecus und pecunia, pes und impedio … bei vielen erriet ich den VereinigungsPunct oder die GrundBedeutung und machte seitdem in allen Sprachen auf die radices Jagd. Hatte ich mir von einer neuen Sprache nur hundert radices bekanntgemacht, so kosteten mich 400 derivata (und noch weit mehr composita, siehe unten) wenig neue Mühe; 142 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) one aufzuschlagen erriet ich ihre Bedeutung oder behielt sie doch sehr leicht. - Nach dieser WurzelMethode griff ich nun auch das Russische an. Und da sonst, neue radices zu behalten, eine lästige MemorienSache ist; so war ich selbst hier dieser Mühe durch meine Bekanntschaft mit anderen Sprachen beinahe enthoben. Ich fand nämlich sehr früh, dass unter 10 russischen (oder slavonischen) GrundWörtern zuverlässig immer 9 waren, die sich auch entweder im Deutschen oder Lateinischen oder Griechischen oder wohl gar in allen drei Sprachen zugleich fanden und deren ursprüngliche Identität nach sicheren Regeln ohne kindisch-gewaltsames Etymologisieren, bewiesen werden konnte. […] Das Ende meiner WurzelMethode […] war nach ein paar Jahren, daß, als mir die meisten russischen radices geläufig waren, mir nun alle slawischen Dialekte, Böhmisch, Kroatisch, Lausitzisch usw. offen standen. Die GrundWörter sind in allen einerlei, die Abweichungen in den Flexionen kosteten ein vierwöchiges Studium der Grammatik: also, nachdem ich das Russische überwunden hatte, fand ich, daß ich zugleich 4, 5 anderen Sprachen verstände, oder sie in 4 Wochen verstehen könnte. Aus Gründen des begrenzten Platzes können von Schlözers recht deutliche Ausführungen hier nicht eingehend kommentiert werden. Schlözers Versuch, das Vorwissen für die Identifikation und die Memorierung ‚neuer‘ Strukturen aus ‚neuen‘ Sprachen zu nutzen, betrifft alle Bereiche der sprachlichen Architektur, auch die Morphologie und Flektionen. Schlözers ‚Sprachen-Portfolio‘ umgreift alle eingangs genannten Kriterien für die Identifikation der Interkomprehensionsmethode, insbesondere auch den gezielten Einsatz von metakognitiven Strategien auf verschiedenen Ebenen: das Lernmanagement („so oft ich von gescheiteren Arbeiten müde war“; er sucht sich geeignete Materialien; organisiert das persönliche Kontaktlernen), das Memorisieren (systematische Umwälzung und Wiederholung des Vokabulars durch Erstellung einer strukturierten Wortliste; Sammeln von grammatischen Fragen zur Disambiguierung seiner Sprachhypothesen - im Kern begegnen hier die Hypothesengrammatik und der Didaktische Mehrsprachenmonitor [M EI ß NER 2007]), die Überprüfung des Lernerfolgs und die Strategien zur Erhöhung der Selbstmotivation (Selbstwirksamkeit „in 4 Wochen weitere slawische Sprachen verstehen“ können), die Nutzung von social support (den er bei Müller in Petersburg breit einfordert) usw. Wie andere Zeitgenossen erkennt und nutzt Schlözer Phänomene, die seine Zeit noch nicht auf den Begriff gebracht hatte. Ein augenfälliges Beispiel dafür liefert das Wort „Vereinigungspunct“ von zwei Phänomenen aus unterschiedlichen Sprachen. Das tertium comparationis begegnet in heutiger Terminologie in den Etiketten Transfer, Transferbasis, Transferauslöser und Transferkontrolle. Ebenfalls spricht es für Schlözers didaktische Einsicht, wenn er die Grenzen der „Wurzel-Methode“ erkennt: Sie führt im ersten Schritt dazu, „zu verstehen, nicht zu schreiben, und noch weniger, sie zu sprechen“. Soweit in aller Kürze das vielleicht Auffälligste. 7. Ergebnis An zahlreichen historischen Referenzen konnte die Existenz einer Didaktik der Mehrsprachigkeit ante litteram im eingangs beschriebenen Sinne nachgewiesen werden. Wie jede Methodik war diese von den Bedingungen der jeweiligen Zeit geprägt. Hierzu zählte Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 143 4 Die historischen Titel werden innerhalb des Aufsatzes genannt und aus Gründen des begrenzten Platzes hier nicht erneut aufgeführt. 39 (2010) auch der Entwicklungstand der Bezugswissenschaften. Den zahlreichen Autoren von Mehrsprachenglossaren und auf Sprachenvergleich beruhenden Lehrwerken ging es immer darum, das plurilinguale Vorwissen der Lerner für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzen. Da die Autoren selbst Sprachenkundige waren, verwerteten sie ihre eigenen Erfahrungen - Sprachen- und Sprachlernbewusstheit - für die entwickelten Materialien. Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse aber auch die hier offen gebliebenen Fragen. Dies signalisiert, dass die historische Sprachlehre auch unter solchen Gesichtspunkten neu zu beleuchten ist, die erst die heutige Didaktik der Mehrsprachigkeit entwickelt hat. Literatur 4 B ALIBAR , Renée / L APORTE , Dominique (1976): Le français national. Politique et pratique de la langue sous la Révolution. Paris: Hachette. 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(Zugriff: 22.01.2010) Z ÖFGEN , Ekkehard (1998): „Frühe Auffassungen über das Lehren und Lernen von (fremden) Sprachen: Einige Anmerkungen zum ersten Teil einer histoire de la didactique des langues“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 9.2, 291-303. * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Sabine D OFF , Universität Bremen, FB 10 - Fremdsprachendidaktik Englisch, Postfach 330440, 28334 B REMEN E-Mail: doff@uni-bremen.de Arbeitsbereiche: Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Methodik des Englischunterrichts, Inter-/ Transkulturelles Lernen, Englisch als Arbeitssprache 1 Die Fremdsprachendidaktik wird hier nicht als Fachdidaktik oder ein Konglomerat mehrerer Fachdidaktiken verstanden, sondern als eine Ebene zwischen den Fachdidaktiken der einzelnen Fremdsprachen, „bezogen auf gemeinsame Zielsetzungen […], Inhalte und Methoden einer Gruppe von benachbarten Fächern“ (S CHRÖDER 1977: 42). Zur Entwicklung der Fremdsprachendidaktik im 20. Jahrhundert vgl. D OFF / W EGNER (2006). 2 Bereits früh kam der Englischdidaktik Modellcharakter für andere Fachdidaktiken zu, was u.a. daran erkennbar ist, dass ein Heft der Zeitschrift Die Deutsche Schule 60 (4) im Jahr 1968 der Fachdidaktik Englisch gewidmet ist, in dem einerseits der besondere Status des Faches Englisch markiert, gleichzeitig jedoch hervorgehoben wird, dass die Ausführungen auch als „Beispiel für andere Fächer“ (R OTH / B LUMENTHAL 1968: 217) gelten können. Da Englisch den durch das Hamburger Abkommen (1964) gefestigten Status als wichtigste Schulfremdsprache ausbaute, kann die Entwicklung der Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren im Hinblick auf die hier diskutierten Aspekte insofern als beispielhaft gelten, als sie wohl in dieser Phase die am weitesten verbreitete und in ihrer Genese am weitesten fortgeschrittene fremdsprachendidaktische Disziplin war. 39 (2010) S ABINE D OFF * Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren: Stationen auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Disziplin Abstract. English Language Education (‘Englischdidaktik’) is a relatively young academic discipline in Germany. After the Second World War it gradually developed, particularly in West Germany, and reached a first peak in the 1960s, when a significant number of Teacher Training Colleges (‘Pädagogische Hochschulen’) were established. The following paper investigates in which ways the discipline matured in the following twenty years, focusing on the expansion that took place concerning new faculties, departments and institutes and, in particular, the topics and issues that were addressed. The analysis is primarily based on key texts that discuss the meta-level of the internal self-understanding of the discipline. It shows that both interdisciplinary orientation as well as the relationship between theory and practice were salient factors in the evolution of English Language Education during the crucial decades of the 1970s and 1980s. 1. Problemaufriss und Grundlagen Zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts gehört auch die Geschichte der Wissenschaften, die sich mit diesem Gegenstandsbereich befassen. Dies gilt insbesondere für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der mit der Einrichtung von Professuren für Fachdidaktiken der neuen Sprachen an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten die institutionelle Verankerung fremdsprachendidaktischer 1 akademischer Disziplinen in der Bundesrepublik Deutschland begann. Der folgende Beitrag zeichnet am Beispiel der Englischdidaktik 2 nach, wie sich das akademische Selbstverständnis einer jungen wissen- 146 Sabine Doff 3 Eine institutionalisierte Kooperation zwischen Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik begann mit den seit 1980 jährlich stattfindenden Frühjahrskonferenzen (B AUSCH [et al.] 1981; nachfolgend jährliche Tagungsbände) und setzte sich u.a. mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung 1989 fort, die die mit dem Lernen und Lehren von neuen (Fremd-)Sprachen befassten wissenschaftlichen Disziplinen unter einem Dach vereinigt. 39 (2010) schaftlichen Disziplin in zwei für deren Genese maßgeblichen Jahrzehnten entwickelte und analysiert, welche Faktoren dabei eine ausschlaggebende Rolle spielten. Dies geschieht in drei Schritten: Im folgenden Abschnitt (2) wird der Kontext der Entwicklung des akademischen Selbstverständnisses in den 1970er und 1980er Jahren dargestellt; konkret wird gezeigt, wie sich die Englischdidaktik im expandierenden Forschungsfeld „Lernen und Lehren von Fremdsprachen“ in Abgrenzung von den (neuen) Nachbarwissenschaften sowie institutionell positionierte und wie innerhalb dieser Disziplin das anwachsende Wissen auf verschiedenen Ebenen präsentiert, diskutiert und systematisiert wurde. Mit Beginn der 70er Jahre waren eine quantitative Expansion und qualitative Ausdifferenzierung erreicht, die dazu führten, dass sich die fremdsprachendidaktischen Disziplinen über ihr wissenschaftliches Selbstverständnis verständigten, was in Abschnitt 3.1 auf der Grundlage exemplarischer Texte gezeigt wird. Als zentrale Faktoren kristallisierten sich dabei der Theorie-Praxis-Bezug sowie die interdisziplinäre Einbettung heraus, die unter 3.2 genauer beleuchtet werden, bevor der Beitrag mit einem Fazit (Abschnitt 4) schließt. 2. Erweiterung und Ausdifferenzierung des Feldes „Lernen und Lehren von Fremdsprachen“ Zu Beginn der 70er Jahre begann sich das Feld „Lernen und Lehren von Fremdsprachen“ maßgeblich zu erweitern; diese Entwicklung setzte sich in den 80er Jahren fort. Dieser Prozess wird u.a. sichtbar an der Entstehung neuer benachbarter Disziplinen wie der Spracherwerbs- und der Sprachlehrforschung sowie am Ausbau und an der Professionalisierung der Englischdidaktik innerhalb dieses Feldes. Vereinfachend kann festgehalten werden, dass die Spracherwerbsforschung den Fokus auf Spracherwerb in einer natürlichen Umgebung legte, insbesondere auf wiederkehrende und allgemein gültige Muster bei diesen Prozessen (vgl. W ODE 1974 sowie F ELIX / H AHN 1985). Die Sprachlehrforschung richtete das Augenmerk besonders auf individuelle Spracherwerbsprozesse, vorzugsweise in (instruktionalen) Kontexten innerhalb und außerhalb der Schule und bezog insbesondere (lern-)psychologische Faktoren ein; empirischen Forschungsmethoden sowie induktiven Vorgehensweisen wurde dabei besondere Beachtung geschenkt (K OORDINIERUNGS - GREMIUM 1983). Es handelt sich hierbei um Schwerpunkte in den genannten Disziplinen, zwischen denen jedoch von Beginn an fließende Übergänge auch zu den Fachdidaktiken der neuen Sprachen bestanden. 3 Letztere unterscheiden sich von ersteren allerdings (bis heute) wesentlich dadurch, dass sie ihren Gegenstandsbereich sprachenspezifisch erfassen und die Fremdsprachenlehrerausbildung zu ihren Kernaufgaben zählen. Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren ... 147 39 (2010) In diesem erweiterten Bezugsrahmen musste die Englischdidaktik sich neu verorten, was im Zusammenhang mit in der ersten Hälfte der 70er Jahre anstehenden Studienreformen der (Englisch-)Lehrerausbildung geschah. Die Integration der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten bedeutete eine Anpassung von gymnasialer und nicht-gymnasialer Lehrerausbildung und legte ein Überdenken des Stellenwertes der Fachdidaktiken in Kooperation mit den Erziehungswissenschaften und den (anglistischen) Sachwissenschaften innerhalb dieser Studiengänge nahe. Für die Englischdidaktik bedeutete dies, dass sie ihren zentralen Stellenwert in einer inhaltlichen und methodischen Neukonzeption einer wissenschaftlich fundierten universitären Ausbildung von Englischlehrkräften für alle Schularten (unter dem Schlagwort „Anglistische Studienreform“ diskutiert, vgl. S TANDOP 1970) definieren musste. Die fremdsprachendidaktischen Disziplinen sahen ihre Hauptaufgaben dabei im Wesentlichen in den folgenden drei Bereichen: (1) Entwicklung bzw. Vervollkommnung einer Theorie des Fremdsprachenunterrichts in enger Kooperation mit der Praxis (M ÜLLER 1979: 133, 138-139), (2) „Relevanzfilterfunktion“ innerhalb der universitären Lehrerausbildung, d.h. Auswahl unterrichtsrelevanter Studieninhalte aus der anglistischen Lehre im Hinblick auf eine Stärkung der Berufsbezogenheit (B UTZ - KAMM 1975: 32-33) sowie (3) Reflexion der Anglistik auf sich selbst im Hinblick auf „Verwendungszusammenhänge der Anglistik“ (Schröder 1977: 41) unter den Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Relevanz und des individuellen Bildungsanspruchs. Weitgehend unumstritten war lediglich die erste Funktion; die beiden zuletzt genannten Aspekte führten schon früh zu kontroversen Diskussionen innerhalb der Anglistik und auch innerhalb des englischbzw. fremdsprachendidaktischen Fachdiskurses (u.a. B UTZ - KAMM 1975, H EUER 1979, J UNGBLUT 1974, M ÜLLER 1979). Ein in den 70er Jahren weithin akzeptierter Entwurf zielt auf die Integration der drei genannten Aufgaben und weist den fremdsprachendidaktischen Disziplinen folgende Funktion in der ersten Phase der Lehrerausbildung zu: Die Fremdsprachendidaktik übernimmt die Zusammenführung der Grund- oder Hilfswissenschaften zum Zweck der Lösung der berufsspezifischen Probleme. […] Sie sollte also eine Wissenschaft sein, die genügend nah an Fragen der Praxis orientiert ist, um eine Verbindung und gegenseitige Befruchtung von Wissenschaft und Praxis zu sichern (M ÜLLER 1975: 144-145). Auch wenn hier eine stark praxisorientierte Funktionalisierung erfolgt und der Stellenwert fremdsprachendidaktischer Theoriebildung außen vor bleibt, illustriert ein solches Modell doch ein klares Signal für die Eigenständigkeit der fremdsprachendidaktischen Disziplinen als Wissenschaften. Ein weiteres Signal hierfür ist die in dieser Phase zunehmende Aktivität auf der Ebene der Verbands- und Tagungsarbeit. Einerseits ist eine Ausdifferenzierung der einschlägigen Berufsverbände zu beobachten, die sich beispielsweise in der Schärfung des Profils des Fachverband Moderne Fremdsprachen (primäres Bezugsfeld: Schulen und Studienseminare aller Schulformen) und der Gründung der DGFF (primäres Bezugsfeld: Wissenschaft) niederschlägt. Verfolgt man die Entwicklung der in den 60er Jahren begonnenen Tagungen für „Fremdsprachendidaktiker“ - diese Bezeichnung führte erstmals die Neusser Tagung 1972 im Titel (vgl. H ÜLLEN 1973) -, so wird neben dem stetigen Anwachsen 148 Sabine Doff 4 Eine Förderung durch die DFG erfolgte erstmals bei der Tagung in Hannover 1981 (vgl. G NUTZMANN [et al.] 1982). 5 Ab Sommersemester 1984 wurden IDEA mit den bis einschließlich Sommersemester 1990 erscheinenden Informationen Englische Philologie - Anglistik und Amerikanistik verbunden. Im Wintersemester 1991/ 92 knüpften Gerd S TRATMANN und Joachim K ORNELIUS an diese Tradition an mit dem ersten Band des bis heute beim Wissenschaftlichen Verlag in Trier erscheinenden AREAS (Annual Report on English and American Studies). 39 (2010) der Teilnehmerzahl eine zunehmende Internationalisierung sowie eine deutliche Wissenschaftsorientierung deutlich 4 ; letztere wird durch das 1981 eingeführte Format der jährlichen Frühjahrskonferenzen unterstrichen. Mit der 1989 gegründeten DGFF erhielten die mit dem Lernen und Lehren von neuen (Fremd-)Sprachen befassten Wissenschaften schließlich eine offizielle Interessensvertretung, unter deren Trägerschaft fortan die Tagungen für Fremdsprachendidaktiker im zweijährigen Turnus durchgeführt und das wissenschaftliche Organ, die Zeitschrift für Fremdsprachenforschung, herausgegeben wurden. Ausweitung und Ausdifferenzierung spiegeln sich in dieser Phase außerdem noch auf einer dritten Ebene, nämlich der der Qualifikationsarbeiten und einschlägigen Publikationen zur Erfassung des anwachsenden fremdsprachendidaktischen Wissens, u.a. Fachbibliographien und Handbücher, mittels derer eine Systematisierung der Sprache und Terminologie der Fremdsprachendidaktik und des Fremdsprachenunterrichts ab Anfang der 70er Jahre einsetzte. In die späten 60er und frühen 70er Jahre fallen die ersten ganz oder in Auszügen publizierten Dissertationen in der Fremdsprachen-, d.h. häufig in der Englischdidaktik nach 1945 (vgl. S AUER 2006: 14-16). Während der 70er Jahre wuchs die Zahl der Promotionen in den mit dem Lernen und Lehren fremder Sprachen befassten Wissenschaften langsam aber stetig an, während sie sich in den 80er Jahren nahezu vervierfachte (Sauer 1988: 56, vgl. im Einzelnen S AUER 2006: 15-37). Zur Systematisierung des beständig anwachsenden fremdsprachendidaktischen Wissens leisteten Bibliographien (z.B. Bibliographie Moderne Fremdsprachenunterricht, gegründet 1969 von Reinhold F REUDENSTEIN oder die seit 1972 unter Federführung von Konrad Schröder und Thomas Finkenstaedt erscheinenden Informationen zur Didaktik des Englischunterrichts und der Anglistik, vgl. S CHRÖDER / F INKENSTAEDT 1972 ff) 5 ebenso einen Beitrag wie einschlägige Lexika und Nachschlagewerke. Einen bis dahin beispiellosen Versuch zur Systematisierung des Wissensbestands und der Terminologie dieser jungen wissenschaftlichen Disziplin stellt das 1977 von S CHRÖDER und F INKENSTAEDT herausgegebene Reallexikon der englischen Fachdidaktik dar, das einen großen Fortschritt gegenüber früheren Versuchen (E PPERT 1973, K ÖHRING / B EILHARZ 1973) markierte und auf das erst zwölf Jahre später mit dem Handbuch Fremdsprachenunterricht (B AUSCH [et al.] 1989) ein signifikant weiter entwickeltes Werk folgte. Vor dem Hintergrund der hier geschilderten quantitativen und qualitativen Veränderungen änderte sich auch das Selbstverständnis der Englischdidaktik während der 70er und 80er Jahre im Zuge der realistischen Wende und der u.a. daraus resultierenden Hinwendung zum Lerner: Zuvor war Wissenschaftsorientierung vielfach verstanden worden als Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren ... 149 6 Zur zunehmenden Bedeutung der historischen Dimension in diesem Entwicklungsabschnitt vgl. auch H ELLWIG (1988: 16): „Das Korrektiv der geschichtlichen Rückkoppelung setzte sich wohl auf der Grundlage der seit 1962 vorgelegten historischen Studien ab 1970 allmählich durch“. 7 So bildete dieses Thema z.B. den Schwerpunkt bei der 6. Arbeitstagung der Fremdsprachendidaktiker im Jahre 1974 in Freiburg (P ELZ 1974); weiterhin beschäftigte sich der Hauptvortrag der 8. Arbeitstagung der Fremdsprachendidaktiker an der Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund im Jahr 1978 von Richard Matthias M ÜLLER mit dem Wissenschaftsverständnis der Fremdsprachendidaktik. 39 (2010) Anwendung sachwissenschaftlicher, insbesondere linguistischer Theorien (T IMM 1989: 36 f). Nun rückten jedoch Lehr- und Lernprozesse selbst und damit die Theoriebildung in den Disziplinen, deren Gegenstand diese Prozesse mit Bezug auf das jeweilige Schulfach waren (also die Fachdidaktiken), in das Zentrum der Aufmerksamkeit: Fachdidaktik, die nicht zu eng gefasst wird, schließt den gesamten Lernprozeß ein: die Sache, die Lernziele, die hierarchische Sequentierung der Lerninhalte, die Lehrverfahren, den Entwicklungsstand des Lernenden, die unterschiedlichen Lerngruppen, die Lehrbücher, die Art der Leistungs- und Prüfungskontrollen usw. […]. Wir sind der Auffassung, daß die Fachdidaktik im Begriff ist, sich aus dem Stand einer Kunstlehre in eine durch Forschung und Lehre sich realisierende Wissenschaft zu verwandeln (R OTH / B LUMENTHAL 1968: 217; vgl. ähnlich M IHM 1972: 5). Der erläuterte Wandel hatte sich in den Erziehungswissenschaften Ende der 60er Jahre angedeutet und wurde in der Englischdidaktik im Laufe der 70er Jahre realisiert und implementiert (u.a. H EUER 1976, H ERMANN 1978 sowie R AUTENHAUS 1978). Dies machte sich mittels neuer inhaltlicher Konzepte ebenso bemerkbar wie in der Reform ihres Selbstverständnisses als wissenschaftliche Disziplin. Dabei spielte die Fachgeschichte eine wichtige Rolle: Der Weg zur Revision der neusprachlichen Didaktik führt nicht […] von den abstrakten Komplexionen der allgemeinen Didaktik zur Fachdidaktik, sondern über eine problemgeschichtliche Aufarbeitung der fachdidaktischen Diskussion, über eine systeminterne Ortsbestimmung, welche die - nur historisch zu erklärenden - Realitäten des Fremdsprachenunterrichts problematisiert [...] (M IHM 1972: 3 f). 6 Die Frage nach dem akademischen Selbstverständnis wurde Ende der 60er Jahre durch historische Studien (u.a. S AUER 1968) vertieft und während der 70er Jahre wiederholt aufgenommen 7 , wie im nächsten Kapitel anhand exemplarischer Texte aufgezeigt wird. 3. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im fachdidaktischen Diskurs Das wissenschaftliche Selbstverständnis der Englischdidaktik wird zu Beginn der 70er Jahre in einem wegweisenden Aufsatz von Richard Matthias Müller mit dem Thema „Dreizehn Thesen zur Fremdsprachendidaktik (Englisch) als Wissenschaft und ein Studienplan für Fremdsprachenlehrer“ (M ÜLLER 1972) thematisiert. Dieser Aufsatz bildet den Anfang einer von da an intensivierten Verständigung über das Thema (gezeigt an exemplarischen Texten in Abschnitt 3.1), dessen Verlagerung auf die Meta-Ebene einen 150 Sabine Doff 8 Vgl. die Debatte zur Krise der neusprachlichen Didaktik in Der Fremdsprachliche Unterricht 1975 mit Beiträgen u.a. von Petersen, Hartig, Schröder und Gutschow. Vgl. hierzu auch M ÜLLER (1975). 39 (2010) wichtigen Entwicklungsschritt auf dem Weg der Englischdidaktik zur Selbstständigkeit als wissenschaftliche Disziplin darstellt. In diesem Prozess kristallisierten sich als zentrale Faktoren das Theorie-Praxis-Verhältnis sowie die interdisziplinäre Einbettung heraus (vgl. dazu im Einzelnen Abschnitt 3.2). 3.1 Von der Krise zur Konsolidierung M ÜLLER (1972) nennt drei wesentliche Kennzeichen der Fremdsprachendidaktik Englisch (nachfolgend Englischdidaktik) als wissenschaftliche Disziplin: Zum einen ist es ihm zufolge eine praktische, an das gesellschaftlich-kulturelle Interesse am Erlernen von Englisch gebundene Wissenschaft. Ferner handelt es sich um eine technische sowie eine pädagogische Wissenschaft, die sich mit der Optimierung von Verfahren einerseits, mit Lehrerentscheidungen andererseits befasst. Die Entwicklung der Englischdidaktik ist in besonderer Weise in ein Netz von Nachbarwissenschaften (Linguistik, Psychologie, Angewandte Linguistik) eingebunden, zu denen ein komplexes, reziprokes Verhältnis besteht. Anders als diese Nachbarwissenschaften geht die Englischdidaktik jedoch „in ihrer Theoriebildung immer von der praktischen Aufgabe des Fremdsprachenlehrens aus und führt zu dieser Aufgabe zurück“ (M ÜLLER 1972: 208). Der Hauptgegenstand der Englischdidaktik ist der Englischunterricht; den Fachdidaktiken der neuen Sprachen kommt im Vergleich zu den Fachdidaktiken anderer Fächer eine besondere Bedeutung zu, da Medium, Gegenstand und Ziel des Unterrichts identisch sind. Dies erfordert eine besonders sorgfältige fachdidaktische Ausbildung im Lehramtsstudium, was wiederum eine besondere Funktion der Fachdidaktik im Rahmen des Lehramtsstudiums (vgl. Abschnitt 2) bedingt. Im selben Jahr, in dem Müllers Beitrag erschien, wurde die Krise der neusprachlichen Didaktik (M IHM 1972) ausgerufen. M IHM (1972: 3) warnt im Hinblick auf die „inneren Aspekte der Bildungsreform“ eindrücklich davor, in den neusprachlichen Didaktiken die Unterrichtswirklichkeit aus dem Blick zu verlieren, was sich zu einer Krise im Verhältnis der Lehre zur Forschung ausweiten würde. Er beklagt die immer größer werdende Kluft zwischen dem neusprachlichen Unterricht am Gymnasium und den Inhalten und Anforderungen der universitären Ausbildung zukünftiger Fremdsprachenlehrkräfte, was er auch durch die Öffnung des Englischunterrichts an anderen Schulformen und damit einhergehende Veränderungen in der Lehrerbildung bedingt sieht. Mihm plädiert statt der Deduzierung allgemein-didaktischer Modelle (z.B. bei A CHTENHAGEN 1969) für eine fachhistorisch aufgearbeitete, „systeminterne Ortsbestimmung“ (so der Untertitel seines Buches), die mit der von Müller ebenfalls angedeuteten Ausrichtung auf die so genannten Fachwissenschaften (bei Mihm die Literaturdidaktik, die moderne Linguistik und die Lernpsychologie) und in Anbindung an die Unterrichtspraxis erfolgen soll (M IHM 1972: 5). Die von Mihm aufgeworfene provokative These der Krise der neusprachlichen Didaktik entfachte eine angeregte Diskussion 8 , die erkennen ließ, dass einige Beteiligte - anders Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren ... 151 39 (2010) als Mihm - in der Öffnung gegenüber alten und neuen Schultypen sowie einer großen Bandbreite von Lernern durchaus neue Chancen für die Fremdsprachendidaktik sahen. Einen Schritt weiter als Mihm gingen Black und Butzkamm (B LACK / B UTZKAMM 1977: 158), denen zufolge die Krise der neusprachlichen Didaktik nicht nur auf das von Mihm erläuterte defizitäre Verhältnis von Lehre und Forschung bzw. Schulpraxis und Fremdsprachenlehrerausbildung zurückzuführen sei; sie weisen darauf hin, dass es sich vielmehr um eine „Krise der Forschung selbst“ handle, da „die fremdsprachendidaktische Forschung ihren Untersuchungsgegenstand noch nicht entdeckt hat“ (B LACK / B UTZKAMM 1977: 158). Abhilfe könne geschaffen werden, indem „die Fremdsprachendidaktik ihr empirisches Basismaterial in den konkret erfassbaren und erfahrbaren verbalen und nichtverbalen Interaktionen des fremdsprachlichen Lern- und Lehrgeschehens“ (B LACK / B UTZKAMM 1977: 158) sehe. Hier deutet sich die so genannte empirische Wende an, die in den Erziehungswissenschaften bereits im Gang war und die auch in den Fachdidaktiken zu einer intensiven Diskussion über dem Gegenstandsbereich angemessene Forschungsmethoden (vgl. 3.2) führte. Die in den 70er Jahren begonnene Debatte über das wissenschaftliche Selbstverständnis der Englischdidaktik spielte auch im Folgejahrzehnt im Sinne „normbildender Faktoren“ (H EIMANN 1962: 423) der Berliner Schule eine wichtige Rolle: Der Begriff Fachdidaktik bezeichnet die Theorie (Lehre, Wissenschaft) des Lehrens und Lernens eines Sachinhalts, eines bestimmten Wissens und Könnens. Unter „Didaktik des Englischen“ lassen sich dann alle theoretischen Bemühungen, Reflexionen und Forschungen zusammenfassen, die das Lehren und Lernen der englischen Sprache und der mit dieser Sprache verbundenen Kultur betreffen. Im Zentrum jeder Fachdidaktik stehen die Ziele und die Inhalte, die Methoden und die Unterrichtsmedien eines Faches. […] Doch auch das Nachdenken über die Bedingungen der Existenz eines Schulfaches, seine Legitimation im Bildungssystem, seine Funktionen im Fächerkanon einer Schulart oder Schulstufe, gehört zu den Aufgaben einer Fachdidaktik (S AUER 1979: 19). Die hier beschriebene „Legitimationsfrage“ (S AUER 1979: 19) im Kontext der „Ziel- und Normendiskussion“ (M ÜLLER 1979: 134) gewann im Laufe der 80er Jahre im Rahmen der fortgesetzten Curriculumdiskussion, der Reform der gymnasialen Oberstufe sowie der Herausbildung neuer Schul- und Hochschultypen, wie beispielsweise der Gesamtschule, für das Fach Englisch und damit für die Englischdidaktik an Bedeutung. Die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen, die diese Entwicklung dokumentieren, geht im Vergleich zu den 70er Jahren im Folgejahrzehnt jedoch deutlich zurück. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine gängige Sichtweise in den 70er Jahren die Englischdidaktik als das die verschiedenen Elemente der Lehrerausbildung verknüpfende Bindeglied zwischen Theorie und Praxis des Englischunterrichts funktionalisiert (ähnlich J UNGBLUT 1973: 66). Im Laufe der 70er Jahre gewinnt der Diskurs über das eigene Wissenschaftsverständnis an Bedeutung; es wird darin wiederholt angemahnt, dass eine Verständigung über Forschungsgegenstand und -methoden eine zentrale Voraussetzung für die Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin bilden, und dass der Dialog mit den an der Englischlehrerausbildung beteiligten Nachbardisziplinen dabei eine wichtige Rolle spielt (vgl. zu diesen Aspekten im Einzelnen Abschnitt 3.2). 152 Sabine Doff 39 (2010) Auch wenn es, wie die Beispiele ebenfalls zeigen, durchaus unterschiedliche Vorstellungen über das Wissenschaftsverständnis der Englischdidaktik gab, so war in der zweiten Hälfte der 70er Jahre klar, dass „nur eine als Wissenschaft ausgewiesene Disziplin Chancen hat, ihre Ansprüche glaubhaft zu machen und sich in der Öffentlichkeit durchzusetzen“ (G UTSCHOW 1977: 1). Auf der Grundlage der gegen Ende der 80er Jahre konzeptuell ausdifferenzierten und institutionell verankerten Englischdidaktik (vgl. H ÜLLEN / Z IMMERMANN 1990) kann in dieser Phase von einer Konsolidierung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses ausgegangen werden (vgl. D OFF 2008). Sichtbar wird dies u.a. in herausragenden Publikationen wie dem Handbuch Fremdsprachenunterricht (B AUSCH [et al.] 1989), das den Gegenstandsbereich Fremdsprachenunterricht systematisiert und umfassend sowohl in seiner wissenschaftlichen Grundlegung als auch in seinen praktischen Ausprägungen behandelt. Trotz dieser nach innen gefestigten Position hatten die fremdsprachendidaktischen Disziplinen gegen Ende der 80er Jahre nach außen mit Legitimationsfragen zu kämpfen: So sah etwa die Resolution des Philosophischen Hochschultages 1989 (zit. nach H ÜLLEN / Z IMMERMANN 1990) vor, dass die Aufgaben in der fremdsprachendidaktischen Lehre und Forschung auch durch wissenschaftliche Mitarbeiter auf „weiteren Stellen“ wahrgenommen werden könnten. Die DGFF argumentierte in einer öffentlichen Stellungnahme vehement dagegen, u.a. mit der Begründung, dass nur fremdsprachendidaktische Professuren (ausgestattet mit entsprechenden Stellen für die Nachwuchsförderung) den Gegenstandsbereich in voller Breite in Forschung und Lehre abdecken sowie Promotionen und Habilitationen betreuen können, was insbesondere „angesichts der nach 1992 zu erwartenden Entwicklungen in Europa“ (H ÜLLEN / Z IMMERMANN 1990) von Bedeutung sei. Am Ende der 80er Jahre war die Fremdsprachendidaktik dann zwar institutionell im universitären Fächerkanon fest verankert und durch die DGFF organisiert sowie öffentlichkeitswirksam vertreten, ihr Status als wissenschaftliche Disziplin war aber (wieder) umstritten. 3.2 Theorie-Praxis-Bezug und interdisziplinäre Einbettung Die beiden im vorangehenden Abschnitt identifizierten, für die Entwicklung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren maßgeblichen Faktoren waren eng miteinander verknüpft: Einerseits war man im Zuge der Tendenz der Verwissenschaftlichung (die A PPEL 2006 auf „Sehnsucht nach Wissenschaft“ zurückführt), um einen regen interdisziplinären Dialog mit einer wachsenden Anzahl von Nachbarwissenschaften bemüht. Aus der zunehmenden Wissenschaftsorientierung heraus bestand andererseits jedoch die Gefahr, die Unterrichtswirklichkeit aus dem Blick zu verlieren, was während der 70er und 80er Jahre wiederholt kritisiert wurde (u.a. B ACH 1973: 5 sowie S CHREY 1982: 206, 213-215). K LIPPEL (2005: 438) begründet diese Entwicklung u.a. mit den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Umständen: While the work in the 60s had been fuelled by the need to open up new practical fields for which teachers had to be prepared, the oversupply of teachers in the late 70s and 80s and the frustration Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren ... 153 39 (2010) experienced by those who trained teachers for unemployment, froze the impetus from the fields of practice. Research then sometimes became separated from the context which it was meant to serve (K LIPPEL 2005: 438). Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, gab es zahlreiche Appelle und Bemühungen, den Anwendungsbezug der Fremdsprachendidaktik, der in den 60er Jahren natürlicher Fokus gewesen war, nicht aus den Augen zu verlieren und die interdisziplinäre Ausrichtung auch und gerade unter diesem Aspekt nutzbar zu machen (K LIPPEL 2005: 435); insbesondere in den 70er Jahren erschienen hierzu eine Reihe wichtiger Publikationen (vgl. H ÜLLEN 1976: 148 ff). Es herrschte weitgehend Konsens dahingehend, dass sich die „Leistung einer anwendungsorientierten Wissenschaft […] nicht nur an der Exaktheit ihrer Befunde, sondern noch mehr an deren praktischer Relevanz“ (B UTZKAMM 1975: 41) bemisst. Gleichzeitig betonen zeitgenössische Standardwerke (u.a. B UTZKAMM 1973, 1975, P IEPHO 1974, 1979) - wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen - die Notwendigkeit fachdidaktischer Theoriebildung. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch in der Sicht auf das Theorie-Praxis-Verhältnis. Während die Theoriebildung bei Piepho der Praxis klar nachgeordnet ist, d.h. aus ihr entsteht, entwickelt Butzkamms Ansatz die Praxis aus der vielfältigen, auch eigenständigen fachdidaktischen Theorie und verleiht der Englischdidaktik als Wissenschaftsdisziplin damit ein ungleich größeres Gewicht (B UTZ - KAMM 1975: 36). Während der 70er und 80er Jahre gab es zahlreiche Bemühungen, die Praxisanbindung der Englischdidaktik zu gewährleisten; es wurde jedoch auch deutlich, dass es nicht Aufgabe der mittlerweile im Kanon der universitären Lehrerbildung eingebundenen Disziplin sein konnte, „funktionierende Rezepte“ für den Englischunterricht zu liefern. Vor diesem Trend wurde eindrücklich gewarnt, da er die Disziplin degradiere und auf Verfahrensaktionismus reduziere (vgl. H ELLWIG 1988: 4). Im Zusammenhang mit dieser Diskussion rückten bereits im Laufe der 70er Jahre Forschungsmethoden und Gegenstandsbereiche in den Mittelpunkt des fremdsprachendidaktischen Fachdiskurses (F LECHSIG 1971, H EUER 1976 sowie M INDT 1977). Dabei ist zu beobachten, dass einerseits in den 70er Jahren die Zahl empirischer Arbeiten in der Fremdsprachendidaktik, u.a. beeinflusst durch die empirische Wende und die Sprachlehrforschung, deutlich zunahm (K ROHN / D OYÉ 1982). Andererseits gab es früh Warnungen vor einer einseitigen empirischen Fixierung und die normbildende Funktion der Fachdidaktiken wurde hervorgehoben (J UNGBLUT 1973: 69). So bestätigte sich H EUER s (1979: 75) Prognose, dass „die empirische Methodologie zunehmend an Bedeutung“ gewinne, für die 80er Jahre in der Fremdsprachendidaktik nicht umfassend. H ELLWIG (1988: 42) führt dies u.a. zurück auf […] eine zu geringe Beachtung dieser Arbeiten in der fachlichen und außerfachlichen Öffentlichkeit, geschwundenes Vertrauen in Empirie und Statistik, die Schwierigkeit der exakten Faktorenisolierung in einem zu komplexen Variablenzusammenhang, der oft hohe und langwierige Forschungsaufwand, die Verknappung personeller und finanzieller Mittel, Datenschutzprobleme und Schwierigkeiten bei der Genehmigung solcher Forschung vor Ort, d.h. in der Schule. 