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Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2012
411 Gnutzmann Küster Schramm
(Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: K o m p e t e n z e n k o n k r e t Koordination: L UTZ K ÜSTER L UTZ K ÜSTER Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ............................................................. 3 M ARIA G IOVANNA T ASSINARI Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren ................ 10 L AURENZ V OLKMANN Förderung von Medienkompetenzen ......................................................................... 25 D ANIELA C ASPARI , A NDREA S CHINSCHKE Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz ........... 40 A NDREAS G RÜNEWALD Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben ..................................... 54 R ÜDIGER G ROTJAHN Hörverstehen: Konstrukt und Messung ..................................................................... 72 I ULIA P OPESCU , B ETTINA N EUGEBAUER Testung und Evaluierung des Leseverstehens unter besonderer Berücksichtigung methodischer Kompetenzen .............................................................................. 87 41. Jahrgang (2012) • Heft 1 Herausgeber: Claus G NUTZMANN (Braunschweig), Frank G. K ÖNIGS (Marburg), Lutz K ÜSTER (Berlin) © 2012 Narr Francke Attempto Verlag www.narr.de | Zeitschriften | FLUL 41 (2012) • Heft 1 N i c h t-t h e m a ti s c h e r T e il 103 J ENNY J AKISCH Mehrsprachigkeit und Englischunterricht. Möglichkeiten und Grenzen schulischer Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld von Theorie und Praxis ........... 104 J OCHEN P LIKAT Neue Medien - Neue Literalität. Überlegungen zur systemtheoretischen Fundierung der pedagogy of multiliteracies für die Fremdsprachendidaktik ....... 109 B u c h b e s pr e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rtik e l Dietmar R ÖSLER , Nicola W ÜRFFEL : Online-Tutoren. Kompetenzen und Ausbildung. Tübingen: Narr 2010 (U DO O HM ) ............................................................................................ 115 Laurenz V OLKMANN : Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache. Tübingen: Narr 2010 (W OLFGANG H ALLET ) ............................................................................................................... 117 Astrid R EICH : Lexikalische Probleme in der lernersprachlichen Produktion. Communication Strategies Revisited. Tübingen: Stauffenburg 2010 (N ICOLE M ARX ) ........................... 120 Annick D E H OUWER , Antje W ILTON (eds.): English in Europe Today. Sociocultural and Educational Perspectives. Amsterdam, Philadelphia 2011 (C LAUS G NUTZMANN ) ................. 122 Grit M EHLHORN , Christine H EYER (Hrsg.): Russisch und Mehrsprachigkeit. Lehren und Lernen von Russisch an deutschen Schulen in einem vereinten Europa. Tübingen: Stauffenburg 2011 (A NKA B ERGMANN ) ................................................................................... 126 Younghee S HEEN : Corrective Feedback, Individual Differences and Second Language Learning. Dordrecht, New York [etc.]: Springer 2011 (M ATTHIAS S CHOORMANN , T ORSTEN S CHLAK †) .................................................................................................................. 128 Daniela C ASPARI , Lutz K ÜSTER , Lutz (Hrsg.): Wege zu interkultureller Kompetenz. Fremdsprachendidaktische Aspekte der Text- und Medienarbeit. Frankfurt/ M.: Lang 2010 (C LAUS A LTMAYER ) ........................................................................................... 131 In f o rm a ti o n e n • V o r s c h a u 134 41 (2012) • Heft 1 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag L UTZ K ÜSTER * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Streng genommen macht der Titel „Kompetenzen konkret“ keinen Sinn. Schließlich werden mit dem Kompetenzbegriff Handlungsdispositionen, keine Handlungen selbst bezeichnet. Kompetenzen sind folglich nicht direkt beobachtbar und damit per se gerade eines nicht, nämlich „konkret“. Wenn wir uns dennoch für diesen Titel entschieden haben, so deshalb, weil es sehr wohl ein berechtigtes Bedürfnis gibt, das Postulat der Kompetenzorientierung im Fremdsprachenunterricht mit Leben zu füllen und gewünschte Lernergebnisse und -verfahren möglichst präzise und konkret zu beschreiben. Damit ist zugleich das Ziel des vorliegenden Heftes grob umrissen: Es möchte in relevanten Ausschnitten den Stand fremdsprachendidaktischer Forschung zu der Frage entfalten, wie die in den Bildungsstandards und den einschlägigen Rahmenbzw. Lehrplänen der Bundesländer aufgeführten fremdsprachenbezogenen Kompetenzen im Einzelnen genauer modelliert, wie sie unterrichtlich angebahnt und wie sie getestet oder evaluiert werden können. ‚Kompetenz‘ ist gegenwärtig das zentrale Catchword aller allgemein- und fachdidaktischen Diskurse. Angesichts des mit ihm verbundenen Reformeifers kann man bisweilen sogar den Eindruck gewinnen, das zugrunde liegende Konzept sei völlig neu. Manch Jüngerem mag vielleicht nicht bewusst sein, dass dem Leitbegriff der Kommunikativen Kompetenz, wie ihn Dell H YMES (1972) und Hans-Eberhard P IEPHO (1974) geprägt haben, eine annähernd große Breitenwirkung in fremdsprachendidaktischer Theoriebildung und unterrichtlicher Praxis beschert war wie den jetzigen Kompetenzdiskursen. Im Zuge der nachfolgend proklamierten „post-“ oder „neokommunikativen Wende“ (R EINFRIED 2001) verlagerte die fremdsprachendidaktische Forschung allerdings ihren Blick von den zu erlernenden Sprachfunktionen auf die mentalen Prozesse des Lerners mit all ihren individuell unterschiedlichen Variationen. ‚Prozessorientierung‘ lautete daher das in den 1990er Jahren vorherrschende Paradigma von Lern(er)forschung. Auf der Ebene didaktisch-methodischer Entscheidungen führte es dazu, dass das ‚Lernen lernen‘ zu einem wichtigen Ziel erhoben wurde. Die Selbstevaluation der Lerner und die Selbstregulierung des Lernens erfuhren nun folglich ver- * Korrespondenzdresse: Prof. Dr. Lutz K ÜSTER , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: lutz.kuester@rz.hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Mediendidaktik, Didaktik des (inter)kulturellen Lernens, Kompetenzentwicklung im Bereich der multiliteracies. K o m p e t e n z e n k o n k r e t 4 Lutz Küster 41 (2012) • Heft 1 stärkte Aufmerksamkeit; über Instrumente wie das Lernerportfolio wurde ihnen zur Anwendung verholfen. Dies konnte jedoch nicht verhindern, dass die messbaren Erfolge schulischen Unterrichts, die in der PISA-Studie erhoben wurden, für Deutschland enttäuschend ausfielen. Im Verbund mit Vertreterinnen und Vertretern der Erziehungswissenschaft, hier vor allem der empirischen Bildungsforschung, rief die Bildungspolitik in der Folge bekanntlich eine neue Wende aus, die von der Inputzur Outputorientierung. So wie ein Wirtschaftsunternehmen seinen Erfolg am Kriterium der Rentabilität misst und bewertet, soll der Ertrag staatlicher Investitionen im Bildungssektor an konkreten Ergebnissen auf der Ebene von Lernerleistungen überprüft werden. Das, was gemessen wird, benötigt allerdings eine Bezugsgröße; hier hat sich der Kompetenzbegriff, aufgefächert in überfachliche und fachspezifische Anteile, durchgesetzt. Die mit dem Komplexitätsgrad des Konstrukts implizierte Anspruchssetzung ist sehr hoch - so zumindest, wenn man die viel zitierte Definition von W EINERT (2001: 27 f) zugrunde legt. Ihr zufolge umfasst der Kompetenzbegriff bekanntlich nicht nur „kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen“, sondern auch „die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Bereits an diesen wenigen Zeilen zeigt sich, dass mit dem Leitbegriff der Kompetenz wesentlich ein Handlungsaspekt verknüpft ist. Umfassendere Ziele der Persönlichkeitsentwicklung im Sinne neuerer Bildungsverständnisse (vgl. hierzu u.a. K OLLER 2011) bleiben hingegen im Wesentlichen unberührt. Gleichwohl unterstreicht die Weinertsche Definition, dass Kompetenzen nicht auf rein kognitive Aspekte reduziert werden können. Diese hingegen wären mit den bekannten psychometrischen Verfahren deutlich leichter zu erfassen als z.B. attitudinale und affektive Komponenten von Lernen. Das Dilemma, in dem sich fachdidaktische Forschung und unterrichtliche Praxis in Bezug auf schulische Rahmenbedingungen befinden, liegt nun darin, die Modellierung von Kompetenzen für ein weites Verständnis zu öffnen, zugleich aber die Überprüfbarkeit bestimmter Kompetenzstände zu gewährleisten. Das aber ist in der Regel nicht ohne Prioritätensetzungen möglich. Von daher kann es nicht verwundern, dass die Kompetenzorientierung in pädagogisch-didaktischen Diskursen vor allem dort auf Widerstand und Kritik stößt, wo sie sich vorrangig den Vorgaben einer Outputmessung verpflichtet fühlt. Die kritischen Positionen (vgl. u.a. B AUSCH [et al.] 2005, K ÜSTER 2006 und Z YDATIß 2008) sollen im vorliegenden Heft im Wesentlichen als bekannt vorausgesetzt und daher nicht grundlegend neu erörtert werden. Stattdessen hoffen wir, mit den einzelnen Fokussierungen des Heftes einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Umsetzung der politisch verordneten Kompetenzorientierung so erfolgen kann, dass sie den Ansprüchen universitärer Fremdsprachendidaktik in einem möglichst hohen Maße gerecht werden kann. Die Beiträge des Themenschwerpunkts sind wie folgt gegliedert: Am Anfang stehen sprachenübergreifende Perspektivierungen, in denen, teilweise gestützt auf Ergebnisse von Lernerforschung, die Modellierung und die unterrichtliche Förderung von Metho- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 41 (2012) • Heft 1 den- und Medienkompetenzen erörtert werden (T ASSINARI , V OLKMANN ). Es folgen zwei sprachspezifische Beiträge aus romanistischer Sicht (C ASPAR / S CHINSCHKE , G RÜ - NEWALD ), welche primär der Förderung einzelner Kompetenzen gewidmet sind. Sie weisen insofern eine auch inhaltliche Nähe zueinander auf, als in beiden die Verbindung von Sprachmittlung und interkulturellen Kompetenzen aufscheint. Fragen der Testung und Evaluierung (G ROTJAHN , P OPESCU / N EUGEBAUER ) beschließen den Schwerpunkt. Obwohl die in ihnen herangezogenen Beispiele im einen Fall mehr dem Englischen, im anderen dem Französischen entnommen sind, kommt an dieser Stelle wiederum verstärkt eine sprachenübergreifende Perspektive zum Tragen. Der Einstiegsbeitrag handelt von der Selbstregulierung sprachlichen Lernens. M ARIA G IOVANNA T ASSINARI (Freie Universität Berlin) vermeidet allerdings die Bezeichnung ‚methodische Kompetenzen‘, sie spricht lieber von „Kompetenzen für Lernerautonomie“. In ihren Ausführungen zur Modellierung dieses Kompetenzbereichs greift sie auf das „dynamische Autonomiemodell“ zurück, welches sie bereits in ihrer Dissertation (2010) entfaltete. Entsprechend der eigenen Tätigkeit am Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin nimmt sie vorrangig den Kontext universitärer Sprachausbildung in den Blick. Die in diesem Rahmen erörterten Ansätze zur Förderung von Lernerautonomie lassen sich in ihren Grundgedanken (gekennzeichnet als reflecting, awareness raising und preparing for decision making) aber auch auf schulischen Fremdsprachenunterricht übertragen. So kommt der von T ASSINARI als zentral erachteten Selbstevaluation der Lernenden gewiss in beiden Kontexten ein hoher Stellenwert zu. Dem Zusammenspiel von Selbsteinschätzungen der Lerner und der Lernberatung seitens der Lehrkraft galt auch das Hauptaugenmerk der empirischen Studie, die ihrer Dissertation zugrunde lag und deren Hauptergebnisse die Autorin im vorliegenden Beitrag wiedergibt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Selbsteinschätzung der Lernenden und die mit ihr einhergehende Evaluation von Lernerautonomie hilfreich sind, um den Lernprozess bewusster zu steuern. Methodische Kompetenzen werden in bildungspolitischen Dokumenten gerne als Oberbegriff gefasst, unter dem u.a. auch die Medienkompetenz rangiert - so ansatzweise in den Bildungsstandards (KMK 2004), explizit in den Berliner Rahmenplänen für den Unterricht in den einzelnen Fremdsprachen (S EN BJS 2006). Dass dies eine starke Verkürzung, wenn nicht gar eine grobe Sinnentstellung darstellt, wird deutlich, wenn man dem Beitrag von L AURENZ V OLKMANN (Universität Jena) folgt. Am Beispiel des Teilbereichs der visual literacy veranschaulicht er, welche Transformationen das Konstrukt der Medienkompetenz in den vergangenen Jahren durchlaufen hat und wie deren Bedeutung für alltägliche Lebenspraxen gestiegen ist. Da unter ‚Medien‘ oft sehr Unterschiedliches verstanden wird, setzt Volkmann zunächst bei einer differenzierenden Definition an und vermisst so das Feld der für fremdsprachliche Lehr-/ Lernkontexte relevanten Medien. Auf dieser Basis entwickelt er ein in sieben Dimensionen gegliedertes Modell fremdsprachenbezogener Medienkompetenz, zu deren unterrichtlicher Anbahnung er zehn Postulate aufführt. Er greift hierbei u.a. Positionen der pedagogy of multiliteracies (C OPE / K ALANTZIS 2000) auf und plädiert für ein die herkömmlichen Grenzen von Medien-, Literatur- und Kulturdidaktik überschreitendes, integrati- 6 Lutz Küster 41 (2012) • Heft 1 ves und dabei zugleich stärker an kritisch-reflexiven Momenten ausgerichtetes Verständnis von Medienkompetenz. Mit der Herausforderung, spezifische Kompetenzen in konkreten einzelnen Unterrichtsvorhaben zu fördern, beschäftigen sich in besonderem Maße die beiden anschließenden Beiträge. Den Anfang machen die Überlegungen von D ANIELA C ASPARI (Freie Universität Berlin) und A NDREA S CHINSCHKE (Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg) zum Thema der Sprachmittlung. Die Autorinnen sprechen der Sprachmittlung aufgrund ihres Komplexitätsgrades eher den Status einer eigenständigen Kompetenz als den einer Teilfertigkeit oder Teilkompetenz zu. Mit Blick auf die bisher wenig beachtete Frage einer systematischen Progression im genannten Feld entwerfen sie für den Französischunterricht der Sekundarstufe II eine zweistufige Lernaufgabe, in deren Mittelpunkt die Arbeit mit Spiegeltexten steht. In einem gemeinsamen thematischen Bezug zu Fragen der Stellensuche und zur Problematik prekärer Praktikumsverhältnisse auf dem Akademiker-Arbeitsmarkt bilden jeweils ein deutsch- und ein französischsprachiger Text den Ausgangspunkt für sprachmittelnde Aktivitäten, die im Anspruchsniveau vom Einfachen zum Komplexen voranschreiten. Die detailliert beschriebenen Arbeitsschritte veranschaulichen, wie sehr Sprachmittlung von einer Verknüpfung unterschiedlichster Dimensionen gekennzeichnet ist. Diese werden zusammenfassend systematisiert und belegen in ihrer Vielschichtigkeit die eingangs aufgestellte These. Da Sprache sich stets in kulturellen Kontexten artikuliert, ist Sprachmittlung notwendigerweise immer zugleich Kulturmittlung. Dies wird nicht nur im vorgenannten, sondern auch im nachfolgenden Beitrag deutlich. A NDREAS G RÜNEWALD (Universität Bremen) befasst sich mit der interkulturellen Kompetenz und den Möglichkeiten, sie im Fremdsprachenunterricht anzubahnen. Wie schon C ASPARI / S CHINSCHKE orientiert er sich in seinen didaktisch-methodischen Überlegungen am Konzept der Lernaufgaben. Im Interesse einer Fundierung der inhaltlichen Ziele geht er zunächst auf bildungspolitische Rahmenvorgaben und fachdidaktische Modellierungen zur interkulturellen Kompetenz ein, bevor er Kriterien zur Konstruktion kompetenzspezifischer Lernaufgaben entwickelt. Er stützt sich hierbei namentlich auf das von B YRAM (1997) entworfene Modelle der fünf savoirs. Zwei Aufgabenbeispiele stellt er anschließend vor, eins zur Arbeit mit critical incidents, ein weiteres zur Sprachmittlung in enger Anbindung an die Arbeit mit dem Lehrwerk. Beide Beispiele sind in erster Linie auf den Spanischunterricht bezogen, das letztgenannte wird analog auch für das Französische entwickelt. Spezifische Lösungsansätze bietet Grünewald zudem als Download an. In den Details der Aufgabenbeschreibungen wird erkennbar, dass sprachliche und kulturelle Lernprozesse aufs Engste miteinander verwoben sind und dass ein interkulturell ausgerichteter Fremdsprachenunterrichts dem Rechnung tragen sollte. Die vielfach diskutierte Frage, ob bzw. inwieweit interkulturelle Kompetenz evaluier- oder gar im engeren Sinne messbar ist, schneidet der Autor nur kurz an. Auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes muss die Antwort noch sehr vorsichtig ausfallen. Aspekten von Kompetenzmessung widmen sich vor allem die beiden abschließenden Beiträge. Grundlage einer jeden Evaluation oder Messung, welche Validitätsan- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 41 (2012) • Heft 1 sprüchen gerecht werden soll, bildet eine eindeutige Definition des jeweiligen Kompetenzkonstrukts. Wenn R ÜDIGER G ROTJAHN (Ruhr-Universität Bochum) sich in seinem Aufsatz mit dem Hörverstehen auseinandersetzt, so legt er daher besonderes Gewicht auf eine präzise Kennzeichnung des Konstrukts. Nach einleitenden Worten, in denen er die Bedeutung des Hörverstehens in fremdsprachlicher Alltagskommunikation hervorhebt, stellt Grotjahn den kompetenz- und den aufgabenorientierten Ansatz einer Konstruktdefinition einander gegenüber, um sich selbst für ein integratives Modell auszusprechen, das er in Anlehnung an die Arbeiten von B UCK (2001) und B ACHMAN / P ALMER (2010) als „interaktiven Ansatz“ bezeichnet. In einer auf Ergebnissen psycholinguistischer Forschung gegründeten Analyse beschreibt er sodann Merkmale des Hörverstehens im Vergleich mit bzw. in Abgrenzung von denen des Leseverstehens. Dies führt ihn zur genaueren Bestimmung potenziell schwierigkeitsgenerierender Merkmale des Hörverstehens, aus der er Konsequenzen für die Gestaltung von Hörverstehensaufgaben und für die Auswertung von Testergebnissen ableitet. Er stimmt B UCK (2001) darin zu, dass Aufgaben zur Testung in besonderem Maße auf jene Aspekte gerichtet sein sollten, die spezifisch für das Hörverstehen sind und nicht in anderen Testteilen vorkommen. Daraus ist zu folgern, dass Hörverstehenstests primär „die Fähigkeit zur schnellen, automatischen On-line-Verarbeitung von Texten mit typischen Merkmalen mündlicher Sprache“ (G ROTJAHN im vorliegenden Heft, S. 82) fokussieren sollten. Weiterhin plädiert der Autor dafür, stärker als bisher das interaktive Hören in interpersonaler Kommunikation einzubeziehen, da es hier darauf ankomme, die unterschiedlichen Teilkompetenzen des Sprechens und des Hörens integrativ zur Anwendung zu bringen. In dieser Hinsicht sieht er allerdings noch erheblichen Bedarf an testbezogener Forschung. Das dem Hörverstehen benachbarte Feld des Leseverstehens steht im Fokus der empirischen Studie, die I ULIA P OPESCU (Berlin) und B ETTINA N EUGEBAUER (IQB Berlin) unter dem Dach des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) auf der Basis einer umfassenderen Erhebung durchführten. Der vorliegende Beitrag fasst im Wesentlichen die Ergebnisse einer Untersuchung zusammen, die der Einbeziehung methodischer Kompetenzen bei der Erfassung von Leistungen des Leseverstehens galt und die P OPESCU (2011) als Abschlussarbeit des Masters of Education im Fach Französisch an der Humboldt-Universität zu Berlin verfasste. Unter der Betreuung von Bettina Neugebauer konnte sie im Rahmen einer Tätigkeit als studentische Mitarbeiterin auf umfangreiches Datenmaterial zurückgreifen, das vom IQB in einer Kombination von Testung und Befragung im Jahre 2008 erhoben wurde. Die gezogene Stichprobe von 866 Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 9 und 10 ist Teil der größer angelegten Normierungsstudie von P ORSCH / T ESCH / K ÖLLER (2010). Der Aufsatz gibt zunächst den Stand empirischer Forschung zur Anwendung methodischer Kompetenzen und wesentliche Ergebnisse der Leseforschung wieder. Auf deren Basis schlagen die Autorinnen ein erweitertes Kompetenzmodell für den Fremdsprachenunterricht vor, in dem Anteile von Lese- und Methodenkompetenz integriert werden. Die Aussagekraft dieses Modells wird wiederum vor dem Hintergrund der nachfolgend dargestellten und diskutierten empirischen Erhebung überprüft. Die Daten sollten Antworten auf 8 Lutz Küster 41 (2012) • Heft 1 eine doppelte Frage liefern: zum einen, mit welcher Häufigkeit die befragten Schülerinnen und Schüler einen methodisch-differenzierten Umgang mit Lesetexten übten und zum anderen, in welchem Zusammenhang die hier gewonnenen Daten mit den im Test erbrachten Leseleistungen standen. Das primäre Forschungsinteresse galt folglich der Frage, ob ein unterrichtlich gesteuerter, bewusster Methodeneinsatz im Feld des Leseverstehens mit Lernerfolg korreliert. Die Studie brachte insofern aufschlussreiche Ergebnisse, als sie in der Tat „einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis“ der Schülerinnen und Schüler „in Bezug auf einen methodisch-differenzierten Umgang mit Texten und ihrer Leseleistung“ (S. 98 weiter unten) belegen konnte. Die verschiedenen Beiträge dieses Heften zeigen, dass im Hinblick auf die Modellierung fremdsprachenbezogener Kompetenzen schon viel geleistet und erreicht wurde, dass jedoch im Rahmen von Forschung und Unterrichtsentwicklung auch noch viel Arbeit wartet. Wenn wir zudem über die relativ kurze Zeitspanne unterrichtlich gesteuerter Kompetenzentwicklung hinaus Aufschlüsse über deren funktionale Nützlichkeit und persönliche Relevanz im späteren Leben unser heutigen Lerner erfahren wollen, benötigen wir Langzeitstudien im Sinne einer Bildungsgangforschung. Ohne eine Aufstockung der (auch personellen) Ressourcen im Feld der Fremdsprachenforschung wird dies allerdings kaum zu realisieren sein. Literatur B ACHMAN , Lyle F. / P ALMER , Adrian S. (2010): Language Assessment in Practice: Developing Language Assessments and Justifying their Use in the Real World. Oxford: Oxford UP. B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Tübingen: Narr. B UCK , Gary (2001): Assessing Listening. Cambridge: Cambridge UP. B YRAM , Michael (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Clevedon: Multilingual Matters. C OPE , Bill / K ALANTZIS , Mary (2000): Multiliteracies: Literacy Learning and the Design of Social Futures. London: Routledge. H YMES , Dell H. (1972): „On communicative competence“. In: P RIDE , John B. / H OLMES , Janet (Hrsg.): Sociolinguistics. Selected Readings. Harmondsworth: Penguin, 269-293. K OLLER , Hans-Christoph (2011): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. K ÜSTER , Lutz (2006): „Auf dem Verordnungswege. Zu Risiken und Nebenwirkungen der Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch)“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 81, 18-21. P IEPHO , Hans-Eberhard (1974): Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Dornburg-Frickhofen: Frankonius. P ORSCH , Raphaela / T ESCH , Bernd / K ÖLLER , Olaf (Hrsg.) (2010): Standardbasierte Testentwicklung und Leistungsmessung: Französisch in der Sekundarstufe I. Münster: Waxmann. R EINFRIED , Marcus (2001): „Neokommunikativer Fremdsprachenunterricht. Ein neues methodisches Paradigma“. In: M EIßNER , Franz-Joseph / R EINFRIED , Marcus (Hrsg.): Bausteine für einen neo- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 41 (2012) • Heft 1 kommunikativen Französischunterricht. Lernerzentrierung, Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Interkulturalität, Mehrsprachigkeitsdidaktik. Tübingen: Narr, 1-20. S ENATSVERWALTUNG FÜR B ILDUNG , J UGEND UND S PORT (S EN BJS) (2006): Rahmenplan für die Grundschule und die Sekundarstufe I, Englisch. Berlin [analog für die Sprachen Französisch, Spanisch, Italienisch]. http: / / www.berlin.de/ sen/ bildung/ unterricht/ lehrplaene/ index.html (8.3.2012). Z YDATIß , Wolfgang (2008): „SMS an KMK: Standards mit Substanz! Kulturelle Inhalte, Mediation zwischen Sprachsystem und Sprachhandeln, Kritikfähigkeit - auch im Fremdsprachenunterricht“. In: L ÜGER , Heinz-Helmut / R ÖSSLER , Andrea (Hrsg.): Wozu Bildungsstandards? Zwischen Input- und Outputorientierung in der Fremdsprachenvermittlung. Landau: Verlag Empirische Pädagogik, 13-34. © 2012 Narr Francke Attempto Verlag 41 (2012) • Heft 1 M ARIA G IOVANNA T ASSINARI * Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren Abstract. Which competences are necessary for learner autonomy? How can they be modelled for the learning and teaching practice? As an answer to this question I propose a dynamic model of learner autonomy with descriptors, a tool for supporting self-assessment and evaluation of learner autonomy. This model accounts for cognitive, metacognitive, action-oriented and affective components of learner autonomy and provides descriptors of learners’ attitudes, competencies and behaviours. It is dynamic in order to allow learners to focus on their own needs and goals. Learners can choose to assess themselves in some components. Their answers are then discussed in an advising session, in order to compare the learner’s and the advisor’s perspectives, focus on single aspects of the learning process and set goals for further learning. The students’ feedback shows that they are able to benefit from this evaluation; their awareness, self-reflection and decision-making in the autonomous learning process improve. 1. Einleitung Im Hinblick auf das lebenslange Lernen ist die Förderung von Lernkompetenzen und von Lernerautonomie heutzutage ein wichtiger Bestandteil des gesamten Bildungswesens und damit auch des Fremdsprachenunterrichts. Um aber Lernerautonomie beim Fremdsprachenunterricht fördern zu können, müssen wir uns vorher klar machen, wie wir Lernerautonomie definieren und welche Kompetenzen im Einzelnen auf sie bezogen sind. Als Antwort auf diesen Fragen habe ich in meiner Dissertation (T ASSINARI 2010) ein dynamisches Modell von und Deskriptoren für Lernerautonomie entwickelt, die die Kompetenzen des Lerners abbilden und modellieren. Dieses dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren sind als wissenschaftlich basiertes und praxisorientiertes Instrument zur Unterstützung von Lernenden und Lehrenden in autonomisierenden Lernprozessen gedacht. Somit sind sie als operationelle Modellierung von Lernerautonomie zu verstehen. Sie wurden auf der Basis einer kritischen Analyse der Literatur entwickelt und von zwei Expertengruppen, jeweils am CRAPEL (Centre de Recherche et d’Applications Pédagogiques en Langues) der Université Nancy 2 und am Sprachenzentrum der Freien Universität (FU) Berlin, intersubjektiv validiert. Außerdem wurden sie von Studierenden, Sprachlernberatern und Lehrenden getestet. Heute werden sie sowohl in selbstgesteuerten Lernkontexten als auch im Unterricht verwendet. * Korrespondenzadresse: Dr. Maria Giovanna T ASSINARI , Freie Universität Berlin, ZE Sprachenzentrum, Habelschwerdter Allee 45, 14195 B ERLIN . E-Mail: giovanna.tassinari@fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Lernerautonomie, Lernberatung, Mehrsprachigkeit. Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 11 41 (2012) • Heft 1 In diesem Beitrag präsentiere ich zunächst einige Überlegungen zur Modellierung der Kompetenzen für Lernerautonomie (Abschnitt 2) und definiere Lernerautonomie (Abschnitt 2.1). Danach stelle ich das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren vor (Abschnitt 2.2) und beschreibe, wie es zu Zwecken der Evaluation und zur Förderung von Lernerautonomie in autonomisierenden Lern- und Lehrsituationen verwendet werden kann (Abschnitt 3). Außerdem gehe ich auf das Feedback von Studierenden und Beratern ein (Abschnitt 4). Darüber hinaus stelle ich ausgehend von meiner Untersuchung einige Schwierigkeiten und Prioritäten von Studierenden im Hinblick auf Lernerautonomie dar (Abschnitt 4.2). 2. Zur Modellierung der Kompetenzen für Lernerautonomie In der Literatur existieren verschiedene Ansätze zur Beschreibung und Modellierung der Kompetenzen für Lernerautonomie. Die meisten fokussieren auf die Kompetenzen des Lerners. Erst in den 1990er Jahren fing man an, unter dem Stichwort Lehrerautonomie (teacher autonomy) auch die Kompetenzen des Lehrers in Betracht zu ziehen (vgl. C RABBE 1999 oder L AMB / R EINDERS 2007). Für meine Dissertation habe ich vorwiegend die Beiträge analysiert, die die Lernerkompetenzen in den Mittelpunkt stellen. Diese Ansätze unterscheiden sich insofern, als sie in verschiedenen Kontexten, aus verschiedenen Ausgangsperspektiven und mit verschiedenen Zielen erarbeitet worden sind. Zum Beispiel beschreibt H OLEC (1979) die Kompetenzen, die zur Autonomisierung des Lernenden gehören, als Handlungen, die der Lerner in einem selbstgesteuerten, wenn auch begleiteten, Lernprozess ausführt: Ziele definieren, Lernmaterialien aussuchen, Methoden und Strategien auswählen, Zeit, Ort und Rhythmus des Lernens festlegen, den Lernfortschritt und den Lernprozess evaluieren. O XFORD (1990) und C HAMOT [et al.] (1999) modellieren sie als Strategien, die zum Lernen einer Fremdsprache eingesetzt werden können und berücksichtigen dabei, neben direkten Strategien, auch indirekte bzw. Managements- und Regulierungsstrategien, die in selbstgesteuerten Lernprozessen relevant sind, darunter metakognitive, soziale und affektive Strategien. W ENDEN (1991) beschreibt diese Kompetenzen im Wesentlichen als metakognitives Wissen des Lerners (Wissen über die Person, Strategiewissen und Aufgabenwissen) sowie als Strategien, die der autonome Lerner einsetzt. Doch werden die Beschreibung bzw. die Modellierung dieser Kompetenzen durch einige Spannungsfelder erschwert. Einerseits sind die Kompetenzen, Einstellungen und Strategien der Lerner potenziell unendlich viele; von daher sind deren ausführliche Beschreibung bzw. Modellierung nicht möglich bzw. laufen Gefahr, unübersichtlich zu sein. Andererseits sind viele der infrage kommenden Kompetenzen nicht immer direkt auf beobachtbare Verhaltensweisen zurückzuführen und somit schwer zu beschreiben. Darüber hinaus können je nach Lern- und Lehrkontext unterschiedliche Kompetenzen erforderlich bzw. relevant sein. Nicht zuletzt lassen sich die einschlägigen Einstellungen, Kompetenzen, Kenntnisse und Strategien verschiedenen Bereichen der Lernerperson, wie kognitiven, metakognitiven, aber auch sozialen, psychologischen und 12 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 persönlichen Aspekten zuordnen. Daher erfordert deren Modellierung einen interdisziplinären Ansatz. Da ich die oben erwähnten sowie weitere Ansätze in meiner Dissertation bereits behandelt habe (vgl. T ASSINARI 2010: Kapitel 3 und 4), gehe ich an dieser Stelle nicht näher auf sie ein. Dennoch gehe ich kurz auf den Ansatz von M ARTINEZ (2008) ein, die sich zum gleichen Zeitpunkt wie ich, aber aus einem anderen Blickwinkel, der Frage der Beschreibung und Modellierung dieser Kompetenzen widmete. Ihr Ansatz ist meines Erachtens insofern bemerkenswert, als er die Modellierung von Lernerautonomie aus einer dreifachen Perspektive unternimmt: der Lernerperspektive, der Lehrerperspektive und der Perspektive der pädagogischen Maßnahmen für den Autonomisierungsprozess. Sowohl in der Lernerperspektive als auch in der Lehrerperspektive gilt es für M ARTINEZ , Wissensinhalte und prozedurale Kompetenzen zu identifizieren, welche Lerner und Lehrer in autonomisierenden Prozessen einbringen bzw. entwickeln sollten. So erarbeitet M ARTINEZ für die Lernerperspektive eine Aufstellung von Anwendungsbereichen sowie erforderlichen Kompetenzen mit entsprechenden Beispielen von Lernerverhaltensweisen. Für die Lehrerperspektive ergänzt sie eine Darstellung der Prozesse, die die Lehrer in Gang setzen sollten, um diese Kompetenzen bei den Lernern zu fördern. Daraus lassen sich zugleich jene Kompetenzen definieren, die die neue Lehrerrolle in Autonomisierungsprozessen erforderlich macht. Ihre Erkenntnisse haben einen heuristischen Wert, vor allem im Hinblick auf die (Handlungs-)Forschung autonomer Lernprozesse und auf die Lehrer(aus)bildung. Dennoch erkennt M ARTINEZ selbst, dass die umfangreichen Aufstellungen gleichzeitig sehr allgemein bleiben und eher als „Grundlage zur Aufdeckung von weiteren, spezifischen Strategien mit Bezug auf ein spezifisches Publikum und einen spezifischen Lernkontext“ (ebd.: 83) dienen. Dasselbe gilt für die umfangreichen Kompetenzen der Lehrer, die diese Autonomisierungsprozesse begleiten sollten. So wertvoll diese Aufstellungen auch sind, für die unmittelbare Anwendung in der täglichen Lern- und Lehrpraxis sind Instrumente gefragt, die sich besser handhaben lassen. Die Modellierung, die ich durch das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren erarbeitet habe, fokussiert hingegen die Lernerperspektive und soll als Instrument dienen, in autonomisierenden Lern- und Lehrprozessen die Reflexion des Lerners über die eigenen Kompetenzen zu fördern. Bevor wir uns dem dynamischen Autonomiemodell und den Deskriptoren zuwenden, definiere ich mein Verständnis von Lernerautonomie. 2.1 Lernerautonomie: eine Definition Die Definition von Lernerautonomie, die ich vorschlage, ist wissenschaftlich begründet und operationell. Sie ist wissenschaftlich begründet, weil ich zu ihrer Erarbeitung zahlreiche existierende Definitionen kritisch analysiert und die wesentlichen Aspekte zusammengefasst und neu modelliert habe (T ASSINARI 2010, Kapitel 3). Sie ist operationell, weil sie das Konstrukt in seinen verschiedenen Bestandteilen so definiert, dass es Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 13 41 (2012) • Heft 1 ausreichende Ansatzpunkte für die Lern- und Lehrpraxis bietet. Zu diesem Zweck ist es wichtig anzumerken, dass Lernerautonomie nicht als abstraktes Ideal aufgefasst wird, sondern dass sie auf allgemeinen Kompetenzen, Fertigkeiten und Handlungen beruht, die Lerner in verschiedenen Lernkontexten und -situationen tatsächlich aufweisen und ausüben können (vgl. B ENSON 2001: 59). Von dieser Prämisse ausgehend definiere ich Lernerautonomie als die komplexe Metafähigkeit des Lerners, in verschiedenen Situationen und Formen Kontrolle über das eigene Lernen auszuüben. Sie besteht aus wissensbasierten und handlungsorientierten Kompetenzen, Fertigkeiten und Strategien sowie aus motivationalen und affektiven Einstellungen und Kompetenzen und ist somit als ein komplexes Konstrukt zu verstehen. Sie stellt insofern eine Metafähigkeit dar, als sie die Fähigkeit des Lerners ist, seine eigenen Kompetenzen bzw. Fertigkeiten miteinander zu kombinieren, zu koordinieren und in verschiedenen Situationen kritisch und angemessen einzusetzen. Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Aspekte ist meines Erachtens ein wesentliches Merkmal von Lernerautonomie. Lernerautonomie wird durch bewusste Entscheidungen und Handlungen im sozialen Lernumfeld von verschiedenen Lernern unterschiedlich realisiert. Das Risiko, Lernerautonomie als Optimierung der Lernerleistung zu sehen, ist mir bewusst. In unserer Gesellschaft und im Bildungswesen bewegen wir uns zunehmend in einem Spannungsfeld, zwischen Freiheit (Autonomie) und Zwang (Heteronomie), zwischen Entfaltung des Individuums und Leistungsdruck (vgl. S CHMENK 2008). Dennoch ist es nicht meine Absicht, durch diese Definition und durch das dynamische Autonomiemodell bei Lernenden einen Leistungsdruck aufzubauen. Vielmehr geht es mir darum, den Akteuren des Lern- und Lehrprozesses ein Instrument für die Reflexion zu geben, das sie frei und entsprechend ihren Bedürfnissen bewusst verwenden können. 2.2 Das dynamische Autonomiemodell Das dynamische Autonomiemodell (Abbildung 1 [S. 14]) umfasst Kompetenz- und Handlungsbereiche des Lerners, welche durch folgende Verben gekennzeichnet sind: „sich motivieren wollen“, „mit den eigenen Gefühlen umgehen“, „Wissenstrukturieren“, „planen“, „Materialien und Methoden aussuchen“, „durchführen“, „überwachen“, „evaluieren“, „kooperieren“, und „das eigene Lernen managen“. Sie betonen den handlungs- und prozessorientierten Charakter von Lernerautonomie und stehen in einer nicht hierarchischen Beziehung zueinander, mit Ausnahme von „das eigene Lernen managen“, welches alle anderen Komponenten zusammenfasst und diesen daher übergeordnet ist. Die funktionelle Dynamik des Autonomiemodells besteht darin, dass es dynamisch verwendet werden kann. Jeder Lerner kann es den eigenen Bedürfnissen bzw. einer gegebenen Lernsituation entsprechend für seine Reflexion individuell unterschiedlich verwenden. Er kann z.B. eine beliebige Komponente auswählen, um in den Prozess der Lernregulation einzusteigen, sich von einer Komponente zur anderen in verschiedene Richtungen frei bewegen und den Zirkel dann wieder verlassen, wenn er alle für ihn 14 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 relevanten Komponenten bearbeitet hat. Diese Dynamik ist ein wesentliches Merkmal des Modells. Abb. 1: Das dynamische Autonomiemodell (T ASSINARI 2010: 203) Jeder der im Modell ausgewiesenen Komponenten sind Deskriptoren zugeordnet. Diese sind in Form von Kann-Beschreibungen formuliert und unterscheiden sich in Makrodeskriptoren, welche allgemeine Kompetenzen, Handlungen und Strategien beschreiben und einer ersten Orientierung des Lerners dienen, und Mikrodeskriptoren, welche Teilkompetenzen, -handlungen und Strategien beschreiben, Beispiele und Anregungen für eine Ausdifferenzierung der Kompetenzen enthalten und einer genaueren, punktuellen Beschreibung dienen. 1 Um die Beschreibung in einem überschaubaren Rahmen 1 Diese Ausdifferenzierung ist keineswegs eine Abstufung der Kompetenzen. Obwohl die Literatur viele Ansätze zur Beschreibung von ‚Stufen‘ und Implementierungsniveaus von Lernerautonomie bietet, handelt Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 15 41 (2012) • Heft 1 zu halten und sie gleichzeitig in verschiedenen Lern- und Lehrsituationen einsetzen zu können, sind die Deskriptoren sprach-, situations- und aufgabenübergreifend. Diese Deskriptoren wurden auf der Basis existierender Ansätze in der Literatur (Beschreibungen von Lernerautonomie und deren Komponenten, von Merkmalen autonomer Lerner, von lernregulierenden Strategien) und nicht aus der Beobachtung von Lern- und Lehrprozessen entwickelt. Dadurch sollte der Kompetenzenkatalog eine größere Reichweite erhalten und weniger kontextabhängig sein. Dennoch sind diese Deskriptoren für Lernerautonomie weder erschöpfend, noch stellen sie den Anspruch auf die Beschreibung einer Norm bzw. eines zu erlangenden Kompetenzstandes dar. Vielmehr bieten sie ein möglichst umfangreiches Spektrum an möglichen Kompetenzen und Handlungen, das als Anregung zur Reflexion dienen soll. Die vollständigen Deskriptoren stehen online zur Verfügung: http: / / www.sprachenzentrum.fu-berlin.de/ v/ autonomiemodell/ index.html. 3. Ansätze zur Förderung von Lernerautonomie Zentrale Aspekte dieser Förderung sind die Bewusstmachung und die Reflexion über das eigene Lernen und den eigenen Lernprozess: Einstellungen, Vorlieben, Ziele, Strategien, Entscheidungen, die Sprache als Lerngegenstand u.a. Die Zentralität der Bewusstmachung und Reflexion wird in nahezu allen Ansätzen zur Autonomisierung der Lerner hervorgehoben, vom Lernerbzw. Strategietraining (E LLIS / S INCLAIR 1989, D ICKINSON 1992, W ENDEN 1991) zum experiential learning (K OLB / K OLB 2009) bis zu postmethodologischen pädagogischen Ansätzen, (z.B. dem macrostrategic framework von K UMARAVADIVELU 2003). Bewusstmachung und Reflexion können sowohl in unterrichtlichen als auch bei selbstgesteuerten Lernprozessen mittels verschiedener Instrumente gefördert werden: gezielt erarbeitete Lernmaterialien und -aufgaben, prozessorientierte Arbeitsphasen, Gruppen- und Partnerarbeit, Lerntagebücher und vieles mehr. Die Ansätze in der Literatur sind nahezu unzählig (vgl. z.B. N UNAN 1997, S CHARLE / S ZABÓ 2000). Die Arbeit mit dem dynamischen Autonomiemodell und den Deskriptoren ist eines dieser Instrumente und kann allein oder zusammen mit anderen verwendet werden. Insbesondere kann es zur Förderung der Selbsteinschätzung und der Reflexion über die eigenen Kompetenzen und Einstellungen zu Lernerautonomie genutzt werden. Bevor ich konkret beschreibe, wie dieses Instrument eingesetzt werden kann, ist eine Vorüberlegung zur Selbsteinschätzung und Evaluation von Lernerautonomie notwendig. Es gibt in der Literatur keinen Konsens darüber, ob Lernerautonomie gemessen oder evaluiert werden kann bzw. soll. Einerseits sind dafür genauere Kriterien und Verfahren notwendig, um festzustellen, ob ein Lerner autonom(er) geworden ist, andererseits ist genau zu überlegen, zu welchem Zweck Lernerautonomie evaluiert werden es sich hierbei lediglich um Beschreibungen von praxisbedingten Progressionen von Lernerautonomie, die jedoch nicht als allgemeingültig anzusehen sind (vgl. T ASSINARI 2010: 112-118). 16 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 soll. In dieser Hinsicht analysiert B ENSON (2010) unterschiedliche Ansätze, Kriterien und Instrumente zur Messung bzw. zur Prüfung von Faktoren, die Lernerautonomie ausmachen; gleichzeitig weist er auf die pädagogische und bildungspolitische Gefahr hin, wenn die aktuelle bildungspolitische Tendenz, alles zu testen und zu messen, auch auf Lernerautonomie übertragen wird. Viel wichtiger, als die Kompetenzen für Lernerautonomie anhand festgelegter Kriterien und Maßstäbe von außen zu messen, ist jedoch meines Erachtens, dass der Lerner es lernt, seine eigenen Einstellungen, seine Kompetenzen und sein Lernverhalten in einem bestimmten Lernprozess einzuschätzen bzw. zu evaluieren. Diese Fähigkeit zur Selbsteinschätzung und Evaluation ist in autonomisierenden Lern- und Lehrprozessen zentral, weil sie der Bedarfsanalyse, der Reflexion und der Steuerung des Lernprozesses dient. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Fähigkeit besonders gefördert und geübt werden muss, weil Lerner leicht dazu tendieren, die eigenen Kompetenzen zu über- oder zu unterschätzen und oft Unterstützung und Hilfestellung benötigen, u.a. dafür, Kriterien für ihre Selbsteinschätzung zu definieren. Wie eine Studentin in meiner Untersuchung sagte: „[…] eine gute Selbsteinschätzung […], die kann man nicht von vornherein mitbringen, die muss man lernen“ (I.P.). Eine weitere terminologische und didaktische Präzisierung ist an dieser Stelle notwendig. Ich bezeichne die Begriffe Selbsteinschätzung und Evaluation nicht als synonym. Während Selbsteinschätzung (self-assessment) die eigenverantwortliche Beurteilung bzw. Überprüfung der eigenen Kenntnisse, Kompetenzen und Fertigkeiten in Bezug auf festgelegte Kriterien bezeichnet (vgl. auch K LEPPIN 2005: 107), ist eine Evaluation ein umfangreicherer Reflexionsprozess, in dem Lerner und Lehrer bzw. Berater über die Lernerfahrung bzw. den Lern- und Lehrprozess reflektieren, sich bestimmter Aspekte bewusst werden und daraus Schlüsse ziehen, um Entscheidungen für das weitere Lernen (bzw. Lehren) zu treffen: „Evaluation implies that learners and teachers reflect on the experience gained in language learning and teaching, which will lead to awareness raising and prepare the ground for decision making“ (D AM / L EGENHAUSEN 2010: 121). Mit Evaluation bezeichne ich von daher den pädagogischen Prozess, der stattfindet bzw. stattfinden soll, um Lernerautonomie zu fördern. Die Dreh- und Angelpunkte dieses Prozesses (reflecting, awareness raising und preparing the ground for decision making) sind gleichzeitig zentrale Aspekte in der Beratung für Lernerautonomie. Das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren liefern sowohl für die Selbsteinschätzung als auch für den Evaluationsprozess von Lernerautonomie Anhaltspunkte. Wie dieser Prozess gestaltet werden kann, beschreibe ich kurz im nächsten Abschnitt. Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht der Lerner. Eine wichtige Voraussetzung für die Selbsteinschätzung ist von daher die Bereitschaft des Lerners, diese Selbsteinschätzung vorzunehmen. Selbsteinschätzung und Evaluation sollten vorgeschlagen, jedoch nicht aufgedrängt werden. Dabei sollten die individuellen Unterschiede bei den Lernern berücksichtigt werden: Während einige von einer systematischen und durchgängigen Reflexion über den Lernprozess profitieren, ziehen es andere vor, sich auf das Lernen Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 17 41 (2012) • Heft 1 und auf den Lerngegenstand zu konzentrieren. In selbstgesteuerten Lernprozessen sollte die Entscheidung, ob und in welchem Maß eine solche Evaluation durchzuführen ist, vom Lerner getroffen werden. Aufgabe des Beraters ist dann, diesen Prozess zu unterstützen und zu begleiten. Im Unterricht hingegen kann dies auch schrittweise vom Lehrenden eingeführt werden. Die Schritte zur Selbsteinschätzung und Evaluation sind: 1. Einstiegsphase: Elizitierung von Einstellungen über und Erfahrungen mit Lernerautonomie 2. Auswahl von Komponenten und Deskriptoren für die Selbsteinschätzung 3. Selbsteinschätzung 4. Feedback zur Selbsteinschätzung 5. Entscheidungen fürs weitere Lernen. In selbstgesteuerten Lernkontexten können die Phasen 2 und 3 vom Lerner allein übernommen werden; die Phasen 1, 4 und 5 sollten hingegen zusammen mit einem Berater durchgeführt werden. In unterrichtlichen Lernkontexten können alle Phasen im Unterricht als Partner- oder Gruppenarbeit mit anschließender Diskussion im Plenum gestaltet werden. Der Austausch zwischen Lernern und Berater einerseits, zwischen Mitlernern untereinander und mit dem Lehrer andererseits, ist wichtiger Bestandteil dieses Evaluationsprozesses (siehe Abschnitt 5). Sehen wir uns nun die verschiedenen Phasen etwas näher an. Ich beschreibe sie ausgehend von den selbstgesteuerten Lernprozessen und überlasse es dabei dem Leser, diese auf unterrichtliche Kontexte zu übertragen. Phase 1 - Einstiegsphase: Die Einstiegsphase dient dazu, frühere Erfahrungen des Lerners zu elizitieren. Dies ist meistens sowohl für den Lerner als auch für den Berater vorteilhaft: Der Lerner kann über positive oder problematische Aspekte früherer Lernerfahrungen reflektieren, die möglicherweise sein späteres Lernen beeinflussen; der Berater kann nützliche Informationen erhalten und ggf. im Laufe des Evaluationsprozesses darauf zurückkommen. Phase 2 - Auswahl von Komponenten und Deskriptoren: Der Lerner ist frei, die Komponenten und Deskriptoren auszuwählen, die er im Hinblick auf sein augenblickliches Lernen für relevant hält. Diese freie Auswahl ist auch ein wichtiger Schritt im Bewusstmachungsprozess, weil der Lerner überlegen muss, wo seine Prioritäten liegen. Phase 3 - Selbsteinschätzung: Bei jedem Deskriptor kann der Lerner unter drei Möglichkeiten wählen: „Ich kann das“ „Das möchte ich lernen“ oder „Nicht wichtig für mich“. Falls er möchte, kann er außerdem selbst eigene Deskriptoren zu Kompetenzen, Einstellungen oder Lernverhaltensweisen, die für ihn bezeichnend sind, formulieren. Eine numerische Auswertung der Antworten ist nicht vorgesehen. Zum einem widerspräche eine solche Auswertung der Dynamik des Autonomiemodells, weil sie nur möglich wäre, wenn der Lerner sich in allen Komponenten einschätzte. Außerdem wäre ein numerisches Ergebnis insofern irreführend, als es die Idee vermitteln würde, es sei wie bei einem (Sprach-)Test eine volle Punktzahl zu erreichen. Ziel der Selbst- 18 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 einschätzung ist hingegen nicht das Messen der bereits erreichten Kompetenzen im Hinblick auf eine ideale Kompetenz, sondern vielmehr, dass der Lerner sich seiner eigenen Einstellungen, Handlungen und Kompetenzen beim Fremdsprachenlernen bewusst wird, um sein Lernverhalten autonom(er) zu gestalten. 