154 Sabine Doff 39 (2010) In den 80er Jahren zeigte sich u.a. im Rahmen neuer literaturdidaktischer Ansätze (z.B. B REDELLA 1980) vielmehr eine Hinwendung zu hermeneutischen Verfahren und Analysen. Dieser Wandel hatte zeitlich etwas nach vorne versetzt auch in den Erziehungswissenschaften eingesetzt (vgl. H ELLWIG 1988: 42). Auf der Grundlage dieser Entwicklung kann in der Fremdsprachendidaktik in diesem Jahrzehnt von einem Pluralismus der Forschungsmethoden ausgegangen werden. Dieser war Gegenstand eines konstanten Fachdiskurses (u.a. B AUSCH [et al.] 1989: 383-444), aus dem eine Schärfung des kritischen Methodenbewusstseins resultierte. Dies war ein wichtiges Element im Dialog mit den Nachbarwissenschaften der Fremdsprachendidaktik, der während der 70er und 80er Jahre eine ungebrochen wichtige Rolle spielte. Dies ist beispielsweise an einschlägigen Publikation (u.a. D IGESER 1983, G UT - SCHOW 1977) sowie an den Themen diverser fremdsprachendidaktischer Fachtagungen erkennbar. Je nach Schwerpunkt der Autoren wurde in den 70er und 80er Jahren die Frage ganz unterschiedlich beantwortet, welches die wichtigsten Referenzwissenschaften für die Fremdsprachendidaktik seien; unumstritten ist dabei ausschließlich die Rolle der Linguistik (u.a. H ÜLLEN 1972). Eine kontroverse Auswahl traf beispielsweise D IGESER (1983), der neben der Linguistik lediglich die Lernpsychologie und die Psycholinguistik benannte; die Kritik an seinem Ansatz bezog sich hauptsächlich auf die Ausklammerung der Erziehungswissenschaften (vgl. K AHL 1985 sowie S AUER 1988: 63). Breiter wurde der Themenkomplex wiederholt auf den im zweijährigen Abstand abgehaltenen Treffen der Fremdsprachendidaktiker diskutiert, so beispielsweise bei der 9. Arbeitstagung 1981 in Hannover. In einer der Sektionen wurden dort Erziehungswissenschaft, Linguistik, Literaturwissenschaft und Landeskunde als wichtigste Bezugswissenschaften für die Fremdsprachendidaktik erörtert (G NUTZMANN [et al.] 1982). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die bis dato einzige fremdsprachendidaktische Sektion mit dem Titel „Didaktik“, die Helmut Heuer 1985 beim Anglistentag in Paderborn leitete. Er skizzierte im Tagungsbericht einen Status quo der zentralen Forschungsfelder der Englischdidaktik (H EUER 1985: 464 f), anhand derer neben Linguistik und Lernpsychologie auch Literaturdidaktik und Sprachlehrbzw. Spracherwerbsforschung als besonders relevante Nachbarwissenschaften hervortreten. In diesem Kontext ist ferner das 12. offizielle Treffen der Fremdsprachendidaktiker hervorzuheben, das 1987 erstmals unter der Bezeichnung „Kongress“ stattfand, und zwar mit dem Rahmenthema „Die Beziehung der Fachdidaktik zu ihren Referenzwissenschaften“. Daran ist ablesbar, welchen wichtigen Stellenwert der Themenkomplex auch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre im Fachdiskurs einnahm (vgl. D OYÉ / H EUERMANN / Z IMMER - MANN 1988 sowie H ELLWIG / K ECK 1988). Als bedeutsame Disziplinen, „die Areale des Fremdsprachenunterrichts bedenken“ (B AUSCH [et al.] 1989: 13-61) nennt das Handbuch Fremdsprachenunterricht am Ende der 80er Jahre neben der Angewandten Linguistik die Psychosowie die Soziolinguistik, außerdem die Erziehungswissenschaft, Lerntheorie und Lernpsychologie, Literaturwissenschaft sowie Kultur- und Landeswissenschaften. Die theoretische Grundlage der fremdsprachendidaktischen Disziplinen war jedoch viel mehr als nur die Summe wichtiger Erkenntnisse aus benachbarten Disziplinen. Eine der Hauptaufgaben der neusprachlichen Didaktik „als interdependente Instanz zwischen Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren ... 155 9 Eine gute fremdsprachendidaktische Theorie in diesem Verständnis ist S TERN (1983: 32) zufolge eine Theorie „[…] which will strive to provide a conceptual framework devised for identifying all factors relevant in the teaching of languages and the relationships between them and for giving effective direction to the practice of language teaching, supported by the necessary research and enquiry“. 39 (2010) Gesellschaft, Schule und Wissenschaft“ (J UNGBLUT 1974, vgl. ähnlich M IHM 1972 sowie H EUER 1979: 73) bestand nicht mehr in einer reinen Anwendung von Erkenntnissen aus den so genannten Fachwissenschaften, sondern in deren kritischer Reflexion, Auswahl, Vereinfachung und methodischer Umsetzung. In der fremdsprachendidaktischen Theoriebildung ging es nun darum, genuine Fragestellungen im Hinblick auf das Lernen und Lehren von Sprachen primär in instruktionalen Kontexten zu generieren, um diese dann in der Praxis zu implementieren und u.a. mithilfe wichtiger Erkenntnisse aus relevanten Referenzwissenschaften zu beantworten. Den idealen Abschluss dieses Prozesses bildet in einem Zirkelschluss der Rückbezug der gewonnenen Ergebnisse auf die Theoriebildung. 9 4. Fazit und Ausblick Die vorangegangenen Darstellungen machen deutlich, dass in den 70er Jahren die Grundlagen geschaffen wurden für ein differenziertes, wenn auch in Teilen kontroverses Wissenschaftsverständnis der Englischdidaktik, das auf einem tragfähigen theoretischen Fundament gegenüber den klassisch-neuphilologischen sowie den erziehungswissenschaftlichen Herleitungen basierte. Aus dieser Entwicklung resultierten eine erhöhte Eigenständigkeit und eine Stärkung als Wissenschaftsdisziplin. Davon ausgehend gliedert sich beispielsweise die englische Fachdidaktik laut einem repräsentativen Studienführer aus dem Jahr 1979 in die vier Teilgebiete Allgemeine Theorie des Englischunterrichts, Theorie des Curriculums, Methodenlehre (Fachmethodik) sowie Literatur- und Landeskundedidaktik (B ARTH / H ALFMANN 1979: 18 f). Wie die Ausführungen in Abschnitt 3 verdeutlichen, rückten zusätzlich zu diesen Kernbereichen im Laufe der 70er Jahre normbildende Funktionen der Englischdidaktik stärker in den Mittelpunkt der Diskussion; im Zusammenhang damit gewannen so genannte Legitimationsfragen sowie die Fachgeschichte an Bedeutung. Diese Ausführungen zeigen eine deutliche quantitative und qualitative Erweiterung von Gegenstand und Methoden der Englischdidaktik im Verlauf der 70er Jahre gegenüber den stark funktional ausgerichteten Müllerschen Thesen von 1972, die allerdings in vielen Teilen auf ihnen aufbaut. Zusammenfassend kann ferner gesagt werden, dass die bei M ÜLLER (1972) angelegte Funktionalität, primär die Rückkoppelung von Theorie und Praxis des Englischunterrichts, ein wichtiger Aspekt im Selbstverständnis der Englischdidaktik als angewandte Wissenschaftsdisziplin blieb. Die Weiterentwicklung im Laufe der 70er Jahre, nach Ansicht einiger Vertreter aus einer Krisensituation heraus, erfolgte u.a. durch eine Orientierung an neuen Sachwissenschaften auf der Grundlage eines Selbstverständnisses, das nicht mehr von einer bloßen Anwendung der Erkenntnisse aus 156 Sabine Doff 39 (2010) anderen Disziplinen ausging. Die Ausdifferenzierung des Forschungsgegenstandes der Fremdsprachendidaktik sowie die Erweiterung des forschungsmethodologischen Spektrums um empirische und hermeneutische Ansätze trugen in den 80er Jahren zum Pluralismus der Forschungsmethoden bei. Eine Fokusssierung auf die Empirie erfolgte - anders als in der Sprachlehrforschung - dabei nicht. In den 80er Jahren ist eine Konsolidierung der Ergebnisse der während des vorangegangenen Jahrzehnts intensiv geführten Diskussion erkennbar. Zu Beginn der 80er Jahre herrschte weitgehende Einigkeit über ein erweitertes Selbstverständnis der Fremdsprachendidaktik, das in einem Manifest beim 10. Kongress der Fremdsprachendidaktiker so formuliert wurde: Die Fremdsprachendidaktik ist eine wissenschaftliche Disziplin, die zentral das Lehren und Lernen von Fremdsprachen in ihrem sozio-kulturellen Kontext zum Gegenstand hat. Sie entwickelt und prüft Theorien über diesen Gegenstand. Ihr erkenntnisleitendes Interesse ist die ständige Verbesserung des Fremdsprachenunterrichts (A BSCHLUSSPLENUM 1985: 325). Als zukünftige Hauptaufgaben der Fremdsprachendidaktik am Ende der 80er Jahre galten - bei erheblich geschrumpften personellen und materiellen Ressourcen - nach wie vor die Lehrer(aus)bildung, daneben eine theoretisch begründete und reflektierte, zugleich aber praxisrelevante Forschung (unter dem Stichwort „fachdidaktische Transferfähigkeit“ diskutiert, vgl. H ELLWIG 1988: 48) sowie die Hinwendung zu neuen Zielgruppen „im Sinne einer breit angelegten adressaten- und anwendungsbezogenen Anglistik“ (H ELLWIG 1988: 48), die u.a. Literatur, Landeskunde, Massenmedien und Fachsprachen zu ihren Forschungsgegenständen zählt. Es war Ende der 80er Jahre klar, dass die Zukunft des Fremdsprachenunterrichts und der Fremdsprachendidaktik nur mit einer „effektive[n] fachwissenschaftliche[n] und erziehungswissenschaftliche[n] Bindung“ (H ELLWIG 1988: 48) erfolgreich gestaltet werden konnte. Die Englischdidaktik, nach wie vor ein wichtiges Zugpferd der Fremdsprachendidaktik, war aus den Debatten der 1970er und 1980er Jahre über ihr wissenschaftliches Selbstverständnis gestärkt hervorgegangen und konnte sich den durch die bis dato beispiellosen Veränderungen in Deutschland und Europa entstandenen Herausforderungen auf einer gefestigten Ausgangsbasis stellen. Literatur A BSCHLUSSPLENUM des 10. Kongresses der Fremdsprachendidaktiker (1985): „Manifest zur Fremdsprachendidaktik und ihrer gegenwärtigen Lage“. In: D ONNERSTAG , Jürgen / K NAPP -P OTHOFF , Annelie (Hrsg.): Kongressdokumentation der 10. Arbeitstagung der Fremdsprachendidaktiker. Tübingen: Narr, 325. A CHTENHAGEN , Frank ( 3 1973 [1969]): Didaktik des fremdsprachlichen Unterrichts. Grundlagen und Probleme einer Fachdidaktik. Weinheim [usw.]: Beltz. A PPEL , Joachim (2006): „Sehnsucht nach Wissenschaft: Linguistik und Fremdsprachendidaktik“. In: D OFF / W EGNER (Hrsg.), 9-17. 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After an in-depth analysis of why such myths originated and continue to exist, the focus of the paper shifts to the importance of empirical research and critical thinking in understanding how to deal with the problems arising from FLT myths. Such myths certainly exist; however, they need to be researched more thoroughly and objectively in order to ascertain whether they have ever had any basis in reality. 1. Einleitung Das Thema meines Beitrags könnte den Eindruck erwecken, als läge da ein Irrtum vor, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Mythen gelten als ein Wahrzeichen der Zentralschweiz und bezeichnen zwei Gebirgszüge, deren höchster bei etwas über 1800 Metern liegt. Die dürften mit Fremdsprachenforschung allenfalls insofern etwas zu tun haben, als die in dieser Region gesprochene Varietät sicher sprachlich eine Herausforderung darstellt. Vielleicht denkt der Leser bei „Mythos“ aber auch an Heldensagen; also im Grunde an tradierte und erfahrungsgeronnene Erzählungen, in denen die Gegenwart durch den Rekurs auf die Vergangenheit begründet und erleuchtet wird. Mythen haben die Menschen immer wieder beschäftigt. Insbesondere in der Romantik nehmen Versuche zu, durch Erzählungen Tradiertes in einem natürlichen Gegensatz zum wissenschaftlich Fundierten zu sehen. Was sich der Ratio entzieht und von ihr nicht zu fassen ist, wird durch die Irrationalität argumentativ salonfähig gemacht. Dies setzt allerdings voraus, dass sich größere Teile einer Gesellschaft dazu verstehen, auf diese Tradierungen zu rekurrieren. Dabei nimmt man konzeptuell durchaus in Kauf, dass durch Mythen nicht unbedingt Wahres transportiert wird, sondern dass es sich zu einem gewissen Anteil um Projektionen handelt, also um Zuschreibungen, die sich durch häufige und flächendeckende Wiederholungen verfestigen. Es verwundert von daher nicht, dass Mythen und Mythenbildung zum einen eher in die mit Glauben befassten Wissenschaften fallen sowie Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 161 1 Diese sowie die folgende Darstellung sind dem unveröffentlichten Beitrag von W OLF (2006) entnommen. 39 (2010) zum anderen in die Literaturwissenschaft oder die Soziologie. Ist also die Frage nach einer Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung damit falsch gestellt? Ich möchte auf diese Frage mit einem Beispiel antworten: Sicher „wissen“ wir, dass wir eingehende Informationen in Abhängigkeit von den Wegen speichern, auf denen wir uns mit diesen Informationen auseinandersetzen. In einem 2004 erschienenen Lese- und Sprachbuch (deutsch.ideen 5: S. 14) findet sich dazu unter der Überschrift „Sich leichter etwas merken“ die folgende Darstellung 1 : Und in einem ebenfalls 2004 erschienenen Biologiebuch (Biologie heute 2 aktuell: S. 270) sind dazu sogar noch Prozentzahlen aufgeführt: 162 Frank G. Königs 2 „Was du mir sagst, das vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“ (Konfuzius, http: / / www.zitate-online.de/ autor/ konfuzius, zuletzt eingesehen am 4.1.2010). 39 (2010) Diese Befunde kommen uns bekannt vor. Sie entsprechen wohl dem, was wir zu wissen meinen und was wir vielleicht auch aus unserer Erfahrung bestätigen können. Interessant ist nun, dass sich nirgendwo ein empirischer Beleg für diese Prozentzahlen findet. Nach ebenso intensiven wie vergeblichen Versuchen, die Quellen für derartige Angaben zu ermitteln, und unter Verweis auf ähnliche Erscheinungen in der amerikanischen Lernforschung zieht W OLF (2006: 12) den Schluss: „Da in der Pädagogik der Zweck nicht die Mittel heiligt, sind und bleiben die prozentuierten Behaltensquoten in Abhängigkeit von Aneignungsformen oder Lernwegen eine (überflüssige) Manipulation! “ Nun kann man an dieser Stelle einwenden, dass sich dieses Fazit lediglich auf die Prozentangaben bezieht und nicht auf das untersuchte Phänomen selbst, also die Abhängigkeit des Lernens oder Behaltens von der Lernform, und auch W OLF (2006: 6) räumt ein, dass „[d]er Grundgedanke dieser [Darstellungsformen] ... bedenkenswert [ist]... Aber warum wird ihm mit fiktiven Zahlen ein pseudowissenschaftlicher Anspruch verliehen? Konfuzius, wenn er sich denn dazu geäußert hätte, hätte das wohl einfacher auf eine nachvollziehbare Lebensweisheit gebracht“. 2 Aber interessant ist doch, dass sich derartige Aussagen über einen langen Zeitraum halten und - offenbar durch häufige Verwendung - in einem Ausmaß verselbständigen, dass ihr Wahrheitsgehalt als gesichert gilt und nicht mehr hinterfragt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob wir unser Beispiel allein mit einer gewissen Autoritätsgläubigkeit gegenüber Zahlen erklären können - wenngleich dies zweifelsohne eine denkbare Ursache ist. Möglicherweise liegen die Ursachen aber auch tiefer. Wie es scheint, bringen wir diese Ungewissheit auch in unserem Gebrauch der Alltagssprache zum Ausdruck: ‚Das ist doch ein Mythos‘ bedeutet, dass wir eine bestimmte Annahme eigentlich ablehnen oder zumindest bezweifeln; die Verwendung des Begriffs ‚Mythos‘ enthält also eine Abwertung, zumindest aber eine skeptische Distanz - ein Umstand, der dem ‚eigentlichen‘ Mythos gar nicht innewohnt, wenigstens nicht notwendigerweise: Ein Mythos ist nicht per se etwas Schlechtes oder etwas Falsches, aber es fehlt der empirische Nachweis dafür, dass der ihm zugrunde liegende Sachverhalt tatsächlich gegeben ist. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass Mythen für menschliche Verstehensbzw. Erkenntnisprozesse ebenso unabdingbar sind wie z.B. Stereotype. Auch diese lassen sich bekanntlich nicht verhindern, sondern ‚nur‘ im Nachhinein hinterfragen oder aufbrechen - aber dazu müssen sie ja erst einmal entstehen. Wir alle wissen nur zu gut, dass sie das auch gerne tun, eben weil wir als Menschen so ‚funktionieren‘. Vor diesem Hintergrund scheint die Frage nicht ohne Berechtigung, ob es denn Mythen in der Fremdsprachenforschung gibt. Um dieser Frage etwas intensiver nachzugehen, lade ich den Leser im Folgenden ein, sich mit mir auf die Suche nach möglichen Mythen in der Fremdsprachenforschung zu begeben. Diese Suche wird sich in den folgenden Etappen vollziehen: Zunächst werde ich einige in der Fremdsprachenforschung allgemein und überwiegend akzeptierte Ansichten zum Lehren und Lernen fremder Sprachen darstellen und zu klären versuchen, in welchem Umfang sie als verallgemeinerungsfähig angesehen werden können (Kapitel 2). Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 163 39 (2010) Danach werde ich erläutern, inwieweit es sich dabei um Mythen handelt und auf welche Ursachen sie ggf. zurückgeführt werden können (Kapitel 3). Abschließend werde ich daraus einige Überlegungen für die Fremdsprachenforschung und ihren Umgang mit Erkenntnissen ableiten (Kapitel 4). 2. Mythen in der Fremdsprachenforschung - oder was wissen wir wirklich? Ich werde im Folgenden einige Positionen der Fremdsprachenforschung wiedergeben und schicke vorweg, dass es sich dabei keineswegs automatisch um Mythen handelt. Vielmehr ziehe ich diese Positionen heran, um im Anschluss daran zu zeigen, an welchen Stellen und unter welchen Bedingungen diese Positionen den Status eines Mythos erhalten (haben). Dazu werde ich diese Positionen zunächst darstellen und mit Fragen an ihre Verallgemeinerungsfähigkeit versehen. Im Anschluss daran werde ich etwas grundsätzlicher hinterfragen, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit fremdsprachendidaktischen Erkenntnissen der Status eines Mythos zugesprochen werden muss. Vorweg sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Auswahl dieser Positionen weder vollständig ist noch zufällig erfolgt. Und wichtig ist mir auch der Hinweis, dass es im Folgenden nicht um den alltagssprachlichen, negativ konnotierten Mythenbegriff geht. Ich beginne mit dem Faktor Alter. Jüngere Lerner - so wird häufig behauptet - seien erwachsenen Lernern überlegen. Als Gründe für diese Behauptung wird auf Untersuchungen verwiesen, wonach Fremdsprachenlerner, die in jüngeren Jahren mit dem Fremdsprachenerwerb begonnen haben, eine bessere Aussprache erzielten und außerdem die Fremdsprache spielerisch lernten, während ältere Lerner dazu mehr mentale Mühe aufwenden müssten. Nicht zuletzt diese Annahme spielt bei den Befürwortern eines fremdsprachlichen Frühbeginns eine nicht unwesentliche Rolle. Verstärkt wird diese Position durch die sicher intuitiv sofort einleuchtende Annahme, dass Erwachsene anders lernen als Kinder. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Fremdsprachenangebote für Kindergartenkinder durchaus Konjunktur haben; erinnert sei an Kinder, die bereits in dieser Altersphase mit Chinesisch konfrontiert werden, um ihnen möglichst rasch Kompetenzen in einer Sprache zu ermöglichen, von der man annimmt, dass sie in späteren gesellschaftlichen Konstellationen von großer Bedeutung sein kann. Analysen einschlägiger Arbeiten zum Faktor Alter haben indes keinerlei Indizien dafür ergeben, dass jüngere Lerner tatsächlich besser lernen als ältere (vgl. G ROTJAHN / S CHLAK 2010). Wie aber kommt dann diese Meinung zustande? Sind wir so beeindruckt von der phonetischen Kompetenz von Lernern im fremdsprachlichen Frühbeginn, dass wir nur allzu bereitwillig glauben wollen, dass jüngere Lerner besser sind? Oder wirken sich Äußerungen darüber, wie mühsam Fremdsprachenlernen grundsätzlich ist (und auch sein muss) (vgl. B UTZKAMM 2004) hier meinungsbildend aus? Oder lassen wir uns durch den Umstand blenden, dass mit zunehmendem Lernalter Lerner einer Fremdsprache auch zum Ausdruck bringen, dass die Aneignung eines fremdsprachlichen Systems nicht nur komplex, sondern auch kompliziert ist? 164 Frank G. Königs 39 (2010) Mein zweites Beispiel aus der Fremdsprachenforschung schließt hier unmittelbar an: Es darf als zumindest überwiegender Konsens gelten, dass die Reflexion über Lernen dessen Erfolg wohl positiv beeinflusst. Seit den achtziger Jahren wird in der deutschen Fremdsprachenforschung der Lernerorientierung konzeptuell der Weg bereitet; damit wurde das Erkennen und die Beschreibung fremdsprachlicher Lernvorgänge in das Zentrum der Forschung gerückt. In diesem Gefolge konnten sich Konzepte zur Aufgabenorientierung, zur Lernberatung oder zum expansiven Lernen Bahn brechen (vgl. M ÜLLER - H ARTMANN / S CHOCKER VON D ITFURTH 2005, 2010; S CHMELTER 2004; H OFFMANN 2008) - und mehr noch, sie wurden als so wichtig etikettiert, dass ihnen der Status eines eigenen Ausbildungsmoduls zugesprochen wurde (K LEPPIN 2003). Fachgeschichtlich ein durchaus erklärbarer Umstand, denn in der Tat hatte sich in empirischen Studien gezeigt, dass die Reflexion über die eigenen Lernvorgänge den Lernvorgang effektiviert (vgl. z.B. S CHMELTER 2004, H OFFMANN 2008). Allerdings nicht um jeden Preis und in jeder Situation, sondern jeweils unter spezifischen Bedingungen des Lernens. Wie anders sollte sich sonst erklären, dass Lehrwerke, die anstelle eines Lehrerhandbuchs nun ein Lernerhandbuch anboten (vgl. z.B. die Eurolingua-Reihe), weder besonders hohe Verkaufszahlen erzielten noch zu einer grundlegenden Umorientierung des tatsächlichen Fremdsprachenunterrichts führten? Die uneingeschränkte Propagierung des Lernenlernens übersieht bisweilen, dass Lernreflexion nur dann erfolgreich ist, wenn es in ein entsprechend lernkulturelles Umfeld eingepasst wird. Warum würden sonst Lerner aus anderen Lernkulturen mit vermeintlich didaktisch zurückgebliebenem Fremdsprachenunterricht, der aus traditionellen Grammatik-Übersetzungsübungen oder permanentem Auswendiglernen besteht, gleichwohl (sehr) gute Ergebnisse erzielen können? Um nicht missverstanden zu werden: Ich vertrete sehr wohl die Auffassung, wonach Reflexion des Lernens zu seiner Effektivierung beitragen kann und dass man die Bewusstmachung der eigenen Lernvorgänge zur Lernförderung einsetzen und sogar zu einem Prinzip des Fremdsprachenlernens erheben kann (vgl. K ÖNIGS 2010), aber man muss die Bedingungen angeben (können), unter denen dies tatsächlich der Fall ist. Mein drittes Beispiel knüpft hier unmittelbar an und greift ein durchaus aktuelles Themenfeld auf, nämlich die Mehrsprachigkeitsdidaktik. Sie zielt auf die Nutzbarmachung bereits vorhandenen fremdsprachlichen Wissens zur Erleichterung des Erwerbs einer weiteren Fremdsprache. Auf der Grundlage struktureller Ähnlichkeiten und unter der Maxime, dass Reflexion über Lernen und über vorhandene Lernerfahrungen den Aneignungsvorgang positiv beeinflusst, wird nicht nur der Transferbegriff anders als bisher gefüllt, sondern es werden auch über das Konzept der Hypothesengrammatik Erschließungsstrategien systematisch geübt und im Kontext einer übergeordneten Interkomprehensionsdidaktik verortet (vgl. M EI ß NER 2005, 2010; H UFEISEN / M ARX 2005); deren Anliegen ist eine Vernetzung des Sprachlernens insgesamt und damit einer Einpassung in mehrsprachige Bildungs- und Erziehungskonzepte (vgl. H ALLET / K ÖNIGS 2010). Entwickelt wurde dieser Ansatz überwiegend aus der romanistisch orientierten sowie der auf Deutsch als Fremdsprache bezogenen Fremdsprachenforschung; anglistische Fachvertreter sind hier deutlich zurückhaltender (vgl. die entsprechenden Beiträge in B AUSCH / K ÖNIGS / K RUMM 2004). Gerade diese Zurückhaltung und die damit verbunde- Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 165 39 (2010) nen Warnungen vor einer allzu weitreichenden Generalisierung tragen zu einem genaueren Hinsehen bei und verhindern - so ist zumindest zu hoffen - die Entstehung eines neuen Mythos. Denn: Die Mehrsprachigkeitsdidaktik geht von der logisch ja nachvollziehbaren Annahme aus, dass vorhandene Informationen bei der Aufnahme neuer Informationen mental aktiviert werden können und damit zu einem erleichterten Lernvorgang beitragen. Gilt diese Annahme aber immer und unter allen Bedingungen? Wenn wir z.B. an einen Lerner denken, der in seinem vorangehenden Fremdsprachenunterricht subjektiv schlechte Erfahrungen mit seinem fremdsprachlichen Lernen gemacht hat, so könnte es ja durchaus sein, dass er gut beraten ist, beim Lernen einer neuen Fremdsprache mit all seinen Erfahrungen zu brechen und einen neuen Lernanfang zu wagen. Das würde nahelegen, auf systematisches Aufspüren von Strukturähnlichkeiten im Lerngegenstand, aber auch im Lernweg zu verzichten. Als Vertreter der Mehrsprachigkeitsdidaktik könnte man hier entgegnen, dass auch dieser Vorgang eine Integrationsleistung darstellt, dass also der aktuelle Lernvorgang dadurch gefördert wird, dass er explizit von vorangehenden Lernerfahrungen abgesetzt wird. Aber rechtfertigt dies bereits, jegliches Lernen einer zweiten oder weiteren Fremdsprache über die erste Fremdsprache laufen zu lassen? Tun wir damit allen Lernern überhaupt einen Gefallen? Mein viertes Beispiel mag zunächst überraschen: In den 1990er Jahren führte die gestiegene Bedeutung psycholinguistischer Arbeiten zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Wortschatzlernen. Die Verlagerung des Forschungsinteresses weg vom Erwerb grammatischer Strukturen hin zur Aneignung fremdsprachlicher Lexik ließ die Frage aufkommen, ob wir im Fremdsprachenunterricht tatsächlich eine Wortschatzwende brauchen (so der Titel von G NUTZMANN 1995). Diese programmatische Titelfrage wurde relativ deutlich mit einem „Jein“ beantwortet: Natürlich soll und muss die Aneignung fremdsprachlicher Lexik erforscht werden, aber nicht unter Abwertung anderer Forschungsfragen, wie z.B. der nach der Vermittlung grammatischer Strukturen. Diese hatten ein Jahrzehnt zuvor im Zentrum fremdsprachendidaktischer Forschung gestanden. Ich erwähne hier nur exemplarisch das Stichwort ‚Didaktische Grammatik‘; diese war in den 1980er Jahren ein zentraler Forschungsgegenstand gewesen und drohte durch die kognitive Neuorientierung ins Hintertreffen zu geraten, zumal neben der nicht ganz zu Unrecht befürchteten Wortschatzwende Ausdifferenzierungen des kommunikativen Ansatzes explizit oder implizit Stellung gegen eine Intensivierung der Erforschung und Erteilung des Grammatikunterrichts bezogen und darauf verwiesen wurde, dass fremdsprachliche Kommunikation und Interaktion im Zweifelsfall eher mit grammatischen als mit lexikalischen Unzulänglichkeiten leben könnte. Anders als in meinen ersten Beispielen kann hier aber allenfalls dann von einer Mythenbildung gesprochen werden, wenn man den Grammatikunterricht per se als langweilig etikettiert - ein Mythos, der durch zahlreiche kreative Übungs- und Lernangebote allerdings in der Zwischenzeit zu erheblichen Teilen als widerlegt gelten darf, wenngleich konzeptuelle Weiterentwicklungen zur Didaktischen Grammatik seither eher die Ausnahme als die Regel darstellen dürften. Auf die Notwendigkeit einer lernerseitigen Beschäftigung mit sprachlichen Strukturen im Allgemeinen und mit grammatischen Strukturen im Besonderen hat Gnutzmann soeben erneut hingewiesen (vgl. G NUTZMANN 2010). Warum - so möchte ich mit Bezug auf mein Thema 166 Frank G. Königs 3 Auch diese Einschränkung scheint mir noch nicht weit genug zu gehen, denn aus der lernerseitigen Ablehnung des Mediums kann man keine unidirektionalen Aussagen über die Motivation durch Lerninhalte ableiten, denn diese könnte ebenso gut extern bedingt sein durch den Zweck, den man mit dem Sprachenlernen verbindet und nicht durch den Lerngegenstand selbst. 39 (2010) fragen - hat diese Entwicklung nicht zu einem Mythos geführt? Ich komme darauf später zurück. Lassen Sie mich zuvor noch drei weitere Beispiele anführen. Neue Medien sind - nicht nur fremdsprachendidaktisch - in aller Munde. Allzu oft und nicht selten auch allzu schnell wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, das Motivationspotenzial zu erhöhen und dadurch Lernvorgänge zu optimieren. Die Vielzahl der Materialentwicklungen unterstützt diesen Eindruck durch visuelle Aufbereitungen und Bereitstellung neuer Informationsquellen und Kommunikationsformen. Wie immer bei neuen technischen Entwicklungen ist dann auch der Weg zu ihrer unterrichtlichen Nutzung scheinbar vorgezeichnet. Erst ein genaueres Hinsehen erlaubt es, diesen Eindruck durch einige Einschränkungen zu modifizieren. Auf den ersten Blick scheint z.B. die Lektüre einer Studie über Multimedia im Spanischunterricht (G RÜNEWALD 2006) den gerade skizzierten Eindruck zu bestätigen. Da wird die Motivationsförderung der neuen Medien argumentativ herausgestellt und damit ihr Nutzen für das Fremdsprachenlernen umfassend propagiert und durch Darstellung diverser Einsatzmöglichkeiten und Aufzeigen technischer Möglichkeiten scheinbar unterstützt. Auch die sich daran anschließende empirische Untersuchung ist in ihrer Anlage und Interpretation zunächst dazu geeignet, die Glaubhaftigkeit der zitierten All-Aussage zu erhöhen, zumindest weitgehend zu stützen. Sieht man sich die empirischen Daten genauer an, bröckelt diese All-Aussage jedoch, denn tatsächlich ergibt sich die Motivationsförderung nur dann, wenn eine positive Grundeinstellung gegenüber den Neuen Medien bereits zu Lernbeginn vorhanden ist. Wenn Lernende diesen Medien jedoch mit Skepsis begegnen, findet die erwartbare Motivationssteigerung gar nicht statt, sondern möglicherweise das Gegenteil. Neue Medien haben also Motivationsförderung nicht als gegenstandsimmanentes Merkmal, sondern nur in Abhängigkeit von der lernerseitigen Einstellung - dies ist aber mit unserer All-Aussage nur bedingt vereinbar. Da tut es gut, wenn man die - wenn auch etwas versteckte - Aussage desselben Autors in einer anderen Publikation liest, dass der „Computer [...] unter bestimmten Umständen lediglich ein Faktor von Einstiegsmotivation sein [kann], wohingegen die Motivationspersistenz in der Regel von den Lerninhalten abhängt“ (G RÜNEWALD / K ÜSTER 2009: 184) 3 . Ist also die angenommene Steigerung der Motivation durch die Neuen Medien lediglich ein Mythos? Mein vorletztes Beispiel bezieht sich auf die Gruppenarbeit im Fremdsprachenunterricht. Sie wird in fremdsprachendidaktischen Arbeiten allenthalben als besonders lern- und motivationsfördernd eingeschätzt. In der Tat sind etliche Arbeiten erschienen, in denen die Vorteile und Möglichkeiten erfolgreichen Fremdsprachenlernens in Gruppen aufgezeigt werden (vgl. S CHWERDTFEGER 1977, 1985). Die argumentativen Begründungen für den Einsatz von Gruppenarbeit sind bestechend. Empirische Belege fehlen m.W. jedoch fast völlig, sieht man einmal von einigen Forschungsprojekten ab. Regelmäßige Befragungen bei meinen Studierenden ergeben seit Jahren, dass ihnen Gruppenarbeit zwar Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 167 39 (2010) aus anderem Fachunterricht, jedoch kaum aus dem Fremdsprachenunterricht bekannt sei. Unterrichtshospitationen verstärken diesen Eindruck. Ist also die erfolgversprechende fremdsprachliche Gruppenarbeit nur ein Mythos, dem wir uns bereitwillig anschließen oder ist unser Fremdsprachenunterricht nicht gut und wir versäumen seine Optimierung durch Verzicht auf Gruppenarbeit? Mit meinem letzten Beispiel möchte ich noch einmal auf eine aktuelle Diskussion zu sprechen kommen. Wir leben ganz augenscheinlich in einem Zeitalter der Kompetenzfeststellung, der Bildungsstandards und des Messens. Nach meiner Beobachtung hat diese Entwicklung weniger mit fachlichen Einsichten als mit politischen Setzungen zu tun. Die öffentlich propagierte Ausrichtung an Kompetenzen und die daraus abgeleitete Entwicklung von Bildungsstandards wird mit dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler in nationalen und internationalen Vergleichsstudien begründet, aus denen abgeleitet wird, dass durch den vielzitierten „Paradigmenwechsel“ von der Inputorientierung zur Outputorientierung alles besser werde. Die Folge ist ein Ausdifferenzieren von Kompetenzen aller möglichen Art, das vielfach eher den Eindruck des Herumbastelns erweckt. Die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Institute für Qualitätssicherung verfolgen in den einzelnen Bundesländern gänzlich verschiedene Ziele und orientieren sich - KMK- Beschlüsse hin oder her - an deutlich unterschiedlichen Ausrichtungen und Konzepten. Die Schulen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen ob des Reformwirrwarrs, und viele praktizierende Lehrer denken wahrscheinlich nicht ernsthaft daran, ihren Unterricht so grundlegend zu verändern, wie es ein Paradigmenwechsel erwarten lassen würde. Dennoch deuten erste Anzeichen darauf hin, dass die in Vergleichsarbeiten erzielten Ergebnisse sich verbessern, und schon sind die ersten Stimmen da, die dies auf die Umstellung auf einen kompetenzorientierten Unterricht zurückführen. Ungeachtet der Kritik am Europäischen Referenzrahmen (vgl. dazu die überwiegend kritischen Positionen in B AUSCH [et al.] 2003), an den Bildungsstandards (vgl. B AUSCH [et al.] 2005; Q UETZ / V OGT 2009) oder an Kompetenzmodellen scheint sich die Meinung zu verfestigen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Woher - so muss ernsthaft gefragt werden - wissen wir das eigentlich? Woher nehmen wir die Gewissheit, dass mit dem Anlegen eines Kompetenzdschungels der ökologische Artenreichtum fremdsprachlichen Lehrens und Lernens erhalten oder gar gepflegt werden kann? Erschreckend finde ich in diesem Zusammenhang weniger die Position selbst als vielmehr die Eilfertigkeit und den vorauseilenden Gehorsam, mit denen zahlreiche Instanzen munter Bildungsstandards entwerfen oder Referenzniveaus an Kurse oder auf Lehrmaterialien anpappen. Wird hier nicht einem Mythos gefolgt? Ich habe bis hierher lediglich Fragen gestellt und Beobachtungen wiedergegeben, die man in der Fremdsprachenforschung antreffen kann. Die Frage, welche der skizzierten Entwicklungen überhaupt das Kriterium der Mythenbildung erfüllen und welche Voraussetzungen dazu erfüllt sein müssten, habe ich allenfalls implizit berührt, aber noch nicht diskutiert. Dieser Frage wende ich mich im Folgenden zu. 168 Frank G. Königs 39 (2010) 3. Mythenbildung, Trends und Epochen Ich habe unter Verweis auf die einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen Mythen eingangs als tradierte erfahrungsgeronnene Erzählungen charakterisiert, deren Anspruch nicht in der 1: 1-Wiedergabe einer ‚historischen Wahrheit‘ besteht und die auf einer Art unausgesprochenem gesellschaftlichen Konsens gründen. Dabei ist das Zustandekommen eines solchen Konsenses und damit der Mythen insgesamt an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Mythen müssen plausibel sein, nicht in einem objektiv logischen, aber in einem subjektiv logischen Sinn, d.h. sie müssen sich in einen logischen Zusammenhang einpassen lassen, also im Gesamtgefüge stimmig sein. Auch hierzu ein Beispiel aus einem anderen wissenschaftlichen Kontext: Dem preußischen General Scharnhorst wird der Satz zugeschrieben, dass die Armee an der Spitze des Fortschritts zu marschieren habe. Tatsächlich aber, so der Militärhistoriker und Scharnhorst-Forscher Heinz Stübig (mündliche Mitteilung), findet sich in keiner seiner Schriften ein solcher Satz. Gleichwohl wird dieser Satz gerne zitiert, weil er im Gesamtkontext die Stimmigkeit erhöht, die mit Person und Meinung Scharnhorsts in bestimmten Kreisen und zu bestimmten Zeiten verbunden war bzw. verbunden werden sollte. Damit eine solche Stimmigkeit hergestellt wird, bedarf es außerdem einer gewissen Prägnanz. In meinem Eingangsbeispiel zur Behaltenskurve wird diese Prägnanz durch die Prozentzuschreibungen hergestellt, die ihrerseits die Einprägsamkeit erhöhen und außerdem die Sicherheit der Information suggerieren. Zur Stimmigkeit zählt allerdings auch eine zumindest angenommene opinio communis, oder anderes gesagt: Damit ein Mythos entstehen kann, muss er „im Trend liegen“, und er muss sich über einen längeren Zeitraum halten. Dies gilt z.B. für das Eingangsbeispiel zur Behaltenskurve insofern, als ein lernpsychologischer Trend sicher in einer Ausdifferenzierung des Lernbegriffs zu sehen ist, so dass Lernen nicht mehr als unabhängige Variable und Reaktion auf den bloßen Gehalt der Information selbst reduziert wird, sondern als Folge der Form, in der die Information dargeboten wird oder ‚im Lerner ankommt‘. Von daher sind meine gewählten fremdsprachendidaktischen Beispiele eben nicht zufällig, sondern spiegeln aktuelle Trends der Fremdsprachenforschung wider. Bereits 1986 hatte Denninghaus darauf hingewiesen, dass sich verdichtende Trends zur Herausbildung einer Epoche führen, und zwar auch in der relativ jungen Disziplin Fremdsprachenforschung: „Wenn man z.B. den Übergang von einer Epoche zur anderen beschreiben will, muß man die wesentlichen strukturellen Unterschiede dieser Epochen entdecken, d.h. jene Unterschiede, nach denen sich die unübersehbar vielen Einzelerscheinungen eines jeden Entwicklungsabschnittes sinnvoll ordnen und als Teile eines bestimmten Systems beschreiben lassen. Erst bei einer solchen systemhaften Betrachtungsweise werden die Zusammenhänge zwischen den Epochen sichtbar. Man erkennt dann, daß der Übergang von einer Epoche zur anderen sich niemals unerwartet und plötzlich vollzieht. Er wird vielmehr vorbereitet und letztlich unvermeidlich durch viele kleine, scheinbar zufällige Veränderungen, die alle einer bestimmten Logik unterworfen sind und zusammen genommen schließlich zu einer radikalen Umstrukturierung des Systems, zu einer epochalen Umwälzung führen.“ (D ENNINGHAUS 1986: 63 f) Wenn man den Begriff des ‚Mythos‘ so fasst, wird deutlich, dass man Mythen mit dem Hinweis auf mangelnde forschungsmethodische Sorgfalt allein nicht kritisieren kann, Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 169 39 (2010) wenngleich die Einhaltung methodischer Standards in empirischer Forschung gleichwohl ein Muss darstellt und auch in der Fremdsprachenforschung zu Recht eingefordert wird (vgl. jetzt R IEMER 2010a). Mythen folgen also dem Prinzip der Musterbildung, wie es ja auch für das Fremdsprachenlernen konstatiert werden kann (vgl. Königs 2010). Was bedeutet dies für die Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? Dazu komme ich auf meine Beispiele zurück: Vor dem Hintergrund der genannten Kriterien für die Mythenbildung fällt es nicht schwer, die Annahme als Mythos zu klassifizieren, wonach jüngere Lerner bessere Fremdsprachenlerner seien. Sie ist angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung des Lernbegriffs ebenso plausibel wie angesichts des Trends, jüngeren Lernern frühzeitig Fremdsprachenangebote zu machen. Und sie folgt der Alltagsbeobachtung, dass jüngeren Lernern die Aneignung komplexer sprachlicher Strukturen scheinbar weniger Mühe bereitet als älteren. Hinzu kommt der weit verbreitete Glaube an die Notwendigkeit, mit dem Erwerb von grundlegenden Qualifikationen möglichst früh zu beginnen. Das in der Literatur erwähnte Beispiel von frühem Fremdsprachenerwerb, der zu einer nativen phonetischen Kompetenz führen soll, erfüllt das Merkmal der Prägnanz. Die praktische Umsetzung erscheint insofern vergleichsweise leicht, als sie durch curriculare Weichenstellungen erfolgen kann. Diese sind offenbar - so lehrt die Erfahrung - leichter umzusetzen, als die Veränderung unterrichtlicher Praxis in einem bestehenden und dazu noch relativ fest gefügten curricularen Ablauf. Nur in diesem letzten Punkt ergibt sich ein Unterschied zum Phänomen der Gruppenarbeit: Ihre Propagierung folgt einem auf Gemeinsamkeit, soziale Kompetenzen und eigenverantwortliches Handeln abzielenden gesamtgesellschaftlichen Trend, scheint aber in der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis nicht wirklich angekommen zu sein, und die Gültigkeit dieses Trends lässt sich kulturübergreifend auch offenbar weniger einvernehmlich feststellen, als dies beim Faktor ‚Alter‘ der Fall ist. Im Übrigen erfüllt aber auch dieses Beispiel die Merkmale eines Mythos. Die Bedeutung, die der Reflexion über Lernen beigemessen wird, ist das Ergebnis einer starken Fokussierung auf das fremdsprachliche Lernen (Stichwort: Lernerorientierung). Ohne diese Fokussierung wäre z.B. die konzeptuelle und unterrichtspraktische Ausdifferenzierung der Aufgabenorientierung in der Entwicklungsgeschichte der Fremdsprachenforschung kaum denkbar. Dass dieser Trend mit einer Vernachlässigung der Lehrerperspektive erkauft worden ist (vgl. T RAUTMANN 2010), steht auf einem anderen Blatt. Unbestritten und auch beispielhaft zu belegen ist, dass ein solcher Zugang zum Fremdsprachenlernen zu anderen Lernprozessen führt. Ob diese allerdings immer besser sind, bedarf sicher noch der weiteren empirischen Absicherung. Immerhin zeigen Beispiele aus der Unterrichtsforschung und der Lehrmaterialentwicklung, dass diese unterrichtliche Umorientierung die Praxis wenigstens in Teilen erreicht hat. Aber eben nur in Teilen: Man kann den Trend zur Lernerorientierung auch im Sinne der forschungsgeschichtlichen Pendelbewegungen (vgl. G NUTZMANN / K ÖNIGS 1992) interpretieren: Um eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen, bedarf es zunächst der Ausprägung von Extremen, bevor sich dann „ein gesunder Mittelweg“ herauskristallisiert. Ähnliches lässt sich für die Mehrsprachigkeitsdidaktik konstatieren: Auch sie erwächst aus dem Trend zur Lernerorientierung und kann für sich die Plausibilität der Annahme 170 Frank G. Königs 39 (2010) beanspruchen, den Lernenden mit all seinem sprachlichen und lernbezogenen Wissen und Erfahrungsschatz in das Unterrichtsgeschehen einzubeziehen und an der Entwicklung seines eigenen Lernens aktiv zu beteiligen. Meiner Beobachtung nach ist auch hier der Weg in die Praxis begonnen, wenn auch vielleicht noch nicht in demselben Umfang wie bei der Lernreflexion. Allerdings erfüllen die zitierten warnenden oder zurückhaltenden Reaktionen aus der Englischdidaktik hier noch eine andere Funktion: Sie wirken einer voreiligen Mythenbildung entgegen. Dabei verstehe ich diese Zurückhaltung weniger als Abwertung der Mehrsprachigkeitsdidaktik, sondern vielmehr als Mahnung, sich vor allzu voreiligen Generalisierungen zu hüten. Je früher solche Mahnungen ausgesprochen werden, um so eher tragen sie zur Vermeidung einer vorschnellen und vielleicht auch uneffektiven Mythenbildung bei. Ähnliches lässt sich für den scheinbaren Antagonismus zwischen grammatik- und wortschatzzentriertem Fremdsprachenunterricht feststellen. Die mit plausiblen Argumenten angenommene Effektivität des Mehrsprachigkeits-Ansatzes wird sich empirisch noch erweisen müssen. Blickt man auf die Neuen Medien, so wird man konstatieren können, dass die Wirkmächtigkeit einer prägnanten visuellen Unterstützung nicht zu übersehende Effekte bei der Entstehung des Mythos entfaltet. Offenbar stellt sich hier der Mytheneffekt rascher ein als z.B. in der Mehrsprachigkeitsdidaktik oder bei der Lernreflexion. Die bedeutsame gesellschaftliche Funktion einer medialen Kompetenz scheint gleichsam beschleunigend auf die Mythenbildung zu wirken. Es bleibt zu hoffen, dass der Aufruf, textuelle und mediale Komponenten und Kompetenzen integrativ miteinander zu verzahnen (vgl. jetzt z.B. H ALLET 2010), nicht ungehört verhallt, und es bleibt abzuwarten, ob sich angesichts eines sehr komplexen Motivationsprozesses beim Fremdsprachenlernen (vgl. jetzt R IEMER 2010b) der in einigen Schriften angenommene Zusammenhang zwischen Medien und Motivation empirisch sauber nachweisen lässt. Gegenüber den vorangehenden Beispielen weist mein letztes Beispiel zu den Kompetenzen und Bildungsstandards Alleinstellungsmerkmale auf: An die Stelle eines aus dem Fach heraus entstandenen fachpolitischen Konsenses - wenn man so will: bottom up - ist eine weitgehend von außen verordnete Ausrichtung getreten (top down), die konzeptuell in Teilen der Orientierung auf das lernende Individuum zu widersprechen scheint. Während in anderen Beispielen wie der Mehrsprachigkeitsdidaktik oder dem Grammatikvs. Wortschatzlernen aus dem Fach heraus mahnende Positionen einer vorschnellen Mythenbildung entgegenwirken, erweist sich Fremdsteuerung von außen als ungleich wirkmächtiger. Dabei soll nicht das Potenzial geleugnet werden, dass einem Zwang zur Veränderung des Fremdsprachenunterrichts innewohnen kann. Zu fragen ist jedoch, ob die angestrebte Veränderung nicht nachhaltiger wäre, wenn sie auf ausgearbeiteten und erprobten Konzepten beruhen würde und wenn man Verfahren zur Hand hätte, die in Unterricht und Schule handelnden Personen an deren Erarbeitung zu beteiligen. Zur Klassifizierung als Mythos fehlen - abgesehen vielleicht von einer begrifflichen Prägnanz („von der Inputzur Outputorientierung“, „Kompetenz“, „Niveaustufen“) - wesentliche Merkmale. Es bleibt abzuwarten, ob die außerschulische gesellschaftliche Entwicklung zu einer bisweilen vorbehaltlos anmutenden Orientierung an Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Standardisierung und Kompetenzen ihre Wirkmacht behält oder ob sie an der Praxis scheitert. Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 171 39 (2010) 4. Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung: Einige Überlegungen und Wünsche für die Zukunft Bei der Beschäftigung mit Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung fällt zunächst eine gewisse Parallelität zur Stereotypendiskussion auf: Auch bei Stereotypen handelt es sich um eine Musterbildung, deren Funktion darin besteht, den einlaufenden Informationen eine gewisse Ordnung und Struktur zu verleihen (vgl. z.B. die unterschiedlichen Zugänge in H EINEMANN 1998). Erreicht wird dies bei den Stereotypen ebenso wie bei den erwähnten Mythen durch den Umstand, dass beide Formen dazu beitragen, den ansonsten unübersichtlich scheinenden Wust von Informationen mit einer Struktur zu versehen. Ohne diese Struktur wäre es komplizierter, wenn nicht gar unmöglich, alle relevanten Informationen zu speichern und abzurufen. Auch bei Stereotypen nimmt man in Kauf, dass sie allenfalls partiell ein Abbild der Wirklichkeit sind, dass sie also mindestens verzerren. Aus der lernpsychologischen Beschäftigung mit Stereotypen wissen wir, dass wir ihre Bildung im Fremdsprachenunterricht gar nicht verhindern, sondern dass wir sie lediglich ex post facto hinterfragen und aufbrechen können. Aus unserer obigen Diskussion lässt sich lediglich ableiten, dass hier ein wichtiger Unterschied zur Mythenbildung besteht, denn Mythenbildung kommt nur zustande, wenn die oben genannten Kriterien erfüllt sind: Plausibilität, Stimmigkeit, Prägnanz und zeitliche Stabilität - und zu diesen Kriterien muss noch die inhaltliche Bedeutsamkeit treten. Der mit einem Mythos verbundene Inhalt muss ‚bedeutsam‘ sein - entweder für die Gesellschaft, den Gegenstand oder das Fach. Ablesbar ist diese Bedeutsamkeit insbesondere an der Zahl derjenigen, die sich dieses Mythos bedienen. Ebenso wie ein Stereotyp an Reichweite gewinnt, wenn es häufig benutzt wird, so gilt dies auch für einen Mythos. Stereotypen - so habe ich gerade in Erinnerung gerufen - können in ihrer Entstehung nicht verhindert werden, wohl aber im Nachhinein aufgebrochen werden. Wie sieht dies nun bei Mythen aus? Hier kommt noch einmal die empirische Forschung ins Spiel. Sie ist zum einen in der Lage, die Bildung von Mythen zu verhindern, wenn sie zeigen kann, dass mythenhaft anmutende Annahmen unwahr sind. Das Beispiel Grammatikvs. Wortschatzunterricht zeigt, dass rasches argumentatives Gegensteuern mit guten Argumenten hilfreich ist, um die Bildung von Mythen einzudämmen. Empirische Forschung kann also im Kontext der Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung zwei Funktionen übernehmen: eine korrektive Funktion bei der vorschnellen Ausbildung von Erkenntnismustern und eine remediale Funktion durch Widerlegung bereits vorhandener Mythen. So wichtig empirische Forschung für die Fremdsprachenforschung insgesamt und für ihren Umgang mit Mythen ist, ein wichtiger Faktor muss noch mit berücksichtigt werden: Ich meine das Theorie-Praxis-Verhältnis. Empirische Forschung allein ist noch nicht ausreichend, um zur Mythenbildung beizutragen oder sie zu verhindern. Das Beispiel Gruppenarbeit zeigt, dass die Weigerung der Praxis zur Übernahme von empirisch erbrachten Erkenntnissen zwar dazu führt, dass der Mythos des positiven Einflusses der Gruppenarbeit auf unterrichtliches Fremdsprachenlernen einer Überprüfung zunächst nicht standhält. Da die Praxis aber in diesem Beispiel sozusagen die schweigende Opposition darstellt, relativiert sie zwar den Mythos, kann ihn aber letztlich nicht aufheben. 172 Frank G. Königs 39 (2010) Ich habe mich bislang einer Wertung darüber enthalten, ob wir uns Mythen in der Fremdsprachenforschung wünschen sollten oder nicht. Vielleicht ist es in den Augen mancher Betrachter sogar vermessen, wenn sich eine vergleichsweise junge Disziplin wie die Fremdsprachenforschung mit der Frage der Mythenbildung auseinandersetzt. Und vielleicht ist es auch gewagt, aus dem Kontext dieser jungen Disziplin Mythenbildung nicht nur rückwärts gewandt zu thematisieren, sondern auch funktional und in die Zukunft gerichtet. Gleichwohl sollte deutlich geworden sein, dass Mythenbildung zum Teil ein unumgänglicher Bestandteil menschlichen Denkens und Handelns ist, eine Wertung, die auch für die Fremdsprachenforschung gilt. Mythenbildung kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie dazu führt, Erscheinungen zu bündeln und vielleicht auch pointiert darzustellen, um sie dadurch erst hinterfragen zu können. Solange wir dieses Hinterfragen bei der Mythenbildung gleich mitdenken, tun wir einen wichtigen Schritt, um Erkenntnisse und Zusammenhänge fremdsprachlichen Lehrens und Lernens nicht mystisch zu verschleiern, sondern aufzuarbeiten und zu hinterfragen, aber auch klarer zu sehen und präziser zu erfassen. Das bedeutet aber, dass wir kritische Rückfragen an mehrheits- und konsensfähig erscheinende Positionen nicht als persönliche Abwertung, sondern als notwendigen Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens ansehen sollten - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber wie wir gesehen haben, auch mit einer wichtigen Funktion für die Darstellung unserer Ergebnisse und Erkenntnisse verbunden. Solange wir Mythenbildung in diesem Kontext sehen und uns angewöhnen, die Hinterfragung dieser Mythen mitzudenken, scheinen sie mir für die Fremdsprachenforschung weder schädlich noch sachlich unangemessen. Wir sollten aus der Stereotypenforschung gelernt haben, dass man bestimmte Erscheinungen besser reflektiert begleitet als unreflektiert tot schweigt. Dies setzt eine sorgsame und umfassend angelegte Beschäftigung mit den Gegenständen und Befunden voraus. Die Auseinandersetzung mit empirischer Forschung - sei es produktiv im Sinne von eigenen empirischen Untersuchungen, sei es rezeptiv durch Kenntnisnahme und Beurteilung empirischer Forschung Anderer - ist also auch von daher essentiell für die Fremdsprachenforschung und deren Output. So gesehen ist es für die Fremdsprachenforschung eine spannende Herausforderung, sich der Mythenbildung in ihrem eigenen Fach zu stellen. Dafür wollte ich mit meinem Beitrag werben. Literatur B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2003): Der gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion. Arbeitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B AUSCH , Karl-Richard / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2004): Mehrsprachigkeitsdidaktik im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Arbeitspapiere der 25. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B UTZKAMM , Wolfgang (2004): Lust zum Lehren, Lust zum Lernen. Eine neue Methodik für den Fremd- Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 173 39 (2010) sprachenunterricht. Tübingen/ Basel: Franke. D ENNINGHAUS , Friedhelm (1986): „Evolution, Epochenwandel und Kontinuität in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts“. In: S EMINAR FÜR S PRACHLEHRFORSCHUNG DER R UHR -U NIVERSITÄT B OCHUM (Hrsg.): Probleme und Perspektiven der Sprachlehrforschung. Bochumer Beiträge zum Fremdsprachenunterricht in Forschung und Lehre. Frankfurt/ M.: Scriptor, 63-88. 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Not only do the mass media produce their contents in a topological manner which influences the thinking of students. A rhetorical understanding of art also makes writing easier for students. The paper discusses general problems of conceptions of writing in foreign language teaching. It then analyzes works by students of the tenth grade who wrote texts to sequences of pictures and who, in doing so, used their topological imagination. 1. Modernes Kunstdenken und rhetorische Tradition Im Jahr 1976 unternimmt Lothar B ORNSCHEUER den Versuch, die inventio der antiken und mittelalterlichen Rhetorik zu rehabilitieren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Mit Nachdruck verweist er auf eine Spaltung des europäischen Kunstverständnisses, die sich im späten 18. Jahrhundert vollzieht, eine rhetorische Tradition vom modernen Kunstdenken trennt und den Blick auf diese Tradition verstellt. „Die noch heute nicht abgetragene eigentliche Barriere, die ein umfassendes Verständnis der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte verhindert, ist die bürgerliche Begründung der schöpferischen Produktivität aus der individualen Subjektivität heraus“ (B ORNSCHEUER 1976: 18). Die Verlagerung künstlerischer Potenz aus der Gesellschaft in das einzelne ›geniale‹ Subjekt sowie die Leugnung einer traditionell gegebenen „gesellschaftlichen Relevanz der Phantasie“ (ebd: 18 f) sind für B ORNSCHEUER freilich nicht nur ein Hemmnis für das Verstehen mittelalterlicher und antiker Texte, sondern sie entspringen auch einer Selbsttäuschung, die als genuin bürgerliche Selbsttäuschung überwunden werden muss. Entsprechend äußert er die Hoffnung, dass der Glaube an Subjekte, die zum Kunstschaffen N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 176 Sebastian Susteck 1 Und zwar vor allem deshalb, weil in Deutschland heute fast nur noch Literatur als bemerkenswert wahrgenommen wird, die ab dem späten 18. Jahrhundert entstand. Dies unterscheidet die deutsche Situation von der anderer (west)europäischer Länder und gibt der Konstruktion einer Zäsur im 18. Jahrhundert besondere Evidenz. 2 Vgl. - ältere Forschungen zusammenfassend und weiterentwickelnd - vor allem S TÖCKMANN (2001). 3 Zu den kulturellen Hintergründen und zum literaturwissenschaftlichen und institutionellen Kontext im Vergleich zwischen England, USA und Deutschland vgl. G LINDEMANN (2000: bes. 43 f). 39 (2010) auf nicht erklärbare Weise disponiert seien, „ein relativ kurzes Intermezzo“ einer „dreitausendjährigen europäischen Kulturentwicklung“ (ebd.: 19) darstellen möge, das lediglich die Zeit vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts umfasst. Zugleich hofft er, Prinzipien rhetorischer inventio aktualisieren und wiedergewinnen zu können. Tatsächlich sieht er solche Prinzipien in einer bereits existenten topischen und speziell kombinatorischen Kunst verwirklicht, die „ungewohnten, experimentellen Formen der ästhetischen Zuordnung von Heterogenem“ (ebd.: 11) verpflichtet ist. Die literaturwie mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen, die B ORNSCHEUER 1976 noch thetisch vorträgt, sind mittlerweile literaturwissenschaftlich weitgehend akzeptiert. So ist für den deutschen Sprachraum - der sich hierfür aus historischen Gründen besonders anbietet 1 - umfassend herausgearbeitet worden, wie ein älteres rhetorisches und poetologisches Paradigma im 18. Jahrhundert zerfällt und zugleich eine neue und ›moderne‹ Vorstellung des Künstlers und des Kunstwerks sowie des künstlerischen Schaffensprozesses entsteht. 2 Sehr knapp zusammengefasst wird das Bild des Künstlers als Handwerker durch ein Bild des Künstlers als Genie ersetzt, das Kunstwerk vom geschickt geplanten und aus überkommenen Elementen erstellten Gegenstand zu einer organischen Größe verklärt und der künstlerische Schaffensprozess von einem Arbeitsprozess zu einem Prozess inspirierter Schöpfung gemacht. Die von B ORNSCHEUER reflektierten Zusammenhänge sind jedoch nicht allein literarhistorisch relevant, sondern auch in die didaktische Reflexion der letzten Jahrzehnte eingeflossen. Dies war zumal dort der Fall, wo es um die Begründung eines neuen, produktions- und handlungsorientierten Unterrichts in den Sprachen ging. Die Implikationen der modernen Kunstvorstellung und der modernen Vorstellung vom Künstler belasteten auf unterschiedliche Weise jene Ansätze, die zumal seit den 1980er Jahren darauf abzielten, Schüler kreativ tätig werden und Kunst und speziell Texte erzeugen zu lassen. Die Annahme, zum Schreiben bedürfe es einer besonderen „Begnadung“ (W ALDMANN 2003: 1) war dabei ebenso zurückzuweisen wie die Annahme, Schüler seien in ihren kreativen Versuchen gegenüber ›echten‹ Künstlern in einer bedrückend inferioren Stellung (vgl. H AAS / W ENZEL / S PINNER 1994: 23, 25). Zugleich galt es, den Schreibprozess auf Diskussionsprozesse und Arbeit in Paaren oder Gruppen zu öffnen und ihn damit einer Mythisierung des einzelnen schöpferischen Subjekts zu entziehen, die für moderne Vorstellungen vom Künstler nach wie vor als typisch gelten darf. 3 Die entsprechenden Diskussionen sind dabei durchaus europäische und speziell deutsche Diskussionen, insofern gerade in deutschen Kontexten ein Misstrauen gegenüber einem Ansatz existiert, der „die Erlernbarkeit von Schreiben voraussetzt“ (G LINDEMANN 2000: III) bzw. der überhaupt in schulischem Schreiben, das über den traditionellen Schreiben zur Bildsequenz ... 177 39 (2010) Aufsatzunterricht hinausgeht, ein legitimes Verfahren erkennt. Ein letztlich nicht in genieästhetischer, sondern in rhetorischer Nachfolge stehendes produktives Schreibverständnis erreicht Europa und Deutschland erst in den 1970er Jahren über die USA, wo bereits zwischen 1880 und 1940 im universitären Kontext ein weites Feld des ›creative writing‹ begründet wird (vgl. ebd.). Mindestens für die Gegenwart aber darf man davon ausgehen, dass ein in rhetorischer Tradition stehendes Kunstverständnis in besonderer Weise auch der Realitätserfahrung von Schülern entspricht. Dies liegt weniger daran, dass sich produktionswie handlungsorientierte Verfahren im Unterricht mittlerweile großer Beliebtheit erfreuen. Es liegt vielmehr auch an der Text- und Medienerfahrung von Schülern, die in ihrer alltäglichen Erfahrung mit einer Kunst und Kultur konfrontiert sind, welche planmäßig und massenhaft produziert wird und oft mit dem Verdacht des ›Trivialen‹ und rein ›Populären‹ belegt ist. Dem korrespondiert eine objektiv vorhandene ›Kulturindustrie‹, deren Leistungsfähigkeit bemerkenswert ist (vgl. W ELZER 2007). Längst hat sie sich - wenn auch am deutlichsten jenseits der Literatur - den Prämissen genieästhetischen Denkens entzogen, wobei dieses Denken in öffentlichkeitswirksamen Gesten und der vielfachen Reduktion komplexer und professionalisierter Arbeitsprozesse auf einzelne Namen weiter gepflegt wird. Die Tendenz zu einer Vorstellung des Künstlers und des Werks, die älteren rhetorischen Anschauungen nahekommt, wird in der Gegenwart jedoch nicht nur durch Produktionsweisen von Kunst, sondern auch durch ihre Distributionswege befördert, die insbesondere durch das Internet eine Revolutionierung erfahren. 2. Debatten der Didaktik - topische Textproduktion Nun gilt noch vor der Reflexion solch weitreichender Kontexte, dass die Auseinandersetzung um handlungs- und produktionsorientierte Verfahren zumal für den muttersprachlichen Unterricht - also: den Deutschunterricht - komplexer ist, als bisher angedeutet. Allerdings geht es in diesem Unterricht auch um eine Textproduktion, die sich bemüht, Schüler schreiben zu lassen, um ihnen grundlegende Probleme des Schreibens zu verdeutlichen. Dennoch setzt sich der Unterricht zumal auf den höheren Klassenstufen nicht primär das Ziel des Schreibenkönnens, wenn auch in jüngerer Zeit verstärkt Positionen vertreten worden sind, die ein neues Verständnis des Deutschunterrichts artikulieren und ihn in die Nähe des Faches ›Bildende Kunst‹ rücken möchten (vgl. A BRAHAM / K EPSER 2006: 82 f; W ANGERIN 2006). Vielmehr ist dieser Unterricht dem Ziel der Ausbildung literarischen Verstehens verpflichtet (vgl. E NSBERG 2005). Ein Schreiben jenseits traditioneller Aufsätze soll hier überwiegend dazu führen, Texte ›handelnd‹ zu interpretieren bzw. diese Interpretation vorzubereiten. Das Schreiben ist daher weniger in die Schreibdenn die Literaturdidaktik eingeordnet und es hat eine dienende oder abgeleitete Stellung. Gegenüber dem muttersprachlichen Unterricht ist der fremdsprachliche Unterricht von weitgesteckten hermeneutischen Zielen stärker entlastet und eher der Ort, an dem sich eine eigene, den Aufsatzunterricht überschreitende Schreibdidaktik bilden kann. Zwar findet auch hier eine Auseinandersetzung mit Literatur und ein Bemühen um ihre Analyse und ihr tiefgehendes Verständnis statt. Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren 178 Sebastian Susteck 4 Zum ›Kreativitäts‹begriff vgl. etwa C ASPARI (2003). Die von C ASPARI (2003: 309) genannten, allgemein anerkannten Merkmale von Kreativität finden sich überwiegend auch in der im Folgenden skizzierten Übung - so eine offene Aufgabenstellung mit mehr als nur einer möglichen Lösung, eine Anregung von Arbeits- und Lernprozessen, eine Inklusion nicht nur kognitiver, sondern auch affektiver Faktoren im Arbeitsprozess. Wichtig für kreative Übungen, notiert C ASPARI , sei stets „ein Stimulus z. B. in Form von Textmaterial, Bildern, Musik, Geräuschen“ (ebd.). Zur Kreativität im Schreiben vgl. auch T EICHMANN (1998). 5 Vgl. zum Schreiben zu Bildern im Fremdsprachenunterricht unter anderem H ELLWIG (1997), E ICHHORN - E UGEN (1991), H ELLWIG / S IEKMANN (1989). 39 (2010) werden daher auch hier mit entsprechender Zielsetzung verwendet, sodass zahlreiche Methoden und Verfahren gleichermaßen im mutterwie im fremdsprachlichen Unterricht vorzukommen vermögen. Selbst in der Sekundarstufe II jedoch ist eine ›reine‹, um sich selbst kreisende (Schreib-)Arbeit an und mit der Fremdsprache sinnvoll, die sich spielerischer Formen bedienen kann. Dass solch schriftliche Spracharbeit dabei durchaus erweitert werden kann, um den Blick auf linguistische, aber auch narratologische Grundsatzfragen zu lenken, ist freilich ein zweiter, wichtiger Aspekt. Eine „Weiterarbeit“ (P ORTMANN 1994: 504), die Lernertexte im Unterricht wiederaufnimmt und insbesondere darauf abzielt, entweder in Texten vorhandene Probleme zu besprechen oder ein den Texten implizites Wissen in „explizite textuelle Kenntnisse“ (ebd.: 508) zu überführen, ist daher nicht nur möglich, sondern ein wichtiger Teilschritt fremdsprachlicher Arbeit. Die skizzierten Zusammenhänge sollen im Folgenden an einem in der schulischen Praxis leicht handhabbaren und doch theoretisch reflexionswürdigen Beispiel illustriert werden, nämlich dem Schreiben von kurzen Geschichten zu Bildern und genauer: Bildsequenzen, und zwar offenen Sequenzen, die durch die Schüler selbst erst hergestellt werden. Wird im muttersprachlichen Unterricht das Schreiben zu Bildern (vgl. L UDWIG / S PINNER 1992: 11) - möglicherweise voreilig - zumal in der Unterstufe betrieben, bietet es sich dem fremdsprachlichen Unterricht tatsächlich noch in der ausgehenden Mittelstufe und zu Beginn der Sekundarstufe II - zumal des achtjährigen Gymnasiums - an. Es ist an der „junction of the discipline of composition and rhetoric […] and the discipline of language learning“ (K ROLL 2003: 1) situiert und verweist zugleich auf visuelle Erfahrungen zurück, die anregenden Charakter haben. Zugleich kann es über schülerische Produktivität Einblicke in Medienerfahrung und Lektürevorstellungen von Schülern geben, die in Texten kreativ wiederkehren. Die den muttersprachlichen Unterricht belastenden Debatten um die Frage, wann literarischen Texten interpretatorisch ›Genüge getan‹ sei und wann sie bloß als ›Anlässe‹ genutzt würden, um Schüler sprechen und schreiben zu lassen, ist im fremdsprachlichen Unterricht entschärft, dem es auch um das Schaffen von Rede- und Schreibanlässen gehen kann, um die zu erlernende Sprache einzusetzen. Im Folgenden geht es um unterrichtliches Schreiben, bei dem eine topische, mit Versatzstücken und Klischees arbeitende Kreativität 4 durch Bilder bzw. exakter: Bildsequenzen angeregt und stabilisiert wird. Die Arbeit mit Bildern ist dabei auf mehrfache Weise legitimierbar, die didaktisch als soweit akzeptiert gelten dürfen, dass sie hier nicht im Detail besprochen werden müssen. 5 Der Einsatz von Bildern entspricht nicht nur einer visuellen Prägung von Schülerinnen und Schülern, auf die immer wieder hingewiesen wird. Er entspricht auch der durch psychologische Studien hinreichend belegten Tatsache, Schreiben zur Bildsequenz ... 179 6 Wie sich etwa dort zeigt, wo Schüler das Verhalten in casting-shows als ›realistisch‹ und womöglich sogar vorbildhaft erachten - ein Phänomen, das in letzter Zeit in der Tagespublizistik verstärkt diskutiert wurde. Vgl. etwa K ORFF (2010). 39 (2010) dass Bilder sich besonders als Wahrnehmungsattraktoren eignen, insofern sie in vorbewusster Weise stärkere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als Texte (vgl. N ÖTH 1999: 476 f). Die Arbeit mit Bildsequenzen aber ist darüber hinaus geeignet, (1.) Imaginationen wachzurufen und zu begrenzen sowie (2.) eine Basis für eine Reflexion des Schaffensprozesses und seiner Ergebnisse zu bieten. Sie lädt dazu ein, Geschichten zu erzählen, die zugleich originell und Geschichten aus Versatzstücken sind, welche durch die gegebenen Bilder sowohl hervorgerufen als auch limitiert werden. Abhängig davon, wie prägnant und gewöhnlich oder wie esoterisch und ungewöhnlich die vorgegebenen Bilder selbst wirken, sind dabei auch die entstehenden Texte gestaltet. Nicht zuletzt solche Bilder, die Situationen vorzugeben scheinen, an die Schüler aufgrund ihrer Lebenserfahrung und ihrer medialen Prägung anschließen können, laden zur Kreativität ein, insofern sie einerseits ein Angebot machen, auf das die Schüler in jedem Fall reagieren können, und insofern sie andererseits in subtiler Weise dazu auffordern, Gegebenem Originalität abzugewinnen und einen ›eigenen‹ Sinn zu geben. Die Arbeit mit Bildsequenzen gewinnt dabei zugleich eine Realität, die Schülern insbesondere aus den visuellen Medien von Film und Fernsehen bekannt ist, nämlich eine kombinatorische Realität, die immer Ähnliches immer neu zusammenfügt und gerade dadurch Interesse provoziert. In einer letztlich ebenso topischen wie kombinatorischen Textproduktion wird dabei auch das für jeden schulischen Unterricht schwierige Verhältnis von Weltwissen und von Textbzw. Medienwissen von Jugendlichen adressiert. In der didaktischen Diskussion ist immer wieder hervorgehoben worden, dass mangelndes Weltwissen einem eigentlichen und tieferen Verständnis von Texten entgegensteht, welches dieses Weltwissen konstitutiv benötigt. „Das Grundproblem des Textverstehens“, schreibt allgemein Jürgen G RZESIK , „besteht demnach darin, daß absolut alles, was beim Anschauen eines Textes den wahrgenommenen Farb- und Formunterschieden zugeschrieben werden kann, vom Leser selbst aus dem, worüber er schon verfügt, hergestellt werden muß, […] bis zu den kompliziertesten Darstellungen der Welt durch sprachliche Mittel“ (G RZESIK 2005: 15). Textinhalte werden wesentlich durch dem Text vorausgehendes Weltwissen verständlich, was Leser nicht davon abhält, dieses Wissen scheinbar dem Text ›zu entnehmen‹ (ebd.: 13). Ähnliche Mechanismen lassen sich - wenn auch weniger klar - dort vermuten, wo es nicht um sprachliche Texte geht, sondern um visuelle Konstruktionen von ›Welt‹. Zu einem gewissen Grad lässt sich freilich auch das Gegenteil belegen. Fehlendes Weltwissen lässt sich durch ›virtuell‹ in Texten wie weiteren Medien vorhandenes Wissen substituieren, wobei allerdings die Möglichkeit solcher Substitution - in kontraintuitiver Weise - mit vorhandenem Weltwissens zuzunehmen scheint, sodass Texte und Lebenserfahrung sich gegenseitig stabilisieren. Auch Jugendliche jedoch ersetzen offenkundig fehlende eigene Erfahrungen durch medial vermitteltes Wissen, wobei nicht nur offenkundig fiktives Wissen eine Rolle spielt, sondern die mediale Welt- und Lebensdarstellung insgesamt. 6 Überhaupt aber haben Schüler eine nicht zu unterschätzende narrative 180 Sebastian Susteck 7 „[P]ositiv und für den Fremdsprachenunterricht gewinnbringend einzusetzen wäre aber die große Menge an Kommunikationsformen, die die Lernenden von heute in jungen Jahren bereits erfahren haben“ (B EILE 1996: 6 f). 8 Der Ausdruck von Individualität ist der erste Punkt im Rahmen einer Liste, in der L EGUTKE (2007) acht Merkmale von Lernertexten im Unterricht benennt. 