2 Phase 4 - Feedback zur Selbsteinschätzung: Die qualitative Auswertung der Selbsteinschätzung erfolgt in einem Gespräch, in dem der Lerner seine Antworten mit einem Berater bespricht. Dieses Gespräch ist der Kern des Evaluationsprozesses. In diesem pädagogischen Dialog wird die Perspektive des Lerners auf sein eigenes Lernen mit der des Beraters konfrontiert und abgeglichen. Der Dialog wird nach den Regeln eines Beratungsgesprächs durchgeführt (vgl. K ELLY 1996: 96). Der Berater hört zu, fragt nach, reformuliert, fasst zusammen, generalisiert und hinterfragt die Aussagen des Lerners, er fragt nach Prioritäten und nach weiteren Schritten. Dadurch wird die Selbsteinschätzung validiert und der Lernprozess evaluiert. Phase 5 - Entscheidungen fürs weitere Lernen: Im Beratungsgespräch reflektieren Lerner und Berater gemeinsam über Entscheidungen fürs weitere Lernen. 4. Erhebung der Selbsteinschätzung von Studierenden 4.1 Der Untersuchungskontext Ich erprobte die Selbsteinschätzung mit dem dynamischen Autonomiemodell und den Deskriptoren qualitativ mit sechs Studierenden am Selbstlernzentrum sowie mit 15 Studierenden in einem Französischkurs am Sprachenzentrum der FU Berlin. Das Selbstlernzentrum steht allen Studierenden zur Verfügung, die eine Sprache (weiter) lernen möchten. Dort finden Lerner eine Vielfalt an Materialien und Ressourcen zum Sprachenlernen, die sie selbständig, einzeln, in Partner- oder in Gruppenarbeit, nutzen können. Auch viele Lehrende kommen mit ihren Sprachkursen regelmäßig ins Selbstlernzentrum. Obwohl das Erkenntnisinteresse meiner Untersuchung in der Verständlichkeit und Übersichtlichkeit des Autonomiemodells und der Deskriptoren lag, sind deren Ergebnisse auch im Hinblick auf die Fragen der Selbsteinschätzung und der Lernerkompetenzen im Autonomisierungsprozess relevant. Ich fasse hier das Feedback der Studierenden am Selbstlernzentrum zusammen. Die Untersuchung im Französischkurs ergab aber ähnliche Resultate. Die sechs Studierenden, die an der Untersuchung teilnahmen, hatten verschiedene Nationalitäten und Muttersprachen (Deutsch, Chinesisch, Italienisch, Persisch), lernten verschiedene Sprachen (Deutsch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch, Polnisch, Englisch) und studierten unterschiedliche Fächer (philologische Fächer, Geschichte und 2 Dass die Selbsteinschätzung kein Test ist und somit deren Ergebnisse nicht „benotet werden“, wurde von den Studierenden, die an meiner Untersuchung teilnahmen, als Vorteil gesehen, weil sie dadurch aufrichtig und frei antworten konnten. Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 19 41 (2012) • Heft 1 Kulturwissenschaften, Chemie). Viele hatten erstmals in der Schule eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt (Englisch, Französisch, Deutsch), diese dann im Lauf von Schulund/ oder Universitätsaustausch und später selbstständig (z.T. ergänzend zu einem Kurs) durch Bücher, durch Filme, mit Tandempartnern weitergelernt. Zwei von ihnen lernten auch eine weitere Sprache völlig selbstständig (Polnisch, Portugiesisch). Sie besuchten das Selbstlernzentrum entweder aus eigener Initiative oder auf Anregung ihrer Dozenten und lernten dort eine oder mehrere Sprachen. Einige unter ihnen hatten schon vor der Untersuchung die Sprachlernberatung aufgesucht oder an Workshops zum autonomen Fremdsprachenlernen am Selbstlernzentrum teilgenommen. Alle Studierenden führten die Selbsteinschätzung freiwillig durch. Sie wurden darauf hingewiesen, die Selbsteinschätzung nur für die Komponenten bzw. Deskriptoren durchzuführen, die sie für relevant hielten. Ihr Feedback zur Selbsteinschätzung wurde mittels eines Interviews noch vor dem Beratungsgespräch eingeholt. Die Daten wurden qualitativ ausgewertet. Näheres über diese Untersuchung kann in T ASSINARI (2010, Kapitel 8) nachgelesen werden. 4.2 Ergebnisse der Untersuchung Alle befragten Studierenden außer einem berichteten, die Selbsteinschätzung habe ihnen geholfen, Bewusstheit über das eigene Lernen zu erlangen und über andere Möglichkeiten für ihr Fremdsprachenlernen nachzudenken. Bewusstheit, Reflexion, Nachdenken sind die Schlüsselwörter, die sie in ihrem Feedback erwähnen. Darüber hinaus nahmen sich die meisten Studierenden nach der Selbsteinschätzung vor, ihre Lernorganisation oder ihre Lernstrategien zu verbessern. Die zentrale Erkenntnis aus dieser Untersuchung ist von daher die reflexionsbzw. bewusstheitsfördernde Wirkung der Selbsteinschätzung bei Studierenden, die in einen autonomen bzw. einen autonomisierenden Lernprozess involviert sind. Diese Erkenntnis wurde von allen Studierenden bestätigt. In einem einzigen Fall zog ein Lerner keinen Gewinn aus der Selbsteinschätzung. Die Analyse der von ihm erhobenen Daten zeigt jedoch, dass hier bereits die Bereitschaft fehlte, den eigenen Lernprozess und somit die eigene Autonomie als Lerner bewusst zu reflektieren bzw. zu entwickeln (vgl. T ASSINARI 2010: 243-245). Die Reflexion fand bei den einzelnen Lernern in unterschiedlichen Formen statt. Einige dachten systematischer über ihr Lernen nach, andere wurden sich anderer Lernmöglichkeiten bewusst, als derer, die sie regelmäßig nutzten, einige wurden sich bestimmter Problemstellungen bewusst, viele setzten sich neue Ziele für ihr weiteres Lernen. Folgende Zitate geben einen kleinen Einblick in ihre Antworten: „Ich bin mir vor allem bewusst darüber geworden, dass ich konsequent über mein Lernen nachdenken muss, weil man theoretisch immer viel weiß, viele Strategien kennt, aber man setzt zu wenig um, und wenn man aufhört, darüber nachzudenken, dann glaube ich, ist es ein sehr großer Fehler […]. Diese Deskriptoren haben mich daran erinnert, was ich eigentlich machen könnte und sollte und worüber ich nachdenken sollte“ (R.S.). 20 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 „Ich fand [die Selbsteinschätzung] ganz wichtig für die Selbstreflexion. […] Diese Selbstreflexion ist etwas ganz wichtiges [für autonomes Fremdsprachenlernen, MGT]. […] Deskriptoren sind sehr gut, um überhaupt Problembewusstsein zu bekommen, und dann auch wirklich gezielt auf die Probleme einzugehen, die man dann mit dem autonomen Lernen im jeden Fall hat“ (I.P.). Da die Untersuchung nicht longitudinal war, wurden keine weiteren Daten zum darauf folgenden Lernprozess erhoben. Dennoch hatte ich Gelegenheit, die Beratungsgespräche, an denen ich als Beraterin teilnahm, zum Abgleich der Selbsteinschätzung zu analysieren 3 und Folgendes festzuhalten: Die Gespräche waren besonders ergiebig. Durch die Selbsteinschätzung hatten sich die Studierenden die Art und Weise, wie sie lernten, vergegenwärtigt und konnten gezielt über ihre Stärken und Schwächen sprechen. Sie reflektierten scharfsinnig über einzelne Strategien, sie bewerteten diese und entschieden, ob sie für ihre Ziele angemessen bzw. nützlich waren. Die Studierenden bezogen in vielen Fällen auch frühere Lernerfahrungen in ihre Reflexion mit ein und nutzten sie für ihre Entscheidungen. Zum Beispiel wurden Strategien und Lernerfahrungen aus der Schulzeit (wie ein Sprachlernheft zu führen) im Hinblick auf ihre Angemessenheit und Nützlichkeit für ihren aktuellen Lernkontext bzw. ihre aktuellen Lernziele kritisch reflektiert. Ein weiterer Aspekt dieser Gespräche war es, dass die Studierenden proaktiver auf das Gespräch eingingen, als es in anderen Beratungsgesprächen üblich ist. Anstatt Fragen zu stellen, brachten sie oft von selbst Themen ein und setzten selbst Prioritäten. Ein Grund dafür kann sein, dass bei der Selbsteinschätzung bereits eine Reflexionshaltung aktiviert war und nicht erst im Beratungsgespräch in Gang gesetzt werden musste. Motivierend sowohl für die Studierenden als auch die Beraterin war es, dass die Studierenden in allen diesen Gesprächen zu einer Entscheidungsfindung kamen. Für einige war es die Entscheidung, bestimmte Lernphasen besser zu planen, z.B. indem auch die eigenen sprachlichen Voraussetzungen mitberücksichtigt wurden (anstatt wieder anzufangen, pauschal Grammatik zu wiederholen, nahm sich eine Studierende vor, mit den Themen anzufangen, die ihr Schwierigkeit bereiteten bzw. die für eine bestimmte Aufgabe relevant waren); für andere ging es darum, negative Gefühle und Ängste besser einzugrenzen und zu kontrollieren. Andere beschlossen, mehr mit authentischen Materialien oder mit dem Tandempartner zu arbeiten, weil sie erkannten, dass ihre Sprachkompetenzen so weit entwickelt waren, dass sie nicht mehr das strukturierte Lernen in einem Kurs benötigten. Es lohnt sich auch, einen kurzen Blick auf die Schwerpunktsetzung der Studierenden nach der Selbsteinschätzung zu werfen. Sie konnten einige ihrer Stärken und Schwächen identifizieren und daraus Prioritäten für die Weiterentwicklung ihrer Lernkompetenzen ableiten. 3 Grundlage für die Analyse dieser Gespräche waren ein Protokoll sowie ein Postskriptum der Forscherin. Da sie nicht im Zentrum der Untersuchung standen, wurden diese Gespräche nicht aufgenommen. Zur Frage der Trennung meiner Rolle als Forscherin und als Beraterin vgl. T ASSINARI (2010: 258-259). Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 21 41 (2012) • Heft 1 Zu ihren Schwächen zählten sie insbesondere die Schwierigkeit, die eigenen Sprachkompetenzen realistisch einzuschätzen, geeignete Materialien auszuwählen, einen guten Lernplan zu entwerfen und umzusetzen. Einige hatten außerdem Schwierigkeiten damit, ein gutes Zeitmanagement einzuhalten und ihren Lernfortschritt zu evaluieren. Obwohl der Rahmen der Befragung zu klein war, um daraus allgemeingültige Schlüsse zu ziehen, bestätigt meine Erfahrung als Beraterin, dass diese Problemstellungen immer wieder im Beratungsgespräch von Studierenden angesprochen werden und somit als wichtige Schwerpunkte des autonomen Fremdsprachenlernens betrachtet werden können. Die Selbsteinschätzung der Sprach- und Lernkompetenzen wird von mehreren als Schlüsselkompetenz betrachtet, die es zu lernen bzw. zu üben gilt: „Ich habe ein persönliches Problem mit der Selbsteinschätzung, das ich aber auch an anderen festgestellt habe […]. Ich glaube, es ist ein großes Problem, sich selbst einschätzen zu können, ohne Programme wie DIALANG, oder ohne jemand, der einem sagt, ich bin ehrlich, so toll sprichst du nicht: du musst noch einiges an dir arbeiten“ (I.P.). „Vielleicht bin ich nicht dafür genug selbstbewusst, sagt man so? confident, um meine Sprachkompetenzen einzuschätzen“ (J.C.). Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt ist die bewusste Auswahl geeigneter Lernmaterialien und Arbeitsformen. In dieser Hinsicht scheinen die Vorstellungen der befragten Studierenden, mit welchen Materialien und Aufgaben man Sprachen lernen kann, einerseits von ihrer Schulerfahrung geprägt zu sein. Andererseits haben die Studierenden ganz individuelle Vorlieben und Arbeitsweisen (Lernen von Liedern, von Alltagstexten, wie z.B. Zeitungsartikeln, Lebensmitteletiketten, aufgeschnappten Gesprächen), die sie in unterschiedlichen Lebensbzw. Lernphasen einsetzen. Der Selbsteinschätzung entnahmen die Studierenden auch Anregungen, um ihr Materialienbzw. Aufgaben- und Strategienrepertoire zu erweitern. „Es ist ganz einfach zu sagen, ich kann Lernmaterialien aussuchen. Man findet etwas, z.B. da ist subjuntivo, schön, und man stürzt sich darauf, ohne sich zu fragen: Ist das richtig für mich? Ist es wirklich das, was ich brauche? Es ist auch schwierig zu berücksichtigen, was ich richtig brauche. Man freut sich, dass man etwas gefunden hat, und vielleicht ist es gar nicht für einen das Richtige“ (R.S.). „Die Selbsteinschätzung hat mich auf die Idee gebracht, dass ich auf jeden Fall auch noch mehr Möglichkeiten nutzen möchte, um Sprachen zu lernen, bisher habe ich eigentlich fast nur Sprachtandem gemacht, und einen Sprachkurs, aber z.B. habe ich immer noch sehr wenig das Internet oder CD-ROMs benutzt […]. Es hat mir viele neue Ideen gegeben, so z.B. […], dass ich mehr mit Filmen und Zeitschriften in Zukunft lernen möchte“ (C.G.). 4.3 Reflexion der Sprachlernberaterin Sowohl die Untersuchung als auch meine Erfahrung als Sprachlernberaterin bestätigen, dass von einer solchen Selbsteinschätzung und Evaluation von Lernerautonomie sowohl Lerner als auch Berater bzw. Lehrer profitieren. Der Lerner profitiert von der Möglichkeit, die eigenen Kompetenzen und Einstellungen sowie das eigene Lernver- 22 Maria Giovanna Tassinari 41 (2012) • Heft 1 halten zu reflektieren; die Bewusstheit und die Reflexion unterstützen die Steuerung des Lernprozesses und somit den Autonomisierungsprozess. Der Berater bzw. der Lehrer erhalten einen tieferen Einblick in die Kompetenzen des Lerners und identifizieren Bereiche, in denen sie den Lerner in seinem Lernprozess unterstützen können. Darüber hinaus profitieren sie von der stärkeren Bewusstheit des Lerners, der somit selbst Wege finden kann, um sein Lernen autonomer zu gestalten. Sicherlich reicht eine einmalige Evaluation nicht, um ggf. erkannte Schwächen zu beseitigen und die Lernkompetenzen auszubauen. Vielmehr sollte der Evaluationsprozess rekursiv durchgeführt werden. Eine Evaluation kann und sollte mehrmals im Laufe des Lern- und Lehrprozesses unternommen werden, ggf. mit unterschiedlichem Fokus, unterschiedlicher Zielsetzung und möglicherweise auch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Auch das gehört zur Dynamik des Autonomiemodells. Gerade weil es für Lerner so schwer ist, sich selbst zu evaluieren, muss dieser Prozess in einen pädagogischen Rahmen eingefügt und begleitet werden. Von daher ist der pädagogische Dialog ein wesentlicher Aspekt dieses Evaluationsprozesses. In selbstgesteuerten Lernprozessen ist dies hauptsächlich der Dialog zwischen Lerner und Berater, im unterrichtlichen Lernen ist es der Dialog zwischen Lerner und Lehrer. Zum pädagogischen Dialog gehört aber auch der Austausch mit Mitlernenden, mit peers, mit Tutoren. Schließlich gehört auch die innere Perspektive, die innere Reflexion, der Dialog des Lerners mit sich selbst dazu. Das Beratungsgespräch dient dazu, die Selbsteinschätzung des Lerners zu validieren und seine innere Perspektive mit der äußeren Perspektive des Beraters abzugleichen. Der Berater kann ggf. helfen, einige Einschätzungen und Vorstellungen des Lerners zu verorten, zu ergänzen oder zu relativieren. Das Beratungsgespräch bringt somit neue Erkenntnisse für die Entscheidungsfindung. Eine solche Evaluation kann nur in einem Kontext erfolgreich sein, in dem Lernerautonomie explizit gefördert wird. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Selbsteinschätzung und Evaluation nur dann als sinnvoll betrachtet werden, wenn die Studierenden in Lernerautonomie eines der Ziele ihres Lernprozesses sehen, andernfalls tritt das Gegenteil ein (vgl. auch Abschnitt 4.2). Im Lern- und Lehrprozess sollte auch darauf geachtet werden, ein Gleichgewicht zwischen dem Fokus auf Lernkompetenzen und dem auf Sprachkompetenzen zu erzielen. Dabei sollten die Bedürfnisse und die Prioritäten der Lerner immer berücksichtigt werden. Da die Erhaltung dieses Gleichgewichts von Kontext zu Kontext und von Lerner zu Lerner unterschiedlich gehandhabt werden kann, empfiehlt es sich, dies zwischen Lerner und Berater bzw. Lehrer immer wieder zu verhandeln. Ab einem bestimmten Kompetenzniveau kann die Evaluation durchaus auch in der Fremdsprache geführt werden. Kompetenzen für Lernerautonomie einschätzen, fördern und evaluieren 23 41 (2012) • Heft 1 5. Fazit Die Ergebnisse meiner Untersuchung sowie meine Erfahrung als Sprachlernberaterin zeigen, dass die Selbsteinschätzung und die Evaluation von Lernerautonomie dazu dienen, die eigenen Kompetenzen, Einstellungen und das Lernverhalten besser zu reflektieren und somit den eigenen Lernprozess bewusster zu steuern. Dabei stellen das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren ein nützliches Instrument dar, um den Reflexionsprozess zu unterstützen, Bewusstheit zu fördern und Entscheidungen fürs weitere Lernen zu ermöglichen. Der Evaluationsprozess sollte jedoch in einen pädagogischen Dialog integriert werden, in dem Lerner und Berater bzw. Lehrer ihre Perspektiven abgleichen. In einem pädagogischen Rahmen, in dem Lernerautonomie explizit gefördert wird, ist es die Aufgabe des Beraters bzw. des Lehrers, eine solche Evaluation in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen Zeitpunkten des Lernprozesses anzuregen und zu gestalten. Denkbar ist es, das dynamische Autonomiemodell als Instrument in verschiedene Richtungen weiterzuentwickeln: Es könnte z.B. in ein Sprachenportfolio integriert oder um einen Leitfaden zum autonomen Lernen ergänzt werden. Die Deskriptoren könnten auch für verschiedene Lernkontexte und Lerngruppen adaptiert werden. Die Erforschung der Kompetenzen zu Lernerautonomie und deren Förderung kann und sollte unter verschiedenen Gesichtspunkten weitergeführt werden. Insbesondere ergeben sich aus meiner Untersuchung zwei Bereiche zur weiteren Erforschung: die Analyse autonomisierender Lernprozesse sowie die Analyse von Beratungsprozessen und deren pädagogischem Potenzial. Literatur B ENSON , Phil (2001): Teaching and Researching Autonomy in Language Learning. London: Longman. B ENSON , Phil (2010): „Measuring autonomy: Should we put our ability to the test? “ In: P ARAM / S IERCU (Hrsg.), 77-91. C HAMOT , Anna U. / B ARNHARDT , Sarah / E L -D INARY , Pamela B. / R OBBINS , Jill (1999): The Learning Strategies Handbook. London: Longman. C RABBE , David (1999): „Learner autonomy and the language teacher“. In: W ARD , Christopher / R ENANDYA , Willy (Hrsg.): Language Teaching: New Insights for the Language Teacher. Singapore: SEAMEO Regional Language Centre, 241-258. 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Eine qualitative Untersuchung bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern romanischer Sprachen. Tübingen: Narr. N UNAN , David (1997): „Designing and adapting materials to encourage learner autonomy“. In: B ENSON , Phil / V OLLER , Peter (Hrsg.): Autonomy & Independence in Language Learning. London: Longman, 192-203. O XFORD , Rebecca L. (1990): Language Learning Strategies: What Every Teacher Should Know. Englewood Cliffs, NJ: Newbury House. P ARAM , Amos / S IERCU , Lies (Hrsg.) (2010): Testing the Untestable in Language Education. Bristol: Multilingual Matters. S CHARLE , Ágota / S ZABÓ , Anita (2000): Learner autonomy. A guide to developing learner responsibility. Cambridge: Cambridge UP. S CHMENK , Barbara (2008): Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tübingen: Narr. T ASSINARI , Maria Giovanna (2010): Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien. Frankfurt/ M.: Lang. W ENDEN , Anita L. (1991): Learner Strategies for Learner Autonomy. Hemel Hempstdead: Prentice Hall. 41 (2012) • Heft 1 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag L AURENZ V OLKMANN * Förderung von Medienkompetenzen Abstract. The present contribution offers a survey of recent changes in the definition, conceptualization and application of media literacies, from literary literacy to various forms of multimodal and multimedia multiliteracies. It argues in favour of defining and applying different forms of media competence as an interdisciplinary project. It can be argued that providing learners with such skills is one of the most essential teaching-learning objectives in today’s globalized and media-shaped FLT environments. In addition, the ubiquitous and all-pervasive impact of the media, especially through hybrid, digital forms such as the Internet, the World Wide Web and the interactive Web 2.0 demands the close cooperation of Digital Natives and Digital Immigrants to bridge the digital divide that seems to jeopardize the information exchange between today’s teachers and learners. In this context, the rapidly changing definitions and conceptualizations of media competence need to be constantly adjusted to meet current demands of the FL classroom. 1. Zur Konjunktur der Forderung nach Medienkompetenz Es überrascht nicht, dass sich die geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen schon von ihrer Nomenklatur her fast durchgehend von einer philologisch oder literaturwissenschaftlich geprägten Ausrichtung sukzessive einem textbzw. kulturwissenschaftlichen Paradigma zugewandt haben. Der letzte turn hin zur Medienwissenschaft ist wohl aus dem einfachen Grund heraus noch nicht vollzogen, dass der Begriff „Medien“ deutlich eher mit visuellen bzw. multimedialen, digital-elektronischen Bedeutungsträgern wie Film, Fernsehen, Bildern oder dem Internet assoziiert wird. Ähnliches lässt sich für die fremd- und auch muttersprachlichen Didaktiken konstatieren: Während sich die Literaturdidaktik inzwischen längst zu einer integrativen Text- und Kulturdidaktik transformiert hat (vgl. z.B. B LELL / K RÜCK 1999), steht die Mediendidaktik oftmals noch relativ unverbunden für sich, und sie wird tendenziell eher weniger mit literarischen oder expositorischen Print-Texten in Verbindung gebracht als vielmehr mit visuellen „Texten“ und vor allem mit neuen oder neuesten Medien (vgl. z.B. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010). Die Mediendidaktik hat Konjunktur. Mit der raschen Zunahme der Forderung nach medialen Kompetenzen im Medienzeitalter verbreitet sich gleichzeitig die begriffliche Unschärfe bei der Definition von Medien und Medienkompetenzen. Es mehren sich die Fragestellungen dazu, welche Formen von Medienkompetenzen es im Allgemeinen * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Laurenz V OLKMANN , Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 J ENA . E-Mail: l.volk@uni-jena.de Arbeitsbereiche: Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik, interkulturelles und transkulturelles Lernen. 