9 Die Arbeitsaufgabe war daher, in den Kategorien von P ORTMANN (1994: 475-485), vorlagengebunden, zugleich aber kaum kontextgebunden. Zugleich war an die entstehenden Texte eine verhältnismäßig hohe Kohärenzanforderung gestellt. 39 (2010) Kompetenz, die sich wesentlich intertextuell erklärt und daher nicht nur über ihr Weltinteresse, sondern ebenso über ihre Medienrezeption informiert. 7 Kombinatorisch inspiriertes Schreiben kommt in seiner bewussten Klischeehaftigkeit dabei dem Horizont von Jugendlichen ebenso entgegen wie in einer der Kombinatorik eigenen Artifizialität, die sich einer jugendlichen Weltwahrnehmung fügt, welche sich oft des Zitats, aber auch der Ironie und des Uneigentlichen bedient. Im Modell topischer und kombinatorischer Textproduktion ist zugleich impliziert, dass es nicht um einen ungehemmten, in der Schule stets problematischen ›subjektiven Selbstausdruck‹ von Schülern geht. Das in der Didaktik immer wieder betonte Prinzip, bei der Textproduktion vom Horizont der Schüler auszugehen, wird zwar in spezifischer Weise gewahrt und auch das Ziel, „die Individualität des Einzelnen oder der Gruppe zum Ausdruck“ (L EGUTKE 2007: 133) 8 bringen zu können, wird nicht vollkommen verabschiedet. Dennoch steht das Prinzip subjektiven Selbstausdrucks dezidiert nicht im Vordergrund. Es findet seinen Platz daher nicht im Zentrum, sondern in den Nischen der zu schreibenden Texte, und zwar konkret dort, wo in der Kombination von überkommenen Topoi und Versatzstücken Originalität möglich wird, die jedoch eher eine Originalität der variierenden Wiedergabe denn der genialischen Schöpfung ist. 3. Unterrichtsbeispiele zum bildgesteuerten Schreiben Die folgenden Unterrichtsbeispiele stammen aus mehreren zehnten Klassen des achtjährigen Gymnasiums und damit Klassen, die auf der Grenze zur Sekundarstufe II stehen. Den Schülern wurden jeweils sechs Bilder in schwarz-weiß an die Hand gegeben, die allererst in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden mussten. Die Schüler waren aufgefordert, in Gruppen die Bilder auf einem Plakat zu befestigen und eine Geschichte ihrer Wahl dazu zu schreiben. 9 Im Einzelnen waren zu sehen: (1.) Die Reproduktion eines Ölgemäldes, das Köpfe und Oberkörper eines jungen Mannes und einer jungen Frau zeigt, welche, voneinander abgewandt, an einer Straße stehen; fünf Photographien mit den folgenden Motiven: (2.) eine junge Frau, die mit Hut und Jacke in der hintersten Ecke eines leeren Klassenzimmers sitzt und aus dem Fenster blickt; (3.) vier alte Männer, die nebeneinander auf einer Bank auf einem öffentlichen Platz sitzen; (4.) ein heruntergekommener Geschäftseingang mit dem Namen Carol’s Wedding and Gifts; (5.) die Innenansicht einer verlassenen, teils zerstörten Wohnung ohne Mobiliar; (6.) ein See, der von Schreiben zur Bildsequenz ... 181 39 (2010) entlaubten Bäumen umstanden ist und in den ein Steg hineinführt. Auch wenn die Bilder grundsätzlich die Bandbreite möglicher Texte restringierten, waren auf ihrer Basis sehr unterschiedliche Realisationen von Geschichten möglich, was die von den Schülern entwickelten Ideen erst interessant machte. Dabei zeigte sich zunächst ein klares Gespür der Schüler für Kontraste und Oppositionen, die in nachgerade strukturalistischer Weise für das Erzählen nutzbar gemacht werden können. Dass diese Oppositionen im Bildmaterial existieren, war teilweise nicht vorausgesehen bzw. bewusst geplant gewesen. In den Schülertexten begegneten sich Einmit Zweisamkeit, Jugend und Alter, Leben und Tod, Verlassenheit und Heirat. Zielgerichtet nahmen sich die Schüler zudem überwiegend klassischer literarischer und medialer Themen an, die in vielen Fällen zugleich offensichtlich auch zentrale Lebensthemen waren. Zu nennen sind insbesondere Liebe und Einsamkeit, aber auch Lebensglück und Verlust im Leben, Bedrohungen der menschlichen Existenz sowie Kriminalität, Tod und Selbsttötung. In den einzelnen Texten trat dabei nicht zuletzt Gewalt als ein wichtiges - nicht nur Jungen beschäftigendes - Thema hervor. Hinzu trat an vielen Stellen ein literarisches und mediales Wissen, das mit sichtbar zitathaftem Charakter in die Texte importiert wurde und dabei aus der Märchenliteratur ebenso wie aus aktuell populären Jugendbüchern - etwa mit Vampirthematik - oder Computerspielen kommen konnte. Einzelne Texte gewannen dabei einen überdeutlich topischen Charakter und erscheinen zudem als klischeehafter Ausdruck von Wunschproduktionen. The lesson is over. The young teacher is still sitting in her empty classroom and looks out of the window. She watches four old men sitting in front of a shop. They look like friends who survived a lot of problems together. She begins to think about her own future and hopes that she’ll not be alone in it. Suddenly she becomes very sad because she hasn’t got a lot of friendships with other people and no serious relationship with a man. She feels very empty at this moment. Two hours later she’s walking around in the forest and after a while she stands in front of a lake full of thoughts about suicide. Suddenly a young man appears behind her and asks her with a calm, warm voice: “Can I help you? ” This is the beginning of an endless lovestory. Six months later they go to a wedding shop together because Sally is pregnant and has decided to marry her guardian angel. Es wäre ein leichtes, den Text wegen mangelnder ›Originalität‹ zu kritisieren, und doch wäre genau diese Kritik deplatziert. Vielmehr zeigt der Text eine Einrichtung, die erzähltheoretisch interessant ist. Dabei ist er vor allem kürzer, aber letztlich nicht weniger originell als populäre Romane oder Fernsehserien. Aus zahllosen Texten und Filmen bekannt ist die Handlungsführung, die mit einer sich krisenhaft zuspitzenden Problemlage beginnt und von hier zur Rettung in letzter Minute und zum glücklichen Leben führt, das durch Liebe, Ehe und - bemerkenswerterweise - die Schwangerschaft garantiert scheint, mit denen der Text endet. Zugleich ist der Handlungsverlauf durch stereotype Handlungselemente konstituiert. Die Abhängigkeit von solchen Elementen, die hier natürlich eng mit der Abhängigkeit des Textes von einer Bilderfolge zusammenhängt, manifestiert sich dabei im Text selbst, in dem Entwicklungen sprunghaft und letztlich unmotiviert erfolgen, wie sich im zweifachen Gebrauch des Wortes ›suddenly‹ ausdrückt. Weniger um Motivierung des Geschehens geht es als um die Montage eines Handlungsverlaufs, der offen- 182 Sebastian Susteck 39 (2010) bar als narrativ ›passend‹ und ›stimmig‹ - und womöglich auch nur als: ›gewöhnlich‹ - empfunden wird. Die topische Qualität des Textes zeigt sich deutlich, wenn man ihn mit einer zweiten Arbeit aus derselben Klasse vergleicht, die wesentlich Identisches erzählt, der Erzählung am Ende aber eine scharfe Wendung ins Unglück gibt: Once upon a time there was a young lady. She was eighteen years old, but she lived alone because she didn’t have parents. They had died just two months ago. In school she just wanted to be alone, but even before the terrible death nobody had wanted to sit next to her. She was a poor, lonely girl. Everytime when she came home there were empty rooms. She felt very, very sad. She didn’t have anybody to talk to about her problems because her parents were her only family. One day when she walked home from school a nice young boy asked her, if he could help her because she looked so sad. The boy asked, if they could meet some time to talk a little bit and she said “yes” because she wanted to have a friend and he looked so nice. A few years later they fell in love. They wanted to marry because they were so happy together. They went to “Carol’s Wedding and Gifts” to plan their wedding and to buy something to wear at their wedding. They were full of happiness. But one day before the wedding the woman had an accident with the car. She died right away. The man has to become old alone now because he never wants another woman to be with. Der scheinbar Einbruch des Todes in eine zunächst glücklich verlaufende Liebesgeschichte wird dabei im letzten Satz mit einem Sinnangebot ausgestattet, das im Motiv der ewigen, über den Tod hinausreichenden Liebe gegeben ist. Machen die zwei bisher zitierten Texte in ihrer topischen Verdichtung den Eindruck in sich insgesamt ›runder‹ und stimmiger Erzählungen, galt dies freilich nicht für alle produzierten Texte gleichermaßen. So entstanden auch wesentlich kürzere, offenem Zynismus zutreibende Texte, die freilich nicht weniger aussagekräftig sein müssen: My name is Carol and I’m twenty-three years old. Now I have to think about my life. Does it make sense to live, if I can’t take a step alone? This is my own shop called “Carol’s Wedding and Gifts”. I’m really proud of it. I don’t like the place where the shop is because I think in this house something isn’t right. Over my shop there is an empty flat. But sometimes I hear some voices and I think that there’s someone in it. In my dreams I always see a man who is following me. But I can’t see his face. I don’t know who he is. What shall I do? I can’t sleep anymore. Now I think that it’s good, if I end my life. That will be the best solution. Good bye! Hier darf man sicherlich davon ausgehen, dass der Text keine verdeckten Suizid-Sehnsüchte artikuliert, sondern dass es sich um ein literarisches Experiment handelt, das freilich durch eine pubertäre Todesfaszination mit fundiert ist. Aus der Sicht des Englischunterrichts handelt es sich dabei um einen - nicht zuletzt sprachlich - schwachen Text, der gleichwohl in jeder Klasse produziert werden könnte. Fokussiert man zunächst weniger auf die offensichtlichen Schwächen denn die interessanten Aspekte, wird man sagen dürfen, dass eine nachgerade klassische Handlungsführung mindestens angedeutet ist. Eine zwischen Selbstzweifeln und Erfolg schwankende Lebenssituation - deren zwei Seiten freilich nicht vermittelt sind - erweist sich durch äußere, nicht klärbare Einflüsse als gestört und endet im Tod. Dabei ist dieser Text stärker als Text angelegt, der auf die Schreiben zur Bildsequenz ... 183 39 (2010) ihm beigegebenen Bilder verweist. So machen die letzten Sätze vor allem dann Sinn, wenn man sie auf das beigefügte Bild des Sees bezieht. In jedem Fall ist auch dieser Text literarisch und medial präfiguriert, und zwar nicht nur im Motiv des bedrohlichen Traumes, sondern generell in seinen mystery-Elementen, die an dieser Stelle ungeklärt bleiben und ein happy-end verhindern. Man wird darüber hinaus feststellen dürfen, dass der Text Elemente hat, die - ohne dass dies von seinen Autoren intendiert gewesen sein muss - ins Parodistische weisen, und zwar trotz seiner ›düsteren‹ Gestaltung. Die mangelnde Motivierung einzelner Handlungsschritte oder -elemente nämlich wird hier überdeutlich sichtbar gemacht. Dies gilt insbesondere für die lakonische - durch die Ich-Perspektive in ihrer Beiläufigkeit noch gesteigerte - Feststellung des geplanten Suizids, die nicht notwendig sprachlicher Unbeholfenheit entspringen muss, sondern auch als Hinweis auf die literarische Qualität des ›Geschehens‹ gelesen werden kann. Die Tendenz literarischer Texte, aber auch die Tendenz von Filmen und Fernsehproduktionen zu ›dramatischen‹ Ereignissen, die nicht immer begründet scheinen, wirkt hier karikiert. 4. Aspekte narratologischer Auswertung Für eine weitergehende narratologische Auswertung der entstandenen Arbeiten bleibt zu ergänzen, dass die Schüler eine beträchtliche Variabilität zeigten, als es um die Anordnung von Bildern zu Sequenzen ging. Nahezu jedes der gegebenen sechs Bilder vermochte so als eröffnendes wie als Schlussbild zu fungieren. Flexibel und kreativ erwiesen sich die Schüler darüber hinaus bei der Ausdeutung der Bilder. Allerdings wurden einzelne Motive durchaus mit begrenzten Bedeutungen belegt. So wurde das Bild eines Sees nahezu ausnahmslos als Zeichen für einen Ort der Ruhe und Besinnung oder für einen Ort des Grauens und des Todes gedeutet. Bei der Ausdeutung einzelner Bilder zeigten sich an anderen Stellen dagegen deutlich unterschiedliche Akzentsetzungen. Der abgebildete wedding-shop wurde so - wie bereits zitiert - immer wieder zum Zeichen für Heiratsabsichten, konnte aber auch beiläufig nur als betriebenes Geschäft oder sogar als Fassade für verbrecherische Aktivität dienen. Wo im ersten Fall ein Akzent auf die Art des Geschäftes gelegt wurde, war für die weiteren Anverwandlungen nur wichtig, dass überhaupt ein Geschäft vorhanden war. Sehr unterschiedlich gestalteten sich darüber hinaus einzelne Texte, die - mehr oder minder geschickt - Erzählweisen und Gattungen von Texten und Erzählungen aufgriffen, und ihren Anschluss an literarische und mediale Vorbilder ostentativ ausstellten. So verband der folgende Text wenigstens drei Vorstellungskreise miteinander: (1) It’s Monday morning, and Mr. Thompson, a 65-year old physics teacher, is talking with his best friends before school about the crush that he has on one of his students. (2) They try to convince him that this is wrong and forbidden. (3) He answers that he agrees with them, but that he still wants her! (4) He gave her detention because she forgot her homework, but actually he just wanted to be alone with her. (5) Finally, when they were alone, he started talking to her and he was flirting with her. (6) When the bell rang she packed her things very quickly and ran outside because she was frightened. (7) He followed her all the way home to see where she lived. (8) The next days he didn’t talk to her to not 184 Sebastian Susteck 39 (2010) appear suspicious. (9) One night, when she was all alone at home, he went in and tried to convince her that he was good for her. (10) She was hyterical so he beat her to death without thinking about what he was doing. (11) Later that night he went to a wedding shop to steal the most expensive and beautiful wedding dress. (12) He returned to her home to dress her up. (13) Afterwards he brought her cold body to the deepest lake in town. (14) He put her in a coffin made of glass, so every night he could look at her body, left in the lonely darkness. Die ersten acht Sätze konzentrieren sich auf Vorstellungen aus einer Welt von soapoperas von Teenagern und einer Literatur und Filmwelt, die um schulisches (Liebes-) Leben kreist. Im Zentrum steht das Verlangen eines (alten) Lehrers nach einer seiner Schülerinnen und ein damit verbundener Machtmissbrauch des Lehrers. Die Sätze (9) und (10) greifen demgegenüber ein Motiv aus crime- und horror-Geschichten auf. In den Sätzen (11) bis (14) verbinden sich schließlich horror- und thriller-Elemente mit traditioneller Märchenmotivik. Um falschen Schlussfolgerungen vorzubeugen sei im Übrigen darauf verwiesen, dass der Text von mehreren Mädchen verfasst wurde. Nun strebten nicht alle Texte solch offensichtlich nach der Verbindung von Motiven verschiedener Gattungen. Teilweise suchten sie im Gegenteil eine einfühlsame, stärker realitätsbezogene bzw. - umgekehrt - weniger fiktionale Gestik. It was a cold evening and me and my boyfriend were lying in bed. It was the first time I could feel the cold between us. Something was wrong but I couldn’t understand what it was. The next morning I woke up alone and he wasn’t there. After thinking for a while I knew he would never come back. He only left dirt behind. During the time he was around me I loved him and his chaos, but after he had left I couldn’t stand It anymore. My heart broke into pieces when I thought about our wedding, which had been planned for 17 July, five days after his leaving. All I felt was loneliness, wherever I was. I couldn’t concentrate on anyone around me. Every day I tried to understand his reasons for leaving me. I don’t know why, but in this time I was often at the lake where I had been every day when I was a child. Today I can’t understand the thoughts that I had but in this time I thought the only solution was to kill myself. One day I met four old men. They told me to live with the pain. After this, I learned how to live, again. Auch hier kann man allerdings literarische Präfigurationen erkennen. Der Text verbindet erneut standardisierte Handlungsbausteine und Motive miteinander. Stärker als die bisher zitierten Texte scheint er dagegen die eigene Artifizialität zu verdecken. Dies liegt wesentlich daran, dass er eher als die bisherigen Texte der Lebenswelt von Jugendlichen verpflichtet wirkt und dabei auch auf stark dramatisierte Zuspitzungen des Geschehens verzichtet. Im bisher Gesagten wird sich bereits angedeutet haben, wie sehr die Schüler auf der Basis der selbst erstellten Bildsequenzen darum bemüht waren, kohärente Geschichten zu verfassen, die freilich durchaus radikale, nicht immer ›psychologisch‹ motiviert wirkende Wendungen enthalten konnten. Die Art der textuellen Komposition war dabei unzweifelhaft durch die bildlichen Vorgaben angeregt, und zwar nicht nur inhaltlich durch das, was auf den Bildern zu sehen war, sondern auch durch das Medium der Bildsequenz selbst, das dazu zwang, auf den ersten Blick womöglich Unzusammenhängendes zusammenzufügen und in einen Text zu übersetzen. Entsprechende Zwänge zeigten sich dabei Schreiben zur Bildsequenz ... 185 39 (2010) durchaus in den Texten, die einzelne Handlungs- und Geschehensabschnitte auf den ersten Blick ›unbeholfen‹ miteinander verbinden und dabei zumal temporale Formulierungen wie ›suddenly‹, ›one day‹ oder ›one night‹ benutzen. Tatsächlich begründete die Aufgabenstellung eine Herangehensweise, die topische Erzählungen hervorbrachte und den technisch-artifiziellen wie rhetorischen Charakter des Erzählens leichter zu sehen erlaubte. Eine Diskussion narratologischer Grundfragen wurde damit in besonderer Weise möglich und konnte auch als Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit weiteren literarischen Werken dienen. Dabei konnten solche Fragen an den von Schülern selbst verfassten Texten aus gleich mehreren Gründen gut thematisiert werden. Zu nennen ist nicht nur die Tatsache, dass es um Texte der Schüler selbst ging und dadurch womöglich eine identifikatorische Dimension in der Diskussion existierte, die die Intensität dieser Diskussion verstärken musste. Vielmehr ist auch auf die Tatsache zu verweisen, dass die entstandenen Texte von übersichtlicher Kürze waren und sich gerade in ihrer schematischen und topischen Dichte gut zum Ausgangspunkt von Diskussionen machen ließen, die auch von der Vergleichbarkeit von Texten profitierten. Fragen einer entsprechenden Auswertung konnten so sein: Was haben die Texte gemeinsam, was unterscheidet sie, inwiefern sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede bemerkenswert oder sogar erstaunlich? Gibt es Themen, die erzählte Geschichten haben müssen oder haben sollten? Müssen sie Außergewöhnliches verhandeln (wie Lehrer, die ihre Schülerinnen überfallen und sie in Glassärgen in Seen versenken) oder genügt guten Geschichten Alltägliches (wie der Kummer um eine verlorene Liebe)? Ist das Alltägliche alltäglich? Darüber hinaus aber stellten sich natürlich Fragen wie: Wie wurden hier Bilder - und sodann: Ereignisse - angeordnet? Weshalb in dieser Reihenfolge? Wird suspense erzeugt, und wenn ja, wie? Gibt es Wendepunkte, Höhepunkte oder rekonstruierbare Spannungskurven? Gibt es Aspekte der Handlungsführung, die überzeugen und andere, die dies nicht tun? Sosehr sich die Schüler mit den gegebenen Bildern auseinandersetzten, so klar dominierte die Erzeugung von Geschichten eine eigentlich bildorientierte Auseinandersetzung mit dem gegebenen Bildmaterial. Dieses wurde vielmehr - und legitimerweise - als Ausgangspunkt und Anreger für das eigene Erzählen verwendet, sodass mit Details und mit Unterschieden zwischen Bildern großzügig umgegangen werden konnte. So nahm lediglich eine Gruppe darauf Rücksicht, dass eines der Bilder - im Unterschied zu den übrigen - ein Ölgemälde zeigte. Diese Gruppe, immerhin, deutete das Bild aus Traumbild und setzte es damit in Opposition zur sonst dargestellten ›Realität‹. Auch wurde nicht immer auf eine wirkliche Kohärenz der einzelnen Bilder geachtet, sodass etwa ein dargestellter junger Mann im Text auch zu einem sehr alten Mann werden konnte, wenn der Verlauf der Erzählung dies erforderte. Im Rahmen der Aufgabenstellung war eindeutig, dass dem Erzählen gegenüber dem Erzählanlass Vorrang eingeräumt werden durfte. Auch über die Aufgabenstellung hinaus lässt sich an der von den Schülern gewählten Vorgehensweise indes die Macht ihre Text- und Medienwissens ablesen, das sich gerade darin zur Geltung brachte, in der Dynamik von Geschichten die Bildvorgaben zwar nicht völlig zu invisibilisieren, aber doch zu überstimmen. 186 Sebastian Susteck 10 P ORTMANN (1994: 481), hält fest, „dass fremdsprachliches Schreiben in viel weiterem Ausmaß als muttersprachliches sich auf vorliegende Texte bezieht […]. Der Grund dafür liegt darin, dass durch solche Nähe zu Texten nicht nur Schreibaufgaben besser kontextualisiert werden können […], sondern auch die sprachlichen Probleme der Schreibenden etwas vermindert werden können: Bezugstexte können als Hilfsmittel fungieren“. Nur scheinbar widerspricht diese Analyse im Übrigen der eingangs geäußerten Einschätzung, gerade im fremdsprachlichen Unterricht seien textunabhängige Schreibübungen möglich, die im muttersprachlichen Unterricht kaum vorkämen. Eingangs nämlich ging es zunächst um eher systematische denn empirische Überlegungen oder - anders formuliert - um die Bandbreite sinnvoller Aufgabenstellungen im Rahmen der Zielsetzungen unterschiedlicher Fächer, was über die Intensität der Nutzung solcher Möglichkeiten noch keine Auskunft gibt. Darüber hinaus bleibt zu ergänzen, dass Portmanns Überlegungen sicherlich besonders die Unter- und frühe Mittelstufe der Schule betreffen. 11 Die Schwierigkeiten einer Diskussion grammatischer Fragen bei der Auseinandersetzung mit Texten von Lernenden besprechen unter anderem F RODESEN / H OLTEN (2003), die festhalten, dass solche Texte „offer models not only for rhetorical structures but for the language used to create them“ (153 f). 39 (2010) 5. Aspekte sprachlicher Auswertung Nun boten die von den Schülern entworfenen Texte selbstverständlich auch ausreichend großen Anlass, neben narratologischen sprachliche Fragen zum Thema zu machen, die freilich teilweise mit den narratologischen konvergieren. Festzuhalten ist, dass die oben wiedergegebenen Texte sprachlich punktuell modifiziert wurden, um das Lesen zu erleichtern und auszudrücken, was die Schüler vermutlich ausdrücken wollten. Gerade im Schreiben zur Bildsequenz, das ohne textliche Vorgaben auskam, die man übernehmen und adaptieren konnte 10 , zeigten sich auch sprachliche Grenzen der Schüler, die Grundlagen einer eigenen Diskussion werden konnten. Dies begann bei scheinbaren Trivialitäten, wie Rechtschreibfehlern, die teilweise sinnentstellend waren (were statt where, couldness statt coldness). Es führte weiter über Fehler im Vokabular, die von einfachen Wortverwechslungen (wie der zwischen to complain und to compare) zum ungenauen oder falschen Ausdruck führten (to take place anstelle von to sit). Noch wichtiger und grundlegender waren darüber hinaus Fragen der verwendeten Zeit 11 , aber auch der Syntax, wobei es im letzten Fall weniger um offensichtliche Fehler als um die Suche nach einem anspruchsvollen Ausdruck ging. Zu den gravierendsten Fehlern - oder vorsichtiger: Unstimmigkeiten - in den entstandenen Texten gehörten solche der Zeitwahl. Hierbei war nicht nur auffällig, dass die Schüler verhältnismäßig oft nicht im Imperfekt schrieben, sondern auch, dass sie überhaupt keine klare Zeitwahl trafen und zwischen Präsens und Imperfekt schwankten. Darüber hinaus misslang in der Regel die Relationierung verschiedener Zeiten und hier besonders der Ausdruck der Vorvergangenheit. Positiv gewendet boten die entsprechenden Probleme eine doppelte Anschlussmöglichkeit für Diskussionen, nämlich erstens bezüglich der Gattungsfrage der Texte und den Zeitregeln literarischen Erzählens, zweitens aber bezüglich der Ausdrucksmöglichkeiten von Zeitverhältnissen (und auch einer immer wieder aufs Neue nötigen Wiederholung der Zeiten). Eine Sonderstellung kam im Kontext der skizzierten Textproduktion syntaktischen Fragen zu. Dies galt nicht nur deshalb, weil das Bemühen um eine anspruchsvolle und abwechslungsreiche Syntax in der ausgehenden Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II Schreiben zur Bildsequenz ... 187 39 (2010) besonders dringlich wird. Vielmehr ging eine eventuelle syntaktische ›Dürftigkeit‹, die man an den zitierten Texten kritisieren mag, in zweifacher Weise aus jener Aufgabenstellung hervor, die der Textproduktion zugrunde lag. Zum einen galt dies für die Präsentationsweise der entstandenen Geschichten auf Plakaten, die komplexen syntaktischen Experimenten sicherlich abträglich war, insofern der begrenzte Raum Schülern grundsätzlich nahezulegen scheint, sich auf einfache, auch von der Länge ›beherrschbare‹ syntaktische Konstruktionen zu verlassen. Zum zweiten legte auch das Schreiben zu Bildsequenzen selbst die Wahl bestimmter syntaktischer Ausdrucksformen nahe, wie vor allem eine Folge von Hauptsätzen, die einer Bilder- und Geschehensfolge entspricht. Wie sich bereits an den zitierten Texten erkennen lässt, drängte die Aufgabenform die Schüler in Richtung parataktischer Konstruktionen, die einem ›reinen‹, um motivationale Zusammenhänge nur bedingt bemühten Erzählen durchaus angemessen scheinen. Wo über Hauptsatzfolgen hinausgegangen wurde, finden sich in der Regel einfache Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, die meist konditionaler oder kausaler Art waren. Erneut kann man die entsprechenden Probleme dabei durchaus zum Anknüpfungspunkt einer Weiterentwicklung des Schreibens machen, die in der stilistischen Überarbeitung und Anreicherung der Texte besteht. Damit fände das Schreiben zu Bildsequenzen auch Anschluss an eine prozessorientierte Textproduktion, die gegenwärtig eine wichtige Rolle in der Didaktik des Schreibens spielt. 6. Die Reaktivierung rhetorischer Schreibvorstellungen Als das Konzept des Genies im späten 18. Jahrhundert entsteht, bildet sich mit ihm das eigentümliche Phänomen der ›Künstler ohne Werke‹ (vgl. P LUMPE 1995: 83 f). Es handelt sich um Personen, deren künstlerische Tätigkeit sich ausschließlich im Innern vollzieht, ohne sich in Werken niederzuschlagen. Tatsächlich bezieht der Begriff des Genies sich auf spezifisch disponierte Subjekte eher denn Schöpfungen, weshalb die Rede des Genies ohne Produkt Sinn ergibt. Psychologisch freilich kann man ›Künstler ohne Werke‹ auch als Opfer eines Geniegedankens sehen, der den Einzelnen mit der Forderung nach höchst individuellen und originellen Kunstleistungen be- und überlastet. Eine Reaktivierung rhetorischer Vorstellungen des Schreibens und künstlerischen Schaffens kann einem solchen Denken gegenüber noch heute befreiend wirken. Sie zu betonen ist auch didaktisch sinnvoll, zumal die reale Medienerfahrung und -nutzung von Lernenden weniger aus einer Kunst gespeist sein dürfte, die höchste Originalitätsansprüche erhebt, denn aus einer Kunst, die massenhaft produziert wird und die ihre Rezipienten doch zu fesseln vermag. Zu offenen Bildsequenzen zu schreiben ist ein Weg, sich im Fremdsprachenunterricht auf eine rhetorische wie topische Kunstvorstellung einzulassen und in diesem Rahmen Raum für Kreativität zu geben. Indem Bilder den Schreibprozess anregen und limitieren, eröffnen sie Möglichkeiten eigener Schöpfungen, ohne Schreibenden zu viel abzuverlangen. Die dabei entstehenden Texte aber basieren nicht nur auf der Nutzung der Fremdsprache, sondern sie geben in ihrer topischen - und mitunter bewusst klischeehaften - Verfasstheit vielfache Möglichkeiten der Diskussion auch narratologischer und linguistischer Aspekte. 188 Sebastian Susteck 39 (2010) Literatur A BRAHAM , Ulf / K EPSER , Matthis (2006): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Schmidt. B EILE , Werner (1996): „Kreatives Schreiben in der fremden Sprache“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 3, H. 23, 4-11. B ORNSCHEUER , Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. C ASPARI , Daniela (2003): „Kreativität“. In: B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K RUMM , Hans- Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen/ Basel: Francke, 308-312. 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Angesichts unserer politischen Situation ist es ein „Fahrstuhl zu den Wurzeln Europas“ (F. M AIER ). 2. Als Schulfächer werden die modernen Fremdsprachen und Latein eher kontrastiv unterrichtet. Wir unterscheiden eine pragmatische und eine bildungsorientierte Linie: Die modernen Fremdsprachen streben Kommunikationsfähigkeit an, also Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben. Es geht ihnen um aktive Kompetenzen. Latein betont dagegen eher rezeptive Kompetenzen: Übersicht über Sprachstrukturen, Textinterpretation, literarische und kulturgeschichtliche Einsichten, Allgemeinbildung. Lateindidaktiker sprechen von der Multivalenz des Faches. Solche Unterschiede sind im Bildungskonzept des Gymnasiums positiv zu werten: Fremdsprachen, ob modern oder antik, haben zwar viele Gemeinsamkeiten, aber auch eine starke didaktische Typenvarianz. Aus lernökonomischen Gründen und zugunsten einer möglichst breiten Allgemeinbildung erscheint gerade dieses Angebot sinnvoll. 3. Trotz solcher Differenz ist Latein eine große Hilfe für moderne Fremdsprachen: - Das Vokabular aller wichtigen europäischen Sprachen ist zu beträchtlichen Anteilen durch Latein bestimmt. Hier einige Belege für die Dauerhaftigkeit des Lateinischen (nach V OSSEN ): Von den 2000 gebräuchlichsten französischen Wörtern haben 18,2 % den lateinischen Stamm getreu bewahrt, von etwa 8000 italienischen Wörtern im Langenscheidt-Wörterbuch werden rund 20 % noch genau so geschrieben wie im Lateinischen, von etwa 2000 Wörtern des spanischen Grundwortschatzes haben ca. 27 % die lateinischen Stämme unvermindert beibehalten. Noch heute ist vom englischen Wortschatz etwas mehr als die Hälfte lateinisch-romanischen Ursprungs. - Auch die Grammatik der romanischen Sprachen geht fundamental auf Latein zurück; F. B ODMER (Die Sprachen der Welt, 1955 u.ö.) hat dies in einem umfangreichen Kapitel dargestellt. Wer also Satzstrukturen der lateinischen Grammatik gelernt hat, findet leichter Zugang zur Grammatik der anderen Sprachen. Latein ist (neben Griechisch) die Fundamentalsprache der Wissenschaft und ein Medium anspruchsvoller Kommunikation. Autoren, die Wichtiges in Publizistik, Literatur und den Wissenschaften zu sagen haben, greifen in den meisten Sprachen auf lateinische Begriffe und Vokabeln zurück. - Schließlich ist Latein ein „Trainingszentrum anspruchsvoller Denkoperationen“. Vor allem in der grammatischen Schulung und der literarischen Texterschließung werden sprachliche Denkakte vollzogen, die selbstverständlich dem Erlernen weiterer Fremdsprachen zugute kommen. Garmisch-Partenkirchen K LAUS W ESTPHALEN Latein als Hilfe im modernen Fremdsprachenunterricht Pro und Contra 191 39 (2010) Contra Contra Die Bedeutung des Lateinischen für den Erwerb lebender Sprachen wurde lange nicht in Frage gestellt: Latein sei sprachlich modellhaft und insbesondere für den Erwerb romanischer Sprachen unverzichtbar. Obwohl sich bereits mit Viëtor das Verständnis lebender Sprachen von dem der toten gelöst hat, werden erst seit Kurzem Aussagen zum Einfluss des Lateinischen auf andere Sprachen („Mutter der romanischen Sprachen“) in Lehrplänen oder Werbevorlagen für das Fach Latein vorsichtiger formuliert. Fremdsprachenlernen bedeutet nach heutigem Sprachverständnis die Entwicklung einer kommunikativen, interkulturellen Handlungskompetenz. Hierfür werden rezeptive und produktive Fertigkeiten, Mediation und der funktionale Einsatz von Lexik, Aussprache, Intonation und Grammatik trainiert. Strategien sollen die Lernprozesse unterstützen und den Weg zur individuellen Mehrsprachigkeit ebnen. Welchen Beitrag kann Latein hierzu leisten? Prinzipiell hilfreich für den Erwerb des Englischen und der romanischen Sprachen sind die zahlreichen lexikalischen Transferbasen - wenn denn im Lateinunterricht zuvor entsprechende Themen behandelt wurden. Inferenzen scheinen vor allem von einer aktiven Beherrschung der lateinischen Vokabeln abzuhängen (vgl. J. M ÜLLER -L ANCÉ : Der Wortschatz romanischer Sprachen im Tertiärsprachenerwerb. [...]. Tübingen: Stauffenburg 2 2006, 467). Da die meisten Lernenden einen so hohen Kompetenzgrad nicht erreichen, rekurrieren sie eher auf andere moderne Fremdsprachen. Die Interkomprehensionsdidaktik entwickelt hierfür derzeit gezielt Modelle. Die Transferierbarkeit grammatischer Phänomene hängt von der strukturellen Nähe der nachgelernten Sprache zum Lateinischen ab, das Französische hat sich dabei z.B. weiter vom Lateinischen entfernt als das Spanische. Die produktiven Fertigkeiten - Kern der kommunikativen Kompetenz - und die Mediation fördert Latein überhaupt nicht, ebenso wenig das Hör-/ Sehverstehen z.B. eines Films oder eines Multilogs in Jugendsprache. Beim Leseverstehen scheint das gängige Verfahren des Konstruierens und exakten Erfassens von Textaussagen dem detaillierten Lesen im Fremdsprachenunterricht zu nutzen, während kursorisches oder globales Lesen ebenso wenig geübt werden kann wie lernerorientierte, produktive Textarbeit. Schließlich ist die durch Reflexionen über die distante antike Kultur aufgebaute interkulturelle Kompetenz eine ganz andere als die, die bei persönlicher, ganzheitlicher Kommunikation mit Sprechern des Zielsprachenlands vonnöten ist. Da also die meisten Kompetenzbereiche des Lateinischen von denen der modernen Fremdsprachen abweichen, sind auch die entsprechenden Strategien nicht übertragbar, denn effektiv sind spezifische und nicht die fürs Lateinische viel gepriesenen allgemein problemlösenden Strategien. Aus demselben Grund ist auch das Beherrschen der „Sprachreflexivität“ in Latein kaum transferierbar; hierfür setzen Lernende nämlich ihre den lernersprachlichen Bedürfnissen angepasste language awareness ein. Dass sich der Lateinunterricht von einem alten Argument verabschieden muss, sollte ihm keinen Abbruch tun. Hingegen ist mit Sorge zu sehen, dass er in Deutschland - anders als in allen romanischsprachigen Ländern - durch seine Stellung als 1. oder 2. Fremdsprache weiterhin den Weg zur Mehrsprachigkeit blockiert, denn viele Schüler mit solch einer Sprachenfolge lernen neben Englisch bis zum Schulabschluss keine zweite moderne Fremdsprache. Daher kann das Postulat „1+2“ der europäischen Kommission in diesem Kontext nicht genug betont werden. Leipzig C HRISTIANE N EVELING 1 Standardisierte Sprachtests bilden einen Schwerpunkt von: Rüdiger G ROTJAHN : Testen und Evaluieren fremdsprachlicher Kompetenzen: Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Narr 2010 [erscheint]. 39 (2010) Andrea D LASKA , Christian K REKELER : Sprachtests: Leistungsbeurteilungen im Fremdsprachenunterricht evaluieren und verbessern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2009. VI + 195 Seiten [19,00 €] Während die Zahl englischsprachiger Publikationen zu den Themen „Language Testing“ und „Language Assessment“ in den letzten Jahren exponentiell zugenommen hat, ist die Zahl entsprechender deutschsprachiger Buchpublikationen bisher vergleichsweise gering. Das vorliegende Buch fokussiert einen wichtigen Teilbereich, nämlich die Evaluation und Verbesserung von Leistungsbeurteilung durch Lehrkräfte im Fremdsprachenunterricht. Hierzu werden spezielle Qualitätskriterien entwickelt und anhand von deutsch- und englischsprachigen Beispielen illustriert. Die Autor(inn)en sprechen sich u.a. für ein aufgabenbasiertes Testen im Sinne direkter Performanztests sowie für eine kriteriumsorientierte Beurteilung aus. Behandelt werden informelle Tests zum Lesen und Schreiben, informelle Tests mit Fachbezug sowie alternative Formen der Leistungsbeurteilung. Den Begriff „informelle Tests“ verstehen die Autor(inn)en im Sinne von durch Lehrerkräfte erstellte, testmethodisch nicht erprobte Verfahren. Im vorliegenden Buch geht es somit nicht um eine Darstellung standardisierter Formen des Sprachtestens. Diese werden der „Welt der Testinstitute“ zugerechnet und im 1. Kapitel (S. 5-32) mit der „Welt des Unterrichts“ kontrastiert. 1 Dabei wird allerdings wie auch in weiteren Kapiteln ein m.E. zumindest in Teilen ungerechtfertigter und unfruchtbarer Gegensatz aufgebaut. Dies gilt umso mehr, als die Autor(inn)en unterrichtsbezogene informelle Sprachtests immer wieder auch im Lichte der im wissenschaftlichen Umgang mit Tests üblichen psychometrischen Kriterien (z.B. Reliabilität) kritisch evaluieren. Im umfangreichen 2. Kapitel (S. 33-77) geht es um Qualitätskriterien von Leistungsbeurteilungen. Die Autor(inn)en orientieren sich vor allem an Bachman und Palmers Kriterium der Nützlichkeit und dessen sechs Unterkriterien. Außerdem gehen sie kurz auf das Validitätskonzept von Cyril Weir aus dem Jahre 2005 ein, wobei allerdings die Ausführungen vor allem zur theoriegeleiteten Validität (vgl. S. 40) nur eingeschränkt zutreffen und auch unberücksichtigt lassen, dass Weir seit einigen Jahren anstelle von theory-based validity den weit treffenderen Terminus cognitive validity verwendet. D LASKA und K REKELER schlagen selbst folgende vier ausführlich begründete Qualitätskriterien informeller Leistungsbeurteilungen vor: Gerechtigkeit („Werden oder fühlen sich Teilnehmer benachteiligt? “), Rückmeldung („Erhalten die Teilnehmer eine lernfördernde Rückmeldung? “), Auswirkungen („Gibt es positive Auswirkungen auf das Lernen? “ sowie Aktivität („Ist die Bearbeitung der Aufgaben eine sinnvolle Lernaktivität? “). Besonders hervorgehoben werden die potenziell positiven bzw. negativen Auswirkungen von Leistungsbeurteilungen auf die Lerner und das Lernen. Eine hohe Reliabilität wird dagegen im Vergleich zu den vier genannten Kriterien als nachrangig angesehen, ohne dass jedoch potenziell negative Konsequenzen deutlich genug herausgestellt werden. Begrüßenswert ist die ausführliche, durch eine breite Literaturrezeption abgesicherte Darstellung der Bedeutung der Rückmeldung für das Lernen. Die Autor(inn)en kennzeichnen Merkmale effektiver Rückmeldungen und argumentieren zu Recht, dass die Qualität der Rückmeldung maßgeblich zur Qualität und Nützlichkeit von Sprachtests beiträgt. Abschließend weisen sie darauf hin, dass es Überschneidungen zwischen den genannten vier Kriterien gibt und dass man keine B u c h b e s p r e c h u n g e n C R e z e n s i o n s a rt i k e l Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 193 39 (2010) universelle Gewichtung vornehmen kann. Diese muss vielmehr stets „in Abhängigkeit von der spezifischen Situation und von der jeweiligen Testfunktion bestimmt werden“ (S. 75). Kritisch ist anzumerken, dass es hier wie auch in anderen Kapiteln eine Reihe von unklaren Formulierungen gibt. So heißt es z.B. auf S. 15: „Während es bei der Bewertung (rating) von Sprachtests darum geht, einer Leistung einen Punktwert zuzuweisen, geht es bei der Beurteilung (assessment) darum, Sprachkompetenzen zu messen“ (S. 15). Hier wird m.E. weder deutlich, wie sich Bewertung und Beurteilung unterscheiden, noch was die Autor(inn)en unter Messen verstehen. Ein weiteres Beispiel ist die nicht korrekte Verwendung der Begriffe „klassische Testtheorie“ und „probabilistische Testtheorie“ (vgl. z.B. S. 21, 33, 80): Es werden zum einen Objektivität, Reliabilität und Validität als Hauptkriterien der klassischen Testtheorie charakterisiert (S. 33), ohne zu berücksichtigen, dass der Terminus „klassische Testtheorie“ üblicherweise eine (axiomatische) Messfehlertheorie bezeichnet und keinen unmittelbaren Bezug zu den klassischen Gütekriterien hat. Zum anderen werden irrtümlich statistische Verfahren wie z.B. die Berechnung von Trennschärfen und Schwierigkeiten der probabilistischen Testtheorie zugerechnet. Im 3. Kapitel (S. 78-94) geht es um Tests zum Leseverstehen. Die Autor(inn)en verzichten auf eine Beschäftigung mit Modellen zum Leseprozess - mit der Begründung, dass sie keine sprachlichen Kompetenztests entwickeln wollen. Diese Argumentation greift m.E. jedoch zu kurz: Auch wenn man einen aufgabenbasierten Ansatz favorisiert, benötigt man trotzdem zumindest rudimentäre Modelle von Hörverstehenskompetenz - z.B. zur Begründung von Aussagen zur Gerechtigkeit. Zu Recht warnen die Autor(inn)en jedoch vor dem unterrichtlichen Einsatz von Multiple-Choice Items. Diese bedürfen zum einen einer gründlichen Vorerprobung. Zum anderen sind die Auswirkungen auf den Unterricht potenziell negativ, da die Bearbeitung der Items kaum Affinitäten zu einer sinnvollen Lernaktivität aufweist. Hier wie auch an weiteren Stellen sprechen sich die Autor(inn)en für kombinierte Aufgabenstellungen wie „Lesen und Schreiben“ oder „Lesen und Sprechen“ aus - mit dem m.E. nicht hinreichend begründeten Argument, dass es im Fremdsprachenunterricht nur selten erforderlich sei, einzelne Fertigkeiten unabhängig von anderen Fertigkeiten zu diagnostizieren (S. 92). Dass sich mangelhafte Testleistungen dann nicht mehr eindeutig interpretieren lassen, wird nicht weiter thematisiert. Das 4. Kapitel (S. 95-119) behandelt Tests zum Schreiben. Auch hier gehen die Autor(inn)en wieder auf die wichtige Frage einer adäquaten Rückmeldung und insbesondere auf die Fehlerkennzeichnung und -korrektur in praxisrelevanter Weise ein. Daran anschließend beschreiben sie Methoden der Textbewertung wie ganzheitliche Bewertung und analytische Bewertung. Die Darstellung des in der Praxis wichtigen (prozentualen) Fehlerquotienten ist allerdings verwirrend: Die gegebene Definition des Fehlerquotienten entspricht nämlich weder dem angeführten Berechnungsbeispiel noch der in der Bewertungspraxis der Schule üblichen Definition. Letztere stimmt vielmehr mit dem von D LASKA und K REKELER als Fehlerprozentsatz bezeichneten Index überein (vgl. S. 109). Zudem werden fehlerorientierte Bewertungen als „nur auf die sprachliche Richtigkeit begrenzt“ (S. 110) charakterisiert und damit in ihrer Aussagekraft m.E. unterschätzt. Im 5. Kapitel (S. 120-135) geht es um Sprachtests mit Fachbezug. Für diese ist in der Regel konstitutiv, dass die Aufgaben typisch für fachsprachliche Kommunikationssituationen sind und zur Lösung der Aufgaben sowohl sprachliche als auch fachliche Kompetenzen nötig sind. Die Autor(inn)en geben Beispiele für Tests mit unterschiedlich starkem Fachbezug und weisen darauf hin, dass mit zunehmendem Fachbezug die Generalisierbarkeit der Ergebnisse sinkt. Problematisch ist die auf S. 128 vorgestellte kombinierte „Aufgabe zum Hören“. Hier soll auf der Basis eines Vortrags die Wirkungsweise eines Getriebes beschrieben werden. Wie die Autoren selbst feststellen, kann die Aufgabe bei entsprechenden fachlichen und sprachlichen Kenntnissen auch ohne den Hörtext bearbeitet werden. Es handelt sich m.E. dann allerdings eher um eine Schreibaufgabe, 194 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) wobei der Anteil der Schreibkompetenz am gemessenen Konstrukt wiederum von den Bewertungskriterien abhängt - ein nicht thematisierter Aspekt. Den Reiz von Sprachtests mit Fachbezug sehen die Autor(inn)en u.a. „in der authentischen oder realitätsnahen Aktivität, die mit dem Test initiiert wird“ (S. 135). Im Kapitel 6 (S. 136-173) werden alternative Formen der Leistungsbeurteilung als Teil einer vielfältigen Beurteilungskultur dargestellt. Während bei konventionellen Testverfahren die Prüflinge normalerweise einzeln unter Aufsicht unbekannte Aufgaben in vorgegebener Zeit bearbeiten, gilt in Bezug auf alternative Verfahren u.a.: Es kann sich um Gruppenleistungen handeln; die Bearbeitung der Aufgaben muss nicht unter Aufsicht erfolgen; die Bearbeitungszeit kann flexibel sein; die Bewertung kann durch die Lerngruppe oder den Lerner selbst erfolgen. Entsprechend fokussieren die Autor(inn)en folgende Verfahren: Selbstbeurteilung, Beurteilung durch die Lerngruppe, Beurteilung von Gruppenleistungen, Beurteilung anhand von Portfolios. Im Zusammenhang mit der Selbstbeurteilung diskutieren sie u.a. deren Wichtigkeit als metakognitive Strategie z.B. im Kontext autonomen Lernens sowie deren Bedeutung beim Schreibprozess und bei der Aussprache. Die Beurteilung durch die Lerngruppe sehen sie u.a. als Möglichkeit, die Machtbalance im Unterricht zu verändern und autonomes Lernen zu fördern (S. 156). Bei der Beurteilung von Gruppenleistungen sehen sie ein potenzielles Gerechtigkeitsproblem und empfehlen u.a., dies bei der Gruppenzusammenstellung zu berücksichtigen. Portfolios sollten nach Ansicht von D LASKA und K REKELER insbesondere zur formativen Prozessevaluation sowie auch zur Vermeidung von belastenden Testsituationen eingesetzt werden. Die Chance einer Portfolio-Beurteilung sehen sie darin, „dass die Lerner ihr Können über einen längeren Zeitraum unter ihrer eigenen Kontrolle und Steuerung unter Beweis stellen können“ (S. 172), und sie verweisen zu Recht auf das Motivationspotenzial von Portfolio-Beurteilungen. Das Buch schließt mit einer kurzen Schlussbemerkung, in der noch einmal zentrale Aspekte herausgestellt werden (S. 174 f), sowie einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem ausführlichen Index unter Einschluss von englischen Begriffen. Fazit: Das vorliegende Buch ist nicht einfach abschließend zu bewerten. Hinzufügen zu den bereits genannten Kritikpunkten lässt sich z.B. noch, dass die Autor(inn)en nur sehr eingeschränkt auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen eingehen. Gewünscht hätte ich mir auch eine Diskussion des Kompetenzbegriffs vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um kompetenzorientiertes Unterrichten und Testen. Statt dessen findet man nur eine Unterscheidung zwischen Performanztests als Verfahren zur Messung der Fähigkeit im Umgang mit bestimmten Sprachverwendungssituationen und Kompetenztests im Sinne von system-referenced tests zur Messung der Beherrschung von Sprache unabhängig von konkreten Anwendungssituationen (vgl. S. 24). Außerdem wird von den Autor(inn)en immer wieder betont, dass man bei unterrichtsnahen lehrererstellten Tests keine Erprobungen durchführt. Dies ist zwar die Regel, aber nichtsdestoweniger kein wünschenswerter Zustand. So ist z.B. eine rudimentäre statistische Analyse der Testergebnisse durchaus denkbar. Dazu bedarf es allerdings des entsprechenden testmethodischen Rüstzeugs - ein im vorliegenden Buch ausgesparter Bereich. Als sehr positiv ist m.E. insbesondere die ausführliche und anregende Darstellung der Wichtigkeit von Rückmeldungen sowie der potenziellen Auswirkungen von Beurteilungen auf den Sprachunterricht zu werten. Insgesamt gesehen stellt das vorliegende Buch eine willkommene Bereicherung der deutschsprachigen Sprachtestliteratur dar, wobei sich die aus der Sicht des Rezensenten problematischen Aspekte in zukünftigen Neuauflagen leicht korrigieren lassen. Bochum R ÜDIGER G ROTJAHN Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 195 1 Gary B UCK : Assessing listening. Cambridge: Cambridge University Press 2001; David M ENDELSOHN / Joan R UBIN (eds.): A Guide for the Teaching of Second Language Listening. Cambridge University Press 2001; Michael R OST : Teaching and Researching Listening. London: Pearson Education 2002, John F LOWERDEW / Linda M ILLER : Second Language Listening: Theory and Practice. New York, Cambridge University Press 2005. J. F IELD : Listening in the language classroom. Cambridge/ UK & New York: Cambridge University Press 2008 - um die wichtigsten zu nennen. 2 Gert S OLMECKE : Texte hören, lesen und verstehen. Berlin [etc.]: Langenscheidt 1993. 39 (2010) Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ : Fremdsprachliches Hörverstehen im Erwachsenenalter. Theoretische und empirische Grundlagen zur adressatengerechten und integrativen Förderung der Hörverstehenskompetenz am Beispiel Deutsch als Fremdsprache in Polen. Poznań: Instytut Lingwistyki Stosowanej UAM 2009 (Reihe: Język Kultura Komunikacja 6), 403 Seiten [43,00 Złoty] In den aktuellen englischsprachigen Titeln zum Thema Hörverstehen 1 wird die fachdidaktische Diskussion in Deutschland ausgeblendet. Es gibt überhaupt bislang kein Werk, das sich ausführlicher auf deutschsprachige Publikationen bezieht, da auch Solmeckes „Klassiker“ (1993) 2 weitgehend auf angelsächsischer Forschung basiert. In dieser Hinsicht ist der Forschungsbericht in den ersten vier Kapiteln des Buches von Sylwia Adamczak-Krysztofowicz schon ein bahnbrechendes Werk: Er gibt einen gründlichen und umfassenden Überblick über die deutschsprachige und polnische Forschung und Literatur zum Thema Hörverstehen und klammert die englischsprachigen dabei nicht aus. Als Leser staunt man dabei immer wieder, wie viele deutschsprachige Publikationen es zu sehr vielen Aspekten des Hörverstehens gibt. Hier sind sie zum ersten Mal umfassend zusammengeführt. Dazu kommt, dass die Verfasserin mit großer Energie und souveränem Zugriff in jedem Kapitel Systematisierungen vornimmt, die eine sinnvolle Einordnung der vielen erfassten Titel erlauben. Kapitel 2 ist dem „Hörverstehensprozess in der Mutter- und Fremdsprache“ gewidmet. Ein Abschnitt gibt einen Überblick über Theorien der Laut-, Wort- und Satzerkennung, also die sprachpsychologischen Grundlagen des Hörverstehens, ein zweiter referiert Modelle fremdsprachlicher Hörverstehensprozesse. Vor allem dieses Kapitel beeindruckt durch ein klares Konzept von konstruktivistischen Modellierungen, bei denen der Begriff der „Verarbeitungstiefe“ eine wichtige Rolle spielt. Auch im 3. Kapitel „Zur Entwicklung der fremdsprachlichen Hörverstehenskompetenz“ findet man eine klar strukturierte Darstellung aktueller Kompetenzmodelle. Der kritische Blick auf den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen, aber auch auf andere Ansätze ist überzeugend, weil er im Rahmen einer plausiblen und stets sehr systematischen Argumentation erfolgt. Die fremdsprachendidaktische Forschung zur Entwicklung des Hörverstehens, aber auch die vielen konkurrierenden oder aufeinander bezogenen Modelle werden hier akribisch umrissen. Dieses Kapitel ist die gründlichste und erhellendste aktuelle Übersicht zu diesem Thema, die mir bekannt ist. Das Kapitel 4 über Hörverstehen im Erwachsenenalter ist nicht ganz so überzeugend, obgleich auch hier wiederum die bekannten lerntheoretischen Forschungsansätze zur Frage des Fremdsprachenlernens im Erwachsenenalter gut erfasst sind. Im Abschnitt 4.3.3 fragt man sich dann allerdings, ob bei dieser Diskussion nicht doch einige Faktoren übersehen wurden, denn die beschriebenen Lernschwierigkeiten Erwachsener treffen in vollem Umfang z.B. auch für Hauptschüler zu, was die Verfasserin auch anmerkt (S. 165); es bleibt allerdings bei dieser rhetorischen Frage. Zusammenfassend kann man aber feststellen, dass dieser Forschungsbericht sehr aufschlussreich ist und Schneisen in das Dickicht der verzweigten Diskussion der verschiedenen Aspekte vor allem kompetenzorientierter Entwicklung des Hörverstehens schlägt. Er macht das Buch sehr lesenswert. 196 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 3 Eckhard Klieme [et al.] (Hrsg.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim [u.a.]: Beltz 2008. 4 Vgl. http: / / www.winstat.de/ function/ function.htm (zuletzt besucht am 07. 12. 2009) 39 (2010) Der zweite Teil des Buches berichtet dann über eine empirische Untersuchung zum Hörverstehen in polnischen DaF-Kursen für Erwachsene in Sprachschulen und anderen Institutionen. Eine gerechte Würdigung dieses Teils ist schwierig, weil diese Habilitation die Arbeit einer einzelnen Person darstellt. Sie ist nicht aus einem Forschungsverbund hervorgegangen, in dem umfangreichere Ressourcen zur Verfügung gestanden hätten. Nun sind aber unter dem Druck der bekannten Großprojekte der Bildungsforschung die Ansprüche an empirische Arbeiten in den letzten Jahren ganz erheblich gestiegen. Das Handwerkszeug, das mittlerweile im Gefolge von DESI 3 und vielen anderen Studien Standard in deutschen Forschungsarbeiten geworden ist und das international vor allem in den USA schon seit langem üblich ist, stand der Verfasserin ganz offensichtlich nicht zur Verfügung. Nicht möglich war wohl auch ein offener Zugang zum Forschungsfeld, was wahrscheinlich dazu beitrug, dass schon die Fragen, denen Adamczak-Krysztofowicz in ihrer Untersuchung nachgeht, unter diesen Beschränkungen nicht ganz glücklich entwickelt wurden. Es sind Fragen nach dem Stellenwert des Hörverstehens in der Einschätzung erwachsener Deutschlernender in Polen, dem aktuellen Stand der Materialien und Methoden, mit denen zum Zeitpunkt der Erhebung in Polen gearbeitet wurde, nach Auswahlkriterien und vor allem nach Faktoren, die die Schwierigkeit von Hörtexten und -aufgaben steuern. Dies wurde mit Fragenbögen und Leitfadeninterviews untersucht. Das Ziel der Untersuchung, zur Verbesserung des Unterrichts beizutragen, rückt sie in die Nähe von Interventionsforschung, was sicher kein Nachteil ist. Auch ist das Design, vor allem das Sampling, gut durchdacht und plausibel: eine qualitative Vorstudie mit 23 Lernenden (und 11 Kursleitern), die das Interview mitmachten, sollte die Items des Fragebogens absichern, der von 318 Lernenden ausgefüllt wurde. Dieser Fragebogen sollte wiederum die in der explorativen Vorstudie gewonnenen Aussagen generalisierbar machen. Das Problem der Untersuchung besteht vor allem darin, dass fast ausschließlich nur die prozentuale Häufigkeit von Antworten ermittelt wird; nur in zwei Aspekten gibt es Korrelationen („Alter und Hörverstehen“ und „Anzahl der gelernten Sprachen und Hörverstehen“). Das wird mit Hilfe von Excel ermittelt. Die Möglichkeiten dieses Programms mit Hilfe kostenloser oder freier Zusatzprogramme wie WinSTAT 4 werden nicht genutzt, jedenfalls gibt es dazu bei den Tabellen keine Hinweise. Es finden sich nirgends Überlegungen zur Signifikanz der Aussagen und der Skalierungen (Zufälligkeitstests, Ausreißer u.a.). Nicht einmal Korrelationen zu den personalen Daten werden dargestellt, geschweige denn t-Tests oder Varianzanalysen bei den dringend notwendigen genaueren Interpretationen der Daten nach Verteilung in Gruppen oder nach anderen Merkmalen. Das macht die Befunde allein schon formal wenig belastbar. Aber auch inhaltlich bringen die Antworten der Lernenden, die in Kapitel 6 referiert werden, nur wenig, was man nicht schon aus der Fachliteratur kennt. „Exploriert“ (sprich: Neuland erkundet) wird da wenig, denn dass z.B. für Lernende die gesprochene Sprache ein wichtiges Kursziel ist (S. 192), ist solange trivial, wie damit keine Rückkoppelung an Fragen der Motivation (Gründe für die Kurswahl) verbunden ist. Auch die Aussagen über Faktoren, die die Schwierigkeit von Hörverstehensübungen beeinflussen, sind aus der Fachliteratur und aus älteren Forschungen hinreichend bekannt. Die ermittelten Werte bestätigen das zwar, sind aber wegen des eher bescheidenen forschungsmethodischen Ansatzes auch nicht weiterführend. Dieser ganze explorative Teil enthält zwar viele interessante Aspekte (die sich dem des Polnischen nicht kundigen Leser aber nicht vollständig erschließen), die aber auch nicht immer überzeugend analysiert sind. So sind die Schlüsse auf S. 255, dass Lehrer die Bedeutung des Hörverstehens falsch einschätzen, m. E. zu wenig kontextualisiert. Könnte es nicht auch sein, dass die Hörmaterialien einfach nicht so leicht Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 197 39 (2010) zugänglich sind, die Geräte fehlen, die Lehrenden andere „subjektive“ und trotzdem plausible Theorien des Unterrichts verfolgen usw.? Das wäre nun wirklich nur durch eine Korrelation zu personalen Faktoren aussagekräftig geworden, z.B. nach dem Alter der Lehrenden bzw. Lernenden, aus dem man ihre didaktische Sozialisation erschließen könnte. Bei manchen anderen Fragen stellt man ebenfalls fest, dass die Verfasserin zwar klare didaktische Ziele im Sinn hat, dass deren Ableitung aber auch bereits aus der in Teil 1 referierten Fachliteratur plausibel gewesen wäre. Alle ihre Forderungen, die sie bereits auf der Basis der schmalen Ergebnisse erhebt, sind gut nachvollziehbar und sinnvoll - aber im Grund nicht neu (z.B. S. 259 zur Lehrerfortbildung). Die Auswertung der Daten aus dem quantitativen Teil der Studie in Kapitel 7 sind aus den oben erläuterten forschungsmethodischen Gründen nicht belastbar, inhaltlich sind sie zu den Befunden des Kapitels 6 weitgehend redundant. Es gibt nur ein oder zwei interessante Aspekte, so z.B. auf S. 272 der Befund, dass Übungen im Leseverstehen - weil sie Verstehensstrategien trainieren - auch das Hörverstehen verbessern können, aber auch dies ist nur behauptet und nicht empirisch (im engeren Sinn des Wortes) ermittelt. Auch bei den Beobachtungen zur Abhängigkeit der Hörverstehenskompetenz vom Alter gibt es Befunde, die aufhorchen lassen. Hier werfen die Tabellen insgesamt allerdings mehr Fragen auf, als sie beantworten, da es keine Variablenkontrolle gibt. Trotz des einen oder anderen aufschlussreichen Details (etwa S. 281 der Hinweis, dass die Lernenden eher textbezogene als aufgabenbezogene Faktoren als Schwierigkeitsfaktor wahrnehmen) liest sich die empirische Studie leider wie eine Pflichtübung, die im Rahmen einer Habilitationsschrift unumgänglich war. Das ist schade, aber man kann sie ja bei der Lektüre des Buches überblättern und vom hervorragenden Forschungsbericht direkt übergehen zu den „Bausteinen einer erwachsenenspezifischen und integrativen HV-Didaktik“ in Kapitel 8. Hier schließt die Verfasserin nahtlos an den beeindruckenden theoretischen Teil 1 an und legt ihre didaktisch-methodischen Konzepte dar. Dies geschieht mit vielen Verweisen auf die Fachliteratur und wenigen und meist sehr pauschalen Verweisen auf den empirischen Teil, die in der Regel folgende rhetorische Struktur haben: „[...] die folgenden, auf der Grundlage der theoretischen Erkenntnisse (vgl. Kap. 4.3.3) und der durchgeführten Studie (vgl. Kap. 6.17 und 7.3.3) erarbeiteten Kriterien [...]“ (S. 332). Geht man diesen Verweisen nach, so fügen die Ergebnisse der Studie wenig zu den aus der Fachliteratur gewonnenen Erkenntnissen hinzu. Der Empfehlung, Hörverstehen „integrativ“ zusammen mit anderen Fertigkeiten in einer Art aufgabenorientiertem Ansatz zu trainieren, kann man nur zustimmen: sie ist bereits in Teil 1 gut begründet worden und wird hier kompetent und systematisch umgesetzt. Die Verfasserin umreißt akribisch und unter Einbezug aller nur denkbaren Aspekte ein genaues Bild ihrer Vorstellungen, von der Textauswahl und -beschaffenheit bis hin zu methodischen Details der Arbeit mit Hörtexten. Allen diesen Ausführungen mag man gerne folgen, obgleich sie - trotz der wiederum sehr systematischen und gut durchdachten Zusammenstellung - keine wesentlich neuen Erkenntnisse enthalten, sondern nur eine aus der Fachliteratur bereits bekannte Position beziehen. Man liest diesen Schluss am besten als einen aufschlussreichen und sehr gut organisierten Überblick über didaktischmethodische Ansätze und die Parameter, die sie steuern. Insgesamt ist das Buch trotz der Einwände gegen den zweiten Teil sehr empfehlenswert als didaktisch-methodischer update und als Überblick über den Forschungsstand in einem mittlerweile weltweit gut erforschten Bereich der Fremdsprachendidaktik. Bei einer Neuauflage sollten Verfasserin und Verlag allerdings überlegen, ob die Kapitel 6 und 7 nicht ersetzt werden könnten durch ein neues Kapitel mit veranschaulichenden Beispielen zum Kapitel 8. Lüneburg J ÜRGEN Q UETZ 198 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Richard E. Mayer: „Cognitive Theory of Multimedia Learning“. In: Ders. (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. New York: CUP 2005, 31-48. Wolfgang S CHNOTZ : „An Integrated Model of Text and Picture Comprehension“. In: Richard E. M AYER (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. New York: CUP 2005, 49-69. John S WELLER : „Cognitive Load During Problem Solving: Effects on Learning“. In: Cognitive Science 12 (1988), 257-285. 39 (2010) Julija S CHELLER : Animationen in der Grammatikvermittlung. Multimedialer Spracherwerb am Beispiel von Wechselpräpositionen. Münster: LIT 2008 (Kommunikation und Kulturen / Cultures and Communication; Band 7), 312 Seiten [24,90 €] Der sogenannte „Bildüberlegenheitseffekt“ sowie der didaktische Einsatz von bewegten Bildern (Animationen) werden zwar schon lange in der Forschungsliteratur zum Lernen mit Multimedia diskutiert, bisher liegen jedoch nur vereinzelt Studien vor, die die Wirkung von Animationen auf das Fremdsprachenlernen und speziell auf den Grammatikerwerb untersuchen. In ihrer Dissertation beschreibt Julija Scheller die theoretische Begründung, Konzeption und Entwicklung einer animierten Lerneinheit zum Thema „Kasuswahl nach Wechselpräpositionen“ für den Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF). Sie analysiert die Lernwirksamkeit von Grammatikanimationen anhand von drei Studien, einer experimentellen Studie mit 89 und zwei explorativen Studien mit 9 bzw. 13 DaF-Lernenden. Dabei geht es ihr in erster Linie darum, die Effizienz von multimedialen Grammatikanimationen zu analysieren, die auf der Basis eines alternativen kognitionspsychologischen Erklärungsansatzes für die Kasuswahl nach Wechselpräpositionen (Präpositionen, die je nach Bedeutung mit dem Dativ oder mit dem Akkusativ stehen können) konzipiert sind. Die kognitive Ausrichtung der Dissertation ist bereits im Inhaltsverzeichnis ersichtlich. In 4 Theoriekapiteln widmet sich Scheller den folgenden Themenbereichen: kognitive Prozesse beim (multimedialen) Lernen, kognitive Verarbeitung von Bildern und Animationen, psycholinguistische Aspekte der Grammatikvermittlung mit Animationen, Wechselpräpositionen aus linguistischer und didaktischer Sicht. Zu Beginn des Theorieteils klärt die Verfasserin allgemeine kognitive Verarbeitungsmechanismen im animationsbegleiteten L2-Erwerb (Wahrnehmung, Aufmerksamkeitsprozesse, Arbeitsgedächtnis) und stellt die Konzeption des Lernens als Veränderung von dynamischen bildhaften mentalen Modellen dar. Im darauffolgenden Kapitel analysiert sie zunächst eingehend drei kognitive Theorien des multimedialen Lernens: die Cognitive Load Theory von S WELLER [et al.] (z.B. S WELLER 1988), die Cognitive Theory of Multimedia Learning von M AYER [et al.] (z.B. M AYER 2005) und das Strukturmodell des integrierten Sprach- und Bildverstehens von S CHNOTZ (z.B. 2005). 1 Der anschließende Versuch der Verfasserin, eine als Basis für die Entwicklung eigener Animationen geeignete Theorie zu ermitteln, bleibt erfolglos: „Es ist offensichtlich, dass keines der hier vorgestellten Modelle allein das Lernen mit Grammatikanimationen zufriedenstellend erklären kann. Daher ist für die vorliegende Arbeit eine integrative Perspektive erforderlich“ (50). Wichtig für einen derartigen Integrationsversuch ist laut Scheller die Einbeziehung der Spracherwerbsperspektive. Des Weiteren betrachtet sie den gegenwärtigen Forschungsstand zum Lernen mit Animationen und fasst in einer Tabelle die Ergebnisse von knapp 20 Studien zu diesem Thema zusammen, wobei die meisten den Bereichen Naturwissenschaft und Technik entstammen. In diesem Zusammenhang wäre m. E. eine ausführlichere Darstellung der beiden Studien, die sich bisher mit Animationen im Fremdsprachenlernen beschäftigt haben und die in der Tabelle nur kurz charakterisiert werden, interessant gewesen. Die Verfasserin stellt in Bezug auf die vorgestellten Studien fest: „Da in diesen Studien sehr unterschiedliche Arten von Animationen sowie heterogene Untersuchungsdesigns verwendet wurden, lassen sich keine allgemein gültigen Aussagen über die ,Wirkung von Animationen‘ machen“ (55). In einem nächsten Schritt nähert sich Scheller der Grammatikvermittlung aus psycholinguisti- Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 199 2 Ronald W. L ANGACKER : Concept, Image, and Symbol. The Cognitive Basis of Grammar. Berlin / New York: de Gruyter 1991. 3 Jörg R OCHE / Mark W EBBER : Mini-Grammatik: Deutsch als Fremdsprache. Stuttgart: Klett 1996. 