26 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 und im Besonderen mit welchen Schwerpunktsetzungen und welchen Vermittlungsformen zu fördern gilt. In diesem Beitrag soll zunächst kurz am repräsentativen Beispiel der veränderten Einstellung zu und Gewichtung der so genannten visual literacy aufgezeigt werden, wie durchgreifend sich Perspektiven auf die Medienkompetenz innerhalb weniger Jahrzehnte geändert haben. Anschließend gilt es, in Anlehnung an gängige Modelle aus dem Bereich der Medienwissenschaft und Mediendidaktik sowohl den Terminus Medien wie applizierbare Medienkompetenzmodelle mit konkretem Bezug auf den fremdsprachlichen Unterricht vorzustellen. Es wird sich dabei zeigen, dass durch veränderte Medien- und Medienkompetenzkonzepte veränderte Fragestellungen für die praktische Integration von Medien im Bereich Kompetenzentwicklung entstehen. Diese lassen sich hier stichpunktartig und in der gebotenen Kürze anhand von zehn Veränderungsmomenten darlegen. Es soll dabei argumentiert werden, dass eine eingehende und durchdachte Steuerung des Medieneinsatzes im Unterricht von Nöten ist, wenn aus der befürchteten media hell eher ein media heaven, aus der jugendlichen Tendenz zur „Medienverwahrlosung“ eher eine schülerorientierte „Demokratisierung des Lernens“ werden soll (vgl. B LELL / K UPETZ 2005; V OLKMANN 2005). Eine gewandelte Einstellung zu und Bedeutung von Medienkompetenzen zeigt sich am anschaulichsten und exemplarischsten am Beispiel der visual literacy, deren unterschiedliche Spielarten beispielsweise als visuelle Literarizität, Fernseh-, Film- oder Bildkompetenz oder als Unterformen der multiliteracy oder multiliteracies in unterschiedlichen Definitionen auftauchen (vgl. z.B. B LELL / K UPETZ 2005). Bilder und Illustrationen galten im Fremdsprachenunterricht lange primär als Lernhilfe, und der Einsatz von Filmen beispielsweise war tendenziell ein Bonus am Ende einer Unterrichtsreihe zu einem literarischen Text, bei der man die Verfilmung in den Stunden vor den Ferien zeigte. Ende der 1980er Jahre wies beispielsweise Inge S CHWERDTFEGER aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache auf gängige Missverständnisse hin: „In fremdsprachendidaktischen und -methodischen Entscheidungen wurde bisher vorwiegend berücksichtigt, daß Sprachverstehen erheblich von der visuellen Wahrnehmung des Sprachbenutzers abhängt. Völlig vernachlässigt bleibt jedoch die Tatsache, daß die visuelle Wahrnehmung eine zentrale Bedeutung für die individuelle Sprechfähigkeit und Sprechlust hat“ (S CHWERDTFEGER 1989: 24). Vermehrt traten Aspekte der non-verbalen Encodierung beim Kommunikationsprozess in das Blickfeld wie Mimik, Gestik, Körpersprache und Proxemik, überhaupt die Beachtung von Musik und Visuellem beim zur Betrachtung und zur sprachhandelnden Imitation und Ausarbeitung anregenden medialen Beispiel. Musste Engelbert T HALER in einer richtungsweisenden Münchener Dissertation zum Thema Musikvideoclips aus dem Jahre 1999 noch in defensiver Haltung gegenüber bildungstheoretischen und medienkritischen Positionen ein mit didaktisch-kompetenzorientierten Argumenten gesättigtes Plädoyer für die vielen Medienkritikern traditioneller Couleur suspekte Simulakrum-Welt von MTV formulieren (T HALER 1999), so markiert der Basisartikel zum Themenheft Teaching films der zwischen Theorie und Anforderungen der Praxis vermittelnden Zeitschrift Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch aus der Feder von Förderung von Medienkompetenzen 27 41 (2012) • Heft 1 Carola S URKAMP im Jahre 2004 einen programmatischen und paradigmatischen Einschnitt in der didaktischen Diskussion zum Einsatz visueller Medien. Wird hier doch von Anfang an die bewusste Reflexion über die in visuelle Medien eingeschriebenen En- und Decodierungsprozesse als integraler Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts begriffen (vgl. S URKAMP 2004: 20). Dabei geht es nicht um eine simple Substitution gängiger Praktiken der Literaturdurch solche der Filmanalyse. Vielmehr sollen mannigfaltige, dem visuellen Medium adäquate Zugangsweisen eingesetzt werden, welche über die Analyse hinaus lerner-, prozess-, handlungs- und produktorientierte, produktive und kreative Verfahrensweisen umfassen und damit Kompetenzentwicklungen in einem breiten Spektrum ermöglichen. 2. Zielsetzungen der Medienkompetenz im Fremdsprachenunterricht Dem visual turn folgte die Forderung nach visual skills, also im fremdsprachlichen Unterricht dem kompetenten Erkennen von und Umgang mit durch kulturspezifische Bedeutung aufgeladenen visuellen Zeichen, von Körpersprache über Text-Icons bis zu zielkulturspezifisch encodierten Filmen, Videos und Bildern. Wenn visuelle Zeichen mit textuellen und/ oder auditiven Zeichen in einem medialen Verbund auftauchen, wie paradigmatisch in den Hypertextstrukturen des Internets, erweitert sich die Kompetenzanforderung von der visual literacy zur multiliteracy. Die fortgeschrittene Lesekompetenz (literary literacy) wird in didaktischen Kreisen hingegen eher der Bildung bzw. Kompetenzentwicklung im literarisch-ästhetischen Bereich zugeordnet (vgl. z.B. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010: 249-252). Betrachten wir allerdings die Begriffsdefinitionen von Medien sowie daran angelehnt diejenigen von Medienkompetenz, erscheint eine integrative, (literarisch-)ästhetische Konzeptualisierung und Umsetzung der vielfältigen literacies geeigneter und ertragreicher. Die gängige Kategorienbildung von Mediendidaktik einerseits, Literaturbzw. Kulturdidaktik andererseits erscheint hier nicht haltbar und ist - genauso wie generelle Unklarheiten mit Bezug auf den Terminus „neue Medien“ - emblematisch für den Zustand der „nach wie vor […] große[n] Verwirrung um den Medienbegriff“ (F AULSTICH 2002: 19). Es gilt inzwischen als Allgemeinplatz, dass mit der Verbreitung jedes neuen Mediums sich zugleich das gesamte mediale Gefüge verschiebt - damit wird nicht nur einem am Ende des 20. Jahrhunderts noch „neuen Medium“ wie dem Fernsehen der einflussreiche Status der Novität genommen, sondern es verändern sich zugleich durch das Internet, dem nun „neuen Medium“, Verhalten wie Einstellung der Mediennutzer. Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen alten und neuen Medien also wandelbar und zeitabhängig, ebenso wie in didaktischen Kontexten die Trennung zwischen didaktisierten und nicht-didaktisierten Medien bei genauer Betrachtung zweifelhaft sein mag: Denn im didaktischen Kontext wird jedes Medium auf bestimmte Weise didaktisiert, d.h. als Mittel für didaktische Zwecke nutzbar gemacht. Es sei dabei an eine weitere zentrale Feststellung der Medienwissenschaft erinnert, die im didaktischen Diskurs 28 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 stärker zu berücksichtigen wäre: dass es genaue Definitionen von Medien gibt, die diese eben als technische und nicht-technische Mittler bzw. Instrumente verstehen, die einen bestimmten Inhalt von einem Sender zu einem Empfänger bzw. Publikum vermitteln. Dabei erscheint eine genauere Typologisierung von Nöten (Terminologie nach F AULSTICH 2002: 25): • Primärmedien (Menschmedien; im Unterricht vornehmlich die Lehrkraft, aber z.B. auch Lernende, wenn sie kommunikativ als Vermittler auftreten) • Sekundärmedien (Schreib- und Druckmedien; z.B. Schülerbuch, Text-/ Bildmaterialien usw.) • Tertiärmedien (elektronische Medien; z.B. Fotografien, Hörfunk, Video, Film, Handy usw.). Der Übergang zur folgenden Rubrik ist allerdings fließend. • Quartärmedien (digital-elektronische Medien, im Folgenden vereinfacht digitale Medien genannt): Darunter fallen der Computer, Multimedia, E-Mail, das World Wide Web, Intranet - somit Medien, die durch Elemente der digitalen Vernetzung, der Interaktivität und Multimedialität gekennzeichnet sind. Definitorisch sind, wenn auch sicherlich nicht ganz zutreffend (vgl. F AULSTICH : ebd.), die digitalen Medien in der Regel mit dem Internet und dem World Wide Web verbunden. Bedeutsam für didaktische Kontexte ist der neue, dynamisch radikal erweiterte Funktionsbereich des Internets als „multimediale Integrationsplattform“ (S CHLICKAU 2009: 127), erlaubt sie doch zudem eine weitgehende Überwindung räumlicher und/ oder zeitlicher Distanzen. Aus didaktischer Sicht ist das Internet ein Mitmach-Hybridmedium, in dem sich nach S ANDBOTHE (2001: 168) „Aspekte des Fernsehens, des Telefons, des Radios und des Buchdrucks [...] verbinden.“ Dabei werden, so S AND - BOTHE (ebd.) weiter „kulturell habitualisierte Nutzungsformen, die sich im Umgang mit den alten Medien (Buchdruck, Radio, Fernsehen, Video) entwickelt haben, auf das Internet übertragen und transformativ miteinander verflochten.“ Die sich daraus ergebenden Veränderungsmomente des Fremdsprachenunterrichts wären demnach: weiter verstärkte (virtuelle) Öffnung des Klassenzimmers unter Verwendung des World Wide Web als (metaphorischem) „Fenster“ zu interkultureller Kommunikation und zu interkulturellem Informationsaustausch; Ergänzung der Stimme durch visuelle oder andere auditive Elemente (wie dies im Hör-Sehverstehen gegenwärtig stark propagiert wird); Ablösen der Lehrerzentrierung durch aktive Partizipation der Lernenden an Informationsquellen und Communities des Internets (aktive Mitarbeit an Wiki-Projekten oder an der Wikipedia-Enzyklopädie); Auflösung strenger Wissenshierarchien durch stärkere Schülerzentrierung (Stichwort: Lehrkraftrolle als guide on the side, not sage on the stage). Weitere wesentliche Impulse des Internets für den (Fremdsprachen-)Unterricht sollten ergänzend berücksichtigt werden: Die Individualisierung und multisensorische Ausrichtung des Lern- und Informationsverarbeitungsprozesses, dazu Authentizität und Aktualität der offerierten Wissens- und Informationsbestände (S CHLICKAU 2009: 375). Damit lässt sich nicht allein schlussfolgern, dass das Internet qua seiner eigenen Medialität Lerner- und Handlungsorientierung einfordert, sondern auch, dass es, unter gewissenhafter und nachhaltig Förderung von Medienkompetenzen 29 41 (2012) • Heft 1 unterstützender Leitung einer Lehrkraft, geradezu auf die mediale Kompetenzentwicklung drängt. Die sich im Umgang mit dem Internet emblematisch herauskristallisierenden Medienkompetenzen sind vielfach und immer wieder definiert worden. Dabei haben sich in verschiedenen Abwandlungen Kompetenzkonzepte durchgesetzt, welche der Mediendidaktiker Dieter B AACKE bereits 1997 in einem dreistufigen Kompetenzmodell entwickelte. Medienkompetenz entwickelt sich demnach über eine auf technischen Fähigkeiten basierende Benutzerkompetenz zu aktiven medialen Handlungskompetenzen bis zu kritisch-reflexiven, problemorientierten Fähigkeiten des Bewertens und Verhaltens (B AACKE 1997). Im Wesentlichen spiegelt dieses Kompetenzmodell die im angelsächsischen Raum und zugleich bei Michael B YRAMS interkulturellem Kompetenzmodell übliche Kompetenz-Trias von (deklarativem und prodeduralem) knowledge, (transferierbaren) skills und (abwägenden, emotional und kognitiv zu definierenden) attitudes (vgl. V OLKMANN 2010: 165; V OLKMANN 2011). Weitergehend hat Norbert G ROEBEN (2002; vgl. auch F AULSTICH 2002: 329-331) ein aus sieben Ebenen bestehendes Modell der Medienkompetenz entworfen. In Anlehnung an dieses Modell und unter Verwendung der bei G ROEBEN benutzten Terminologie sei hier kurz ein speziell auf die Fremdsprachendidaktik applizierbares Kompetenzmodell vorgeschlagen: 1. Medienkompetenz als Fähigkeit, zwischen Medialität und Realität zu unterscheiden: Die Lernenden erkennen insbesondere mit Blick auf die mediale Darstellung von Eigen- und Fremdkultur, wie diese durch die jeweiligen Medien subjektiv und medienspezifisch eingefärbt sind. Sie erkennen, dass zielkulturelle Realitäten sich je nach medialer Präsentation formen und dass bestimmte Präsentationen stets bestimmten Zwecken dienen (z.B., um eine Touristenperspektive zu fördern oder ein einseitig negatives Bild der Zielkultur zu propagieren). Hier ist besonders das Thema Auto- und Heterostereotype in der medialen Präsentation zu thematisieren. 2. Medienkompetenz als Erwerb medienspezifischer Rezeptionsmuster: Die Lernenden erkennen, wie bestimmte Medien bestimmte Erwartungshorizonte bezüglich der Rezeption aufbauen und entwickeln kognitive Verarbeitungsmuster („Genrekompetenz“). Die Lernenden werden dazu befähigt, Medien funktional gemäß ihren eigenen Bedürfnissen und Dispositionen zu nutzen (von der Evaluation themenbezogener Websites bis zum Umgang mit Online-Wörterbüchern). 3. Medienkompetenz als Genuss- und Unterhaltungskompetenz: Im Sinne der Motivation und des lebenslangen Lernens bezieht sich dies auf die Fähigkeit, aus dem Medienangebot „spezifischen Lustgewinn und emotionalen Nutzen“ (F AULSTICH 2002: 330) zu ziehen. Anders und didaktischer formuliert: Die Lernenden sollen dazu befähigt werden, die für ihre Lernprozesse passenden, ihre jeweilige sensorische Disposition ansprechenden Medien zu erkennen und nutzbar zu machen. 4. Medienkompetenz als Fähigkeit zur Medienkritik: Hier gilt es, der einer Medienüberflutung inhärenten Gefahr der ästhetischen Niveaureduzierung und ethisch- 30 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 moralischen Anything-goes-Mentalität kritisch-reflexiv begegnen zu können. Dem entsprächen Unterrichtsverfahren und -aktivitäten, die Lernende dazu befähigen, Medien und ihre spezifischen Wirkungs- und Manipulationsmuster zu analysieren, zu kritisieren und negativen Prozessen gegebenenfalls im Sinne aufgeklärter, mündiger und verantwortlicher Verbraucher entgegenzuwirken. Hier erscheinen medienkritische Herangehensweisen an globale Themen wie Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Konsumorientierung und übermäßige Mediennutzung als geeignete Lerninhalte, wobei besonders auf Medienprodukte zurückgegriffen werden sollte, die kritische Positionen vertreten. 5. Medienkompetenz als kombinatorische, orientierungsgestützte Kompetenz: Die Lernenden werden dazu befähigt, sich aus dem gesamten zur Verfügung stehenden Medieninventar Themen und Medien funktional für das gewünschte Thema, Lernziel oder das für den Kompetenzerwerb Nötige auszuwählen. Damit ist eine Selektionswie Kombinationskompetenz angesprochen, die als multisensorische, multimodale und multimediale multiliteracy in der heutigen komplexen Medien- und Informationsgesellschaft handlungsfähig macht. In diesem Sinne wäre die Kombination von „Texten“ oder besser Medien - auch in den jeweiligen pre-, while- und post-reading-Phasen - möglichst multimedial zu gestalten. Damit kann das Interplay der Medien insgesamt wie auch die Wirkung und Funktion jedes medialen Produkts für sich erkannt und nutzbar gemacht werden. Im weitesten Sinne wäre hier auch die in gängigen Lehrplänen aufgeführte kommunikative Fähigkeit zu verstehen, „Arbeitsergebnisse mit mediengerechter Unterstützung [zu] präsentieren“ (Lehrplan NRW [zit. nach V OLKMANN 2010: 220]). 6. Medienkompetenz als Fähigkeit und Fertigkeit, sich adäquat und aktiv an medial gestützten Kommunikationsprozessen zu beteiligen. Dies bedeutet, dass Lernende eine breite Palette an Medien mit den jeweiligen fremdsprachlichen Kommunikationsmustern kennenlernen und sich entsprechende medienspezifische Kommunikationsfähigkeiten und -fertigkeiten aneignen. Dem entsprechen Konzepte der lernstrategischen Kompetenzen, d.h. beispielsweise „Materialien für selbstgesteuertes Lernen organisieren und nutzen“ (Lehrplan NRW, zit. in: V OLKMANN 2010: 220). Die mediale Skala reicht hierbei von kurzen Telefongesprächen über E-Mails bis zu Briefen, Hörspielen, Filmen und Multimedia-Werken. Die Schülerinnen und Schüler erlernen es dabei, „den kreativen Einsatz von Medien als mögliche Instrumente für Identitätsbildung, Selbstverwirklichung und Wirklichkeitskonstruktion“ (F AULSTICH 2002: 330) zu erkennen und für sich nutzbar zu machen. 7. Medienkompetenz als Anschlusskompetenz für interkulturelle Kommunikation: Die Medienkompetenz wird dabei als unverzichtbarer integraler Bestandteil der interkulturellen kommunikativen Kompetenz begriffen. Es gilt dabei, die eigene Medienkommunikation im Bezug zu den in den Zielkulturen sprachlich wie sozial konventionalisierten und habitualisierten, medial gestützten Austauschprozessen abzugleichen und zu regulieren. Dies bedeutet zudem, die Lernenden dazu zu befähigen, sich in unterschiedlichen medialen Kontexten auf die jeweils ande- Förderung von Medienkompetenzen 31 41 (2012) • Heft 1 ren Medienkulturen einzustellen den stillschweigend akzeptierten Erwartungshaltungen entsprechend zu reagieren. Bezogen auf die Peer-Group der Lernenden hieße dies, in noch stärkerem Maße als bisher die in den Zielkulturen verhandelten Medienformate und Medieninhalte (wie Fernsehen, Facebook, YouTube usw.) zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Die hier diskutierten sieben Bedeutungsdimensionen von Medienkompetenz im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts bedürfen der Ergänzung durch die Erörterung zweier grundsätzlicher Fragestellungen der Kompetenzvermittlung. Die erste Fragestellung ist dabei, ob sich bestimmte Kompetenzen, d.h. hier Medienkompetenzen, ohne Bindung an fachliche, hier fremdsprachliche, Inhalte rein kompetenzorientiert vermitteln lassen. Grundsätzlich erscheint ein solches Verfahren genauso möglich wie ein rein inhaltorientiertes: Wenn also der fremdsprachliche Literaturunterricht traditionell an die Vermittlung literaturimmanenter, beispielsweise literaturhistorischer Inhalte gebunden war und sich im Zeitalter der Kompetenzorientierung in Richtung der Förderung literarisch-ästhetischer Fertigkeiten und Fähigkeiten neu ausrichtet, warum sollte dann der auf das Internet gestützte Unterricht nicht - ohne inhaltliche Schwerpunktsetzung - auch rein kompetenzorientiert sein, zumal die digital-elektronischen „Medienverbünde verbesserte Fördermöglichkeiten von Lernprozessen versprechen“ (S CHLICKAU 2009: 15)? Es kann auch argumentiert werden, dass gerade das Internet „innovative Lerninhalte [ermöglicht], die mittels neuer Medien vereinfacht oder gar grundsätzlich erst vermittelbar sind“ (ebd.: 15). Dennoch scheint im Fremdsprachenunterricht eine Konzentration auf die dem Fach inhärenten Lerninhalte und Kompetenzbereiche von primärer Bedeutung. Eine zielkulturell ausgerichtete Inhalts- und Themenorientierung erscheint dann besonders vielversprechend, wenn kulturell essenzielle Inhalte (key issues) auswählt werden, in denen sich sowohl kulturspezifische wie global-universal bedeutsame und inhaltsschwere Themenkomplexe finden, die zudem medial unterschiedlich de- und encodierbar sind. Wenn bei einem kompetenzorientierten Unterricht eingehend berücksichtigt wird, wie ein spezifisches Thema sich in verschiedenen Medien jeweils medienspezifisch wie auch im Verbund der Medien ausdrückt, sind bereits wesentliche Voraussetzungen für die Förderung von Medienkompetenzen bei den Lernenden geschaffen. Entsprechend sollte Medienkompetenz stets in Verbindung mit anderen fremdsprachlichen Kernkompetenzentwicklungen gesehen werden. Diese konventionell erscheinende Ansicht verbindet sich allerdings mit einer veränderten prinzipiellen Einstellung zum Medieneinsatz im Unterricht. Hier galt lange das Leitprinzip: Der Medieneinsatz ist einerseits „in Abhängigkeit von Lernzielen und Lerndispositionen zu treffen“ (ebd.: 61), andererseits gälte es, Medien-Overkill zu vermeiden: Je technisch einfacher das Medium, desto einfacher und leichter schien seine Instrumentalisierung als Medium der Vermittlung von Fremdsprachenkompetenzen. Inzwischen ist, wie dargestellt, die Omnipräsenz der Medien in alltäglichen und damit auch in interkulturellen Lebensbereichen derart exponentiell gestiegen, dass die Medien wie die mediale Prägung jeglicher menschlicher Kommunikation selbst zum Gegenstand des Unterrichts 32 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 werden können und sollten (vgl. K ÜSTER 2002). Anders formuliert: Wer als Lehrkraft noch meint, nur talk and chalk, Lehrbuch und ein gelegentlicher Zeitungsartikel bereiten adäquat auf das Abitur und die spätere Zeit als Fremdsprachennutzer und -lerner vor, der ignoriert auf geradezu sträfliche Weise, dass die oben genannten sieben Medienkompetenzen als lebenslange Aneignungsaufgabe für die heutige Medien- und Informationsgesellschaft von essenzieller Bedeutung sind. 3. Zehn Veränderungsmomente der Medienkompetenz Im Zeitalter der global zirkulierenden digitalen Informationsfluten trifft auf Medienkonzepte wie auf Konzepte der Medienkompetenz in abgeänderter Form ein bekanntes Diktum des Wirtschaftswissenschaftlers Joseph S CHUMPETER zum Wesen des Kapitalismus zu: Sie sind einem permanenten Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ ausgesetzt. Die Dynamik der Veränderungsmomente schafft ständig neue Realitäten, in unserem Fall die einer zunehmend medial vermittelten und medial wahrgenommenen Wirklichkeit. Frühere mediale Welten und damit die entsprechend nötigen Kompetenzen werden damit sukzessive transformiert. Wenn wir dazu die früher relativ fest umrissenen Zielkulturen des Fremdsprachenunterrichts als komplexe kulturelle und linguistische Gebilde begreifen, denen mit einer globalen Perspektive zu begegnen ist, so kommt ein weiteres dynamisches Element, jenes der cultures as moving targets hinzu. Auch und gerade im Fremdsprachenunterricht erfordern diese Umwälzungsprozesse sich ständig wandelnde Kompetenzkonzepte. Im Folgenden seien zehn wesentliche Konstituenten dieser fortschreitenden Ausrichtung auf sich rasant wandelnde Medienrealitäten genannt. 1. Die Omnipräsenz der digitalen Medien sowie unsere Abhängigkeit von ihnen führen zunehmend zu einem „mediatisierten“ Blick auf die Welt. Im Sinne des oben genannten ersten Aspekts der Medienkompetenz als Fähigkeit, zwischen echter Realität und medial vermittelter Realität zu unterscheiden, wird es sich als fächerübergreifende Aufgabe erweisen, Heranwachsende durch medienanalytische und medienkritische Herangehensweisen für die jeweils medienspezifischen Darstellungsmodi zu sensibilisieren. Einige einfache Beispiele: Ein Eintrag in Wikipedia ist nicht unbedingt ohne tendenziöse Einfärbung und kann etwa von kommerziellen Interessen der Beiträger geleitet sein. Die Internetdarstellung eines fremden Landes oder einer fremden Region entspricht nicht unbedingt der Selbstwahrnehmung einzelner Individuen oder ganzer Bevölkerungsgruppen. Ein Dokumentarfilm reflektiert nicht gänzlich die Realität, nur weil er keine fiktiven Elemente aufzuweisen scheint. 2. Veränderte Medienwelten bestimmen veränderte Wahrnehmungs-, Kommunikations- und sogar Handlungsmuster. Hier gilt es für den Fremdsprachenunterricht, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Gerade die sozialen Netzwerke, Chat-Foren, E-Mail-Gruppen usw. schlagen sich in veränderten sprachlichen Gewohnheiten Förderung von Medienkompetenzen 33 41 (2012) • Heft 1 nieder, in sprachlichen Kürzeln, Emoticons, Icons und anderen visuellen und zeichenartigen Kommunikationssignalen, die ihrerseits Denken und Kommunikation beeinflussen. Einige typische Beispiele: Mangelnde Berücksichtigung von Rechtschreibregeln ist auch auf User-Gewohnheiten bei SMS-Texten und beim Chatten sowie auf automatische Korrekturprogramme zurückzuführen. Zwar mag sich die neue Generation die Fertigkeiten des scanning und skimming teilweise intuitiv beim Computergebrauch selbst aneignen, es geht aber zugleich die Fähigkeit zum genauen und fokussierten Lesen verloren, genauso wie der Wille, längere Texte konzentriert zu rezipieren. Es sollte im Sinne der literacy weiterhin darauf geachtet werden, dass intensive gleichberechtigt neben extensiver Lesesozialisation angestrebt wird. 3. Die Blickrichtung wird sich noch mehr in Richtung einer konstruktivistischen Einstellung zu den Medien verändern. Die traditionelle, kritische oder skeptische Haltung gegenüber den Medien wird sich entsprechend weiter zu einer pragmatischen Position verändern. Die Grundsatzfrage „Was tun die Medien mit uns? “ verschiebt sich weiter innerhalb eines fundamentalen Theorienwandels (F AUL - STICH 2002: 37) zu der Fragestellung: „Was tun wir mit den Medien? “ Didaktisch gewendet lautet die Fragestellung nun: „Wie können SchülerInnen dazu kommen, die Medien möglichst effektiv und kompetent für den individuell bestimmten Fremdsprachenerwerb zu nutzen? “ Mediennutzer werden nun weniger als Kunden, Konsumenten, Zuschauer, Zuhörer verstanden, sondern als Produzenten, Empfänger, Sender, als kreative, gewitzte und produktive Mediennutzer. Da konstruktivistischen Menschenbildern gemäß der Lernende sich Wissensbestände mit Rückgriff auf die eigenen Kenntnisse der Welt, seine Erfahrungen und Zielvorstellungen aneignet (vgl. etwa H ERMES 1998: 222), neigten erste didaktische Stimmen zum Internet zu euphorischen Lobgesängen, glaubte man hier doch das konstruktivistischen Vorstellungen kongeniale Medium erhalten zu haben, steht doch dem Individuum zum selbstgesteuerten und individualisierten Wissenserwerb ein endloses Datenmeer für den unmittelbaren Zugriff zur Verfügung (vgl. die Diskussion bei V OLKMANN 2005). Didaktische Leitprinzipien wie Individualisierung und Binnendifferenzierung schienen nun in dreierlei Hinsicht direkt umsetzbar: Lernende können Ort und Zeit der Lernaktivitäten selbst wählen; sie können in Online-Szenarien oder vermittels Lernersoftware individuell gefördert werden, um allgemein gestellte Lernziele zu erreichen; und schließlich können individuelle Interessen und Motivationslagen berücksichtigt werden (vgl. S CHLICKAU 2009: 376). Inzwischen ist die anfängliche Hochstimmung einer realistischeren Sichtweise gewichen, welche angesichts der Überfülle an Wissensmaterial und -quellen im Internet gerade die Techniken und Strategien der Wissensbeschaffung und Wissensverarbeitung fokussiert. Damit geht einher, dass die Forderung nach Medienkompetenzen weiterhin deutlich Konjunktur haben wird. 4. Früher galt das Prinzip, dass Lehrkräfte vermittels der Medien lehren. Inzwischen gilt immer mehr die Realität, dass die Medien die wahren Lehrer sind. Bereits das Fernsehen wurde als die heimliche außerschulische und einflussreiche Wissens- 34 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 vermittlungsinstanz bezeichnet. Diese Tendenz hat sich fortgesetzt: Durch die vielfältigen Edutainment-Formate (Galileo, History Channel usw.) und die Möglichkeit, fremdsprachliche Filme im Original (mit oder ohne Untertitel) auf einer DVD zu genießen, kommen auch die fremdsprachlichen Länder und die dort herrschenden (sprachlichen) Verhaltensweisen, Sitten und Normen immer näher. Entsprechend sind Fernsehserien wie The Simpsons bereits für das Lernen über kultursoziologische Entwicklungen eingesetzt worden, und die Serie The West Wing empfahl man für Einblicke in die US-amerikanische Politik. Der Einsatz von Fernsehserien und YouTube-Videos wird nicht nur noch mehr zunehmen, sondern es ist auch eine Tendenz zu erkennen, den früher verpönten Seifenopern und Fernsehserien, ja sogar nichtdidaktischen Computer- und Online-Spielen einen hohen edukativen Wert zuzuschreiben. Bezeichnend hierfür ist das kontrovers diskutierte Buch des Amerikaners J OHNSON mit dem plakativen Titel Everything Bad Is Good for You (2005), in dem er akribisch nachzuweisen versucht, dass der Komplexitätsgrad heutiger Fernsehserien - von Lost bis The Sopranos oder The Wire - bei ständig wechselnder und fluktuierender Figurenkonstellation sowie der Korrelation mehrere Handlungsstränge und Zeitebenen sozusagen als immanentes mentales Fitnessstudio wirkt. Auch Computerspiele verlangen von ihren Nutzern einen hohen Grad an analytischen, reflexiven, kognitiven Denk- und Memorisierungsvorgängen, so dass hier auf andere Bereiche transferierbare Informationsverarbeitungskompetenzen geschult werden. Ohne hier das Kind mit dem Bade ausschütten zu wollen, indem nun der Fremdsprachenunterricht zum Ort der permanenten Seifenoper-Zerstreuung gerät, gilt es doch zu konstatieren, dass Schülerinnen und Schüler ihre Fremdsprachenkenntnisse als Mediennutzer inkrementell und dynamisch vorantreiben können. Es scheint noch stärker als bisher nötig, im Fremdsprachenunterricht und in Kooperation mit den Erziehungsberechtigten Impulse für die Rezeption von Fernsehen, Fernsehserien und Computerspielen in der Originalsprache zu setzen. 5. Die Vorstellung, dass die in den Zeiten der digitalen Medien sozialisierten Heranwachsenden einen Kompetenzvorsprung vor ihren Erziehern hätten, legt bewusstes Anerkennen und Eingehen auf diese Inversion des traditionellen Lehrer- Schüler-Verhältnisses nahe. Die gängige Wissensklufthypothese besagte noch, dass die Kluft sich zwischen denen öffne, die „sich souverän und funktional aller Medien bedienen, und denjenigen, die nur auf wenige und die immergleichen Medien zurückgreifen“ (F AULSTICH 2002: 329). Diese Wissenskluft ist inzwischen zu einer Kompetenzkluft geworden, wenn wir gängigen Thesen zur digital divide und zum Kompetenzvorsprung der Digital Natives gegenüber den Digital Immigrants Glauben schenken wollen. J UKES und D OSAJ beschreiben die Kluft noch eher neutral anhand von zehn Thesen, deren vier wichtigste hier exemplarisch zitiert seien (2006: 26): „1. Native learners prefer receiving info quickly from multiple multimedia sources while many teachers prefer slow and controlled release of info from limited sources. Förderung von Medienkompetenzen 35 41 (2012) • Heft 1 2. Native learners prefer parallel processing and multi-tasking while many teachers prefer singular processing and single/ limited-tasking. 3. Native learners prefer processing pictures, sounds and video before text while many teachers prefer to provide text before pictures, sounds and video. 4. Native learners prefer random access to hyperlinked, interactive, multimedia information while many teachers prefer to provide information linearly, logically and sequentially […]“. Zweifellos gilt es hier, wie vielfach in der didaktischen Literatur angeregt, den veränderten Zugang zu Wissensverarbeitungsprozessen der neuen Lernergeneration nicht allein zu beachten, sondern als Lehrkraft bewusst die neue Rolle des Lernenden, des am Wissenskonstruktionsprozess Partizipierenden, zu akzeptieren und entsprechend die größere Expertise der Lernenden in bestimmten, vor allem medientechnisch zu definierenden Gebieten in der Kooperation fruchtbar zu machen (vgl. W OLFF 2012). 6. Mit der neuen Generation der Digital Natives entwickeln sich neue Kompetenzformen des Umgangs mit digitalen Textkombinationen. Hier ist der Begriff der multiliteracies unter anderem von Bill C OPE und Mary K ALANTZIS (2000) geformt worden, um auf die Zunahme von multimedialen, multimodalen und damit höchst komplexen „Textgebilden“ hinzuweisen. Diese Komplexität wurde dabei auch als Ausdruck einer zunehmenden linguistischen und kulturellen Diversifizierung im Rahmen multikultureller Gesellschaften verstanden. Entsprechend gilt es, den Bedürfnissen und Gepflogenheiten einer digital vernetzen multikulturellen Weltgesellschaft Rechnung zu tragen, indem unterschiedliche Kommunikationsgewohnheiten Berücksichtigung finden (lineare und nicht-lineare, schriftliche und mündliche, textuelle und visuelle). Hier vertritt der multimediale, multimodale Hypertext emblematisch eine fluide „Textsorte“, die neue Zugangs- und Verwendungskompetenzen, eben die multiliteracies verlangt. Im Vordergrund der multiliteracies steht die Fähigkeit, angemessene kognitive Informationsverarbeitungsformen zu beherrschen, d.h., komplexe Bild-Text-Sound-Korrelationen zu decodieren, wie sie für das Internet sowie für Hypertexte und multimediale Settings typisch sind. Die Fremdsprachendidaktik hat hier auf die besondere Bedeutung der Entwicklung von Multiliteralität hingewiesen. So thematisiert OVERMANN (2004: 70) die didaktisch-methodischen Vorzüge von Hypertexten im Schulunterricht, indem er sie „den konstruktivistischen Forderungen nach mehr Eigenverantwortung und Autonomisierung des Lernprozesses“ zuordnet. Ähnlich hat Wolfgang H ALLET (2010) auf die Vorzüge multimodaler, multiperspektivischer Romane hingewiesen, in denen neben dem gedruckten Text auch vielförmige andere visuelle Textpassagen (Fotos, Skizzen, Cartoons usw.) neue Lese- und Decodierungskompetenzen in Anspruch nehmen. 7. Die didaktische Forderung nach Öffnung der traditionellen Trias von Lehrkraft, Lehrwerk und Klassenzimmer erhält durch die digitalen Medien einen zusätzlichen Anstoß. Tendenziell deuten schon Hypertexte auf eine Transgression konventioneller Lehr-Lern-Szenarien hin, wie Overmann formuliert: „Hypertexte ermöglichen ihren Rezipienten [...] ein höheres Maß an Aktivität, Autonomie und 36 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 Authentizität“ (O VERMANN 2004: 73). Doch nicht allein Online-Unterricht oder die Internetrecherche zuhause erlauben diesen Quantensprung in Richtung Authentizität und autonomer Lerneraktivität. Darüber hinaus ermöglicht die gegenüber dem prä-digitalen Zeitalter enorm gesteigerte Zugänglichkeit von Ton- und Filmmaterial den (medialen) Auftritt des native speaker im Unterrichtsraum. Wie Engelbert T HALER (2007: 12) anschaulich schreibt, werden beim Hör-Sehverstehen paralinguistische Handlungsmerkmale sichtbar, körperlose Stimmen - Thaler spricht von „disembodied voices“ - verwandeln sich in beobachtbare native speakers; auf diesem Wege werden zugleich landeskundliche Elemente seh- und verstehbar. 8. Zunehmend wird eine weitere Öffnung des Klassenzimmers in medialen Kombinationsverfahren ermöglicht. Die Tendenz vom Lehrbuch zum Laptop-Klassenzimmer ist zwar nur teilweise erkennbar, und die einstige Vision von flächendeckenden Online-Klassenzimmern bleibt vielerorts noch eine Utopie. Dennoch setzt sich die Tendenz zum ergänzenden Einsatz des virtuellen Raums in blended learning-Verfahren fort. Die ganz neuen Arbeitsformen wie z.B. kreative Bildungs- und Selbstlernformen im Pädagogikbzw. Bildungsbereich (wie z.B. das Fernstudium) stützen sich immer seltener auf die traditionellen Multimedia-Instrumente wie die CD-ROM und immer öfter auf das Medium Internet. Es werden heutzutage sogenannte offene Unterrichtsformen dank den Internet-basierten Informations- und Kommunikationstechnologien bzw. dem Medium Internet ermöglicht. Hier gilt es für Lehrkräfte, sich die entsprechenden technischen und organisatorischen Skills im Bereich des E-learning und des blended learning, also der „Kombination distanzmedialer Kommunikation mit Präsenzbegegnungen“ (S CHLICKAU 2009: 387) anzueignen. 9. Die Definition kritisch-reflexiver Medienkompetenzen wird sich weiter verändern: Definitionen verschieben sich stärker von ursprünglichen Erkenntnissen über die machtvollen Manipulationsfähigkeiten und -strategien der Medien hin zu der Einsicht, dass gerade die Medien zunehmend menschliches Handeln, Denken und Kommunizieren verändern. Es dürfte inzwischen hinlänglich erkannt worden sein, dass die elektronisch erzeugte Informationsmenge des Internets aufgrund ihrer Variabilität, Dynamik und vielfältigen vordergründig-plakativen Präsentation kein kohärentes Bildungsprogramm anbietet. Nur wenn die Pädagogik und Didaktik die Tendenzen zur konstanten Veränderung, sogar zur Atomisierung der traditionellen Wissensbestände im Internet erkennt, kann sie diesen die Aufmerksamkeit zerstreuenden und verwirrenden Tendenzen des Mediums entgegenwirken. Der Medienphilosoph Mike S ANDBOTHE (2001: 224) warnt eindringlich vor der Vernachlässigung dieser Bildungs- und Erziehungsaufgabe: „Durch die Überflutung mit digital dekonstruierten Informationseinheiten, die durch die bestimmende Urteilskraft allein nicht mehr geordnet werden können, wird unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zerstreut. Wir sind zu Opfern eines digitalen Daten-Gaus geworden, der uns paralysiert, süchtig macht und unsere alltäglichen Wahrnehmungsformen und Wissenskompetenzen in Mitleidenschaft zieht“. Förderung von Medienkompetenzen 37 41 (2012) • Heft 1 Diese kritisch-reflexive Medienkompetenz geht angesichts der gezeigten ubiquitären Einflussmacht der digitalen Medien immer stärker in Richtung einer Meta-Kompetenz. Diese bezieht sich auf die generelle Fähigkeit des Erkennens von und des Reagierens auf anthropogene Transformationsprozesse im Bereich „mediatisierter“ Wahrnehmungs-, Handlungs- und Kommunikationsformen. Wie Martina W OLFF (2012: 200) erkennt, geht es auch darum, „[...] die schleichenden Modifikationen individueller und kollektiver Kommunikation durch das Internet bewusst zu machen. [...] Die psychologischen Veränderungen, die schleichende, häufig unbewusste Neubewertung und Neuausrichtung von Kommunikationsprozessen, wie sie z.B. soziale Netzwerke oder virtuelle Welten ermöglichen, werden nicht ohne Folgen für das Kommunikationsverhalten insgesamt sein, auch innerhalb der Schulmauern“. 10. Das Verständnis der Zielsprachen und Zielkulturen wird sich durch die medialen Umwälzungsprozesse weiter radikal wandeln. Nicht allein die Fortsetzung der Kommunikativen Wende und die stärkere Ausrichtung auf Lernparadigmen wie orale-aurale Kompetenzen, fluency before accuracy oder Konversationsroutinen und weitere soft skills der Kommunikation werden tradierte Vorstellungen des Fremdsprachenunterrichts beeinflussen. Auch die von ihren Nutzern präferierten Kommunikationsformen im World Wide Web und bei der digitalen Kommunikation werden diese Trends unterstützen - und darüber hinaus durch die Verwendung der lingua franca Englisch im globalen Rahmen feste Vorstellungen der anglophonen Zielkulturen noch weiter von den Kulturen des so genannten „inneren Kreises“ (K ACHRU ; vgl. V OLKMANN 2010: 144) ablösen und zur verstärkten Hinwendung zu globalen Thematiken wie Umwelt, Multikulturalismus, Reichtumsverteilung usw. führen. Analog dazu wird der Siegeszug der englischen Sprache als weltweite Verkehrssprache zur fortgesetzten Infragestellung der Normativität von native-speaker-Normen führen, zumal gerade im medialen Raum die englische Sprache ständig in hybridisierten Formen auftaucht. Damit werden sich auch inhaltliche, wissensbasierte, zielkulturelle und linguistische Kompetenzen in der Definition stets stark danach definieren, wie sie medial gespeist und medial nutzbar sind. Deutlich formuliert: Es sind die digital geformten Präsentationsformen von Zielkulturen, Kommunikation und Sprache, die noch stärker als bisher wirksam werden. Die „realen“, durch primäre Medien getragenen Erkenntnis- und Interaktionsprozesse werden dadurch erheblich beeinflusst. 4. Medienkompetenz als Mittlerkompetenz Besinnen wir uns nach diesem Ausblick auf weitere Tendenzen der Mediendidaktik, wie sie vor allem von den digitalen Medien geformt werden. Dabei gilt es abschließend noch einmal, auf eine Grundfunktion der Medien im fremdsprachlichen Unterricht aufmerksam zu machen: „Medien als Mittler - das gilt auch für die Medien im fremdsprachlichen Unterricht. […] Sie sollen helfen, Fremdsprache und fremdsprachliche Welten ins Klassenzimmer zu holen und 38 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 den Lernenden Brücken zur Teilhabe daran bauen, aber auch zu kritisch-reflexivem Umgang mit Medien beitragen.“ (D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010: 97) Wie dargestellt, hat es in den letzten Jahren eine stetig zunehmende Bedeutung der Medien im alltäglichen Leben, aber auch in interkulturellen Kommunikationssituationen gegeben. Damit einher geht nicht allein eine sukzessive Bedeutungsaufwertung, sondern zugleich Ausdifferenzierung und Diversifikation der Medien im Unterrichtskontext wie auch bei der Konzeptualisierung und Umsetzung von Medienkompetenzen. Der fortschreitenden Medienparzellierung und -spezialisierung wirkt aber andererseits (unter anderem durch ihre Integration in elektronische Dateien) eine zunehmende Textvernetzung und mediale Hybridisierung entgegen. Diese Vermischung von Textsorten kann zu neuartigen Synthesen im Hinblick auf die Wahrnehmungskanäle (visuell versus akustisch), aber auch die Zeichenformen (verbal versus bildlich), den Grad an medialer Technizität (analog versus genuin elektronisch), das Unterrichtsspezifische (didaktisiert versus authentisch) und die Textsorten („populäre“ versus „elitäre“) führen. Die Diversifikation der Medien wird durch eine Diversifikation der einbezogenen Lernerzielgruppen ergänzt, und diese wird durch eine große Vielfalt an Lehr- und Lerntechniken sowie Übungsformen flankiert (vgl. die Beiträge in R EINFRIED / V OLK - MANN 2012). Die kompetente Nutzung dieser medialen und didaktischen Bandbreite durch Lehrende wie Lerner, einzeln und in der Kooperation, stellt die Beherrschung der hier beschriebenen Bandbreite von Medienkompetenzen schließlich als eine wichtige, über den Unterricht hinaus weisende Mittlerkompetenz dar. Literatur B AACKE , Dieter (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. B LELL , Gabriele / K RÜCK , Brigitte (Hrsg.) (1999): Mediale Textvielfalt und Handlungskompetenz im Fremdsprachenunterricht. Zu Ehren Wilfried Gienows. Frankfurt/ M.: Lang. B LELL , Gabriele / K UPETZ , Rita (Hrsg.) (2005): Fremdsprachenlernen zwischen Medienverwahrlosung und Medienkompetenz. Beiträge zu einer kritisch reflektierenden Mediendidaktik. Frankfurt/ M.: Lang. C OPE , Bill / K ALATZIS , Mary (2000): Multiliteracies: Literacy Learning and the Design of Social Futures. London: Routledge. D ECKE -C ORNILL , Helene / K ÜSTER , Lutz (2010): Fremdsprachendidaktik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. F AULSTICH , Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme - Methoden - Domänen. München: Fink. G ROEBEN , Norbert (2002): „Dimensionen der Medienkompetenz: Deskriptive und normative Aspekte“. In: G ROEBEN , Norbert / H URRELMANN , Bettina (Hrsg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, München: Juventa, 160-197. 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The task takes into account several principles that have been neglected so far (e.g. individual competences, reading comprehension of the German text, systematic progression within the task). Additionally, we show the different functions of “mirror texts” for the development of mediation tasks. 1. Sprachmittlung: Die 6. Kompetenz ? Andrea R ÖSSLER stellte 2008 ihre Überlegungen „[z]um didaktischen Potenzial von Sprachmittlungsaufgaben“ unter die Frage „Die sechste Fertigkeit? “ Sie kommt zu dem Schluss, dass Sprachmittlung als rezeptive und zugleich produktive Tätigkeit in einer spezifischen Sprechhandlungssituation als „eigenständige kommunikative Tätigkeit“ im Sinne des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens zu werten sei, „weil es sich um eine Kombination verschiedener Sprechhandlungen mit einem klar definierbaren kommunikativen Ziel“ (R ÖSSLER 2008: 61) handele. Andere Autoren, z.B. S CHÖPP (2010), schließen sich dieser Auffassung an. Auch wir sind der Meinung, dass „Sprachmittlung“, so wie sie in den „Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss“ (KMK 2003) und in den „Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife“ (IQB 2011) konzipiert ist, „mehr“ ist als eine Fertigkeit (Begrifflichkeit der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss) bzw. eine Teilkompetenz (Begrifflichkeit der Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife). Denn unseres Erachtens ist sie, anders als in den Kompetenzmodellen dieser Dokumente, durch ihre höhere Komplexität auf einer anderen Ebene als bspw. das Schreiben oder das Hör-Sehverstehen angesiedelt. Sprachmittlung verlangt Fähig- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Daniela C ASPARI , Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen, Habelschwerdter Allee 45, 14195 B ERLIN . E-Mail: caspari@zedat.fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht, Literaturdidaktik, interkulturelles Lernen. Dr. Andrea S CHINSCHKE , Referentin für Französisch und weitere Fremdsprachen, Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) Abteilung II: Unterrichtsentwicklung, 14974 L UDWIGSFELDE - S TRUVESHOF . E-Mail: andrea.schinschke@lisum.berlin-brandenburg.de Arbeitsbereiche: Fortbildung, Aufgaben- und Materialentwicklung, Rahmenlehrplanentwicklung. Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 41 41 (2012) • Heft 1 keiten und Fertigkeiten aus allen Kompetenzbereichen: aus dem Bereich der funktionalen kommunikativen Kompetenzen, je nach Realisierungsform, Hörbzw. Hörsehverstehen oder Leseverstehen sowie Sprechen oder Schreiben, dazu Text- und Medienkompetenz, interkulturelle kommunikative Kompetenz, Sprachbewusstheit und oft auch Sprachlernkompetenz. Während die didaktische Diskussion und die Aufgabenvorschläge bislang vor allem auf die funktionalen kommunikativen Kompetenzen einschließlich der entsprechenden Strategien sowie die interkulturelle Kompetenz fokussieren, macht unser Aufgabenbeispiel deutlich, dass mit fortschreitendem Anforderungsniveau der Sprachmittlungsaufgaben der Text- und Medienkompetenz sowie der Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. An dem Aufgabenbeispiel wollen wir darüber hinaus zwei weitere bislang vernachlässigte Aspekte der didaktischen Diskussion um „Sprachmittlung“ thematisieren: die systematische Progression in der Förderung der Sprachmittlungsaktivität sowie die gezielte Fokussierung einer Aufgabe auf ausgewählte Aspekte der Sprachmittlungskompetenz. 2. Eine Aufgabe zur (Weiter-)Entwicklung von Sprachmittlungskompetenz in der Sekundarstufe II Im Folgenden stellen wir eine Lernaufgabe zur Sprachmittlung vor, die sich zum Thema „Arbeitswelt“ sprachlich und inhaltlich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II richtet. Sie setzt sich aus zwei Teilen, den am Ende des Beitrags abgedruckten Aufgaben A und B, zusammen. Beide Teile enthalten jeweils einen deutschen Text zur Sprachmittlung und einen französischen „Spiegeltext“ (vgl. LISUM 2006, P HILIPP / R AUCH 2010a), d.h. einen französischen Text zu dem gleichen Thema. 