39 (2010) scher Sicht und hebt die Rolle des lernersprachlichen Monitors als Überwachungsinstanz in der Sprachproduktion besonders hervor. Im folgenden Kapitel betrachtet sie Wechselpräpositionen aus linguistischer und didaktischer Sicht und stellt die empirisch belegte Eingeschränktheit der traditionellen wo-wohin-Erklärung für die Kasuswahl nach Wechselpräpositionen im Deutschen dar. Laut dem traditionellen Erklärungsansatz wird bei der Frage wo? der Dativ verlangt („im Wohnzimmer“), bei der Frage wohin? der Akkusativ („ins Wohnzimmer“). Daraufhin skizziert die Verfasserin die Vorteile der kognitiven Grammatikvermittlung und gelangt zu dem Schluss, dass „die auf der kognitiven Grammatik basierende Vermittlung von Wechselpräpositionen die Bildung korrekter mentaler Modelle unterstützen und den lernersprachlichen Monitor sensibilisieren kann“ (98). Scheller analysiert außerdem einige alternative linguistische und didaktische Erklärungsansätze und weist u. a. auf das trajector-landmark-Prinzip von L ANGACKER (1991) 2 und auf den Begriff des Suchbereichs (search domain) hin. Als Grundlage für die Entwicklung der ihrer Studien zugrundeliegenden eigenen Animationen nimmt sie den Erklärungsansatz von R OCHE / W EBBER (1996) 3 . In diesem bildbezogenen Grenzüberschreitungsansatz wird search domain als Kreis dargestellt und die Kasuswahl hängt davon ab, ob sich ein Objekt innerhalb des Kreises befindet (Dativ) oder ihn bzw. seine Grenze überquert (Akkusativ). Der sich anschließende „angewandte“ Teil II besteht aus zwei Kapiteln: Im ersten Kapitel setzt die Verfasserin die wichtigsten theoretischen Erkenntnisse der vorherigen Kapitel in Beziehung zueinander und erörtert auf ihrer Basis die spezifischen Funktionen von Animationen im Fremdsprachenunterricht. Anschließend stellt sie das eigene integrative Rahmenmodell und seine Vorteile im Vergleich zu den anderen Modellen des multimedialen Lernens vor. Schellers integratives Modell ist eine schematische Darstellung der Verarbeitungsprozesse beim Lernen mit Grammatikanimationen. Die von ihr als notwendig postulierte Einbeziehung der Spracherwerbsperspektive beschränkt sich auf die Auflistung einiger „Rahmenfaktoren“ (Lernermerkmale, Lernkontext und Grammatikthema), die „auf jeder Verarbeitungsstufe [...] auf den gesamten Prozess einwirken“ (121). Dass diese Faktoren grundlegend beim Spracherwerb sind, ist nichts Neues. In welcher Weise sie jedoch die Verarbeitungsprozesse beim (Grammatik-)Lernen mit Animationen beeinflussen, wird aus dem Modell nicht klar. Zugegebenermaßen war dies auch nicht Ziel der Dissertation und würde ihren Rahmen vermutlich sprengen. Eine ausführliche Beschreibung der von der Verfasserin durchgeführten empirischen Studien liefert der „empirische“ Teil III. Basierend auf der Kombination der beiden Faktoren Erklärungsansatz („Grenzüberschreitung“ vs. „wo-wohin“) und Präsentationsart (statisch vs. animiert) hat Scheller vier Versionen einer Lerneinheit zum Thema „Kasuswahl nach Wechselpräpositionen“ entwickelt. In diesen unterschiedlichen Versionen wird mit Hilfe von statischen bzw. animierten Bildern eine Entscheidungsstrategie für die Kasuswahl vorgestellt, eingeübt und automatisiert. Das Ziel der Studien war es, die Lernwirksamkeit dieser Erklärungsansätze in Kombination mit den Präsentationsarten zu untersuchen. In den beiden Versionen der Lerneinheit (animiert und statisch), die auf dem Erklärungsansatz Grenzüberschreitung basieren, wird die folgende Entscheidungsstrategie eingeübt: Nach dem Lesen eines Satzes stellt man sich zuerst einen (imaginären) Bereich vor und überlegt, ob die Person bzw. der Gegenstand die Grenzen dieses Bereiches überquert oder nicht. Bleibt die Person bzw. der Gegenstand innerhalb des Bereiches - vgl. den Satz „Das Mädchen sitzt in __ Sonne“ -, so stellt man die Wechselpräposition in den Dativ („in der Sonne“).. Werden die Grenzen des Bereiches überquert - vgl. den Satz „Das Mädchen setzt sich in __ Sonne“ -, dann wählt man den 200 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) Akkusativ („in die Sonne“). Der für den traditionellen wo-wohin-Erklärungsansatz problematische Fall „Bewegung am Ort“ - vgl. den Satz „Das Auto fährt auf der Straße“ - bereitet dem Grenzüberschreitungsansatz keine Probleme, da bei diesem Ansatz die Opposition „Ruhe/ Lage“ (Dativ) - „Bewegung/ Richtung“ (Akkusativ) nicht wie bei dem wo-wohin-Erklärungsansatz entscheidend ist. An der ersten experimentellen Studie nahmen 89 Germanistikstudenten einer belarussischen Universität teil. Wegen der kulturellen und muttersprachlichen Homogenität der Teilnehmer führte Scheller zusätzlich zwei kleinere explorative Vergleichsstudien durch, mit 9 DaF-Lernenden des Sprachen- und Dolmetscherinstituts München und 13 DaF-Lernenden der Volkshochschule München. Zu den Erhebungsinstrumenten gehörten ein Fragebogen und grammatische Tests (ein Vortest, zwei Nachtests). Das Ergebnis der ersten umfangreichen Studie ist beeindruckend und aufschlussreich: Zu einer eindeutigen Leistungsverbesserung hat ausschließlich die Kombination des Erklärungsansatzes Grenzüberschreitung mit der Präsentationsart animiert geführt. Die Ergebnisse der beiden explorativen Studien bestätigen die lernförderliche Wirkung der eingesetzten Animationen. Anschließend widmet sich die Verfasserin einer Analyse der Sätze in den Grammatiktests, in denen die Probanden besonders viele Fehler machten. Sie diskutiert mögliche Fehlerursachen und formuliert sechs didaktische Empfehlungen für die Vermittlung des Themas „Kasuswahl nach Wechselpräpositionen“ im DaF-Unterricht wie z. B.: DaF-Lehrer sollten ihren Lernenden den Zusammenhang zwischen Form und Bedeutung verdeutlichen, indem sie ihnen beibringen, wie die durch das Verb angezeigte Aktivität bzw. die zielsprachliche Konzeptualisierung zu analysieren ist; man sollte bei der Vermittlung von Wechselpräpositionen auf die folgende Progression achten: von besonders häufigen Präpositionen in ihren prototypischen Verwendungen zu peripheren Verwendungen, Metaphorisierungen und seltenen Präpositionen (222 ff). Besonders wichtig findet die Verfasserin dabei die Erkenntnis, dass die Fehlerursache oft auf der Ebene der Konzeptualisierung liegt, d. h. wenn DaF-Lernende die Verbbedeutung nicht adäquat erfassen und/ oder den Satzkontext falsch interpretieren. Hinsichtlich dieser Erkenntnis plädiert Scheller für eine systematische kognitive Grammatikvermittlung, da der kognitive Ansatz „an das Weltwissen und die Alltagserfahrung der Lerner anknüpft und durch den Rückgriff auf mentale Vorstellungsbilder und externe Visualisierungen (Animationen) zusätzliche Behaltensvorteile und Abrufmöglichkeiten bietet“ (222). Den Geltungsbereich des kognitiven Grenzüberschreitungsansatzes sieht die Verfasserin als groß genug an, „um alle Fälle der räumlichen Verwendung der Wechselpräpositionen abzudecken“ (111). Aber auch dieser Ansatz stößt m. E. immer wieder an seine Grenzen. Der Versuch, sich einen imaginären Bereich vorzustellen - was für die richtige Kasuswahl bei dem Grenzüberschreitungsansatz entscheidend ist -, kann bei unterschiedlichen Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen oder ganz scheitern, vgl. die folgenden Sätze: „Er nimmt ein Glas in die/ der Hand“, „Der See beginnt hinter dem/ den Wald“, „Die Kinder spielen über die/ der Wohnung“, „Das Boot ist vor dem/ den Ufer gesunken“. Alle diese Sätze waren auch in den durchgeführten Studien besonders fehleranfällig. Die Verwendung des wo-wohin-Erklärungsansatzes könnte dagegen bei einigen von diesen Sätzen hilfreicher sein. Beispielsweise dürfte es den Lernenden bei dem Satz „Der See beginnt hinter dem/ den Wald“ m. E. wesentlich leichter fallen, die folgende Frage zu formulieren: „Wo beginnt der See? “ und daraufhin den Dativ zu wählen, als sich einen imaginären Bereich vorzustellen und dann versuchen zu entscheiden, ob die Grenzen dieses Bereiches überquert werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich nicht vielleicht eine Kombination beider Erklärungsansätze als noch lernförderlicher als der Grenzüberschreitungsansatz alleine erweisen würde, denn interessanterweise wandten viele Probanden bei der Kasuswahl eine „gemischte“ Strategie an: Bei einer zielgerichteten Bewegung - „Er hat die Lampe hinter die Couch gestellt“ - wurde der gewählte Kasus (Akkusativ) mit der Frage „wohin? “ begründet, bei weniger eindeutigen Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 201 39 (2010) Fällen wie z. B. Bewegung am Ort - „Der Vogel kreist über dem Wald“ - stellten sich die Probanden einen Bereich/ Kreis vor und entschieden sich daraufhin für den Dativ (172). Die abschließende Schlussfolgerung der Verfasserin, dass die lernförderliche Wirkung von Animationen von vielen Faktoren abhängt und „sowohl von der Qualität der visuellen Informationen als auch vom Stellenwert der konzeptuellen Information beeinflusst [wird]“ (226), steht im Einklang mit den Ergebnissen einiger anderer Studien zum didaktischen Einsatz von Animationen. Fazit: Die von Julija Scheller vorgelegte Dissertation besticht durch Gründlichkeit, gute Struktur, klare und deutliche Sprache sowie verständliche Darlegung komplizierter theoretischer Ausführungen. Trotz der mit dem Thema der Dissertation verbundenen Vielfalt an untersuchten Forschungsbereichen wird das Ziel der Arbeit nie aus den Augen verloren, die Querverweise schaffen einen Überblick über alle Kapitel. Ihre Forschungsfrage beschreibt Scheller aus kognitivkonzeptueller Sicht. Das von der Verfasserin vorgeschlagene theoretische Modell (120) stellt einen Integrationsversuch verschiedener Theorien dar, ist daher verhältnismäßig komplex, aber recht schlüssig und überzeugend. Schade nur, dass Scheller die Ergebnisse ihrer Studien nicht wie von ihr angekündigt (217) in Bezug auf das vorgestellte Rahmenmodell untersucht. Das kausale Forschungsdesign der Untersuchung (quantitativ experimentell) ist der Fragestellung angemessen, konnte jedoch aus objektiven Gründen nur bei der ersten umfangreichen Studie angewendet werden, die zwei weiteren Studien sind explorativ angelegt. Die Probanden der ersten Studie sind kulturell und muttersprachlich homogen und zeichnen sich durch ein hohes Vortestniveau sowie ein hohes Interesse an Grammatik aus. Daher wäre es in Zukunft sicher interessant zu erfahren, ob die bessere lernförderliche Wirkung der Kombination „Erklärungsansatz Grenzüberschreitung + Präsentationsart animiert“ auch in weniger homogenen und weniger fortgeschrittenen Probandengruppen genauso eindeutig ist. Nicht weniger spannend dürfte die Frage sein, inwieweit eine Kombination des alternativen kognitiven Ansatzes der Grenzüberschreitung mit dem traditionellen wo-wohin-Ansatz erfolgversprechend ist. Die didaktischen Empfehlungen (222 ff), die Scheller aufgrund der gewonnenen empirischen Ergebnisse sowie aufgrund einer Analyse der Forschungsliteratur (93 ff) für die Vermittlung der Kasuswahl nach Wechselpräpositionen ausgearbeitet hat, können sich im DaF-Alltag als sehr wertvoll erweisen. Schellers Dissertation ist eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten, in denen der Einsatz von (Grammatik-)Animationen im DaF-Unterricht theoretisch begründet und empirisch evaluiert wird. Mit ihrer Dissertation trägt sie dazu bei, eine solide Grundlage für weiterführende Forschung zu schaffen. Gießen O LGA K AMAROUSKAYA Daniel R EIMANN : Italienischunterricht im 21. Jahrhundert. Aspekte der Fachdidaktik Italienisch. Stuttgart: ibidem 2009 (Romanische Sprachen und ihre Didaktik; Band 21), 362 Seiten [34,90 €] In diesem Buch erfährt man viel Interessantes, aber wenig Neues. Letzteres liegt nicht zuletzt daran, dass die acht Aufsätze Reimanns, aus denen der Band besteht, hier nicht zum ersten Mal publiziert werden: „Es handelt sich um überarbeitete Beiträge, die, zumeist in gekürzter Form, an verschiedenen Orten erschienen sind, gerade auch in der Zeitschrift Italienisch“ (S. 7). Im ersten Aufsatz „Zur Entwicklung des schulischen Italienischunterrichts“ skizziert Reimann zunächst kurz - gestützt auf die bekannte Sekundärliteratur - die historische Entwicklung vom Mittelalter bis 1945. Anschließend stellt er für jedes einzelne Bundesland Fakten zusammen, die aus einer eigenen Fragebogenumfrage bei den Kultusministerien aus dem Jahre 2003 und aus dem 202 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Karl-Richard B AUSCH / Frank G. K ÖNIGS / Hans-Jürgen K RUMM (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr 2004. 39 (2010) Bericht des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 2002 stammen. Es bleibt leider bei einer reinen Auflistung von Sachinformationen (zudem ohne einheitliche Kategorien). Eine auch nur im Ansatz problemorientierte Diskussion aktueller Entwicklungen findet nicht statt. Gar nicht erst aufgeworfen wird etwa die spannende Frage, welche Auswirkungen die Einführung von Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten (auch) auf den schulischen Italienischunterricht hat und wie es den Lehrkräften gelingt, die im Abstraktions- und Differenzierungsgrad sehr uneinheitlichen und häufig stark reduzierten Formulierungen in Kompetenzbeschreibungen und Kerncurricula auf eine Ebene ‚herunterzubrechen‘, die konkrete Unterrichtsplanungen überhaupt erst ermöglicht. Der zweite Aufsatz ist ein 2004 erstellter und 2008 aktualisierter „Forschungsbericht zur Angewandten Linguistik des Italienischen im deutschsprachigen Raum […] und zur Positionierung der italienischen Sprachlehrforschung und Fachdidaktik im Rahmen derselben“ (S. 55). Die Sichtung der Literatur ist durchaus gründlich ausgeführt, der Leser erhält so zahlreiche Anregungen für eine ggf. vertiefende Lektüre einzelner Beiträge. Allerdings werden zumeist lediglich die Gegenstände der jeweiligen Untersuchung benannt (und keine Hauptergebnisse), in vielen Fällen erfährt der Leser wenig mehr, als ihm bereits der Beitragstitel verrät. Bei der Fülle der gesichteten Literatur ist dies sicher ein Stück weit unvermeidbar. Allerdings gelten die quantitativen Restriktionen bzgl. der Textlänge, die Reimann im Vorwort für die Erstpublikation seiner Aufsätze in Zeitschriften/ Sammelbänden beklagt, bei der Zweitpublikation im vorliegenden Band nun gerade nicht mehr in gleicher Weise. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich die - vorsichtig formuliert - ‚eigenwillige‘ Subsumption der „italienischen Sprachlehrforschung“ (gemeint sind Arbeiten der Sprachlehrforschung zum Lernen und Lehren des Italienischen als Fremdsprache) unter das vermeintliche Dach der Angewandten Linguistik, die nicht nur dem Selbstverständnis der Sprachlehrforschung diametral entgegenläuft. Beim dritten Aufsatz „Zur Situierung des Italienischen in einer Didaktik der romanischen Mehrsprachigkeit“ handelt es sich um die ursprüngliche (längere) Version eines Beitrags, der bereits 2002 in der Zeitschrift Italienisch erschienen ist und von Reimann „hier nochmals nicht aktualisiert vorgelegt“ wird (S. 131). Letzteres empfindet man für den einleitenden Forschungsbericht (S. 132 ff) als bedauerlich. Dieser berücksichtigt lediglich bis zum Jahre 2000 erschienene Literaturtitel. So konnten - um nur eines von vielen Beispielen zu nennen - die Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts 1 nicht einbezogen werden, die unter dem Titel „Mehrsprachigkeit im Fokus“ die aktuelle Diskussion perspektivisch gebündelt und eine große Zahl weiterer Arbeiten zur Mehrsprachigkeitsdidaktik angeregt hat. Im Weiteren referiert Reimann wesentliche Ergebnisse einer von ihm im Jahre 1996 durchgeführten Fragebogenuntersuchung bei gymnasialen Italienischlernern (n=45), die primär auf die Wahrnehmung positiver/ negativer Einflüsse zuvor gelernter Fremdsprachen auf das Italienischlernen gerichtet war. Er interpretiert die Ergebnisse als im Wesentlichen positiv für den Ausbau einer romanischen Mehrsprachigkeit. So zeigt sich etwa, dass die befragten Schüler Französischkenntnisse insgesamt eher als hilfreich und weniger als störend empfinden, auch wenn die Ergebnisse im Einzelnen differenziert ausfallen (z.B. im Bereich Wortschatz eindeutig hilfreich, bei der Aussprache mehr Probleme mit Interferenzen). Allerdings wird das Datenerhebungsinstrument selbst, also der Fragebogen, an keiner Stelle dokumentiert, was im Sinne untersuchungsmethodischer Transparenz allemal wünschenswert wäre. Der vierte Aufsatz trägt den Titel „Italienische Tagespresse multimedial - eine medienkundliche Unterrichtsreihe für die Oberstufe“. Nach einer Zusammenstellung von Hintergrundinformationen Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 203 39 (2010) zur Situation der Tagespresse in Italien skizziert Reimann sehr anschaulich eine siebenstündige Unterrichtssequenz, die er in einem Grundkurs der Klasse 12/ 2 (2. Lernjahr) erprobt hat und bei der sich die Schüler/ -innen intensiv mit italienischen Tageszeitungen und ihren Online-Ausgaben auseinander setzen. Besonders positiv ist zu vermerken, dass eine Reihe von Kopiervorlagen angehängt sind, die Italienischlehrkräfte - ggf. in adaptierter Form - übernehmen können, und dass auch methodische Varianten (z.B. für sprachlich weiter fortgeschrittene Lerngruppen) beschrieben werden. Damit leistet der Aufsatz eine wertvolle Hilfestellung für den Unterricht, zumal bislang nur wenige ausgearbeitete Materialien und methodische Anregungen zur Arbeit mit italienischen Tageszeitungen vorliegen. In seinem fünften Aufsatz „Eine Schule des Sehens: Zeitgenössische Literatur und Photographie im Unterricht“ plädiert Reimann für eine stärkere Berücksichtigung eines seiner Meinung nach bislang stiefmütterlich behandelten italienischen Autors (Gianni Celati) und für eine Integration des Mediums ‚Photographien‘ in den Unterricht. Hierzu liefert er dem Leser sehr ausführliche Hintergrundinformationen über den genannten Autor, über den italienischen Photographen Luigi Ghirri und über die Werke beider Künstler. Anders als der Titel erwarten lässt, fallen die Überlegungen zur unterrichtlichen Umsetzung dann jedoch äußerst knapp aus: Auf etwas mehr als einer von insgesamt 33 Seiten werden einzelne Ideen für Unterrichtseinheiten bzw. -projekte nur ganz kurz angedeutet. Der sechste Aufsatz „Hörbücher im Italienischunterricht. Didaktische Grundsatzüberlegungen, kritische Bestandsaufnahme und exemplarische Unterrichtsvorschläge“ zeichnet sich demgegenüber - ähnlich wie der vierte Aufsatz - durch einen erfreulich hohen Praxisbezug aus. Sowohl die Kurzvorstellungen verschiedener Hörbuchreihen als auch die drei Unterrichtsbeispiele für unterschiedliche Lernniveaus erleichtern Lehrkräften zweifellos den ‚Einstieg‘ in die Arbeit mit dieser nicht zuletzt unter motivationalen Gesichtspunkten interessanten Medienkombination. Sehr hilfreich für die Auswahl geeigneter Hörbücher für die eigene Lerngruppe ist außerdem die im Anhang abgedruckte tabellarische Übersicht über 50 als Hörbücher verfügbare literarische Texte, die auch Angaben zur didaktischen Aufbereitung, zur Zielgruppe und zum GER-Niveau enthält. Im siebten Aufsatz „Luoghi della memoria im Italienischunterricht. Interkulturelle Kompetenz und europäische Identität durch kulturwissenschaftliche ‚Landeskunde‘“ plädiert Reimann nach einer kurzen Einführung grundlegender kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten dafür, die Arbeit mit europäische „Erinnerungsorten“ stärker als bisher in den Landekundeunterricht zu integrieren. Hierzu entwickelt er erste Vorstellungen für ein Curriculum italienischer Erinnerungsorte und analysiert drei neuere Lehrwerke für den Anfangsunterricht unter der Fragestellung, wie die Lernenden „mit dem italienischen kollektiven Gedächtnis in Kontakt gebracht werden“ (S. 296). Abschließend skizziert er drei kurze Unterrichtsbeispiele für unterschiedliche Lernniveaus und gibt Lehrkräften damit erste Anregungen für eine unterrichtspraktische Konkretisierung. Mit dem achten Aufsatz „Handreichungen zum Italienischunterricht aus den Staats- und Landesinstituten“ liefert Reimann einen Überblick über 46 einschlägige Publikationen, die zwischen 1980 und 2003 erschienen sind. Zu Recht versteht er seinen Beitrag nicht als kritische Rezension, sondern als „eine Art kommentierte bibliographische Bestandsaufnahme“ (S. 317). Zu den einzelnen Titeln finden sich neben Angaben zur Zielgruppe und einer Inhaltsübersicht in einigen Fällen auch Aussagen zur Brauchbarkeit/ Ergiebigkeit. Damit erbringt Reimann eine wertvolle Serviceleistung für Lehrkräfte, die auf der Suche nach neuen Ideen und Materialien für den eigenen Unterricht sind. Fazit: Dieser - im Übrigen nicht gerade preiswerte - Band empfiehlt sich vor allem für Leser, die keinen Zugriff auf die Zeitschriften bzw. Sammelbände haben, in denen die Beiträge ursprünglich erschienen sind. Der Verlag behauptet auf der Umschlagrückseite: „Durch methodische und interdisziplinäre Brückenschläge ergibt sich eine integrierende Sicht auf den zeitgenössischen 204 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Karlheinz H ELLWIG : Bildung durch Literatur. Frankfurt/ M.: Lang 2005; Ansgar N ÜNNING / Carola S UR - KAMP (Hrsg.): Englische Literatur unterrichten. Grundlagen und Methoden. Seelze-Velber: Klett / Kallmeyer 2006; Wolfgang H ALLET / Ansgar N ÜNNING (Hrsg.): Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik.. Trier: wvt 2007 (WVT-Handbücher zur Literatur- und Kulturdidaktik; Band 1); Eva Burwitz-Melzer (Koord.): Themenschwerpunkt: Lehren und Lernen mit literarischen Texten. Tübingen: Narr 2008 (Fremdsprachen Lehren und Lernen, Jg. 38); Engelbert T HALER : Teaching English Literature. Paderborn: UTB 2008; Engelbert T HALER : Method Guide. Kreative Methoden für den Literaturunterricht. Paderborn: Schöningh 2009. 2 Karlheinz H ELLWIG : Anfänge englischen Literaturunterrichts. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2000. 39 (2010) Italienischunterricht […].“ Dieser Einschätzung mag man sich nach der Lektüre nicht anschließen. Die ursprünglich zwischen 1997 und 2007 erschienen Aufsätze bleiben vielmehr nebeneinander stehen, was ihre Inhalte für interessierte Leser nicht weniger relevant macht. Konstanz W OLFGANG T ÖNSHOFF Jan H OLLM (Hrsg.): Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Trier: WVT 2009 (KOLA; Band 5), 224 Seiten [24,50 €] Die vorliegende Literaturdidaktik reiht sich ein in eine lose Folge von Publikationen zum Umgang mit Literatur und Kultur im (englischen) Fremdsprachenunterricht, die in den letzten fünf Jahren in relativ kurzen Abständen auf dem deutschen Markt veröffentlicht wurden und auf die bundesweit bildungspolitisch und curricular ‚verordnete‘ Marginalisierung von Literatur für den Englischunterricht reagieren (vgl. H ELLWIG s Bildung durch Literatur (2005), N ÜNNING / S URKAMP s Englische Literatur unterrichten. Grundlagen und Methoden (2006), H ALLET / N ÜNNING s Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik (2007), B URWITZ -M ELZER s (als Koordinatorin) Lehren und Lernen mit literarischen Texten (2008) sowie T HALER s Teaching English Literature (2008) oder sein Method Guide. Kreative Methoden für den Literaturunterricht (2009). 1 Alle machen sich vor dem Hintergrund kompetenzorientierter Bildungsstandards und Outputorientierung sowie verschiedener Neuorientierungen in den Literatur- und Kulturwissenschaften (cultural turns) kompromisslos stark für Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht. Sie geben Überblicke über literatur- und kulturtheoretische Zusammenhänge, stellen bewährte und vor allem neue literatur- und kulturwissenschaftliche didaktische Konzepte sowie methodisch-didaktische Zugangsweisen für Studierende, Referendarinnen und Referendare und Lehrkräfte zur Verfügung, um Literatur- und Kulturunterricht in Schule und Hochschule zeitgemäß, modern und spannend unterrichten zu können. Man könnte meinen, die Reihe der Handbücher, Grundlagen- und Überblickspublikationen für den Literaturunterricht wäre damit vorerst erschöpft. Dennoch hat das vorliegende Bändchen seine Berechtigung. Im Vergleich zu den häufig eher die gymnasiale Oberstufe thematisierenden Bände, nimmt Jan Hollms kleiner Sammelband insbesondere die Sekundarstufe I, also den Literaturunterricht vor der Oberstufe, in den Blick und lotet literaturtheoretische, fachdidaktische und curriculare Rahmenbedingungen für diese Lernstufe aus. Jedoch ist der Sammelband auch hier nicht der erste seiner Art, wenn man in die jüngere Vergangenheit schaut. Karlheinz H ELLWIG veröffentlichte 2000 die für den elementaren und aufbauenden englischsprachigen Literaturunterricht wichtige Monographie Anfänge englischen Literaturunterrichts. 2 Obwohl Volkmann in seinem Beitrag im vorliegenden Band (23-40) u.a. dezidiert Hellwigs langjährige Überlegungen zu den Zielen sowie prozess- und handlungsorientierten Formen insbesondere fremdsprachlichen Literaturunterrichts von der Primarstufe bis zum Ende der Sekundarstufe aufgreift und dessen Arbeiten als wegbereitend für heute allgemein akzeptierte interaktive, intermediale und intertextuelle „Aushandlungsprozesse“ mit Literatur betrachtet, wird Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 205 3 Eva B URWITZ -M ELZER : „Ein Lesekompetenzmodell für den fremdsprachlichen Literaturunterricht“. In: Lothar B REDELLA / Wolfgang H ALLET (Hrsg.): Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: WVT 2007, 127-157. 39 (2010) leider diese Publikation nicht in der einleitenden Standortbestimmung zum Band erwähnt. Vielmehr wird hier die Leistung des vorliegenden Buches als „Brücke aus der literaturdidaktischen Vergangenheit in eine noch relativ ungewisse fremdsprachendidaktische Zukunft“ (4) gewürdigt. Die formulierte „Ungewissheit“ fremdsprachendidaktischer Zukunft befremdet an dieser Stelle, da wichtige und bewährte Parameter modernen Fremdsprachenunterrichts in den letzten Jahren immer wieder beschrieben und auch empirisch ausgelotet worden und die Fremdsprachendidaktik damit zumindest in der lerntheoretischen Grundlegung auf ‚sichere Füße‘ stellt. Viele dieser didaktischmethodischen Grundüberzeugungen werden auch in der vorliegenden Literaturdidaktik reflektiert. Ähnlich wie andere Bände auch folgt der Sammelband einer Struktur beginnend mit ‚Theoretischen Fragestellungen‘ hin zu ‚Unterrichtspraktischen Konkretisierungen‘. Liest man die Aufsätze jedoch ‚quer‘, schälen sich drei große Themengebiete heraus, die u.a. die Spezifik des Literaturunterrichts in der Sekundarstufe skizzieren helfen: Bildungsstandards und curriculare Rahmenbedingungen; Lesen in der Fremdsprache und Leseerfahrung sowie spezifische literarische und mediale Gattungen und Genres (Ganzschriften, Jugendroman, Lektüren, Computertexte sowie Initiationsgeschichten). Darüber hinaus fällt positiv auf, dass sich die einzelnen Beiträgerinnen und Beiträger gegenseitig zur Kenntnis und aufeinander Bezug genommen haben. Bildungsstandards und curriculare Rahmenbedingungen: Der Herausgeber selbst unternimmt an dieser Stelle eine für den Leser informative Zusammenschau der curricularen Einbettung des Literaturunterrichts zwischen Europäischem Referenzrahmen - den Bildungsstandards der KMK - und den Rahmenlehrplänen der 16 Bundesländer. Das von ihm beschriebene vorwiegend sprachpraktische und linguistisch definierte Verständnis kommunikativer Handlungsfähigkeit in den Dokumenten mit Bezug auf Literatur führt in der Folge, so Hollm, sogar zu einer nachweislich rückläufigen Auseinandersetzung mit literarischen Texten in den verschiedenen Schulformen (Hollm 41-61). Um diesen Prozess jedoch aufzuhalten, ist es die Aufgabe der Fachdidaktik, neben der curricularen Festschreibung von Lesekompetenzen, wie es in den Dokumenten bisher bereits getan wird, auch verstärkt literarisch-ästhetische Kompetenzen zu erarbeiten, um dem literarischen Lesen, natürlich immer in schulformspezifischer Abstufung, einen gebührenden Platz in den Dokumenten einzuräumen. Insofern gehen B URWITZ -M ELZER s Anstrengungen 3 bereits in die richtige Richtung, auf der Grundlage empirischer Erhebungen literarisch-ästhetische Kompetenzen bildungspädagogisch zu beschreiben und damit literarischen und künstlerischen Texten einen ‚unangreifbaren‘ Platz im Kontext des Fremdsprachenlernens einzuräumen. Volkmann fordert in diesem Zusammenhang dezidiert die Renaissance des Bildungsbegriffs in Ablehnung eines ausschließlich funktionalen Sprachverständnisses, auch für die Sekundarstufe I (30). Der Bildungsgedanke und damit die Überzeugung, dass literarische Texte in besonderem Maße das reflexive Verhältnis zwischen dem Selbst und der Welt anregen und fördern können, liefern u.a. Erklärungsansätze dafür, dass z.B. Shakespeare in aufklärerischer Weise auch in der Mittelstufe und in nichtgymnasialen Schulformen nicht fehlen sollte, ob als Geschichtenerzähler (Volkmann 39), als Spielvorlage (ebenda) oder in Form eines digitalen Simulationsspiels (Baier/ Bührle 75-88), in dem sich Lernende kreativ und durchaus auch analytisch ihren „Personal Hamlet“ erarbeiten (86). Lesen in der Fremdsprache: Das Lesen wird im Band an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus erörtert. Appel analysiert z.B. empirisch den Unterrichtsalltag zum Umgang mit Lektüren auf der Grundlage subjektiven Erfahrungswissens von Englischlehrern und -lehrerinnen und weist mit seinen Ergebnissen (Interviewdaten) auf eine häufige Diskrepanz zwischen lernbiographisch erfahrenen ‚Freiheiten‘ beim Lesen auf der einen Seite und eher ein- 206 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) engenden strukturellen Eigenschaften von Unterrichtssituationen hin: geringe Grade an Freiwilligkeit oder die Gruppensituation selbst (Appel 71 f). Letztere ist jedoch nicht so determinativ, als dass sie ‚Freiräume‘ für z.B. Lektürearbeit nicht zulässt. Im Gegenteil: „Lektüreunterricht bietet eine Einstiegsmöglichkeit in eine […] Individualisierung von Fremdsprachenunterricht“ (Appel 73). Biebricher betont andererseits in ihrem Beitrag die Notwendigkeit der Entwicklung kursorischer Lesetechniken bei den Schülerinnen und Schülern. Sie kann empirisch nachweisen (Aufgabenbearbeitung nach extensivem Leseprojekt), dass selbst Jugendliche, die wenig begeisterungsfähig für Literatur sind, „zumindest kurzzeitig als Leser gewonnen werden“ (108) können. Ähnliche Ergebnisse dokumentiert Schwab (145-156) in seinem Projekt zum „Free Voluntary Reading“ an einer Hauptschule, einem von Krashen seit den 70er Jahren immer wieder geforderten Zugang zur Leseförderung (SSR - Sustained Silent Reading). Die Einrichtung einer Klassenbibliothek, aus der Schülerinnen und Schüler frei wählen, ist dabei nicht nur materielle Basis für Lektürearbeit (Appel, Rodgers), sondern stellt für sozial schwache Elternhäuser vielfach auch einen der wenigen Zugänge zu Bildung generell dar. „Children of poverty have only one possible source of books: Libraries“ (Stephen Krashen live auf der Tagung Children’s Literature in Language Education, Universität Hildesheim, 25-27 Februar 2010). Literarische und mediale Gattungen: Die Genre- und Gattungsbreite ist auch für die Sekundarstufe I breiter als vielleicht angenommen und dank eines weiten Textverständnisses auch medial vielfältig. Englischsprachige, oft illustrierte Lektüreserien, die in großer Zahl von sowohl deutschen als auch englischsprachigen Verlagen verfügbar sind, sind selbstredend und nicht mehr aus dem Literaturunterricht der Sekundarstufe I wegzudenken. Das von Hermes langjährig entwickelte und immer wieder neu begründete Plädoyer für den Einsatz von Graded Readers überzeugt auch in diesem Band und stärkt die Suche nach adäquaten Textformaten, die auch in anderen Beiträgen thematisiert wird: „Lernende brauchen Texte [insbesondere auf Mittelstufenlernniveau - G.B.], die auf ihre Bedürfnisse hin zugeschnitten sind“ (18). Aber auch Audiomedien (Schwab) oder stark bebilderte Edutainmentsoftware (Baier/ Biehrle) können das Ziel der Leseförderung i.S. eines ganzheitlichen Herangehens nicht unwesentlich fördern. Best-practice Beispiele unterbreiten nicht zuletzt Kinzel/ Schwindt durch den Einsatz des auch für Erwachsene noch spannenden Jugendbuches Mark Haddons The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (157-168) oder durch das Genre der Initiationsgeschichte zur Thematisierung initiationsartiger Erlebnisse für heranwachsende Jugendliche (Lozano-Falk 169-184). Abschließend sei auf zwei weitere Textdokumente hingewiesen, die dem Buch nützliche hinweisende Nachschlage- und Recherchefunktion verleihen: 1. das Literaturverzeichnis am Ende ist für alle Aufsätze in einem Dokument zusammengefasst und liefert damit einen guten Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur zum Thema (185-204) und 2. werden die Internetadressen von Lehrplänen, Bildungsplänen, Rahmenlehrplänen sowie Kerncurricula für die unterschiedlichen Schulstufen aller Bundesländer zusammengestellt (205-209) - also Internetseiten, von denen man durchaus eine etwas längere ‚Halbwertzeit‘ erwartet. Obwohl der Band sicher keine bahnbrechenden Innovationen auf literaturdidaktischem Gebiet liefert, besticht er durch seine konsistente Zusammenschau auf den Literaturunterricht Englisch in der Sekundarstufe I, sowohl aus curricular-bildungspolitischer, theoretischer sowie unterrichtspraktischer und empirischer Perspektive. Er informiert, analysiert und übernimmt teilweise recherchierende Nachschlagefunktion. Der Band kann vor allem denjenigen Englischlehrerinnen und Englischlehrern, Studierenden, Referendarinnen und Referendaren wärmstens empfohlen werden, die sich im schulischen bzw. universitären Ausbildungskontext der Sekundarstufe I an Haupt- und Realschule sowie am Gymnasium bewegen. Hannover G ABRIELE B LELL Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 207 39 (2010) Marcus B ÄR : Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr 2009 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 576 Seiten [55,- €] Das Thema Mehrsprachigkeit, zu dessen Förderung der von der Romanistik entwickelte Ansatz der Interkomprehension einen Beitrag leisten will, ist derzeit ein wichtiger Bestandteil der fremdsprachendidaktischen Diskussion. Belege für die häufig mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen verbundene Euphorie stehen jedoch zu großen Teilen noch aus. Insofern ist es erfreulich, dass Markus B ÄR mit der vorliegenden Arbeit, einer Veröffentlichung seiner an der Universität Gießen angenommenen Dissertation, den Versuch einer empirischen Fundierung einer Theorie von Mehrsprachigkeit an deutschen Schulen unternimmt. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich Mehrsprachigkeit hier meist als „Muttersprache plus Englisch“ realisiert findet, echte Mehrsprachigkeit jedoch erst mit dem Erlernen einer dritten Fremdsprache einsetzt, hat er sich zum Ziel gesetzt, die Methode des interkomprehensiven Lernens auf der Grundlage bereits vorhandener Kenntnisse in einer oder mehreren romanischen Sprachen in Form von vier Fallstudien zu testen und zu evaluieren. Der insgesamt fast 600 Seiten umfassende und mit einer ähnlich hohen Zahl an Fußnoten versehene Band stellt dabei freilich in Umfang und Datenmenge selbst interessierte und mit der Thematik vertraute Leser vor eine Herausforderung. Nachdem der Autor im 1. Kapitel das Ziel ‚individuelle Mehrsprachigkeit‘ skizziert und die Arbeit in den gegenwärtigen sprachen- und bildungspolitischen Diskurs einordnet, wird im 2. Kapitel interkomprehensives Lehren und Lernen als ein Weg zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz genauer beschrieben. Aufbauend auf einem inferentiellen Lernbegriff, nach dem neue Wissensbestände stets mit schon Gelerntem interagieren, und die Erkenntnis berücksichtigend, dass verschiedene Sprachen gemeinsam in einem Netzwerk im mentalen Lexikon gespeichert werden, nutzt der Interkomprehensionsunterricht bewusst das bereits vorhandene Sprach- und Sprachlernwissen der Schüler. Dadurch können Sprachen, die nicht formal (z.B. in der Schule) gelernt wurden, partiell verstanden werden, wobei allerdings ‚nur‘ die Schulung rezeptiver Kompetenzen - in der vorliegenden Arbeit das Leseverstehen - angestrebt wird. Grundlage für das interkomprehensive Erschließen einer unbekannten Zielsprache sind Kenntnisse in einer verwandten Brückensprache (hier die romanischen Sprachen). Im Unterschied zum traditionellen Fremdsprachenunterricht ist Interkomprehension B ÄR zufolge ungleich besser mit dem Mehrsprachigkeits- und Sprachlernbegriff des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens vereinbar. Die Charakterisierung des ‚normalen‘ Fremdsprachenunterrichts fällt dabei allerdings - möglicherweise auch wegen der teilweise über zehn Jahre alten Quellen, die B ÄR hierfür heranzieht - etwas zu schematisch aus und dürfte praktizierende Lehrer sowie Fremdsprachendidaktiker wenig freuen: So ist im traditionellen Fremdsprachenunterricht nach Kenntnisstand der Rezensentin weder das formale Lernen einschließlich des Auswendiglernens vorgegebener Regeln in behavioristischer Manier „weit verbreitet“, noch werden Fehler, wie vom Autor behauptet, als Abweichung von der Norm ausschließlich negativ betrachtet. Auch die rezeptiven Kompetenzen werden nicht länger vernachlässigt, sondern haben in den letzten Jahren eine enorme Aufwertung erfahren. Hinsichtlich der Reichweite eines interkomprehensiven Vorgehens macht B ÄR auf eine wichtige Einschränkung aufmerksam: So will und kann Interkomprehension in der Schule keinesfalls den bestehenden Fremdsprachenunterricht ersetzen, sondern versteht sich vielmehr als Ergänzung oder Alternative zu diesem. Zwei Hauptziele werden dabei verfolgt: Zum einen soll die Förderung von Sprachenbewusstheit (multi language awareness) als für die Entschlüsselung der Zielsprache notwendige Fähigkeit, den Systemcharakter der Sprache wahrnehmen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen identifizieren zu können, angeregt werden. Da die Dekodierung der unbekannten Sprache ohne einen solchen Vergleich nicht funktionieren kann und die Lernen- 208 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) den darauf angewiesen sind, sprachliche Phänomene wiederzuerkennen und auf die ihnen unbekannte neue Sprache zu transferieren, ist Interkomprehension für die Förderung dieser besonderen Form von language awareness nahezu prädestiniert. Steht hierbei die Anknüpfung an sprachliches Vorwissen und somit eine deklarative Ebene im Vordergrund, geht es beim zweiten Ziel, der Förderung von Sprachlernbewusstheit (language learning awareness), um die bewusste Einbindung bereits gemachter Lernerfahrungen im Sinne einer Schulung der Fertigkeit, mittels geeigneter Strategien den eigenen Lernprozess gezielt steuern zu können (prozedurales Wissen). Dies ist nicht zuletzt auch der so wichtigen Vorbereitung auf lebenslanges Lernen zuträglich. Kapitel 3 ist dem Aufbau und der Durchführung der Untersuchungen gewidmet und beginnt mit einer Konkretisierung des Erkenntnisinteresses. Die empirische Untersuchung will erstens ergründen, inwieweit Interkomprehensionsunterricht in der Lage ist, die oben aufgeführten Ziele umzusetzen, und zweitens herausfinden, wie sich interkomprehensive Lernprozesse von Schülern beim Erlernen einer zweiten oder dritten romanischen Sprache im deutschen Lernkontext vollziehen. Zu diesem Zweck wurden von B ÄR vier interkomprehensive Unterrichtsprojekte im Umfang von ca. 15 Unterrichtsstunden an verschiedenen Schulen durchgeführt und wissenschaftlich begleitet, wodurch sich insgesamt eine Probandenzahl von 89 Schülern und Schülerinnen sowie fünf beteiligten Lehrpersonen ergab. Die Auswahl der Jahrgangsstufen 8-11 begründet sich aus der Tatsache, dass die Schüler während dieser Zeit ihre dritte (oder vierte) Schulfremdsprache lernen. Mit Blick auf die Ziele der Studie verortet B ÄR seine Untersuchung im qualitativen Forschungsparadigma, ist sich dem damit verbundenen subjektiv-interpretativen Charakter sowie den sich aus der Doppelrolle des Lehrers und Forschers ergebenden Anforderungen jedoch durchaus bewusst. Im Sinne einer Betrachtung des Forschungsgegenstandes aus unterschiedlichen Perspektiven wählt er ein mehr-methodisches Vorgehen, das u.a. verschiedene Verfahren der Introspektion und Retrospektion einschließt und in der Erhebung folgender sieben umfangreicher, dem Erkenntnisinteresse jedoch nicht in gleicher Weise zuträglicher Datentypen resultiert: Eingangsfragebogen für Schüler, Unterrichtsbeobachtungen bzw. Aufzeichnungen der Stunden per Video, Laut-Denk- Protokolle, Lerntagebücher, Lernerfolgskontrollen, Abschlussfragebögen für die Schüler (in Fallstudie I: Interviews mit Schülern) und Fragebögen für beteiligte Lehrpersonen. Die Auswertung der so erhobenen Daten erfolgte chronologisch und war den Prinzipien der Triangulation - hier eine Kombination aus Daten-, Methoden- und Perspektiventriangulation - sowie einer nicht-wertenden Darstellung einzelner Fallstudien verpflichtet. Im umfangreichsten Teil der Arbeit, Kapitel 4, werden die Ergebnisse der vier Fallstudien (Spanisch interkomprehensiv in Klasse 8 in Fallstudie I und Klasse 10 in Fallstudie II sowie Italienisch interkomprehensiv in Klasse 9 in Fallstudie III und Klasse 8/ 9 in Fallstudie IV) im Einzelnen dargestellt; Kapitel 5 diskutiert diese fallübergreifend. So wird der Rückgriff auf Vorwissen im Sinne des die Interkomprehension kennzeichnende Prinzips der Bewusstmachung wegen der sich daraus ergebenden lernerleichternden Effekte von den Schülern als positiv beurteilt. Gleichwohl wurde auch deutlich, dass der Vergleich zwischen den Sprachen nur dann erfolgreich verläuft, wenn die Schüler über ausreichende Kenntnisse in diesen verfügen und auf eine starke Brückensprache (hier Französisch) aufbauen können. Ist dies nicht der Fall, so wie bei den jüngeren Schülern der Klassenstufe 8 und einigen Schülern der Klassenstufe 10, haben die Lerner Schwierigkeiten, die lexikalischen Lücken zur Zielsprache zu schließen. Die im sprachenübergreifenden und sprachenvergleichenden Vorgehen ungeübten Schüler gehen zudem zu Beginn des Projekts stark einzelwortgeleitet vor und können ihre sprachliche Transferbasis erst später dahingehend verbreitern, dass auch über das Einzelwort hinausgehende Vergleiche für die Erschließung genutzt werden. Auch die Sprachlernbewusstheit der Schüler ist anfangs wenig ausgeprägt. Sie wissen weder, wie das Lernen fremder Sprachen funktioniert, noch können sie Gründe für dieses angeben. Mit der Selbstreflexion des eigenen Lernens kaum vertraut, können vor allem die Lerntagebücher Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 209 39 (2010) als Hilfsmittel zur Beobachtung und Reflexion des eigenen Lernprozesses ihre Wirkung nicht entfalten, sodass hier eine entsprechende Vorarbeit vom regulären Fremdsprachenunterricht wünschenswert wäre. Obwohl das selbständige und entdeckende Lernen von der Mehrheit der Schüler positiv empfunden wird, wünschen sich vor allem die jüngeren Schüler eine klarere Führung durch den Lehrer. Es ist daher nach B ÄR im Interkomprehensionsunterricht von besonderer Bedeutung, Ergebnisse eigenständiger Schülerarbeitsphasen im Plenum zusammenzuführen und so der Sorge vorzubeugen, ‚etwas Falsches‘ zu lernen. Der Einsatz von Lernstrategien hilft besonders den älteren Schülern; die jüngeren bedürfen der Anleitung durch den Lehrer. Die systematische Einübung und Wiederholung von lernerleichternden Strategien und eine Thematisierung des ‚Lernen Lernens‘ ist daher ein Desiderat an den regulären Fremdsprachenunterricht. Der Einsatz authentischer Materialien, der den Interkomprehensionsunterricht im Unterschied zu den gewöhnlich didaktisch aufbereiteten Texten des Anfangsunterrichts von der ersten Stunde an kennzeichnet, findet großen Anklang bei den Schülern und bestärkt sie in ihrer Motivation, die Inhalte der ihnen unbekannten Zielsprachentexte verstehen zu wollen. Obwohl alle Schüler von der steileren Progression positiv überrascht waren (diese war in der vorliegenden Studie für das Spanische sogar noch höher als für das Italienische), konnte die ‚einseitige‘ Fokussierung auf das Prinzip der Rezeptivität nicht alle Lerner überzeugen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die beiden Hauptziele des interkomprehensiven Unterrichts - Förderung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit - angebahnt bzw. zum Teil vollständig realisiert werden konnten. B ÄR merkt jedoch selbst an, dass das Projekt durch die kurze Unterrichtsdauer von nur wenigen Tagen nicht seine volle Wirkung entfalten konnte. Das abschließende 6. Kapitel entwirft in Form eines Ausblicks vier Szenarien für eine mögliche Integration von Interkomprehension in schulisches Fremdsprachenlernen: Sie könnte als „Vorschaltmodul“ dem Unterricht in einer neu beginnenden Fremdsprache vorangestellt werden, als „Schnuppermodul“ erste Einblicke in eine Fremdsprache geben, als „Beschleunigungsmodul“ die Lesefertigkeiten gezielt schulen oder in Form eines in der Oberstufe angesiedelten „Vertiefungsmoduls“ für an weiteren Sprachen Interessierte zum Einsatz kommen. Nötig dafür ist allerdings die vielfach geforderte und in der Idee des Gesamtsprachencurriculums verankerte stärkere Zusammenarbeit der verschiedenen Sprachenfächer. Es ist Markus B ÄR ohne Zweifel gelungen, den angestrebten Beitrag zur empirischen Fundierung interkomprehensiven Lernens zu leisten. Der sich andeutende Zusammenhang zwischen Interkomprehension und Motivation lässt den Ansatz als zukunftsträchtiges und vielversprechendes Mittel zur Förderung von Mehrsprachigkeit erscheinen, dessen Nachhaltigkeit und schulische Wirksamkeit jedoch in weiteren, über einen längeren Zeitraum angelegten Studien geprüft werden müssen. Braunschweig J ENNY J AKISCH Wolfgang H ALLET , Frank G. K ÖNIGS (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer 2010, 399 Seiten [29,80 €] Bildungsstandards und die damit einhergehende Implementierung kompetenzorientierter Lehrpläne haben in den letzten sechs bis sieben Jahren nicht nur im schulischen Kontext, sondern auch in der universitären und akademischen Domäne zur Entwicklung von Konkretisierungsinstrumentarien und zur Formulierung verbindlich definierbarer Ziele und Ausbildungsinhalte beigetragen. Die Idee der Output-Orientierung hat nicht zuletzt auch zu einem beobachtbaren Anwachsen von Handbüchern (einschließlich Handbuchüberarbeitungen), Grundlagen- und Überblickspublikationen auf 210 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Vgl. z.B. Karl-Richard B AUSCH , Herbert C HRIST , Hans-Jürgen K RUMM (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 4. vollständig neu bearbeitete Auflage. Tübingen/ Basel: Francke 2003; Udo H. J UNG (Hrsg.): Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. 4., vollständig neu bearbeitete Auflage. Frankfurt/ M.: Lang 2006; Frank H A ß (Hrsg.): Fachdidaktik Englisch. Stuttgart: Klett 2006. 39 (2010) dem nationalen und internationalen Buchmarkt geführt. Und dies gilt auch für die Fremdsprachendidaktik. 1 Das vorliegende Handbuch reiht sich ein in diese Reihe, bündelt gesicherte fachdidaktische Grundlagenkenntnisse und umreißt gleichzeitig aus interdisziplinärer und sprachenübergreifender Perspektive neue und innovative didaktische Handlungs- und Forschungsfelder. Konsolidierung und Weiterentwicklung - so auch die Herausgeber - ordnen und dokumentieren das Handbuch im Vergleich zu ähnlichen Vorgängern. Darüber hinaus zeigt der Tenor vieler Beiträge eine weitgehend kritische Haltung gegenüber zugespitzten Formen von Standardisierung in pädagogischen und didaktischen Kontexten. Die Anordnung des nachzuschlagenden Wissensstoffes folgt zwölf kompakten thematischen Kapiteln, die gleichzeitig aktuelle fremdsprachendidaktische ‚Brennpunkte‘ widerspiegeln. Insofern wurden z.B. im Vergleich zum Standardwerk Handbuch Fremdsprachenunterricht (1989, 1991, 1995, 2003) und bezugnehmend auf die aktuelle Situation, in der sich der Fremdsprachenunterricht befindet, verschiedene Handbuchthemenbereiche ‚entrümpelt‘, ohne sie vollständig zu eliminieren (z.B. Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Programme und Organisationen zur Förderung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen, Typen des Fremdsprachenerwerbs etc.). Auf einige ausgewählte, insbesondere ‚neue‘ Kapitel, sei im Folgenden eingegangen (die Auflistung erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit): Bereits im Kapitel I Fremdsprachendidaktik als Theorie und Disziplin wird die Fremdsprachendidaktik explizit als eigenständige und mittlerweile auch ausdifferenzierte Wissenschaftsdisziplin beschrieben (und nicht nur vorrangig als Disziplin, die Wissen aus anderen Disziplinen aufnimmt, wie es teilweise immer noch zu lesen ist). Gelungen und neu sind in diesem Kontext die Unterkapitel zur Fremdsprachendidaktik in englischsprachigen und romanischen Ländern (Kapitel I.4 und I.5), die nützliche vergleichende Informationen liefern sowohl hinsichtlich der Verortung und Ausrichtung theoretischer und praktischer Diskurse zum Fremdsprachenlernen in anderen europäischen Ländern als auch terminologischer Art. Leider wird an dieser Stelle dem Profil und Potential der romanischen Interkomprehensionsdidaktik etwas wenig Beachtung geschenkt, auch in ihrer vollen Tragweite für moderne integrative mehrsprachigkeitsdidaktische Konzepte, wie sie jedoch dann in Kapitel IX.68 „Mehrsprachigkeit und vernetzendes Fremdsprachenlernen“ und auch im Kapitel XII Forschungsfelder, „Interkomprehensionsforschung“ (86), ansprechend beschrieben werden. Die Anforderungssituationen für die meist zuerst gelernte Fremdsprache Englisch werden zukünftig fraglos größer und fordern Lösungsvorschläge für tragbare Synergieeffekte, wie sie die Interkomprehensionsdidaktik partiell zu lösen vermag. Die europäische Perspektive wird auch im Kapitel II Sprachen- und bildungspolitische Rahmenbedingungen konsequent fortgeführt. Das Kapitel III Skills und Kompetenzen überzeugt gleichermaßen durch die Kompaktheit der Darstellung als auch durch die Berücksichtigung der übergroßen Fülle an Publikationen zur Kompetenzorientierung und Qualitätsentwicklung seit der Jahrhundertwende. Andererseits ist das Kapitel auch wiederum so ausdifferenziert, dass es nicht nur auf einen „funktionalen“ Kompetenzbegriff in Anlehnung an Weinert rekurriert, sondern genauso die Debatte um den literacy-Begriff, die multiliteracies-Didaktik und die Sachfach-literacies geführt wird. Hier ist den Verfassern uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie sagen, dass literacy stärker als der Kompetenz-Begriff die kommunikativ-diskursive, reflexive und methodische Dimension des Lernens als Voraussetzung zu einer umfänglichen Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Diskurs hervorhebt. Auch relativ neue, Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 211 2 Verwiesen sei hier ergänzend auf wichtige Publikationen wie Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK : Bild- und Musikkunst im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt/ M.: Lang 2007; Gabriele B LELL , Rita K UPETZ (Hrsg.): Der Einsatz von Musik und die Entwicklung von ‚ audio literacy‘ im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt/ M.: Lang 2010. 3 Vgl. Werner D ELANOY (2008): „Transkulturaliät und Literatur im Englischunterricht“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37 (2008), 95-108 (hier: 95). 4 Vgl. Adelheid S CHUMANN : „Transkulturalität in der romanistischen Literaturdidaktik. Kulturwissenschaftliche Grundlagen und Konzepte am Beispiel der littérature beur“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37 (2008), 81-94 (hier: 89). 39 (2010) nur teilweise bereits etablierte kulturelle Schlüsselkompetenzen, wie die der visual literacy werden in diesem Zusammenhang beachtet. Andere, wie die der audio literacy finden leider kaum Erwähnung. Die Entwicklung von Hörverstehen i.w.S. kann jedoch heute auch nicht mehr nur aus wahrnehmungs- und kognitionspsychologischer Perspektive betrachtet werden. Hören (einschließlich Intonation, Prosodie und Rhythmus als auch musikalische und klangliche Höranlässe, wie z.B. Lieder, Instrumentalmusik, Filmmusik bzw. Geräusche und Klangbilder) ist genauso zentral für unser Verständnis von kultureller Differenz und erfordert auch aus dieser Perspektive die Ausbildung vielschichtiger Sinnbildungs- und Verstehensprozesse. 2 Einträge zu Wörterbuchkompetenzen (Kapitel III.22) oder Sprachmittlungskompetenzen (Kapitel III.19) sowie dem Lehr- und Lernkonzept language awareness (Kapitel III.24), einschließlich der ‚Wiederentdeckung‘ der Übersetzung für den Fremdsprachenunterricht innerhalb des Konzepts, folgen neuen und neuesten Entwicklungen und überzeugen, ebenso das damit in Verbindung stehende Kapitel VI (Beurteilen und Evaluieren). Innovationswert besitzt ohne Frage im Kapitel IV Literatur- und Kulturdidaktik der Eintrag zum „Transkulturellen Lernen“ (IV.26). Er fixiert ein Stück weit die nach wie vor andauernde didaktisch-konzeptionelle Debatte zu transkulturellem/ interkulturellem Lernen und stützt das Argument, dass beide Ansätze vor dem Hintergrund der europaweiten Forderung nach ‚interkulturellen Sprechern‘ (intercultural speakers) eher als komplementär zu sehen sind bzw. beiden eine „dialogische Funktion“ auf unterschiedliche Weise genuin ist. 3 Bisher gibt es jedoch keinen Nachweis spezifisch transkultureller Kompetenzen bzw. lernbegleitender spezifischer Prozesse. 4 In einem Großteil der Einträge werden Staus quo und Forschungsperspektiven jeweils parallel erörtert, eine weitere Stützung der heute forschungsorientierten Ausrichtung der Wissenschaftsdisziplin Fremdsprachendidaktik. Hinsichtlich der Landeskundevermittlung werden so z.B. auch methodologische und empirische Vorgehensweisen der Grounded Theory zur Erfassung und Analyse kultureller Wissensbestände und Einstellungen erwähnt (Kapitel IV.28), die gerade für die Bereiche „Landeskunde, Cultural Studies und Kulturdidaktik“ immer noch Innovationswert besitzen. Empirische Fragestellungen und Herangehensweisen sind jedoch für die Kultur- und Literaturdidaktik ein wichtiges anstehendes Forschungsgebiet. Im Kapitel XII werden abschließend die wichtigsten Forschungsfelder für die Fremdsprachendidaktik zusammengefasst. Das Kapitel V Unterrichtsformen und Methoden deckt die gesamte Breite gängiger fremdsprachendidaktischer Themen ab, wie auch das äußerst aktuelle Thema der „Heterogenität und Differenzierung“ (V.34) „Heute ist der Umgang mit heterogenen Lebenswelten Teil unseres Alltags geworden und damit die Konfrontation mit Heterogenität zwingend. Auch wenn die Widerstände immer noch beträchtlich sind, liegt in ihrer gesellschaftlichen Gegebenheit und Evidenz eine große Chance, die Angst vor Diversität zu überwinden und die Entdeckung des anderen als Potenzial zu begreifen“ (S. 163). Die konsequente Fortschreibung dieses didaktischen Ansatzes führt u.a. auch dazu, dass im Kapitel VII Lernerbezogene fremdsprachendidaktische Konzepte ganz unterschiedliche lernerbezogene und damit den Differenzierungsgedanken einschließende Konzepte ihren 212 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Frank H A ß (Hrsg.): Fachdidaktik Englisch. Tradition - Innovation - Praxis. Stuttgart: Klett 2006; Andreas N IEWELER (Hrsg.): Fachdidaktik Französisch. Tradition - Innovation - Praxis. Stuttgart: Klett 2006. 39 (2010) Eintrag gefunden haben, wie z.B. „Sprachlernvoraussetzungen“ (54), „Individuelle Sprachförderung (auch von Legasthenikern) und Sprachlernberatung“ (55), „Sprachlerneignung“ (57) oder auch „Genderspezifisches Lernen und Lehren“ (60). Aber auch für die professionellen Anforderungen im Lehrerberuf, bei relativ einheitlicher, meist föderal verfasster institutioneller Rahmungen, werden Formen von Differenzierung und Heterogenität aus unterschiedlichen Blickwinkeln festgehalten (Kapitel XI Fremdsprachliche Lehrerbildung). Der neue Grundlagenband ist hoch aktuell, kompakt und übersichtlich und führt für Fremdsprachendidaktiker und Fremdsprachendidaktikerinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Referendare und Referendarinnen sowie Lehramtsstudierende Theorie, Empirie und Methodik gelungen zusammen. Ein übersichtlich gegliedertes Register am Ende des Buches hilft, schnell das gewünschte Stichwort zu finden. Ein Werk zum Nachschlagen, aber auch zum ‚Anlesen‘ in verschiedene fremdsprachendidaktische Themengebiete. Hannover G ABRIELE B LELL Andreas G RÜNEWALD , Lutz K ÜSTER (Hrsg.): Fachdidaktik Spanisch. Tradition - Innovation - Praxis. Seelze: Klett | Kallmeyer 2009, 366 Seiten plus CD-Rom [24,95 €] Der vorliegende Band „will möglichst die gesamte Breite des Gegenstandsfeldes in den Blick nehmen“ (Vorwort, S. 8) und wendet sich an Lehramtsstudierende, Referendare, Lehrer sowie an in der Aus- und Weiterbildung Unterrichtende. Er orientiert sich in seiner Gliederung deutlich sichtbar an den Fachdidaktiken Englisch (H A ß 2006) und Französisch (N IEWELER 2006) 1 - ein Umstand, der dem Band sicher nicht zum Nachteil gereicht. Gleichwohl weicht er in einigen Punkten von deren Gliederung ab, nicht zuletzt, um die Spezifik des Gegenstands, nämlich die Vermittlung des Spanischen, stärker zu fokussieren. Neben den Herausgebern fungieren Peter B ADE , Marianne H ÄUPTLE -B ARCELÓ , Barbara H INGER und Adelheid S CHUMANN als Autoren; die letzte Seite des Buches gibt an, welcher Autor für welche (Teil-)Kapitel verantwortlich zeichnet. Vorab kann man fraglos feststellen, dass dieser Band eine Lücke füllt, indem er für den in den letzten Jahren weltweit immer bedeutsamer werdenden Spanischunterricht seine wichtigsten didaktischen und methodischen Prinzipien und Gestaltungsmöglichkeiten darstellt. Die verlagsseitigen umfangsbezogenen Bedingungen und die angestrebte Vergleichbarkeit mit den erwähnten anderen fremdsprachlichen Fachdidaktiken zwingen zu einer Beschränkung in der Darstellung und in der Angabe der weiterführenden bzw. grundlegenden Literatur - ein Spagat, dem sich Herausgeber und Autoren von Handbüchern und Einführungen wohl immer ausgesetzt sehen. Der Band umfasst 6 Kapitel, einen Anhang mit häufigen Fragen, die von Studierenden und Referendaren gestellt werden, Definitionen ausgewählter Fachbegriffe, ein Inhaltsverzeichnis der CD-Rom und der zitierten Lehrwerke, das Literaturverzeichnis, ein Glossar sowie Angaben zu den Autoren und Herausgebern. Die CD-Rom liefert eine Fülle von unterrichtspraktischen Beispielen, Empfehlungen, Materialien und Materialienhinweisen sowie Ergänzungen und Vertiefungen zu den im Buch dargestellten Inhalten. Kapitel 1 (9-40) umreißt die Bedeutung der spanischen Sprache weltweit und gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Spanischunterrichts in der Bundesrepublik. Es stellt damit die Folie dar, vor deren Hintergrund die Spezifik des Lehr- und Lerngegenstands Spanisch zu sehen ist: Spanisch in seiner Bedeutung als internationale Verkehrs- und Handelssprache, als varietätenrei- Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 213 39 (2010) ches und schulsowie schulsprachenpolitisch immer bedeutsamer werdendes Mittel zur Kommunikation und zur Interaktion. Die vielfältigen Informationen dieses Kapitels werden knapp und dennoch präzise gegeben. Sie verbinden sich zweifelsohne nicht mit dem Anspruch, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu transportieren, sondern mit dem Ziel, die besonderen konstitutiven Merkmale des Spanischen und der Rahmenbedingungen des Spanischunterrichts prägnant darzustellen. Kapitel 2 (41-97) ist überschrieben mit „Grundlagen und Bezüge der Fachdidaktik Spanisch“. Es skizziert die Spanischdidaktik und ihre Bezugswissenschaften, umreißt Perspektiven fremdsprachendidaktischer Forschung und stellt die curricularen Vorgaben für den Spanischunterricht in Deutschland dar. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen zuteil, zu dem sich die Autoren - nicht nur in diesem Kapitel - bekennen und den sie bei der und für die Gestaltung des Spanischunterrichts als besonders bedeutsam ansehen. Kapitel 3 (99-144) beleuchtet die didaktisch-methodischen Prinzipien des Spanischunterrichts. Neben einem Rückblick auf die wichtigsten Methodenkonzeptionen der Fremdsprachenvermittlung enthält es eine Darstellung der gegenwärtig vertretenen Prinzipien wie Lerner-, Prozess-, Aufgaben- oder Handlungsorientierung sowie Ganzheitlichkeit, und es stellt die aus der Sicht der romanischen Sprachen insgesamt wichtigen Merkmale einer Mehrsprachigkeitsdidaktik dar, deren Ziel es u.a. ist, die vorhandenen Sprach- und Wissensbestände bei der Aneignung neuen fremdsprachlichen Materials wirksam und damit lerneffektiv werden zu lassen. Außerdem enthält es Ausführungen zur Kompetenzorientierung, zur Inhaltsorientierung vor dem Hintergrund von Bildungszielen und zur Öffnung und stärkeren Subjektorientierung des Unterrichts; hier werden die Vorzüge von Projekt- und Freiarbeit, Stationenlernen oder Simulationen entfaltet. Unter der Überschrift „Unterrichtliche Handlungsfelder - Spanischunterricht gestalten“ geht es im vierten Kapitel (145-267) um den Unterricht selbst. Thematisiert werden Aspekte des Medieneinsatzes und diverse Möglichkeiten zur Förderung funktionaler kommunikativer Kompetenzen. Hier werden insbesondere die sprachlichen Fertigkeiten, ihre Funktion für die Kommunikation und Interaktion und die Möglichkeiten beschreiben, wie die sprachlichen Mittel ziel- und kommunikationsorientiert gelernt und verwendet werden können. Ferner geht es um Fragen der interkulturellen Bildung und Kompetenzen und den Verfahren, die dazu im Spanischunterricht zur Anwendung kommen sollten. Schließlich runden Hinweise zur Lernerautonomie, zum Sprach(lern)bewusstsein und zum Portfolio sowie zur Planung und Organisation von Unterricht dieses Kapitel ab. Kapitel 5 (269-310) befasst sich mit der Diagnostik und der Leistungsbewertung. Es geht um Grundzüge des Testens, der Leistungsbewertung einschließlich der Gütekriterien, die den Test- und Bewertungsvorgängen zugrunde liegen sollten, sowie um Fragen der Erstellung von Tests und Prüfungen, insbesondere bezogen auf die je unterschiedlichen Anforderungen, die sich im Hinblick auf die Rezeption und auf die Produktion fremdsprachlicher Äußerungen ergeben. Das Kapitel endet mit einigen Anmerkungen zur Rolle des Fehlers, zur Fehlerkorrektur und zu den Sprachenzertifikaten DELE (Diplomas de Español como Lengua Extranjera). Im Schlusskapitel (311-316) werden Perspektiven für die weitere Forschung umrissen. Hier sehen die Autoren insbesondere Herausforderungen für die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die Kompetenzentwicklung, die Handlungsforschung und die Lernstandsmessungen sowie in der Entwicklung und Erprobung aufgaben- und kompetenzorientierten Lehrens und Lernens. Soweit zum Aufbau des Buches, dessen Gliederung nachvollziehbar und logisch ist, allerdings mit einer Ausnahme: Ich halte die Beschäftigung mit dem Fehler überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Leistungsbewertung für nicht sachgerecht - eine Kritik, die man übrigens auch an den anderen erwähnten Fachdidaktiken üben kann; zu Recht wird im Band darauf hingewiesen, dass Fehler etwas Natürliches sind und zum Spracherwerb dazu gehören. Gerade aus diesem Grund bietet es sich an, den Fehler und die Fehlerkorrektur stärker als lernpsychologische und unterrichts- 214 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) methodische Phänomene anzusehen und zu behandeln. Dass sie natürlich bei der Leistungsbewertung eine Rolle spielen (müssen), ist unbestritten, aber gerade aus einer subjektorientierten Sicht auf fremdsprachliche Lernprozesse sollte man diese Phänomene nicht auf diesen Aspekt reduzieren. Die Fremdsprachendidaktik versteht sich als systematisches Ineinandergreifen von theoretischen Konzepten und Modellen einerseits und praktischer Umsetzung andererseits, die ihrerseits durchaus zu Modifizierung in der Theorie- und Modellbildung führen kann. Es handelt sich also um einen immer währenden Kreislauf von theoretischen Erkenntnissen und unterrichtspraktischem Handeln, wobei Theorie ein notwendiges Instrument der Reflexion darstellt. Die Autoren weisen darauf zu Recht mehrfach hin. Zieht man andererseits in Betracht, dass Bücher wie das vorliegende einer Umfangsbeschränkung und der Orientierung an einer Reihengliederung unterliegen, ergeben sich automatisch Abstriche an der Ausführlichkeit und Tiefe, mit der man theoretische Grundlagen darstellen kann. Im vorliegenden Band führt dies zu Theoriedarstellungen unterschiedlicher Qualität, ein Umstand, der durch die spezifischen Vorlieben der jeweiligen Kapitelautoren mit Bezug auf die Theorieauswahl und die sprachliche Darstellung begründet werden kann. Exzellent gelöst scheint mir dieses Problem insbesondere im Kapitel 4.4 (zur Lernerautonomie) und vor allem im Kapitel 4.5 (zur Planung und Organisation von Unterricht). Hier fließen die theoretischen Grundlagen (z.B. zum Offenen Unterricht) komprimiert und dennoch leserfreundlich in die Darstellung von Planungsgrundsätzen ein, die ihrerseits in ihrer praktischen Umsetzung angedeutet und auf der CD-Rom durch entsprechende Materialien und Vorlagen vorbildlich ergänzt werden. So werden Ideen für eine Öffnung des Spanischunterrichts begründet dargestellt, aber auch durch die notwendigen Einschränkungen modifiziert, die durch die praktischen Rahmenbedingungen wie Unterrichtstakte, Raumbedingungen etc. den Unterrichtsalltag entscheidend mitbestimmen. Die Tatsache, dass die Begründung des wissenschaftlichen Fundaments für die einzelnen Planungsebenen auch die schulpädagogische bzw. allgemeindidaktische Forschung nicht unberücksichtigt lässt, darf dabei als weiteres positives Merkmal festgehalten werden, hat die Fremdsprachendidaktik insgesamt diesen Argumentationsstrang in der Vergangenheit doch etwas zu stark ausgeblendet. Dieses zentrale Unterkapitel hätte man sich auch etwas weiter vorne im Kapitel vorstellen können, jedenfalls vor dem Unterkapitel zum Medieneinsatz. Auch die Darstellung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens ist im Wesentlichen gut gelungen und zeigt die Bedeutung dieses Dokuments für den Fremdsprachenunterricht insgesamt und den Spanischunterricht im Besonderen nachvollziehbar auf. Auch wenn man nicht allen Aussagen in diesem Zusammenhang folgen mag - so etwa der Behauptung, dass der Referenzrahmen konkret sei (S. 86), wo doch die Praxis nur allzu oft zeigt und beklagt, dass die Kompetenzraster ihre Konkretisierung noch vor sich haben und vielfach zu viel Spielraum bei der Einschätzung von Leistungen und der Zuordnung von Leistungen zu Kompetenzstufen bieten -, so liefert der Band insgesamt doch bedenkenswerte Hinweise für den Umgang mit diesem wichtigen Dokument, dessen faktische Wirkmächtigkeit eben doch deutlich größer ist, als es kritische Stimmenwahrhaben wollen. Und dass die Autoren insgesamt diesem Ansatz vertrauen, machen sie aus unterschiedlichen Perspektiven deutlich. Wer an der Frage interessiert ist, wie man mit literarischen Texten im Spanischunterricht umgehen kann, wird umfassendere literaturdidaktische Konzepte vermissen, wenngleich der Umgang mit (literarischen) Texten mehrfach angesprochen wird, allerdings eher im Zusammenhang mit möglichen Arbeitsformen und mit Aspekten des interkulturellen Lernens. Und Anhänger der Sprechakttheorie werden bedauern, dass deren Bedeutung für die Erforschung fremdsprachlichen Lernens weitgehend ausgeblendet wird - angesichts der vielfältigen Impulse, die daraus für die Forschung erwachsen sind, und der Bedeutung für die diskursanalytischen Zugänge zum fremdsprachlichen Lernen und zur Lernzielbestimmung in früheren Phasen des kommunikativen Unterrichts (erinnert sei z.B. an das vom Europarat initiierte Nivel umbral) sicherlich eher überra- Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 215 39 (2010) schend. Und auch die relativ vorbehaltlose Orientierung an der Zweitsprachenerwerbsforschung wird nicht bei allen Lesern Zustimmung finden, zumindest nicht bei denen, die dem Unterricht und dem unterrichtlichen Lernen spezifische Kriterien zubilligen, die außerunterrichtlich nicht vorkommen oder nicht wirksam werden (können), die ein eigenes forschungsmethodologisch differenziertes Vorgehen erfordern und die durch große Teile der Zweitsprachenerwerbsforschung ausgeblendet werden. Kann man die vorangehenden kritischen Einwände noch dem Zwang zur Beschränkung zuschreiben, so sind andere Aussagen richtiggehend ärgerlich, weil sie einfach in dieser Form nicht stimmen: So wird mit der Fossilisierung mehr als nur das Stocken im Erwerbsprozess bezeichnet (so aber die Behauptung auf S. 68); Selinkers Konzept der Interlanguage geht bekanntlich davon aus, dass es Entwicklungsstillstände und sogar Rückschritte (back-sliding) in der Zweitsprachenaneignung geben kann. Die Befürworter der Kompetenzorientierung werden wohl nicht zustimmen, wenn man diese ausschließlich mit Lernstandsmessungen in Verbindung bringt (S. 77). Hochgradig diskussionswürdig scheint der Satz: „Angewandt-linguistische Forschung unterscheidet sich beispielsweise nicht wesentlich von fachdidaktischer“ (S. 77). Diese Behauptung kehrt zahlreiche Aspekte angewandt-linguistischer Forschung, wie sie in Deutschland betrieben wird, ebenso unter den Tisch wie das fremdsprachendidaktische Selbstverständnis. Die Behauptung, dass sich die Termine ‚explorativ-interpretatitv‘ und ‚analytisch-nomologisch‘ in der Forschungsmethodologie nicht durchgesetzt hätten (S. 81), lässt sich durch einen Blick in die einschlägige Literatur als unrichtig bewerten, und auch die Autoren selbst verwenden diese Begriffe auf den folgenden Seiten. Die Aussage, wonach qualitative Forschung nicht über Forschungsfragen und Hypothesen verfüge (S. 82), ist problematisch, denn natürlich kann auch qualitative Forschung zur Hypothesengenerierung dienen. Die Beschränkung der aufsteigenden Verarbeitungsprozesse (bottom up) auf die grafische Testgestalt (S. 151) ist ebenso ‚schief‘ wie die Annahme, dass Schemata als Verarbeitungskonzepte nur für das Wiedererkennen von Informationen nutzbar seien (ebenda); hier wird deren produktive Wirksamkeit zu Unrecht völlig ausgeblendet. Wer den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen kennt, wird mit Zustimmung die Ausführungen zur Bewertung produktiver Leistungen (S. 294 ff) lesen, sich aber wundern, dass die Sprachmittlung dabei ‚vergessen‘ worden ist, obwohl ihre Bedeutung für den Unterricht sowohl im Referenzrahmen als auch an mehreren Stellen des Bandes deutlich anerkannt wird. Bei dem Vorschlag, Schüler auch mit schriftlich vorgelegten Fehlern zu konfrontieren (S. 301 ff), um daraus zu lernen, hätte ich mir zumindest eine Diskussion der damit verbundenen Gefahren gewünscht. Bei einer zweiten Auflage des Bandes sollten diese Stellen überarbeitet werden. Dabei könnten dann auch die - wenigen - Schreibfehler verbessert werden: Auf S. 84 fehlt zu Beginn des zweiten Abschnittes offensichtlich ein Halbsatz; auf S. 122 wird von linguistischer Kompetenz gesprochen, wo doch die sprachliche gemeint ist (ein terminologischer Lapsus, der leider in deutschsprachigen Publikationen häufiger anzutreffen ist); auf S. 205 muss es „besser als“ (und nicht: besser wie) heißen; bei der Literaturangabe auf S. 231 muss bei dem Band zur Lernerautonomie der Name des Mitherausgebers Funk eingefügt werden; auf S. 251 ist das am Rand befindliche Stichwort „Gruppenbildung nach Kompetenzbegriffen“ versehentlich auch noch im Text stehengeblieben; bei der Übernahme des elektronischen Bewertungsrastern (S. 283) scheint mir der Begriff der ‚Mediation‘ keineswegs selbsterklärend und sollte erläutert werden. Für mich im neutralen Sinn offene Fragen beziehen sich auf Teile des Anhangs: Ich finde die Idee, preguntas frecuentes (FAQ) von Studenten und Referendaren zu thematisieren, gut. Indes suggerieren die - notwendigerweise - kurzen Antworten, dass es immer normativ anmutende Empfehlungen bzw. Antworten gibt. Die Autoren zeigen zuvor dankenswerterweise, dass dies im Kontext unterrichtlicher Entscheidungen ja zumeist nicht der Fall ist/ sein kann/ sein sollte. Etliche der Fragen lassen sich wohl auch nicht schnell und umfassend zugleich beantworten. Der Verweis 216 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 1 Wolfgang B UTZKAMM : Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle & Meyer 1973/ 1978; Ders.: Praxis und Theorie der bilingualen Methode. Heidelberg: Quelle & Meyer 1980; Ders.: Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Natürliche Künstlichkeit: Von der Muttersprache zur Fremdsprache. Tübingen: Franke 1989/ 2002. 