1 Wurde bisher aber vor allem die Rolle von Spiegeltexten als Wortschatzquelle hervorgehoben, so werden sie in der hier vorliegenden Lernaufgabe in unterschiedlicher Funktion und mit unterschiedlichen Zielen eingesetzt. Aufgabe A ( S. 48-50) stellt eine Vorbereitung auf die „eigentliche“ Sprachmittlungsaufgabe B dar. Sie besteht aus dem deutschen „Text 1“, dem französischen Spiegeltext „Texte 2“, das sind die französische und deutsche Version eines ausführlichen Stellenangebotes des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Die Teilaufgaben A1 und A2 lenken das Augenmerk auf den verwendeten Wortschatz und geben durch die vergleichende Beschäftigung Impulse für die Sprachbewusstheit und die Sprachlernkompetenz der Lerner. Aufgabe B ( S. 51-53) besteht gleichfalls aus einem deutschen „Text 3“ zum Thema Generation Praktikum und einem französischen Spiegeltext „Texte 4“, der zwar 1 Wir verwenden hier bewusst den offen gefassten Begriff des „Spiegeltextes“. Darunter werden weitere Texte zum gleichen oder zu einem ähnlichen Thema verstanden, die zur sprachlichen und inhaltlichen Unterstützung der Sprachmittlung dienen. Sie dienen somit auch der Vermittlung von Sachwissen, z.B. darüber, welche Unterschiede es in der Betrachtung eines Themas in zwei Sprachkulturen gibt. 42 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 das gleiche Thema wie der zu mittelnde deutsche Text behandelt, inhaltlich aber andere Schwerpunkte setzt. Hier werden von der Aktivität des Sprachmittelns ausgehend Wege für eine vergleichende thematische Betrachtung als Teil des interkulturellen Lernprozesses eröffnet: Die Teilaufgabe B1 besteht darin, im deutschen Text Informationen für einen französischen Zeitungsartikel zu verfassen, die Teilaufgabe B2, im französischen Text gezielt nach sprachlichen Hilfen für den Artikel zu suchen. B3 lädt dazu ein, sich über das Vorgehen bei der schriftlichen Sprachmittlung auszutauschen. Die Abschlussaufgabe B4 verlangt, die erworbenen thematischen Kenntnisse in Form eines Kommentars zur Situation der Jugendlichen auf dem deutschen und französischen Arbeitsmarkt zu schreiben. Neben den beiden oben genannten Zielsetzungen, nämlich der Beachtung der „Progression“ und der „Fokussierung auf einzelne Aspekte der Sprachmittlung“, haben wir in der Aufgabenkonzeption verschiedene Beobachtungen aus der unterrichtlichen Erprobung von mündlichen und schriftlichen Sprachmittlungsaufgaben berücksichtigt. So wird ein besonderes Augenmerk auf die Schwierigkeiten gerichtet, die Lernende im Vorfeld der „eigentlichen“ Sprachmittlung im Umgang mit den deutschen Ausgangstexten haben können. Dies betrifft nicht nur Schülerinnen und Schüler, deren Erstsprache nicht Deutsch ist. Ein komplexer journalistischer Ausgangstext wie der hier vorliegende „Text 3“ kann sehr hohe Anforderungen an das Verstehen des Inhalts, der Struktur, der Aussageabsicht, der sprachlichen Mittel, der Hintergründe usw. stellen; oft ist sogar ein besonders souveräner Umgang mit den Inhalten des Ausgangstextes erforderlich, bei dem z.B. auch über seine Inkohärenzen und Redundanzen hinweg gelesen wird. Um die unterschiedlichen Schülervoraussetzungen in Bezug auf die Rezeption des ausgangssprachlichen wie auch die Produktion des zielsprachlichen Textes angemessen zu berücksichtigen, haben wir in der Lernaufgabe schließlich auch Möglichkeiten zum differenzierenden Vorgehen eingeplant. 2.1 Aufgabe A Aufgabe A führt die Schülerinnen und Schüler in die Arbeit mit Spiegeltexten ein und sensibilisiert für grundlegende Anforderungen der Sprachmittlung. Die Teilaufgabe A 1 fordert die Lernenden auf, für einige Wörter und sprachliche Wendungen, die für die Textsorte und den Kontext „Bewerbung“ typisch sind, die französischen Äquivalente aus „Texte 2“ herauszusuchen. Dazu ist es nötig, beide Texte parallel nach den vorgegebenen Wörtern bzw. locutions gezielt zu durchsuchen. Die gefundenen Äquivalente sind zum einen für die Wortschatzarbeit bereichernd (z.B. Bewerbungsunterlagen - dossier de candidature). Zum anderen stoßen die Lernenden aber auf Wörter bzw. Redewendungen, die ihnen in besonderer Weise bewusst machen, dass die Verwendung der Sprache nicht nur kulturspezifisch, sondern auch kontextabhängig bzw. textsortenspezifisch ist. Z.B. kann die deutsche Teamfähigkeit auf andere Bereiche wie den Bereich des Sports übertragen werden, das im französischen Stellenangebot verwendete écoute ist dagegen an den Kontext der Arbeitswelt gebunden. Die im deut- Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 43 41 (2012) • Heft 1 schen Text geforderten Kenntnisse (gute Sprachkenntnisse, gute Kenntnisse von Photoshop und anderer Software) werden im französischen Text mit zwei Begriffen ausgedrückt, einmal als bonne connaissance, einmal als bonne maîtrise. Für die Vertragsverlängerung stoßen die Lernenden im französischen Text zunächst unspezifisch auf prolongation du contrat - und den in der französischen Berufswelt üblichen Zusatz voire un CDI, den die deutschen Schülerinnen und Schüler erst durch Rückgriff auf landeskundliche Kenntnisse als contrat de travail à durée indéterminée entschlüsseln können. Die Bearbeitung dieser Aufgabe vermittelt den Schülerinnen und Schülern die grundlegende Einsicht in die Grenzen einer direkten Übersetzung. Gleichzeitig vermittelt sie ein Bewusstsein für die Existenz kulturspezifischer (CDI) und kontextspezifischer (écoute) Konzepte. Darüber hinaus initiiert sie die Bewusstwerdung von Strategien zur individuellen Wortschatzerweiterung auf fortgeschrittenem Lernniveau: Die Lernenden erfahren, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, rezeptiv verstandene Texte gezielt nach Wortschatz zu durchsuchen, um die spezifische kultur-, kontextbzw. textsortenspezifischen Lexik herauszufiltern und sich aktiv anzueignen. All diese Einsichten und Erkenntnisse sind wichtige Aspekte für die Sprachmittlung. Denn in der konkreten Sprachmittlungssituation wird von den Schülern und Schülerinnen gefordert, dass sie sich über die Grenzen der direkten Übersetzungen bewusst sind. Sie müssen im Einzelfall überdies entscheiden, ob sie kultur-, kontext-, textsortenspezifische Termini verwenden müssen, ob sie diese sicher kennen oder ob sie besser auf Verfahren der Umschreibung zurückgreifen. In diesen Entscheidungen kommt die für die interkulturelle Kompetenz als notwendig beschriebene Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit der eigenen sprachlichen Begrenztheit (vgl. C ASPARI / S CHINSCHKE 2009: 278, C ASPARI / S CHINSCHKE 2010: 30) speziell für fortgeschrittene Lernende zum Tragen. Um weitere, für den interkulturellen Lernprozess wichtige Erkenntnisse der Sprachbetrachtung zu thematisieren und dadurch ins Bewusstsein zu rücken, werden die Schülerinnen und Schüler in Aufgabe A 2 gebeten, am Beispiel von drei selbst zu wählenden Wörtern/ Wendungen aus der Liste die im Text 2 aufgefundene sprachliche Übersetzung zu analysieren und zu kommentieren. Dabei wird vermutlich nicht nur die Frage, was die Wahl von écoute im Vergleich zur Teamfähigkeit über die Unterschiede in der Arbeitswelt aussagen könnte, eine gewinnbringende Diskussion in der Lerngruppe ergeben. 2 2.2 Aufgabe B Aufgabe B formuliert den „situativen Rahmen“ (vgl. P HILIPP / R AUCH 2010b: 3) aus dem sich neben der Situation der Adressat und die Textsorte für den gemittelten Text 2 Aus Gründen der Progression sollte zwischen den Aufgaben A und B eine Phase (etwa: Pour s‘entraîner) eingeschoben werden, in der die Anwendung der in A beschriebenen Einsichten und Erkenntnisse anhand von weiteren Texten zu Themen aus der Arbeitswelt gefördert und gefordert wird. 44 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 ergeben. Das für die Sprachmittlung im schulischen Fremdsprachenunterricht als konstitutiv beschriebene spezielle Informationsbedürfnis (ebd.), das die zu mittelnden Inhalte und daher die Lektüre des deutschen Textes bestimmen soll, wird über die Vorgabe von Titeln für den zu verfassenden Artikel präsentiert. Die drei Titel (B 1a, B 1b, B 1c) geben jeweils einen anderen Fokus für die Sprachmittlung vor. Sie lenken das Leseinteresse für den deutschen Text „Text 3“ auf unterschiedlich umfangreiche Informationen und erheben unterschiedliche Anforderungen an das Verstehen und den souveränen Umgang mit der Komplexität argumentativer Zusammenhänge des deutschen Textes. B 1a) fordert die Lernenden auf, einen einzelnen Abschnitt des deutschen Textes (Z. 41-44) als denjenigen zu identifizieren, der die relevanten Informationen für den vorgegebenen Titel liefert. Dieser kurze Textabschnitt muss allerdings genau verstanden und seine Inhalte im Französischen in der geforderten Textsorte wiedergegeben werden. B 1b) stellt diese Anforderungen in Bezug auf einen größeren Textabschnitt (Z. 25-44). Voraussetzung für die Identifikation des jeweils relevanten Textabschnitts ist natürlich das prinzipielle Verstehen des Textganzen. Dieses Verstehen in der Mittlung unter Beweis zu stellen wird tatsächlich aber nur von B 1c) verlangt. Die für den Titel La génération précaire - mythe et réalité relevanten Aussagen müssen ausgewählt, in ihrer argumentativen Richtung geordnet und in der Mittlung reorganisiert werden. Die drei Aufgaben illustrieren ein grundsätzliches Prinzip für die Konstruktion von Sprachmittlungsaufgaben: Die Vorgabe eines situationseingebetteten Informationsbedürfnisses lenkt die Auswahl der Informationen für die Sprachmittlung und bestimmt damit sowohl die Anforderungen an die Lesebzw. Textkompetenz im Umgang mit den ausgangssprachlichen Texten als auch an die Sprachmittlungskompetenz. Insofern kann die Alternative zwischen B 1a, B 1b und B 1c als Angebot zur Differenzierung genutzt werden. Auch die Schritte zur Bearbeitung der Aufgabe (B 1 bis B 4) enthalten Optionen, die je nach Leistungsvermögen von den Lernenden unterschiedlich genutzt werden können. Es ist denkbar, dass v.a. Schülerinnen und Schüler, die bereits Erfahrung mit Sprachmittlungsaufgaben gesammelt haben, direkt mit B 2 beginnen, nachdem sie den deutschen Text gelesen und sich für eine der vorliegenden Artikelüberschriften entschieden haben. Die Phase der préparation dient v.a. der methodischen Hilfestellung und Vorentlastung im Umgang mit dem deutschen Text. Mit B 1.2 soll zum einen das Textverstehen insgesamt sichergestellt werden. Hier wäre auch der Moment, an dem sich die Lernenden der Redundanzen und Inkohärenzen des deutschen Textes bewusst werden, die sie für die Mittlung außer Acht lassen können. B 1.3 fordert die Lernenden explizit zum Beachten des vorgegebenen inhaltlichen Fokus auf und strukturiert inhaltlich den französischen Text vor. Denkbar wäre an dieser Stelle auch ein weiterer vorentlastender Schritt, bei dem die Schülerinnen und Schüler auf Deutsch oder Französisch erste Notizen für ihren französischen Artikel niederschreiben. Würden diese Notizen auf Deutsch verfasst, birgt dies Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 45 41 (2012) • Heft 1 die Gefahr, dass sie anschließend in eine Übersetzungsaktivität münden. Würden diese auf Französisch gemacht, käme hierbei noch nicht die Hilfestellung des französischen Spiegeltextes zum Tragen. Zur Arbeit mit dem Spiegeltext fordert die Teilaufgabe B 2 auf. Der französische Text „Texte 4“ liefert einige direkte Wortschatzhilfen (z.B. Generation Praktikum - génération précaire, Praktikum - stage, Kettenpraktika - enchaîner stages sur stages, Arbeitsmarkt - le marché du travail). Insgesamt ist der Text aber vor allem aus inhaltlichen Gründen interessant, weil er auf das Thema „Generation Praktikum“ einen vergleichenden und vor allem weiterführenden Blick wirft. B 3 fordert zunächst zur Reflexion und Diskussion der individuellen Sprachmittlungsaktivität und des Sprachmittlungsergebnisses auf. Dabei können grundsätzliche inhaltliche, textsortenspezifische, sprachliche Probleme, die sich bei der Sprachmittlung ergeben, wie auch Schwierigkeiten beim Textverstehen im Vorfeld dieser Aufgabe Gegenstand der Diskussion sein. An die Diskussion wird die Erwartung geknüpft, dass eigene Schwächen ins Bewusstsein rücken und Lösungsansätze durch wechselseitige Beratung gefunden werden können. Mit der Teilaufgabe B 4 wird die Bedeutung der Sprachmittlung für den interkulturellen Lernprozess verdeutlicht. Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, die Inhalte aus beiden Texten, die dank der Sprachmittlung nun insgesamt in französischer Sprache verfügbar sind, vergleichend zu betrachten und im Sinne der Perspektivenkoordination zu einer übergeordneten Einschätzung zu kommen. Sie müssen, kurz gesagt, erkennen, dass - wenn man den Aussagen der Autoren folgt - die „Generation Praktikum“ ein Phänomen ist, das in Deutschland auf einige Bereiche des Arbeitsmarkts beschränkt ist, während es in Frankreich die berufliche Existenz der Mehrheit der 20-35jährigen beschreibt und zunehmend Einfluss auf deren persönliches Lebensgefühl (finanzielle Abhängigkeit von den Eltern) und ihre privaten Lebensentscheidungen (Auswanderung, Familiengründung) hat. In diese Aufgabe fließt das im Verlauf der Lernaufgabe erworbene inhaltliche, sprachliche und strategische Wissen ein, so dass es sich um eine Abschlussaufgabe der Lernaufgabe handelt. Sie zeigt gleichzeitig, dass die Förderung von Sprachmittlung kein „Selbstzweck“ ist, sondern sinnvoll in einen übergreifenden Kontext, hier die Bearbeitung einer anspruchsvollen, textbasierten Schreibaufgabe, eingebunden werden kann. 3. Lernaufgaben als gezielte Vorbereitung auf die vielfältigen Anforderungen in einer Sprachmittlungssituation Die Analyse dieser Lernaufgabe zeigt exemplarisch die vielfältigen und komplexen Anforderungen, die das häufig verwendete Sprachmittlungsformat „Verfassen eines fremdsprachigen Textes auf der Basis von Informationen aus verschiedenen, zumeist deutschsprachigen Texten“ an die Schülerinnen und Schüler stellt. Der mit dieser Aufgabe verbundene Anspruch resultiert keinesfalls daraus, hier eine besonders „schwie- 46 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 rige“ Sprachmittlungsaufgabe konstruiert zu haben. Er besteht vielmehr darin, den Lernern diese für eine Sprachmittlungsaufgabe durchaus üblichen, vielfältigen und komplexen Anforderungen bewusst zu machen sowie sie durch vorbereitende Aufgaben und fokussierte Hilfestellungen systematisch und gezielt dabei zu unterstützen. Worin bestehen diese Anforderungen? • in verschiedenen Formen des Leseverstehens, in der Fremdsprache wie im Deutschen: globales Leseverstehen (Aufgabe B 1), selektives Leseverstehen (A 1 auf bestimmte sprachliche Ausdrücke, B 2 auf bestimmte Inhalte und sprachliche Ausdrücke), detailliertes Leseverstehen (B 1 préparation); • in Textkompetenz (B 1, insb. B 1c: Auswahl der für die Bearbeitung der Aufgabe notwendigen Textstellen und darin enthaltenen Informationen, B 4); • im textsortenspezifischen und adressatengerechten Schreiben: (B 1 préparation: Überschriften, B 2 article, B 4 commentaire); • im Gebrauch textsorten- und kulturspezifisch adäquaten Wortschatzes; • in der Anwendung kulturspezifischen thematischen Wissens (B 3 und B 4). Darüber hinaus werden Sprachbewusstheit und interkulturelle Kompetenz gefordert. Unterstützt werden die Lerner in dieser Aufgabe gezielt bei: • dem Leseverstehen: durch die Vorgabe eines bestimmten Leseinteresses, eines präzisen Fokus, inhaltlich und sprachlich durch die Spiegeltexte ; • dem Schreiben: sprachlich, textsorten- und kontextspezifisch durch die Spiegeltexte; • dem Erwerb von Wortschatz: Suche nach inhaltlich, textsortenspezifisch und kulturell adäquaten Ausdrücken (A 1, B 2); • dem Aufbau von Sprachbewusstheit: kontrastive Reflexion des gefundenen Wortschatzes auf sprachliche, textsortenspezifische und kulturelle Besonderheiten (A 2); • der Sprachlernkompetenz: Reflexion der Funktion von Texten für den Erwerb bzw. das Nutzen von themenspezifischem Wortschatz (A 2), Reflexion der Spezifika einer Sprachmittlungssituation sowie des eigenen Vorgehens (B 3), individuelle Entscheidung über die Wahl des Themas (B 1.1) und der notwendigen Arbeitsschritte (B 1.2) je nach Einschätzung des eigenen Kompetenzstandes; • dem Erwerb und der Anwendung von detailliertem kulturspezifischem Wissen über den deutschen und französischen Arbeitsmarkt, die Generation Praktikum, die Rolle der Medien in diesem Kontext (B 1, B 2, B 4); zusätzlich erwerben die Lerner Wissen über das Deutsch-Französische Jugendwerk sowie über kulturspezifische Konventionen von Stellenanzeigen, Arbeitsbedingungen und Bewerbungsverfahren (A 1). Mit dieser Aufgabe erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass Sprachmittlung „mehr“ ist als das Verstehen und das Resümieren eines Textes in der anderen Sprache, sondern dass es sich dabei um eine eigene, höchst komplexe Kompetenz handelt. Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 47 41 (2012) • Heft 1 Literatur C ASPARI , Daniela / S CHINSCHKE , Andrea (2009): „Aufgaben zur Feststellung und Überprüfung interkultureller Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht - Entwurf einer Typologie“. In: B YRAM , Michael / H U , Adelheid (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen. Modelle, Empirie, Evaluation. Tübingen: Narr, 273-287. C ASPARI , Daniela / S CHINSCHKE , Andrea (2010): „Sprachmittlungsaufgaben gestalten. Zum interkulturellen Potenzial von Sprachmittlung“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 44/ 108, 30-34. I NSTITUT FÜR Q UALITÄTSENTWICKLUNG IM B ILDUNGSWESEN (IQB) (2011): Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife in den Fremdsprachen (Englisch/ Französisch). Sachstand 25. August 2011 [Anhörungsfassung]. LISUM (Landesinstitut für Schule und Medien) (2006): Handreichung zur Sprachmittlung in den modernen Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Spanisch. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin. http: / / bildungsserver.berlin-brandenburg.de/ 3184.html (15.1.2012) P HILIPP , Elke / R AUCH , Kerstin (2010a): „Sprachmittlung mit Spiegeltexten“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 44/ 108, 34-40. P HILIPP , Elke / R AUCH , Kerstin (2010b): „Verständigung im Austausch. Grundlagen, Bedeutung und Potenzial von Sprachmittlung“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 44/ 108, 2-7. R ÖSSLER , Andrea (2008) „Die sechste Fertigkeit? Zum didaktischen Potenzial von Sprachmittlungsaufgaben im Französischunterricht“. In: Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik 2.1, 53-77. S EKRETARIAT DER S TÄNDIGEN K ONFERENZ DER K ULTUSMINISTER DER L ÄNDER IN DER B UNDES - REPUBLIK D EUTSCHLAND (KMK) (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003). http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2003/ 2003_12_04-BS-erste- Fremdsprache.pdf (15.1.2012) S CHÖPP , Frank (2010): „Mediation als praxisrelevante Kompetenz im Italienischunterricht“. In: Italienisch 32/ 63, 88-109. 48 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 A UFGABE A) Pour se familiariser… : Texte 1 et Texte 2 : A 1) Voici une offre d’emploi qui est publiée et en français et en allemand. Cherchez dans le texte 2 l’équivalent français des expressions allemandes suivantes du texte 1 : dans le texte allemand dans le texte français die Stelle ist ab sofort für die Dauer von 3 Jahren zu besetzen. Vertragsverlängerung die Bezahlung Anforderungen Zuverlässigkeit Selbständigkeit Teamfähigkeit gute Sprachkenntnisse in Deutsch und Französisch Bewerbungsunterlagen A 2) Choisissez trois expressions qui, selon vous, se font particulièrement remarquer par leur traduction. Analysez et commentez la fa on dont elles sont traduites dans l’autre langue. Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 49 41 (2012) • Heft 1 Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) (internationale Organisation) sucht für das Referat „Kommunikation und Veranstaltungen“, Bereich „Internet und Veröffentlichungen“ in Paris, eine/ n Mitarbeiter/ in für die Position eines/ er Projektbeauftragten Multimedia (IT und Redaktion) (m/ w) Es handelt sich um eine neu geschaffene Stelle. Der Posten ist ganztags in Paris und ab sofort für die Dauer von 3 Jahren zu besetzen. Es besteht die Möglichkeit einer Vertragsverlängerung. Die Bezahlung orientiert sich am Personalstatut des DFJW. Wir suchen eine/ n Mitarbeiter/ in mit einem abgeschlossenen Informatikstudium oder eine/ n Informatikkaufmann/ frau, der/ die eng mit der Projektbeauftragten „Verlagswesen/ Internet“ zusammenarbeitet. Folgende Aufgaben werden unter der Leitung der stellvertretenden Referatsleiterin « Information/ Kommunikation » übernommen: Technische Umsetzung und redaktionelle Pflege der Internetseite Weiterentwicklung der Internetseite www.dfjw.org / www.ofaj.org sowie seiner Satellitenwebsites Betreuung der mit dem DFJW verbundenen sozialen Netzwerke und Blogs Vertrauter Umgang mit neuen Technologien (Mobiltelefonie, SMS, Webcams, Podcasts etc.) Anforderungen : Berufserfahrung (mindestens 2 bis 3 Jahre), bevorzugt in Deutschland und Frankreich Ausgezeichnete Kenntnisse der gängigen Webstandards: PHP / MySql, XHTML, CSS2, CMS Drupal sowie der Anforderungen hinsichtlich der Barrierefreiheit (Empfehlungen der WCAG und Vorgaben der BiTV) Gute Kenntnisse Photoshop, anderer Software (Illustrator, Flash, etc.) sind von Vorteil Weiterentwicklung und Betreuung der Internetseite Praktische Erfahrungen im Online-Publizieren (z.B. Blogs, soziale Netzwerke) Offenheit und Kreativität, vielseitiges Interesse Zuverlässigkeit, Selbständigkeit, Teamfähigkeit Gute Sprachkenntnisse in Deutsch und Französisch Nähere Informationen und Bewerbung an Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW) / Office Franco-Allemand pour la Jeunesse (OFAJ) Personalabteilung 51, rue de l’Amiral Mouchez F-75013 Paris candidatures@ofaj.org Bitte senden Sie uns Ihre Bewerbungsunterlagen (Bewerbungsschreiben und Lebenslauf) vorzugsweise per E-Mail. [Quelle: http: / / www.dfjw.org/ dfjw-stellt-ein (19.8.2011)] T EXTE 1 50 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 L’Office franco-allemand pour la Jeunesse (organisation internationale) recherche pour son Bureau « Innovation » basé à Paris, secteur « Information / Communication » un(e) Chargé(e) de projets multimédia (technique et éditorial) (H/ F) Il s’agit d’une création de poste. Ce poste à temps plein, basé à Paris, est à pourvoir immédiatement pour une durée de 3 ans. Une prolongation du contrat voire un CDI est possible. La rémunération est fixée par le statut du personnel de l’OFAJ. Nous recherchons un(e) collaborateur(rice), de formation Bac+2/ 3 minimum en informatique, multimédia, qui organise son travail en étroite collaboration avec la chargée de projet «Editions/ Internet ». Missions à prendre en charge sous la direction de la Chef de bureau adjointe à l’Information/ Communication : maintenance technique et éditoriale animation et évolution du site www.ofaj.org / www.dfjw.org et de ses sites satellites animation des réseaux sociaux et blogs créés autour de l'OFAJ / DFJW contribution à l'ouverture de l'OFAJ à de nouvelles technologies (téléphonie mobile, SMS, webcam, podcasts, etc.) Compétences requises bonne expérience (2 à 3 ans minimum) de préférence dans les deux pays (France/ Allemagne) compétences affirmées des standards web : PHP / MySql, XHTML et normes d’accessibilité, CSS2 et le CMS Drupal bonne connaissance de Photoshop, celle d’autres logiciels (Illustrator, Flash, etc.) serait un plus maîtrise du développement et de l'administration de sites internet savoir-faire en pratique de publication sur un blog, contribution sur des réseaux sociaux dynamique, polyvalent(e), technique, créatif (-ve) rigueur, autonomie, écoute bonne maîtrise des langues française et allemande Pour obtenir davantage d’informations et envoyer votre candidature à Office franco-allemand pour la Jeunesse (OFAJ) A l’attention du Service des Ressources Humaines 51, rue de l’Amiral Mouchez 75013 Paris Candidatures@ofaj.org Merci de nous faire parvenir par e-mail votre dossier de candidature complet (lettre de motivation et CV). [Quelle : http: / / www.ofaj.org/ ofaj-recrute (19.8.2011)] T EXTE 2 Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 51 41 (2012) • Heft 1 A UFGABE B) Pour aller plus loin….Texte 3 et Texte 4 : Vous faites un stage dans la rédaction d´un journal pour étudiants en France où vous êtes l’expert pour les questions d’actualité allemande. Un de vos collègues a trouvé l’article: Eine ganze Generation macht nur noch Praktikum - stimmt's? (texte 3). B 1a) On vous demande de rédiger un article pour parler de la discussion actuelle en Allemagne en vous basant sur les informations données dans le texte 3. Votre article s’intitulera : Une loi pour régler la situation des stagiaires ? Ou B 1b) On vous demande de rédiger un article pour parler de la discussion actuelle en Allemagne en vous basant sur les informations données dans le texte 3. Votre article s’intitulera : La génération précaire dans le monde des médias. Ou B 1c) On vous demande de rédiger un article pour parler de la discussion actuelle en Allemagne en vous basant sur les informations données dans le texte 3. Votre article s’intitulera : La génération précaire : mythe et réalité. B 1 préparation B 1.1 Lisez le texte allemand. Choisissez l’article que vous allez rédiger (B 1a, B 1b, B 1c). B 1.2 (fac.) Divisez le texte allemand en parties. Donnez un titre à chaque partie. B 1.3 (obl.) Soulignez dans le texte allemand toutes les informations qui sont importantes pour le texte que vous voulez rédiger (en fonction de votre choix B 1a, B 1b, B 1c) B 2 Vous pouvez vous servir du texte français (texte 4) qui traite de la même problématique pour trouver certains mots et expressions nécessaires et utiles et pour mieux comprendre la situation en France, les ressemblances et les différences entre la situation en France et en Allemagne et par là pour mieux relever les informations qui seraient intéressantes pour un public français. B 2.1 Lisez le texte français. B 2.2 Soulignez ensuite dans le texte français les mots/ les expressions qui vous semblent utiles pour votre texte. B 2.3 Rédigez votre texte. Servez-vous des expressions trouvées dans le texte 4. B 3 Comparez vos articles. Mettez-vous en groupes de 3 avec des élèves qui ont choisi le même sujet que vous (B 1a, B 1b, B 1c). B 3.1 Quelles informations du texte 3 avez-vous choisies pour les communiquer au public français ? B 3.2 Quelles sont les expressions (du texte 4) dont vous vous êtes servis ? B 3.3 Quelles ont été vos difficultés dans la rédaction du texte français ? Réfléchissez et discutez. B 4 Comparez la situation des jeunes sur le marché du travail en France et en Allemagne. Rédigez un commentaire pour votre rédacteur en chef. 52 Daniela Caspari, Andrea Schinschke 41 (2012) • Heft 1 Mythen der Arbeit Eine ganze Generation macht nur noch Praktikum stimmt's? Nach dem Studium monatelange Knechtschaft, Kettenpraktika statt feste Stellen das harte Los einer Generation von jungen Akademikern. Trifft dieses Bild wirklich zu? Arbeitsmarktforscher Joachim Möller beschreibt die massenhafte Ausbeutung von Hochschulabsolventen als Legende. „Notgedrungen überwintern zahllose Hochschulabsolventen auf miserabel entlohnten Praktikantenposten“, stand schon 2003 auf SPIEGEL ONLINE. Und im Herbst 2004: „In der vagen Hoffnung auf eine feste Stelle hangeln sich junge Akademiker von Praktikum zu Praktikum.“ Ein halbes Jahr später war in der „Zeit“ zu lesen, dass zwischen Ausbildung und Beruf eine häufig mehrere Jahre währende Dauerpraktikantenschaft getreten sei. Der Artikel war mit „Generation Praktikum“ überschrieben - und prägte damit einen Begriff, der sich als geflügeltes Wort im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt hat. Die Frage ist nur: Stimmt das Bild, das hier gezeichnet wird? Die Befunde basierten überwiegend auf „allgemeinen Eindrücken und Beobachtungen im Umfeld von Freunden und Bekannten“, stellten die Hochschulforscher Kolja Briedis und Karl-Heinz Minks von der Hochschul-Informations-System GmbH bereits im Jahr 2007 fest. Ihr Projektbericht „Generation Praktikum - Mythos oder Massenphänomen? “ beantwortet die Frage eindeutig: Zwar gibt es Hinweise, dass die Zahl der Praktika nach dem Studium zugenommen hat, dennoch handelt es sich dabei um kein Massenphänomen, wenn man die Studierenden insgesamt betrachtet. Der Begriff „Generation Praktikum“ führt also in die Irre. Doch diese Erkenntnis ist nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Woran das liegt, ist leicht zu erklären: Es gibt Bereiche, in denen Praktika nach dem Studium tatsächlich stark verbreitet sind. Problem vor allem für Geistes- und Sozialwissenschaftler Während technische und naturwissenschaftliche Fächer mit wenigen Ausnahmen wie Architektur, Bauingenieurwesen oder Biologie davon kaum betroffen sind, spielen sie bei Geistes- und Sozialwissenschaftlern durchaus eine Rolle. Jeder vierte Sprach- und Kulturwissenschaftler absolviert nach dem Studium ein Praktikum, zuweilen gleich eine Praktikumsserie. Auch unter Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen sind Praktika nach dem Studium nicht selten. Übrigens findet man unter Praktikanten Frauen häufiger als Männer - und das ist keineswegs nur durch die Fächerwahl bedingt. Entscheidend ist, dass die Medien eine besonders praktikumsintensive Branche sind. Presse, Hörfunk, Fernsehen, Verlage, auch PR- und Werbeagenturen oder Museen: Praktika sind hier nach dem Studium weit verbreitet. Das mag akzeptabel sein, wenn die Ausbildung dabei tatsächlich im Vordergrund steht. Oft erledigen Praktikanten aber auch kostengünstig die Arbeit, die eigentlich von Festangestellten gemacht werden sollte. Dahinter muss nicht immer böser Wille zur Ausbeutung stehen. Denn manch engagierter Kleinverlag wäre wohl anders gar nicht überlebensfähig. Da Journalisten mit der Situation in der Medienbranche in der Regel besser vertraut sind als mit der Lage in anderen Bereichen des Wirtschafts- und Arbeitslebens, verwundert es nicht, dass die spezifische Situation hier mit einem allgemeinen Phänomen gleichgesetzt wird. Und so wird etwas zum Problem einer ganzen Generation erklärt, was nur für einen Teil der Hochschulabsolventen ein echtes Problem ist. Leider auch ein kaum zu lösendes: Gutgemeinte gesetzliche Regelungen wie eine Höchstdauer, eine Mindestbezahlung oder ein garantierter Ausbildungsanteil laufen immer Gefahr, Praktika nicht zu verbessern, sondern zu verhindern. Und damit wäre den Hochschulabsolventen auf der Suche nach einem Job am wenigsten gedient. [Quelle: http: / / www.spiegel.de/ karriere/ berufsleben/ 0,1518,759837,00.html, letzter Zugriff am 19.8.11] T EXTE 3 Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz 53 41 (2012) • Heft 1 Génération précaire En Allemagne comme en France, les jeunes qui entrent aujourd’hui sur le marché du travail ont des perspectives bien moins souriantes que leurs parents, en leur temps. Ils enchaînent stages sur stages, ne trouvent pas de poste fixe et ne peuvent pas faire de projets. Pour échapper à cette fracture entre les générations, ces jeunes ont trouvé des voies très différentes. Mais le conflit est loin d’être résolu. En Allemagne, Désirée Grebel a rédigé une pétition à l’attention du Bundestag. Cette ancienne stagiaire de 29 ans exige dans ce texte que tout stage effectué par un étudiant diplômé débouche au bout de trois mois au maximum sur un emploi fixe. Elle a recueilli 40 000 signatures sur Internet, puis déposé cette pétition au Parlement, mais cela n’a pas permis de déboucher sur une loi. (…) Julie Coudry est descendue dans la rue pendant des semaines. Cette Française de 27 ans est étudiante et présidente de la Confédération étudiante, qui fut l’un des meneurs du mouvement anti- CPE. Julie et des centaines de milliers de Français ont finalement eu gain de cause. Dominique de Villepin a été contraint d’abroger cette loi très critiquée qui facilitait le licenciement. Julie et Désirée appartiennent à une génération qui déclare elle-même ne plus avoir de perspectives d’avenir. Les médias l’ont qualifiée de « génération précaire ». Sans CDI et sans espoir d’obtenir un travail régulier, les jeunes enchaînent stages sur stages. Très peu parviennent à s’en sortir sans l’aide financière de leurs parents. Les conditions de vie des jeunes de 20 à 35 ans ne sont plus comparables à celles de leurs parents quand ces derniers avaient leur âge. En effet, des études courtes et quelques séjours à l’étranger ne débouchent plus automatiquement sur un emploi en adéquation avec la qualification. En France, la période de transition entre la fin des études universitaires et le premier emploi fixe peut durer jusqu’à dix ans. Trois contrats d’embauche sur quatre sont à durée déterminée. La fracture entre les générations Tandis que les salariés plus âgés se battent, avec l’appui des syndicats, pour que soient tenues les promesses qu’on leur a faites il y a 30 ans, les jeunes, eux, sont déjà contents d’être rémunérés pour leur travail. (…) Les parents sont toujours partis du principe que leurs enfants seraient financièrement mieux lotis qu’eux. Or, pour la première fois depuis la Seconde Guerre mondiale, ce n’est plus le cas. Les jeunes aspirent toujours à de meilleures conditions de vie et à leur épanouissement personnel, mais ils n’ont plus la certitude d’y parvenir. Ce qui les attend en revanche, c’est un salaire plus bas et une retraite plus modeste que leurs aînés. Tout comme une charge de travail croissante... où qu’ils aillent. Car pour décrocher un emploi, les jeunes sont plus flexibles que jamais. Ils sont prêts à quitter leur ville natale et même leur pays. Mais les changements fréquents d’emplois et de lieux se font au détriment de la vie privée. Ce qui demeure, c’est le sentiment de ne pouvoir s’établir nulle part. Difficile d’envisager de fonder une famille dans ces conditions. Rester dans l’impasse ou s’expatrier On constate les réactions les plus diverses à cet état de transition permanent. Les uns, surtout en France, protestent, les autres partent à l’étranger, vont rechercher des conditions de travail correctes loin de leur pays. D’autres encore s’accommodent de leur situation : ils croient devoir être encore meilleurs que leurs concurrents pour décrocher le poste de leurs rêves, et sacrifient tout pour leur carrière, dans l’espoir de sortir un jour de ce dilemme. (…) Grit Weirauch, édité le : 22-09-06, dernière mise à jour le : 16-07-07 [Quelle : http: / / www.arte.tv/ fr/ Quel-avenir-pour-nos-jeunes/ 1321016,CmC=1323876.html letzter Zugriff am 19.8.11] T EXTE 4 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag 41 (2012) • Heft 1 A NDREAS G RÜNEWALD * Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben Abstract. This article aims at showing ways of promoting intercultural competence in foreign language teaching. Three sub-tasks which can be seen as part of more complex tasks or as additions to text books promoting intercultural competence are presented and discussed. The tasks focus on critical incidents (task A) and mediation as an intercultural challenge (task B). The tasks are primarily intended for Spanish but are also partly suitable for French foreign language classrooms. To start with, the conditions for teaching foreign languages in school regarding the promotion of intercultural competence are described and the current state of the scientific discussion is briefly presented. Thus, the sub-tasks are theoretically based as well as directly relevant for foreign language teaching. 1. Einleitung Ziel dieses Beitrages ist es, Möglichkeiten der Förderung interkultureller Kompetenz im Fremdsprachenunterricht aufzuzeigen. Zu diesem Zweck sollen beispielhaft zwei Teilaufgaben entwickelt und vorgestellt werden. Jede einzelne dieser Teilaufgaben kann als Bestandteil einer komplexen Lernaufgabe aufgefasst werden, sie könnten aber auch im Rahmen der Lehrbucharbeit als zusätzliches Lernmaterial zur Förderung der interkulturellen Kompetenz eingesetzt werden. Die Aufgaben haben die Arbeit mit Critical Incidents (Aufgabe A) und die Sprachmittlung als interkulturelle Herausforderung (Aufgabe B) zum Thema. Sie wurden für den Spanisch- und teilweise auch für den Französischunterricht entwickelt. Zunächst aber sollen die Bedingungen des schulischen Fremdsprachenunterrichts hinsichtlich der Förderung der interkulturellen Kompetenz beschrieben und der Stand der fachdidaktischen Diskussion kurz dargestellt werden. Auf diese Weise können die Teilaufgaben gleichermaßen theoretisch fundiert und praxisorientiert entwickelt werden . * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Andreas G RÜNEWALD , Universität Bremen, Fachbereich 10, Postfach 330440, 28334 B REMEN . E-Mail: gruenewald@uni-bremen.de Arbeitsbereiche: Didaktik der romanischen Sprachen. Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 55 41 (2012) • Heft 1 2. Interkulturelle Kompetenz: schulischer, bildungspolitischer und fachdidaktischer Diskurs 2.1 Unterrichtspraxis Wie sieht der aktuelle Fremdsprachenunterricht in Bezug auf Fragen interkulturellen Lernens in der Praxis aus? Es ist nicht leicht, hierüber gesicherte Erkenntnisse zu erlangen. Zu breit ist das Feld möglicher Untersuchungen, vor allem aber sind die Prozesse so komplex und so sehr im kognitiv-affektiven Bereich der Lerner verortet, dass sie umfassend und objektiv kaum bis gar nicht zu erfassen sind (vgl. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010: 224 f). Die Förderung interkultureller Kompetenz ist zwar seit Längerem ein zentraler Aspekt des Fremdsprachenunterrichts, das wird u.a. durch die verbindliche Einführung der Bildungsstandards 2004 deutlich. Während interkulturelle Kompetenz durch curriculare Vorgaben höchste Priorität erhält und fachdidaktisch kontrovers diskutiert wird, herrscht unterrichtspraktisch Unsicherheit, die dazu führt, dass interkulturelle Kompetenz häufig auf die Vermittlung von Landeskunde reduziert wird (vgl. Analyse aktueller Lehrwerke in G RÜNEWALD 2011). Ohne alters- und sprachniveauspezifische Modellierung des Kompetenzbereichs und ohne explizite Verknüpfung mit sprachlichkommunikativen Kompetenzen fällt es Lehrkräften offensichtlich schwer, die Schülerinnen und Schüler zu interkulturell kompetenten Sprechern auszubilden. Die Überwindung der Diskrepanz zwischen intellektuellen Fähigkeiten einerseits und eingeschränkten fremdsprachlichen Kompetenzen andererseits stellt eine weitere zentrale Herausforderung für den Fremdsprachenunterricht dar. Bei komplexen interkulturellen Lernzielen wird dies besonders offensichtlich. Insbesondere die Reflexion über kulturelle Diversität oder die eigene kulturelle Identität scheitert häufig daran, dass in der Praxis der Großteil der Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I über sehr eingeschränkte sprachliche Möglichkeiten verfügt. Die für den Fremdsprachenunterricht der 2. oder 3. Fremdsprache formulierten interkulturellen Lernziele wären im muttersprachlichen Unterricht sicher ohne Probleme umsetzbar, im Fremdsprachenunterricht hingegen kaum (vgl. W ESSELHÖFT 2010: 74). Gerade im Hinblick auf die Versprachlichung von Reflexionsprozessen zeigt sich oft, dass Schülerinnen und Schüler sich fremdsprachlich nicht ihrem kognitiven Niveau entsprechend ausdrücken können. Daher sind durchaus Aufgabenformate denkbar, bei denen es den Schülerinnen und Schülern frei gestellt ist, bei Reflexionsprozessen auf ihre Erstsprache zurück zu greifen. Schließlich ist festzuhalten, dass die in den curricularen Vorgaben gesetzten Ziele im Bereich der interkulturellen Kompetenz unter Umständen nicht zielgruppenadäquat sind. E BERHARDT (2008: 293) stellt im Rahmen seiner Untersuchung fest, „dass die interkulturellen Teilkompetenzen in den Bildungsstandards sehr ambitioniert konzipiert sind und höchstwahrscheinlich unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten außerhalb eines von Zehntklässlern erreichbaren Niveaus liegen“. 56 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 2.2 Bildungspolitische und curriculare Entwicklungen Der Begriff der interkulturellen kommunikativen Kompetenz hat eine lange Vorgeschichte: Von der Realienkunde über Kulturkunde, Volkstumskunde, Landeskunde, Fremdverstehen schließlich zur interkulturellen bzw. transkulturellen Kompetenz (eine ausführliche Darstellung bei D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010). Diese Entwicklung ist auch eine Entwicklung weg vom bloßen Faktenwissen über „die andere Kultur“ hin zu einer erweiterten Kommunikations- und Verstehensbereitschaft im interkulturellen Kontext (vgl. V ERNAL S CHMIDT 2011). Sprache und Kultur werden als voneinander untrennbar verstanden, so dass in der Konsequenz die interkulturelle kommunikative Kompetenz das übergreifende Kompetenzziel des Fremdsprachenunterrichts wird (vgl. H ALLET 2010: 155). Im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (E UROPARAT 2001, Kap. 5) wird von vier Dimensionen fremdsprachlichen Handelns ausgegangen: einer persönlichkeitsbezogenen, einer kognitiven, einer verhaltensorientierten und einer auf die Lernfähigkeit bezogenen Dimension. Diese als savoirs gekennzeichneten Dimensionen finden sich bereits im Modell zur interkulturellen Kompetenz von B YRAM (1997) (siehe nachfolgender Abschnitt). Die im GeR genannten Fertigkeiten (E UROPA - RAT , 2001: 106) zur interkulturellen Kompetenz finden sich in den 2004 durch die KMK eingeführten Bildungsstandards wieder. Die Einführung der Bildungsstandards mit der einhergehenden Aufwertung der interkulturellen Kompetenz und die nachfolgende Kompetenzorientierung erfordern eine explizite und systematische Förderung dieses Kompetenzbereichs. Die Bildungsstandards unterscheiden dabei drei Bereiche, die grosso modo drei unterschiedlichen Aspekten zugeordnet werden können (vgl. für das Folgende G RÜNE - WALD / K ÜSTER / L ÜNING 2010): 1. Thematisches soziokulturelles Orientierungswissen für fremdsprachliches kommunikatives Handeln (kognitiver Aspekt: Ausrichtung auf Zielkultur/ en), 2. Fähigkeiten im Umgang mit kultureller Differenz, insbesondere: Erkennen von Stereotypen, von eigen- und fremdkulturellen Eigenarten, Fähigkeiten zum Perspektivwechsel (kognitiv-attitudinaler Aspekt: Ausrichtung auf Kulturkontrastivität), 3. Strategien und Fertigkeiten zur praktischen Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen (handlungsbezogener Aspekt: Ausrichtung auf Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen). Allerdings ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass interkulturelle Kompetenz komplexer und mehrdimensionaler ist, als dies in den Modellierungen der Bildungsstandards erscheint. Sie umfasst zwar im Wesentlichen Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensdimensionen, diese sind jedoch in jeweils unterschiedlichem Maße von affektiven Komponenten wie vor allem der Empathiefähigkeit mitbestimmt. Auf der Ebene der Bewältigungsstrategien ist wiederum zwischen inter- und intrapersonalen Strategien zu unterscheiden, wobei letztere in den zweiten o.g. Bereich hineinreichen. Ferner ist in Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 57 41 (2012) • Heft 1 Bezug auf das sozio-kulturelle Orientierungswissen nicht nur Kulturspezifisches, sondern auch Kulturübergreifendes von Belang. Erstens gilt es, Schülerinnen und Schülern Einblicke in die Besonderheiten fremder Kulturräume und somit Orientierungswissen zu vermitteln, was - abhängig von Alter und Lernstand - nicht ohne Reduktionen und Simplifizierungen möglich ist. Zweitens soll deutlich werden, dass eine schematische Kontrastierung des „Eigenen“ und des „Fremden“ den stets komplexen Phänomenen von Kulturmischung nicht gerecht wird. Dadurch wird drittens ein Lernziel darin bestehen, kulturelle Praxen differenzierend zu betrachten, die unscharfen, einander überlappenden Grenzen kultureller Verortungen zu erkennen und das Wissen um sie in die jeweilige individuelle Weltsicht zu integrieren. 