39 (2010) auf vorangehende Kapitel (so z.B. auf S. 322) ist zwar sachangemessen, lässt dabei aber auch die Frage aufkommen, wie sinnvoll es ist, derartige Fragen in diesem Zusammenhang zu stellen und beantworten zu wollen. Ich bin da wirklich gespalten. Das gilt auch für die Zusammenstellung von Definitionen einiger Fachbegriffe, die im Band Verwendung finden (S. 325-332). Die Fülle der Impulse, Themen und Begriffe, die im gesamten Band eine Rolle spielen, wird nur rudimentär durch dieses Glossar widergespiegelt: Ob Evaluation so ohne Weiteres mit Leistungsermittlung gleichgesetzt werden kann, sei dahin gestellt; dass ‚Konstruktivismus‘ als Begriff auftaucht, ‚Behaviorismus‘ oder ‚Instruktivismus‘ aber nicht, fällt ebenso auf wie die Erledigung von ‚Testaufgaben‘ durch den Verweis auf ‚Lernaufgaben‘, die aber gerade nicht Testaufgaben sein wollen, wie der Text ausführt. Wie aber sehen dann Testaufgaben aus? Mein Fazit: Rezensenten tun genau das, von dem die Herausgeber im Vorwort zu Recht annehmen, dass es eigentlich bei einem solchen Band in der Regel nicht passiert, nämlich das Buch von vorne bis hinten durchzulesen, und sie tun dies natürlich aus ihrer je spezifischen Sicht auf das Fach und den Spanischunterricht. Ich halte den vorliegenden Band trotz einiger kritischer Bemerkungen für ein wichtiges und gutes Buch, dem man in allen Phasen der Fremdsprachenlehrerausbildung eine breite Leserschaft wünschen sollte. Es füllt seinem Anspruch gemäß eine wichtige Lücke und gibt zahlreiche gute Hinweise für die Durchführung eines modernen, lernerorientierten und wissenschaftlich fundierten Spanischunterrichts. Und das ist eine ganze Menge! Marburg F RANK G. K ÖNIGS Wolfgang B UTZKAMM , John A. W. C ALDWELL : The Bilingual Reform. A Paradigm Shift in Foreign Language Teaching. Tübingen: Narr 2009 (Narr Studienbücher), 260 Seiten [19,90 €] Kein anderer deutscher Fremdsprachendidaktiker hat sich in den letzten drei Jahrzehnten so kritisch, ausführlich und engagiert mit dem Prinzip Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht auseinandergesetzt wie Wolfgang B UTZKAMM . Seine Auseinandersetzung mit der Einsprachigkeit und die Entwicklung der „bilingualen Methode“ als Alternative dazu erstrecken sich sowohl auf die theoretische Grundlegung wie auch auf die Praxis des Fremdsprachenunterrichts (vgl. hierzu B UTZKAMM 1973/ 1978, 1980, 1989/ 2002) 1 . Das jetzt gemeinsam mit John C ALDWELL verfasste Studienbuch versteht sich gewissermaßen als ‚das letzte Wort‘ zur Kontroverse um die Einsprachigkeit: „This book has been written to resolve the long-standing debate over the role of the mother tongue (MT) in the foreign language (FL) classroom“ (13). Ob man allerdings bei einem Thema wie der Einsprachigkeit und ihrer höchst kontroversen Sichtweisen in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts auf ein Ende der Debatte setzen kann, erscheint vielleicht nicht ganz realistisch, wenngleich man angesichts des enthusiastischen Plädoyers für die aufgeklärte Einsprachigkeit den Optimismus der Autoren durchaus nachvollziehen kann. Inwieweit mit der auf Englisch verfassten und (zunächst) für einen vorrangig deutschen Leserkreis gedachten Publikation („Studienbuch“) der Einsprachigkeit (in einem nicht-schulischem Kontext) möglicherweise Vorschub geleistet wird, kann hier nicht diskutiert werden. Zugegebenermaßen ist jedoch das Englische die einzige Möglichkeit, um international als Wissenschaftler wahrgenommen zu werden, und dieses wäre dem Buch zu wünschen. Wer das Buch mit der ihm zustehenden Gründ- Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 217 39 (2010) lichkeit liest, wird feststellen, dass hier zum einen Bilanz gezogen wird, dass der internationale Forschungsstand, vor allem anhand englischsprachiger Veröffentlichungen sehr gut abgedeckt wird. Dass es aber auch eine Reihe deutschsprachiger Veröffentlichungen zum Einsatz der Muttersprache beim Fremdsprachenlernen in den letzten 30 Jahren gegeben hat, wird durch die Bibliographie nicht entsprechend dokumentiert. Während die Muttersprache, einmal abgesehen von ganz orthodoxen Auffassungen des einsprachigen Lernens, praktisch nie vollständig aus dem fremdsprachenunterrichtlichen Klassenzimmer ausgeklammert wurde, z.B. bei Erklärungen grammatischer Phänomene, oder als ‚letzter Strohhalm‘ verwendet wurde, wenn die einsprachige Kommunikation ‚am Ende‘ war, geht es den Autoren jedoch um mehr, um eine fundamental andere Einschätzung der Muttersprache, nämlich um ihre Funktion als Wegbereiter für das Erlernen von Fremdsprachen: „[W]e only learn language once. […] Our first language lays the foundation for all other languages we might want to learn“ (13). Somit wird die Muttersprache nicht mehr als Störfaktor, sondern als eine wertvolle Ressource für das Erlernen weiterer Sprachen angesehen. Schon Grundschulkinder - so die Autoren - verfügen über ein immenses Reservoir von semantischen und grammatischen Bedeutungen, die im Fremdsprachenunterricht in die Zielsprache transferiert werden müssten. Dies würde von den Lernenden größtenteils intuitiv geleistet und ermögliche erst fremdsprachliches Lernen, das ansonsten - ohne den Rekurs auf die Muttersprache - ein hoffnungsloses Unterfangen sei. Insbesondere komme der Anwendung bilingualer Techniken, die den Lernenden helfen, mit Rückgriff auf die Muttersprache fremdsprachliche Kompetenzen zu erwerben, besondere Bedeutung zu. Da diese zum Fundament des Sprachenlernens zählen, sei es notwendig, dass Lehrer diese Techniken beherrschen. Diese „neue“ Rolle der Muttersprache verschafft nicht nur einen schnellen Zugang zu den Bedeutungen der Fremdsprache, sondern erweist sich als „the magic key that unlocks the door to FL grammars“ (14). Dieser bilinguale Ansatz ist eingebettet in eine von der kognitiv-funktionalen Linguistik und den Neurowissenschaften inspirierten Sprachauffassung, für die Form- Bedeutungs-Paare, „constructions“, als Grundeinheiten von Sprache wie auch des Sprachenlernens angesehen werden: „In other words, meaning is central to language, and meaning-conveyance comprises both lexicon and grammar“ (14). Die Betonung von Lexis und Grammatik, wie sie sowohl in diesem Zitat als auch in der Darstellung der bilingualen Methode deutlich wird, mag zwar etwas außerhalb des ‚mainstream‘ des derzeitig herrschenden fremdsprachendidaktischen Diskurses liegen, fokussiert aber tatsächlich die Bereiche, in denen die Lernenden vor allem ihre ‚Lernarbeit‘ zu erledigen haben: „Communicative competence remains an overriding goal, while at the same time ‚constructions‘ have to be restored to the core of FL competence“ (15). Insofern überrascht es nicht, dass der Index des Buches zahlreiche Einträge für „grammar“ und „vocabulary“, aber keinen für „interkulturelles Lernen“ aufweist, wohl aber verschiedene für „cultural issues/ differences“, die vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Übersetzung und der Semantisierung fremdsprachlicher Ausdrücke und Redewendungen behandelt werden. „Making the MT the corner stone in the architecture of FLT“ (15) wird von den Autoren - aus ihrer persönlichen Sicht der Dinge nicht unverständlich - den Lesern als „a true paradigm shift“ kommuniziert. Nach ‚konventionellem‘ wissenschaftstheoretischem Verständnis tritt ein Paradigmenwechsel dann ein, wenn ein altes Paradigma durch ein neues abgelöst wird, weil die Erklärungsmächtigkeit des alten nicht mehr ausreicht, um die in einem Fach existierenden Probleme wissenschaftlich zu erklären. Erst das neue Paradigma, das von der Wissenschaftsgemeinde des betreffenden Faches akzeptiert sein muss, kann dieses leisten und stellt somit die Basis für die weitere Entwicklung der Forschung in diesem Fach bereit. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit der heutigen Rezeption von Thomas K UHN (1962) stellt, ist, ob es in einem Fach nur ein Paradigma gibt und - wenn ja - ob die „scientific community“ in diesem Fall bereit wäre, den Gegenstand und die Theorie des Fremdsprachenlernens auf die Paradigmen Einsprachigkeit und 218 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 2 Thomas K UHN : The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1962 [Deutsche Übersetzung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1967]. 39 (2010) Zweisprachigkeit zu reduzieren. 2 Da sich in dem Buch weder ein Hinweis auf den Begriff Paradigma noch auf K UHN finden, wird Paradigma hier wahrscheinlich eher mit der Bedeutung eines radikalen Wechsels in einem wichtigen Teilbereich des Faches gebraucht. Aber trotz der unzweifelhaften Bedenkenswertigkeit der Argumentation für die „bilinguale Reform“ sieht es derzeit nicht danach aus, dass die wissenschaftlichen Fachvertreter der Fremdsprachenforschung in ihrer Mehrheit bereit wären, den Wechsel zum bilingualen Paradigma nachzuvollziehen, weder im deutschsprachigen und noch viel weniger im internationalen Kontext, wie die Autoren selbst feststellen: „The Anglo-American mainstream simply moves on undaunted“ (22). In der Einleitung des Buches („A red card for the mother tongue? “) wird das Phänomen der Einsprachigkeit zunächst aus der Lehrerperspektive kritisiert. Lehrer werden in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die erste die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht verwendet, allerdings in unsystematischer, undifferenzierter und destruktiver Weise. Diesen Lehrern wird vorgeworfen, sich ihrer Verpflichtung für eine fremdsprachliche Atmosphäre in ihrem Unterricht zu entziehen. Die zweite Gruppe, die es darauf anlegt, die Muttersprache aus dem Klassenzimmer zu verbannen, besteht aus zwei Gruppen. Es handelt sich zum einen um ständig im Ausland lebende muttersprachliche Lehrer, die die Sprache ihrer Schüler und Studenten nicht kennen und so faktisch aus dieser Unkenntnis das Prinzip Einsprachigkeit legitimieren. Zum anderen handelt es sich um Lehrer, die aufgrund von behördlichen Richtlinien und Erlassen einsprachig unterrichten müssen und denen somit die bilinguale Alternative verwehrt ist. Für die seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die direkte bzw. natürliche Methode propagierte Einsprachigkeit stellte sich die Muttersprache als Hauptfehlerquelle dar und war deshalb im Unterricht zu vermeiden. Für die Praxis galt: „MT use is generally regarded as an evasive manoeuvre only to be used in emergencies, as little as possible. Maximise the use of the FL, minimize the L1, and use your common sense, is the advice most frequently given“ (18). Die Fragwürdigkeit der einsprachigen Semantisierung verdeutlichen die Autoren durch das folgende Beispiel: „It is even more revealing when accomplished teachers learn a new language and realize that, as learners, they want the very thing they are denying their own pupils“ (20). Es ist eine Beobachtung, die wohl von vielen gemacht wurde und die umständliche, die Bedeutung von Wörtern und Sätzen verhindernde ‚radikale‘ einsprachige Bedeutungsvermittlung ad absurdum führt. Das Insistieren auf Einsprachigkeit wird von den Autoren als „professional neurosis“ interpretiert, wobei dies wohl insbesondere für den Englischunterricht galt bzw. gilt: „,English only‘ became a badge of honour among EFL teachers, and MT free lessons almost a religious principle for those who were capable of teaching in this way“ (24). Als Alternative hierzu wird eine Theorie entwickelt, die die Muttersprache als Stützfaktor des Fremdsprachenlernens sieht, die „einsprachige Orthodoxie“ hingegen für unhaltbar erklärt: „This is the essence of our theory: The knowledge and skills acquired through and with the MT provide the foundation for FL learning and teaching“ (25). Der Kern des Buches besteht aus 14 Kapiteln, die sich der Umsetzung und Exemplifizierung dieser Theorie aus unterschiedlichen Blickwinkeln widmen. Wie bereits im vorangehenden Teil der Besprechung angeklungen ist, so gilt auch für das Buch insgesamt, dass es in einem argumentativen und engagiert-persuasivem Stil gehalten ist. Dies zeigt sich schon in den Überschriften der Kapitel, die häufig in programmatischer, hypothesenhafter, den Leser ansprechender Form den Inhalt und den Argumentationsgang antizipieren: „Chapter 1: Teaching English through English - with the help of the mother tongue“, „Chapter 2: How learners break into the speech code: the principle of dual comprehension“, „Chapter 3: We only learn language once“, „Chapter 4: Communicative equivalence and cross-linguistic networks“, „Chapter 5: The mother tongue as the magic key to Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 219 39 (2010) foreign grammars“, „Chapter 6: How to teach structures the bilingual way“, „Chapter 7: Dialogues, drama and declamation“, „Chapter 8: Language learning as skill learning“, „Chapter 9: Maximising high-quality input via the mother tongue“, „Chapter 10: Translation as a fifth skill“, „Chapter 11: More bilingual practice“, „Chapter 12: The ,natural‘ method“, „Chapter 13: Ideas for multilingual classes“, „Chapter 14: Directions for future work“. Das Buch endet mit einem Epilog „Capitalising on a priceless legacy“, einer Bibliographie sowie einem Sachindex. Aus Platzgründen kann eine Erörterung der einzelnen Kapitel nicht erfolgen. Ich beschränke mich auf die Darlegung einiger einschlägiger bilingualer Techniken, wie sie zentral für die bilinguale Methode sind. Als eine effektive Möglichkeit zum Erwerb unbekannter Redewendungen wird die „sandwich technique“ empfohlen, weil sie den schnellsten Weg zur authentischen Unterrichtskommunikation ermöglicht: German teacher of English: “You’ve skipped a line. Du hast eine Zeile übersprungen. You’ve skipped a line.” - “I mean the last but one word. Das vorletzte Wort. The last but one word” (33). Der Lehrer produziert die Äußerung in der Zielsprache (L2), reformuliert sie in der Muttersprache der Schüler (L1) und reproduziert sie noch einmal in L2. Die „sandwich technique“ verfügt auf der Schülerseite über einen bilingualen Gegenpart, z.B. wenn Schüler aus Unkenntnis der L2-Formulierung auf ihre L1 zurückgreifen: German pupil: “Können wir mal was anderes machen? ” Teacher: “You mean: Can’t we do something else? ” (34) Da Fremdsprachenunterricht bedeutungs- und verstehensorientiert sein soll, raten die Autoren dringend, dass es Schülern freigestellt sein muss, die Lehrer nach zielsprachlichen Formulierungen zu fragen oder einfach die muttersprachliche Wendung zu benutzen. Wenn Lehrer und Schüler sich beide der Prämisse der Bedeutungsorientierung verpflichtet fühlen und diese entsprechend umsetzen wollen, ist dies ein probater Weg zur authentischen Kommunikation. Der von Kritikern vorgebrachte Einwand, dass durch ein solches Verfahren der Muttersprache Tür und Tor geöffnet werden, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, insbesondere bei Klassen, die sich weniger auf die Prämisse der Bedeutungsorientierung festlegen und deren Drang sich in der Fremdsprache auszudrücken - aus welchen Gründen auch immer - begrenzt ist. Im Gegensatz zu den „pattern drills“ der audiolingualen Methode, die darauf abzielten, Strukturen ohne kommunikativen Bezug ‚einzuschleifen‘, zeichnen sich die „semi-communicative drills“ (124-130) dadurch aus, dass Strukturen manipuliert werden, mit Ideen gespielt und das semantische Potenzial einer Struktur ausgetestet wird. Vgl. hierzu das folgende Beispiel, in dem es um die Auslassung des Relativpronomens geht: All I want is a room. *Alles ich will ist ein Zimmer. Alles, was ich will, ist ein Zimmer. Durch die Nennung des ungrammatischen deutschen Satzes wird den Schülern die Struktur des englischen Relativsatzes deutlich, im Anschluss daran die deutsche Entsprechung einsichtig. Da es sich hier um einen wichtigen strukturellen Unterschied zwischen dem Englischen und Deutschen handelt, könnte sich zur Festigung der Zielstruktur folgende Sequenz anschließen: Teacher prompt Student response *Alles ich will ist ein Zimmer. All I want is a room. *Alles ich will ist ein Tisch und ein Stuhl. All I want is a table and a chair. 220 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 3 Wilhelm V IËTOR : „Der Sprachunterricht muss umkehren. Ein Beitrag zur Überbürdungsfrage (1882/ 1886)“. In: Werner H ÜLLEN (Hrsg.): Didaktik des Englischunterrichts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979 (Wege der Forschung; Band 513), 9-31. 39 (2010) Hier werden vom Lehrer fehlerhafte Sätze in Kauf genommen, weil den Schülern durch die Grammatikverstöße im Vorgabesatz die Zielstruktur leichter bewusst wird. Um sich stärker authentischem Sprachgebrauch anzunähern, kann der Lehrer dann zu idiomatischen Vorgaben übergehen, um nach der Absicherung der Form jetzt den Fokus auf fluency zu lenken: Ich will ja nur eine Tasse Tee. All I want is a cup of tea. Ich will ja nur eine Tasse Kaffee. All I want is a cup of coffee. Ich will ja nur ein Glas Milch. All I want is a glass of milk. Somit können „semi-communicative drills“ die Lücke zwischen Manipulation und Kommunikation überbrücken. Im Gegensatz zu den Repräsentanten einer natürlichen Methode vertreten B UTZ - KAMM / C ALDWELL die Auffassung, dass Lernende sich „realem“ Sprachgebrauch, aber auch dem sprachlichen Üben aussetzen müssen. Wenn Lernende die Grammatik einer Fremdsprache über die Muttersprache kennenlernen, so die Autoren, kann hierdurch eine Basis für lebenslanges Lernen geschaffen werden. Dies ist eigentlich kein revolutionärer Vorschlag, aber die Aussage ist passend und notwendig - angesichts des Zurückfahrens von systematischem Grammatikunterricht, herbeigeführt durch natürliche, der dogmatischen Einsprachigkeit verpflichtete Sprachlehrmethoden und z.B. aufgabenbasiertes Sprachenlernen sowie sanktioniert durch die Bildungsstandards und daraus hervorgehende Lehrpläne und Kerncurricula. Ursprünglich ausgelöst durch die Rezeption der Grammatik-Übersetzungsmethode war neben der Grammatik die Übersetzung der zweite große ‚Buhmann‘ im Fremdsprachenunterricht. Interessanterweise hat sich schon V IËTOR nicht gegen die Übersetzung schlechthin ausgesprochen: „Die Übersetzung in fremde Sprachen ist eine Kunst, welche die Schule nichts angeht“ (V IËTOR 1882/ 1886, in H ÜLLEN 1979: 30 [Hervorhebung CG]) 3 . Die Rezeption dieses Zitats läuft im Allgemeinen (auch heute noch) gegen eine pauschale Ablehnung der Übersetzung hinaus. Zurecht erinnern B UTZKAMM / CALDWELL an das Übersetzen als „forgotten art“ (196) und das Potenzial dieser 5. Fertigkeit, z.B. als „the most rigorous test of understanding“ (196). Bedenkt man, dass es beim Übersetzen um das ,Austarieren‘ von Bedeutungen geht, nicht selten im Kontext einer Lerngruppe, dann handelt es sich beim Übersetzen um höchst kommunikative Handlungen, und man kann durchaus geneigt sein, der folgenden Einschätzung zuzustimmen: „The elimination of translation as a special skill from FL curricula can only be called a scandal“ (197). The Bilingual Reform ist eine sehr engagierte, anspruchsvolle und bedenkenswerte Auseinandersetzung mit dem Dogma der Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Nach meiner Kenntnis gibt es im internationalen Kontext keine Publikation zu diesem Thema, die an Breite und Tiefe der Darstellung an sie heranreicht. Insofern wäre es ihr zu wünschen, dass sie auch eine internationale Leserschaft erreicht. Das als Studienbuch konzipierte Werk fordert seinen studentischen Lesern einiges ab. Die im Laufe des Textes immer wieder platzierten Zusammenfassungen, die Schlussfolgerungen am Ende von Kapiteln sowie insbesondere die nach jedem Kapitel zu bearbeitenden „study questions and tasks“ bieten jedoch wirkungsvolle Hilfe beim Verstehen des Textes und lassen die exzellenten hochschuldidaktischen Qualitäten der Autoren erkennen. Braunschweig C LAUS G NUTZMANN Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 221 39 (2010) Bernd T ESCH : Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Konzeptionelle Grundlagen und eine rekonstruktive Fallstudie zur Unterrichtspraxis (Französisch). Frankfurt/ M. [etc.]: Lang 2010 (Kolloquium Fremdsprachenunterricht; Band 38), 399 Seiten [57,80 €] „Die vorliegende Dissertationsschrift […] ist aus dem Lernaufgabenprojekt des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) […] hervorgegangen“, so der Eröffnungssatz der Qualifikationsarbeit. Mit ihr präsentiert der Autor Ausschnitte aus seiner Tätigkeit am IQB. Sie erlaubte ihm konzeptionell und forschungstechnisch in besonderer Weise den Zugriff auf den im Titel umrissenen Forschungsgegenstand. Man muss - um diese Aussage ermessen zu können - wissen, dass das 2004 von der KMK an der Humboldt-Universität eingerichtete Institut die Länder in der Bundesrepublik Deutschland unterstützen soll, die Qualität schulischer Bildungsprozesse zu sichern und zu fördern. Hierzu gehören zentral die Normierung, Illustration und Weiterentwicklung von Bildungsstandards, was sich im Zusammenhang von Fördern und Testen mit Aufgabenformaten und ihrer Umsetzung in der Praxis verbindet. Wie nachvollziehbar, ergab sich aus der engen und regelmäßigen Zusammenarbeit mit den Ländern die Möglichkeit der breiten Erhebung empirischer Daten - wovon zurzeit die ebenfalls von Tesch mit betreuten Vergleichsarbeitsstudien (VERA) zeugen. Konkret wird dieser Zusammenhang am Design des in der Dissertation abgebildeten Forschungsprozesses sichtbar. Doch kommen wir zur Makrostruktur der bei Daniela C ASPARI an der Freien Universität entstandenen Dissertation: 1. Einleitung (11), 2. Konzeption kompetenzorientierter Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht (16), 3. Kompetenzorientierte Lernaufgaben in der Unterrichtspraxis (149), 4. Schlussfolgerungen sowie Literaturverzeichnis (374) und Anhang. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wollte man die auf über 130 Seiten behandelte Kompetenzdiskussion (erneut) nachzeichnen. Leserinnen und Lesern können sich aufs Erste an folgenden Schlüsselbegriffen orientieren: Kompetenzen im Sinne des GeR und der Bildungsstandards, Lernerautonomisierung, Diagnose- und Evaluationspraxis. Auch wer an konkreter Aufgabenkonstruktion interessiert ist, kommt auf seine Kosten. Weitere Schlüsselwörter: Übungsaufgaben versus Task Based Language Learning, Lernszenarien, die Integration der Teilkompetenzen in Lernaufgaben, Evaluation usw. Für die Bildungsforschung liegt die besondere Relevanz der Arbeit in folgendem Zusammenhang: Wer Bildungspolitik beobachtet, bemerkt, dass sie sich zwar neuen Konzepten öffnet und diesen einen Weg in die Praxis zu ebnen versucht, dass der erfolgreichen Umsetzung aber zahlreiche Hindernisse entgegenstehen, die nicht leicht zu kompensieren sind. Hierzu gehört, dass sich Konzepte, wenn sie auf pädagogische Praxis und vor allem Praxen treffen, vielfach modifizieren. Dies gilt erst recht in großen Systemen wie dem öffentlichen Bildungswesen. Zu den überindividuell begründeten Hindernissen zählt die an vielen Universitäten seit Jahrzehnten defizitäre Lehrerbildung in der Ersten Phase (was eo ipso jeglicher Qualitätsentwicklung zuwider läuft), die den angehenden Lehrenden fachdidaktische Forschung immer noch vorenthält. So treffen diese dann mit einem Theoriedefizit auf die Praxis, können den eigenen Unterricht nur unzureichend theoriebzw. forschungsfundiert analysieren und die neuen Konzepte nicht wirklich umsetzen. Dass das Defizit der Erneuerungsfähigkeit des Systems Grenzen setzt, ist eindeutig. Umso vielversprechender erscheint die das Forschung-Praxis-Verhältnis beleuchtende Untersuchung, in der der Verfasser auf ganz unterschiedliche Unterrichtskontexte zugreifen konnte, um diese empirisch zu erfassen. Die Forschungsfrage lautete: „Welche Lehr- und Lernkonzepte sind für die gelingenden Umsetzung der Kompetenzorientierung förderlich, welche sind eher nicht förderlich? “ (152) Forschungstechnisch nutzt Tesch die von Bohnsack entwickelte „Dokumentarische Methode“ (vgl. 168 ff), welche vor allem die Interaktion zwischen Schüler- und lehrerseitigen Äußerungen umfasst. T ESCH erhoffte sich hiervon „einen offenen Zugang zu den sozialen Bedeutungsebenen 222 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) unterrichtlichen Verhaltens“ (152). Die Dokumentarische Methode greift auf das sozial geteilte implizite Wissen zu, das in direkter oder indirekter Interaktion bei/ zwischen Lehrenden und Lernenden fungiert und macht über Fallbeschreibungen grundlegende „Orientierungen“ deutlich. T ESCH zieht nun jeweils drei „Fälle“ heran („Ein ‚Fall‘ ist eine ausgewählte Sequenz in der Klasse A, ein zweiter ‚Fall‘ ist eine gleich geartete Sequenz in der Klasse B und einer weiterer Fall ist eine entsprechende Sequenz in der einer Klasse C“ [167]). Das tertium comparationis liefert also der Input, z.B. die Aufgabe, die immer gleiche Sequenz von Aufgaben usw. Damit ist natürlich noch nichts über den Offenheitsgrad von Aufgaben gesagt und über die Freiheit der Lehrenden und Lernenden, mit diesen Formaten umzugehen. Natürlich implizieren die von T ESCH herangezogenen Formate einen hohen Grad an Offenheit, wie es z.B. für das scaffolding typisch ist. Kennzeichnend für die Dokumentarische Methode ist, dass die Schritte der Erhebung und Auswertung erst im Forschungsprozess selbst realisiert werden. Es ist offensichtlich, dass sich dies - wenn es um Interaktionsforschung geht - gegenüber den hypothesenprüfenden Verfahren mit Vorteilen verbindet. Triangulative Elemente ergeben sich aus dem Design der Datenerhebung sowie aufgrund der zweistufigen Interpretation der Daten. Dies betriff sowohl den Zugriff auf die „Symbolik ersten Grades“ (etwa auf Schülerflüstergespräche in Phasen der Partner- oder Gruppenarbeit; in der lehrseitigen Steuerung, im Lehrer-Schülergespräch) als auch die „Symbolik zweiten Grades“ (z.B. Metagespräche „über“ Unterricht, etwa in Fachkonferenzen, in Interviews usw.). Die von T ESCH verarbeitete Materialbreite ist beeindruckend: Videosequenzen ganzer Unterrichtsreihen, die im Einzelnen immerhin 15 Stunden umfassen konnten. Ziel ist, „Orientierungen“, innerhalb derer „ein bestimmtes Thema in einer Gruppe verhandelt wird“ (170), sichtbar zu machen. Interessant ist natürlich, dass das Aufsuchen unterschiedlicher Kontexte innerhalb einer Sequenz (z.B. Schulhofgespräche) Gegenpositionen und neue Gesprächshorizonte deutlich macht, was wiederum der Erfassung der Vielschichtigkeit von sonst unerkannt bleibenden unterrichtlichen Prozessen entgegenkommt. Bislang war nicht davon die Rede, dass T ESCH seine Studie der Teilkompetenz des Sprechens widmet. Dass gerade das Sprechen hochgradig mit Selbstwirksamkeit korrelieren kann (wenn der Unterricht entsprechend steuert) ist aus DESI bekannt. In losem Zusammenhang hierzu deckt T ESCH auf, dass sich für jede Lerngruppe ein eigener „Klassen- oder Lernhabitus“ feststellen lässt. Hier kommt ganz konkrete Unterrichtbeobachtung ins Spiel („Marie wird von Herrn Schulte bevorzugt behandelt, weil er in ihr mehr Potential sieht als in Sarah“ [171]). Relevant für das Verstehen der Vielschichtigkeit des Umgangs mit Aufgaben ist natürlich auch die Selektion der dokumentierten Unterrichtsstrecken: lehrerzentrierte Phasen, Gruppenarbeitsphasen und Klassendiskussionen. - Insgesamt ergeben die in diesem Teil erhobenen Daten eine Fülle von Deutungen für die Analyse von Unterricht. Auf ca. 140 Seiten finden sich detaillierte Darstellungen zu den Unterrichtsbzw. Interaktionsverläufen, welche zumeist an Unterrichtstranskripten aufgehängt werden. Tesch breitet hier ein Material aus, das nicht allein für die Forschung, sondern auch für die Lehre (z.B. in fachdidaktischen Seminaren) interessant ist. Was macht nun den Erfolg von „Aufgaben- und Gestaltungskonzepten“ aus (301)? Sind die Aufgaben angemessen konstruiert? Ist dies schon ein Garant für den erhofften Erfolg. Die Lehrkraft „muss ein Gespür dafür entwickeln, welches Potenzial in den Themen steckt, wann die Aufgabenbearbeitung stockt und wie sie […] neu entfacht werden kann“ (ebd.). Dies ist mit zahlreichen Detailaspekten verbunden, z.B. mit der Verwendung der Zielsprache: „In Klasse 10b hingegen verwendet der Unterrichtende selbst häufig das Deutsche als Arbeitssprache und signalisiert den Schülern damit implizit die Vermutung, dass sie nicht viel in der Zielsprache verstehen […]. Dies hat eine klare Deauthentifizierung des Französischen als Arbeitssprache zur Folge“ (305). Dies ist nur ein Beispiel von vielen möglichen, an welchen sich z.B. in der Referendarsausbildung sehr auf die Unterrichtspraxis bezogene Reflexionen anstellen lassen. Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 223 39 (2010) Die Studie liegt in den Schnittmengen verschiedener Forschungsfelder: Aufgabenforschung, Hören und Sprechen, lernerautonomisierendes Unterrichten, interkulturelles Lernen, Interaktionsforschung, Organisation des Klassenraumgesprächs, Feedback und Repair, Scaffolding und Fading, Subjektive Theorien - um nur die vielleicht wichtigsten zu nennen. Was sind nun die Ergebnisse der Arbeit angesichts des gesteckten Ziels und für die fremdsprachendidaktische Forschung? T ESCH selbst umreißt diese wie folgt: Guter empirischer Forschungstradition gemäß begrenzt er zunächst die Reichweite der Aussage aufgrund der beschränkten Fallauswahl und der Rahmenaufgabe, die den Daten das tertium comparationis lieferte; sodann mache die Studie ausschließlich Aussagen zum Französischunterricht. Mit Blick auf die aus der MES-Studie bekannten Differenzen zwischen Motivation und Attitüden fordert er weitere einschlägige Fallstudien. Eine andere Einschränkung betrifft „nicht dokumentierte Interaktionen“. Zu Recht betont er, dass ‚Interaktionen‘ keinesfalls immer nur verbal ausfallen müssen; subverbale Reaktionen bleiben oft nicht erfasst. Und welche gesicherten Einsichten bringt die Arbeit für die Praxis des Französischunterrichts? Zunächst bestätigt T ESCH die Praktikabilität bestimmter Aufgabenkonzepte (358); dem Französischunterricht empfiehlt er im Bereich des Hörverstehens stärker auch auf die Überprüfung sprachlicher Oberflächen- oder Formphänomene zu achten (fehlt dies, führen HV-Aufgaben nicht zu einer deutlichen Verbesserung der HV-Fertigkeit) (359). Als weiteres Defizit erscheint das Fehlen eines integrierten Selbstbzw. Lernmonitoring in der Aufgabenstruktur selbst. Ein „zentraler Bereich der Weiterentwicklung“ durch Aufgabenformate ergebe sich aus der „Partizipationsmöglichkeit für Lernende“ (360). Und nota bene heißt es: „Auch hier verlässt sich die Aufgabenkonstruktion auf implizites Wissen der Lehrkräfte, das aber“ - so das explizite Ergebnis der Studie! - „nicht […] vorausgesetzt werden kann. […] In keinem der […] Fälle wurden die Unterrichteten in Aufgaben-, Themen- und Zeitmanagement mit einbezogen. An keiner Stelle wurden Einzel- und Klassenförderungsschwerpunkte, Schnittstellen für Evaluation und Selbstevaluation mit ihnen diskutiert. […] Die Gefahr des inhaltlichen Abarbeitens […] ist bei den Erprobungen evident geworden. Manche Unterrichtenden erwarten ‚fertige‘ Aufgaben, die die Kompetenzorientierung wie von selbst umsetzen. […] Auch […] ein nicht hinreichend tiefes Verständnis des Task Based Language Learning mag zu diesem Missverständnis beitragen“. Konkretes - in Gestalt von Warnungen - und Empfehlbares erfährt die Praxis auch im Bereich der Sprechförderung. Hervorgehoben wird: Sprechanlässe schaffen zu von den Lernenden als relevant empfundenen Inhalten; ‚Gerüste‘ bauen, um die Zielsprache auszuprobieren; lexikalische und syntaktische Strukturen interimssprachlich verfügbar machen, um dadurch den Sprachfluss zu fördern. Ein weiteres Ergebnis zur Forschungsmethodik betrifft die Eignung der Dokumentarischen Methode für sog. rekonstruktive Studien zur Praxis von Fremdsprachenunterricht. T ESCH formuliert hier: „Zusammenfassend lässt sich sagen, das die besondere Leistung der Dokumentarischen Methode für die Fremdsprachendidaktik in der genauen Beschreibung empirisch ermittelter Orientierungen und in der Bestimmung typischer Ausprägungen […] liegen könnte“ (366). Der Rezensent meint, dass gerade T ESCH s wertvolle Studie die Eignung der Dokumentarischen Methode vor Augen geführt hat. Dass dies aus Sicht der qualitativen Forschung verdienstvoll ist, steht außer Frage. Am Ende der Arbeit kommt der Autor auf das zurück, woran ihm im Kern gelegen ist: auf die Optimierung von Französischunterricht dank einer zielführend kalibrierten Lehrerfortbildung. In deren Zentrum sieht er die Orientierungsbegriffe: Unterrichtsplanung im Sinne der Kompetenzförderung, Förderung der Lernerautonomie, Entwicklung einer Diagnose- und Evaluationspraxis sowie die Verbindung dieser Aspekte im Konzept einer optimierten Aufgabenkultur. Fazit: A und O der Kompetenzorientierung bzw. der Qualität von Unterricht und Schule sind die Lehrkräfte. Kompetenzorientiert unterrichten heißt immer auch die Prozesse des Lernens 224 Neuerscheinungen C Eingegangene Bücher * Das Sternchen (*) hinter einem Buch verweist auf den Rezensionsteil. Ein doppeltes Sternchen (**) deutet an, dass eine Besprechung für den Jahrgang 40.1 (2011) vorgesehen ist. 39 (2010) verstehen, um sie unter Berücksichtigung guter pädagogischer Passung fördern zu können. Hier liege der Ansatzpunkt für die Qualitätsentwicklung. Wer wollte dies bestreiten? Bernd Teschs wichtiges Buch ist für fünf Bereiche gleichermaßen aufschlussreich: für die auf Optimierung bedachte Unterrichtspraxis, für die Unterrichtsforschung, die Bildungslenkung, die Lehreraus- und -fortbildung sowie für die empirische Forschungsmethodik im Segment Fremdsprachen. Gießen F RANZ -J OSEPH M EI ß NER Eingegangene Bücher * A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ , Sylwia: Fremdsprachliches Hörverstehen im Erwachsenenalter. Theoretische und empirische Grundlagen zur adressatengerechten und integrativen Förderung der Hörverstehenskompetenz am Beispiel Deutsch als Fremdsprache in Polen. Poznań: Instytut Lingwistyki Stosowanej UAM 2009 (Reihe: Język Kultura Komunikacja 6), 403 S. (*) A LTMANN , Werner / B ERNECKER , Walther L. / V ENCES , Ursula (Hrsg.): Debates sobre la memoria histórica en España. Beiträge zu Geschichte, Literatur und Didaktik. Berlin: edition tranvía 2009 (Theorie und Praxis des modernen Spanischunterrichts; Band 9), 350 S. B ÄR , Marcus: Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr 2009 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 576 S. (*) G RÜNEWALD , Andreas / K ÜSTER , Lutz (Hrsg.): Fachdidaktik Spanisch. Tradition - Innovation - Praxis. Seelze: Klett | Kallmeyer 2009, 366 Seiten plus CD-Rom. (*) H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer 2010, 399 S. (*) H OLLM , Jan (Hrsg.): Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Trier: WVT 2009 (KOLA; Band 5), 224 S. (*) K OTSCHI , Thomas / D ETGES , Ulrich / C ORTÈS , Colette: Wörterbuch französischer Nominalprädikate. Funktionsverbgefüge und feste Syntagmen der Form <être + Präposition + Nomen>. Tübingen: Narr 2009, XXIV + 926 S. (**) 39 (2010) Vorschau auf Jahrgang 40.1 (2011) Der von Claus G NUTZMANN (TU Braunschweig), Frank G. K ÖNIGS (Universität Marburg) und Lutz K ÜSTER (Humboldt-Universität Berlin) koordinierte Themenschwerpunkt für Jahrgang 40.1 (2011) trägt den Titel „Fremdsprachenforschung in Europa“. Zusagen für die einzelnen Länder bzw. Regionen liegen von folgenden Autoren vor: Benelux-Länder: Madeline L UTJEHARMS , Katja L OCHTMAN (Brüssel) Deutschland: Claus G NUTZMANN (TU Braunschweig), Frank G. K ÖNIGS (Universität Marburg), Lutz K ÜSTER (Humboldt-Universität Berlin) Frankreich: Dominique M ACAIRE (Bordeaux IV) Großbritannien: Rosamond F. M ITCHELL (Southampton) Skandinvavien: Kim H AATAJA (Jyväskylä) Spanien: Olga E STEVE R UESCAS (Pompeu Fabra, Barcelona) In den einzelnen Beiträgen sollen die folgenden Punkte aufgegriffen werden: C State of the art der Fremdsprachenforschung im jeweiligen Land in der Forschung C Aussagen zur Stellung der englischen und der deutschen Sprache im jeweiligen nationalen Schul- und Unterrichtskontext sowie im Hochschulbereich und in der Weiterbildung C Angaben zur Beeinflussung und Durchdringung der wissenschaftlichen Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen und der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis. Freie Beiträge (außerhalb des Themenschwerpunktes) sind willkommen. Manuskripte bitte an die Herausgeber (Adresse siehe 2. Umschlagseite). Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 40.2 (2011) Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht (koordiniert von Jürgen K URTZ , Karlsruhe) I n f o r m a t i o n e n C V o r s c h a u