2.3 Fachdidaktischer Diskurs Seit Mitte der 1990er Jahre werden kulturwissenschaftliche Ansätze wie Cultural Studies, Postcolonial Studies oder Gender Studies als wichtige Bezugswissenschaften für die Fremdsprachendidaktik diskutiert, so dass inzwischen einige kulturwissenschaftliche Theorie- und Forschungsansätze innerhalb der Fremdsprachenforschung entstanden sind (vgl. K RAMER 1997; H ALLET 2002; A LTMAYER 2004). Allen Ansätzen ist gemein, dass sie versuchen, von dem in den Fremdsprachendidaktiken weiterhin stark verbreiteten essentialistischen Kulturbegriff, der zumeist auf Sprachnationen bezogen ist und Kultur als eine homogene und abgeschlossene Größe versteht, Abstand zu nehmen und ihn durch ein „weitaus differenzierteres und realistischeres Konzept zu ersetzen“ (A LTMAYER 2009: 123). In den 1990er Jahren rückten interkulturelle Aspekte fremdsprachlicher Kommunikation in den Fokus des fachdidaktischen Diskurses (vgl. H U 2010: 75). Die aus dem Ansatz der „Didaktik des Fremdverstehens“ (B REDELLA / C HRIST 1995) intendierten interkulturellen Verstehensprozesse oder die Ausbildung des „intercultural speaker“ (vgl. K RAMSCH 1998) waren konstituierende Bestandteile der kommunikativen interkulturellen Kompetenz. Das explizit für den Fremdsprachenunterricht konzeptionierte Modell interkultureller Kompetenz von Michael B YRAM (1997) ist bis heute sehr praxistauglich und soll daher kurz dargestellt werden. Byram geht davon aus, dass der Erwerb interkultureller kommunikativer Kompetenz mehr erfordert als den Erwerb von Kommunikationsfähigkeit in der fremden Sprache. Konstituierend ist der Erwerb bestimmter Betrachtungsweisen, Haltungen, kultureller Kenntnisse und interkultureller Umgangsformen. Folgerichtig unterscheidet er 5 Teilkompetenzen, die sogenannten savoirs. Kulturspezifisches Wissen über die eigene und über andere Kulturen sowie kulturallgemeines Wissen über persönliche und gesellschaftliche Interaktionsprozesse bilden die erste Teilkompetenz „savoir“ (kognitive Dimension). Unter der Teilkompetenz „savoir être“ (persönlichkeitsbezogene Dimension) werden Einstellungen wie Offenheit und Neugier subsumiert, und die Teilkompetenz „savoir comprendre“ oder „savoir apprendre“ (auf die Lernfähigkeit bezogene Dimension) bezeichnet die Fähigkeit, sich in andere kultu- 58 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 relle Zusammenhänge hineinzuversetzen und neue Kenntnisse darüber zu erwerben. Die Bewältigung interkultureller Begegnungssituationen („savoir faire“ - verhaltensorientierte Dimension) und der kritische Umgang mit kulturellen Praxen und kulturellen Produkten („savoir s’engager“ - handlungsbezogene Dimension). Auch wenn in ihm ebenfalls die affektive Dimension kulturbezogener Einstellungen nicht in vollem Umfang berücksichtigt ist, verdeutlicht das Modell interkultureller Kommunikativer Kompetenz von Michael B YRAM (1997) die Vielschichtigkeit des Konstrukts sehr viel besser als die Dreigliederung, welche die Bildungsstandards vornehmen (siehe oben). In diesem Modell werden also unterschiedliche Teilkompetenzen aufgeschlüsselt, die sich grob zusammengefasst in eine kognitive, affektive und konative Dimension unterteilen lassen (vgl. E BERHARDT 2008); eine vertikale Stufung - etwa gemäß der Niveaustufen im GeR - wird nicht vorgenommen. Zugegebenermaßen sind diese Bereiche nicht immer trennscharf, und Teilziele wie „Bereitschaft, sich auf fremde Situationen einzustellen und sich in Situationen des Alltagslebens angemessen zu verhalten“ lassen sich unter bestimmten Gesichtspunkten sowohl der Dimension des „savoir être“ als auch jener des „savoir faire“ zuordnen. Die bei B YRAM (1997) und in den Bildungsstandards (KMK 2003) ausbleibende Stufung interkultureller Kompetenz findet man dagegen im so genannten Entwicklungsmodell interkultureller Sensibilität von Milton J. B ENNETT (1986), welches auch als Grundlage für die Erhebung der interkulturellen Kompetenz im Rahmen der DESI- Studie (2008) verwendet wurde (vgl. hierzu B ENNETT 1986, E BERHARDT 2008: 278 ff, H U 2008: 297 ff). Auch Arnd W ITTE unternimmt den Versuch interkulturelle Kompetenz so zu modellieren, dass eine unterrichtstaugliche Progression nachvollziehbar wird. W ITTE (2009: 49 ff) thematisiert in seinem Stufenmodell zur interkulturellen Progression die enge Verzahnung der Identitätsentwicklung mit den sprachlich-konzeptuellen Kategorien, die dem Subjekt bei seinen Lernprozessen zur Verfügung stehen. W ITTE überführt seine Überlegungen in neun Stufen einer zyklischen (inter) kulturellen Progression zur Entwicklung interkultureller Kompetenz als Bestandteil des Fremdsprachenlernens. Es gibt allerdings kaum Studien, die systematisch den Erwerb oder das Training entlang einer angenommenen Entwicklungsfolge mit dem Ziel untersuchen, die Konstruktvalidität von Stufen interkultureller Kompetenz zu prüfen. Es ist gut nachvollziehbar, dass kulturbezogenes Wissen gegebenenfalls isoliert und ohne Zusammenhang mit Fertigkeiten oder Einstellungen überprüft werden kann, zum Beispiel unter Einsatz von Multiple-Choice-Tests. Es fehlen jedoch Verfahren, die auch Einstellungen und Fertigkeiten messen können. Ein erster Versuch wurde im Rahmen der DESI-Studie auf der Grundlage des Stufenmodells von B ENNETT unternommen (vgl. auch H ESSE 2009). 3. Konstruktion kompetenzfördernder Lernaufgaben Die im Folgenden zu entwickelnden Teilaufgaben verfolgen das Ziel, Teilkompetenzen (in Anlehnung an die 5 savoirs) der interkulturellen Kompetenz zu fördern bzw. anzu- Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 59 41 (2012) • Heft 1 bahnen. Sie können als Teil einer komplexen Kompetenzaufgabe eingesetzt werden. H ALLET (2011: 143 ff) stellt ein umfassendes Modell zur Konstruktion von komplexen Kompetenzaufgaben vor. Eine echte Kompetenzaufgabe müsse die Komplexität des Bündels aus Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen und Einstellungen abbilden (ebd.: 146). Da im Folgenden lediglich Teilaufgaben entwickelt werden, wird das Modell wie folgt adaptiert: 1. Kompetenzziele: Die Ziele, die mit der Bearbeitung der Kompetenzaufgabe intendiert sind, werden so konkret wie möglich definiert. 2. Thema, Inhalte: Nicht das übergreifende Rahmenthema, wohl aber die Inhalte und Themen, die mit der Teilaufgabe verbunden sind, können jeweils genannt werden. 3. Input: Es können nur jene Texte, Bilder, Materialienbenannt werden, die für die Teilaufgabe vorgesehen sind. Die thematische Kohärenz mit den Materialien einer möglichen umfassenderen Lerneinheit ist hier nicht darstellbar. 4. Sprachliche Mittel: An dieser Stelle sollen benötigte lexikalische Elemente und sprachliche Strukturen benannt werden. Wichtig ist jedoch, dass bei den folgenden Aufgaben nicht der Erwerb neuer sprachlicher Strukturen im Vordergrund steht. 5. Aufgabeninstruktion: Hier wird eine mögliche Aufgabenstellung zur Teilaufgabe formuliert. Die Aufgaben verstehen sich als Teil komplexer Kompetenzaufgaben, die das Potenzial haben, Kompetenzen über einen längeren Zeitraum zu entwickeln und darüber hinaus den Spanischbzw. Französischunterricht attraktiv zu gestalten (für eine ausführliche Darstellung der Einbettung von Kompetenzaufgaben in den Unterricht und für Kriterienkataloge zur Evaluation von Lernaufgaben vgl. H ALLET 2011 und B ECHTEL 2011). 4. Aufgabenbeispiele 4.1 Critical Incidents zur Förderung der interkulturellen Kompetenz 1 Der Begriff Critical Incident (CI) beschreibt Situationen, die entweder als problematisch oder aber als besonders gelungen hinsichtlich des Ziels, ein praktisches Problem zu lösen, angesehen werden. Damit können CIs einen Beitrag zur Entwicklung und Förderung von Kompetenzen leisten (vgl. G ÖBEL 2003). In Deutschland wurden CIs mit der Zielsetzung der Förderung der interkulturellen Kompetenz insbesondere zur Vorbereitung von Auslandsaufenthalten z.B. im Bereich der Wirtschaftskommunikation eingesetzt. So können CIs kulturelle Missverständnisse beschreiben und einen Anlass dafür darstellen, Reflexionen über kulturell geladene Situationen anzuregen. 1 Die Materialien und Aufgabenbeispiele finden sich ungekürzt unter: www.andreasgruenewald.de/ flul2012 . 60 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 Im Projekt MuMiS (Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kommunikation im Studium) wurden CIs gesammelt und didaktisch aufbereitet, die im Rahmen von internationalen Studierendenaustauschen entstanden. Der folgende CI beschreibt die Situation einer spanischen Studierenden in Deutschland und ist der oben genannten Datenbank entnommen (D45 Alba, vgl. S CHUMANN 2011): Die spanische Studentin Alba verbringt ein Auslandssemester in Deutschland, um dort einen Teil ihres Studiums zu absolvieren. Sie wohnt in Deutschland zum ersten Mal in ihrem Leben fern von der Familie in einem Studentenwohnheim und wundert sich darüber, wie viele deutsche Studenten nicht mehr bei ihren Eltern wohnen, obwohl diese ganz in der Nähe der Universität bzw. der Universitätsstadt leben. Die meisten ihrer deutschen Kommilitonen leben entweder in einer Wohngemeinschaft oder haben eine kleine Wohnung für sich allein. In Spanien wäre so etwas nicht denkbar. 1. Warum wundert sich die Spanierin, dass deutsche Studierende nicht mehr bei den Eltern wohnen? 2. Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass viele deutsche Jugendliche mit Beginn ihres Studiums von zu Hause ausziehen? Hier wird die eigentliche Funktion von CIs deutlich: Eine kulturell nicht eindeutig interpretierbare Situation soll aufgeklärt werden. Gegenseitiges Verständnis beruht auf dem Wissen darüber, warum andere kulturelle Praxen existieren und wie diese funktionieren. Für den oben genannten Fall würde im Zuge einer Recherche festgestellt werden, dass die meisten Studierenden in Spanien noch bei den Eltern wohnen, da sie sich keine eigene Wohnung leisten können und finanziell noch von ihren Eltern abhängig sind. Die Finanzierung des kostenpflichtigen Studiums in Spanien und weniger Studentenjobs führen dazu, dass spanische Studierende relativ wenig Geld für ihre Lebenshaltungskosten während des Studiums zur Verfügung haben. Hinzu kommt, dass spanische Studenten meist die nächstgelegene Universität wählen, „um während des Studiums bei ihrer Familie bleiben zu können, denn die Familie hat in der spanischen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert, und jeder ist bemüht, sich nicht allzu weit von ihr zu entfernen“ (ebd.). Um die Situation aufzulösen, ist auch ein Blick auf die eigene kulturelle Praxis notwendig. Hier könnte man argumentieren, dass für deutsche Studierende die Studienzeit eine Phase der Loslösung vom Elternhaus darstellt. Eine eigene Wohnung zu haben oder in einer Wohngemeinschaft zu leben, gehört zum Selbstverständnis der meisten Studierenden (vgl. ebd.). In Deutschland existieren darüber hinaus staatliche Unterstützungen, wie z.B. BAföG, die oft eine Grundsicherung stellen. Dennoch werden sehr viele Studenten auch in Deutschland finanziell von den Eltern unterstützt und sind daher ebenfalls in gewisser Weise von ihnen abhängig. In der Regel unterstützen die Eltern aber das Ausziehen der jungen Studierenden aus dem Elternhaus, sehen dies als einen wichtigen Schritt ins Erwachsenenleben an und sind bereit, die Selbstständigkeit ihrer Kinder zu fördern. Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 61 41 (2012) • Heft 1 Diese Einschätzung wird durch einige Zahlen der E UROPÄISCHEN K OMMISSION (2008) gestützt, denen zufolge 54% der Frauen und 71% der Männer zwischen 18 und 24 in Deutschland bei ihren Eltern leben, in Frankreich sind es 55% (F) und 70% (M), in Spanien 81% (F) und 90% (M) (vgl. E UROPÄISCHE K OMMISSION 2008: 22). Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise in Spanien mit der einhergehenden hohen Jugendarbeitslosigkeit wird sich dieser Trend voraussichtlich noch verstärken. Daher eignet sich dieser CI eher für den Spanischunterricht und wird im Folgenden entsprechend weiterentwickelt. Anlässe für CIs sowohl für den Französischals auch für den Spanischunterricht (spanischsprachige Länder) gibt es in großer Zahl. Die Schwierigkeit besteht darin, für die Schülerinnen und Schüler relevante Situationen zu schildern. In Adelante Band 1, einem Spanischlehrwerk für die spätbeginnende Fremdsprache, wird beispielsweise die Konfusion des deutschen Praktikanten Tim zum Anlass für kulturkontrastierende Reflexionen genommen; Tim sucht eine Wohnung und findet den angegebenen Namen nicht auf dem Klingelschild, er weiß nicht, dass in Spanien, wie oft auch in Frankreich, bei Mehrfamilienhäusern die Lage der Wohnung und nicht der Familienname angegeben ist. Tim zieht also in eine Wohngemeinschaft und möchte dort seinen Einstand feiern (Adelante 2010: 64 f). Hier entwickelt sich nun folgender CI: Tim möchte gerne zu Hause feiern, die spanischen Mitbewohner gehen aber zunächst selbstverständlich davon aus, dass die Feier in einer nahegelegenen Bar stattfindet. Zwar wird diese Situation zum Anlass genommen, Gebräuche und Konventionen in Spanien und im deutschsprachigen Raum bewusst zu machen, eine weitergehende Reflexion findet jedoch nicht statt. Auch wird das Problem im Verlauf der Lektion nicht weiter verfolgt. Für die vorliegende Aufgabe wird der CI daher weiterentwickelt und vor allem mit anschließenden Reflexionsaufgaben versehen ( Tabelle: Teilaufgabe A). Kompetenzziele • Sensibilisierung für die Relativität eigener Denk- und Lebensweisen (savoir être) • Sozio-kulturelles Orientierungswissen (savoir) • Förderung von Offenheit und Neugier gegenüber kultureller Praxen (savoir être) • Bereitschaft, sich auf fremde Situationen einzustellen und sich in Situationen des Alltagslebens angemessen zu verhalten (savoir comprendre, savoir faire) • Hineinversetzen in Befindlichkeiten und Denkweisen der anderskulturellen Partner (savoir comprendre, savoir faire) • Wahrnehmung kultureller Differenzen, Missverständnisse und Konfliktsituationen (savoir) • Kontextadäquate Verständigung und gemeinsames Handeln (savoir comprendre, savoir faire) Thema, Inhalte Ben verbringt nach seinem Schulabschluss eine Zeit in Spanien, um ein Praktikum bei einer deutschen Firma zu machen. Er zieht in eine Wohngemeinschaft von spanischen Studierenden ein. 62 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 Thema, Inhalte Gerne möchte er seinen Einzug feiern und die Gelegenheit nutzen, einige andere Praktikanten und Freunde der Mitbewohner zu einer kleinen Feier einzuladen. Als er die Idee mit seinen Mitbewohnern bespricht, sind diese zunächst begeistert, wollen aber nicht, dass die Feier in der Wohnung stattfindet sondern schlagen vor, in einer nahegelegenen Bar zu feiern. Input Critical Incident, Feste feiern in Spanien. Materialien zum Download Sprachliche Mittel • Eine Diskussion führen • Argumente austauschen • Lexik im Bereich Feste feiern, einladen, widersprechen Aufgabeninstruktion Lee atentamente la situación descrita abajo. Contesta las siguientes preguntas: ¿En qué consiste el problema? ¿Cómo podría argumentar Ben? ¿Qué argumentos podrían tener Laura, Marta, Hugo y Daniel? ¿Cómo lo ves tú? ¿Dónde sueles hacer fiesta cuando invitas a tus amigos? ¿Puedes imaginarte por qué en España se prefiere hacer fiesta en un bar y no en casa? ¿Cuál es tu opinión acerca de la declaración que en Alemania se prefiere hacer fiesta con los amigos en casa, no en un bar? Teilaufgabe A - Spanisch: Arbeit mit einem Critical Incident Diese Aufgabe könnte z.B. weitergeführt werden, indem die Schülerinnen und Schüler den Dialog fortführen, sich zusätzliche Argumente ausdenken und schließlich eine Lösung entwerfen, in der die unterschiedlichen kulturellen Praxen Berücksichtigung finden. Es wäre ebenfalls denkbar, die Situation dahingehend weiterzuentwickeln, dass man z.B. nach Musik für die Party recherchiert, die derzeit in Spanien in den Charts steht und diese mit den Musikcharts in Deutschland vergleicht. Die Reflexion darüber, warum diese unterschiedlichen kulturellen Praxen bestehen, führt dazu, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit ihrer eigenen kulturellen Praxis auseinandersetzen und Mutmaßungen darüber anstellen, warum ihre Altersgenossen eine Party eher in die Kneipe verlegen würden. Mögliche Aspekte sind: • In Spanien beginnt man erst sehr spät zu feiern. Am Wochenende erst ab Mitternacht und dann nicht selten bis 5, 6 oder 7 Uhr morgens. Man stelle sich das in einer Mietwohnung mit Nachbarn vor. • Freundschaftliche Beziehungen sind in Spanien tendenziell eher außerhalb des eigenen Wohnraumes angesiedelt. Den Bekanntenkreis trifft man eher auf der Straße oder in der Bar. • Das Feiern in der Bar hat praktische Vorteile wie z.B. ein großes typisches Angebot an Tapas, verschiedene Getränke, abwechslungsreiche Musik und ist nicht mit Vorbereitungs- oder Aufräumarbeiten verbunden. • Das Leben findet in Spanien generell vermehrt außerhalb der eigenen vier Wände statt, was mit dem wärmeren Klima zu tun haben könnte. Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 63 41 (2012) • Heft 1 • Die Spanier gehen im Allgemeinen viel häufiger außerhalb, z.B. in einer bodega essen und treffen sich dort, um mit Freunden oder einfach in Gesellschaft etwas zu trinken. Das Essen ist für die meisten erschwinglich, es gibt sehr gute Angebote z.B. den Mittagstisch oder das abendliche menú . Letztlich geht es darum, Verständnis und Verstehen anhand dieser (typischen) Situationen zu entwickeln, um einerseits für etwaige vergleichbare Kommunikationssituationen gerüstet zu sein, andererseits aber auch grundsätzliche Offenheit für kulturelle Differenzen anzubahnen und die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Praxis zu initiieren. 4.2 Sprachmittlung als interkulturelle Herausforderung H ALLET (2008: 2) bezeichnet die Sprachmittlung als Normalfall in der Alltagskommunikation innerhalb mehrsprachiger Gesellschaften, die Sprachmittlung sei daher eine der Säulen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik. Mit der Einführung der Bildungsstandards 2004 wurde die Sprachmittlung als eine weitere Fertigkeit neben den klassischen vier Fertigkeiten etabliert. Idealerweise versteht der Sprachmittler einen Input in einem situativen Kontext, reduziert ihn inhaltlich und vor allem sprachlich, vereinfacht und übermittelt ihn sinngemäß. Ich verstehe im Folgenden unter Sprachmittlung die Übertragung von Kommunikationsinhalten und -funktionen aus einer Sprache in die andere (in beide Richtungen). Zwei Spezifika von Sprachmittlung sind hier hervorzuheben: Zum einen die Konstellation, dass der Sprachmittler zwischen Gesprächspartnern, die über keine gemeinsame Sprache verfügen und somit nicht direkt miteinander kommunizieren können, eine indirekte Verständigung herstellt. Zum anderen ist hier die Verwendung des Wortes ‚Übertragung‘ im Gegensatz zu ‚Übersetzung‘ von entscheidender Bedeutung. Der GeR hat 2001 auf die Notwendigkeit der Sprachmittlung im mehrsprachigen Alltag hingewiesen. Der Ausrichtung des GeR (pragmatischer Sprachbegriff, Primat des Kommunikationszweckes, alltagsweltlicher Kontext) nach, kann hiermit also nicht die genaue schriftliche oder mündliche Übersetzung eines Ausgangstextes in die Zielsprache verstanden werden (vgl. ebd.: 4). Wortgetreues Übersetzen oder Dolmetschen entsprechen nicht den kommunikativen Anforderungen im Alltag, „die auf Sicherung der Kommunikation, auf die Herstellung oder Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit der Beteiligten oder auf die effiziente Bewältigung von Situationen gerichtet sind“ (ebd.). Im Rahmen einer Sprachmittlungsaufgabe müssen Schülerinnen und Schüler Folgendes leisten (vgl. K IEWEG 2008): • Der Sinn des Originals muss wiedergegeben werden, hierzu muss das Wesentliche vom Unwesentlichen unter Zuhilfenahme von fachlichem und allgemeinem Weltwissen wiedergegeben werden. • Inhaltlich komplexe Aussagen müssen weitgehend verständlich weitergegeben werden, auch hier ist keine Übersetzung gefragt, sondern im Sinne inhaltlicher 64 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 Sprachmittlung die sinngemäße Übertragung. Auf formale Genauigkeit kommt es eher nicht an. • Sprachmittlung verlangt die Fähigkeit, sich an unterschiedliche Diskurstypen anpassen zu können. • Der Sprachmittler muss unter Zuhilfenahme des sprachlichen und situativen Kontextes sprachmitteln, auch wenn er selbst den Input nicht vollständig versteht. Er muss immer den Adressaten im Blick haben und kann bei Bedarf persönliche Zusätze oder kontextrelevante Erklärungen hinzufügen. • Sprachmittlung verlangt vom Sprachmittler die Nutzung seiner interkulturellen Kompetenz, die Aktivierung seines sozio-kulturellen Orientierungswissens, da häufig auch interkulturell differente Konzepte, Verhaltensweisen und Erwartungshaltungen vermittelt werden müssen. Die besondere Rolle von Sprachmittlungsaufgaben für die Anbahnung der interkulturellen Kompetenz, aber auch die Notwendigkeit des Rückgriffs auf dieselbe bei der Bearbeitung von Sprachmittlungsaufgaben, wird in neueren Beiträgen immer wieder plausibel begründet (u.a. H ALLET 2008, K IEWEG 2008, R ÖSSLER 2008, 2009, C ASPARI / S CHINSCHKE 2009, 2010). Dabei werden im Wesentlichen folgende Aspekte herangezogen: • Sprachmittlungsaufgaben bieten die Gelegenheit, mehrsprachige Kommunikationssituationen im Fremdsprachenunterricht zu simulieren und stellen damit für die Schüler einen realitätsnahen Kontext dar. • Die Lerner müssen mit der eigenen sprachlichen Begrenztheit umgehen und einen Sprachstil mithilfe der eigenen sprachlichen Möglichkeiten vereinfachen, ohne sich dadurch demotivieren zu lassen. • Für erfolgreiches Sprachmitteln benötigen die Schüler fremdsprachliches Wissen und Können, allgemeines Weltwissen, sozio-kulturelles Orientierungswissen über die eigene und über die Kultur(en) der Zielsprache. • Die Sprachmittler befinden sich in der Regel in einer Situation, in der Offenheit und Neugier gefragt ist, daher können letztlich Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden. • Die Sprachmittlungssituation erfordert einen Perspektivwechsel. Denn der Sprachmittler erlebt „die Rolle des Muttersprachlers und des Fremdsprachlers“ (H ALLET 1995: 292) in einer Person. • Der Sprachmittler muss über ein gut entwickeltes interkulturelles Problembewusstsein verfügen (soziale Gewohnheiten, kulturelle Praxen, kulturell geladene Lexik, soziokulturelles Orientierungswissen), welches er bei Bedarf dem Adressaten zusätzlich vermitteln muss. Kulturspezifische Begriffe müssen unter Rückgriff auf Strategien umschrieben oder erklärt werden. • In der mündlichen Sprachmittlung tritt hinzu, dass Schüler über relevante Kommunikations- und Reparaturstrategien zur Klärung von Critical Incidents verfügen müssen. Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 65 41 (2012) • Heft 1 Als Einstieg für die nachfolgend dargestellte mündliche Sprachmittlungsaufgabe bietet sich für den Spanischunterricht an, mit dem Ausschnitt einer auf Deutsch übersetzten Speisekarte von den Kanarischen Inseln zu arbeiten. Dabei geht es insbesondere darum, die Schülerinnen und Schüler dafür zu sensibilisieren, dass Sprachmittlung nichts mit Übersetzung im eigentlichen Sinne zu tun hat. Abb. 1: Ausschnitt aus einer kanarischen Speisekarte (auf Deutsch übersetzt) Für die Erstellung der - kaum zu verstehenden - Speisekarte wurde offensichtlich entweder mit einem automatischen Übersetzungsprogramm oder sehr unbeholfen mit dem zweisprachigen Wörterbuch gearbeitet. Die Entschlüsselung von vermeintlich deutschen Bezeichnungen wie „1/ 2 Huhn mit Päpsten Briet und Salat“ oder „Gebratener Hamburger, Päpste und Spiegeleier“ kann für Schülerinnen und Schüler sehr erhellend und zugleich unterhaltsam sein. Ihnen wird anschaulich vor Augen geführt, dass Wortzu-Wort-Übersetzungen häufig zu unverständlichen Aussagen führen und die Arbeit mit dem Wörterbuch kein Garant für gelungene Übersetzungen oder Sprachmittlung darstellt. Im angesprochenen Beispiel könnte man durch eine Rückführung und unter Zuhilfenahme sozio-kulturellen Orientierungswissens darauf kommen, dass auf den Kanarischen Inseln für Bratkartoffeln = patatas fritas auch papas fritas verwendet wird. Im Wörterbuch findet man unter „papa“ zwar auch Kartoffel als Variante, der Ersteintrag bezieht sich jedoch auf das Oberhaupt der katholischen Kirche, den Papst. Zwar wird „fritas“ auf „fritar“ (braten) zurückgeführt, dann aber falsch ins Deutsche als 66 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 Imperfektform übertragen. Daraus entstehen dann die „Päpste Briet“. Diese „Detektivarbeit“ lässt sich auch erfolgreich mit den anderen Gerichten vollziehen. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler nicht über das notwendige Vorwissen verfügen, ist die Beschäftigung mit diesem Speisekartenauszug aus den oben genannten Gründen eine wertvolle Vorarbeit. Die eigentliche Teilaufgabe zur Sprachmittlung ist in eine ähnliche kommunikative Situation eingebettet und lässt sich sowohl für den Französischals auch für den Spanischunterricht einsetzen. Kompetenzziele • Sensibilisierung für die Relativität eigener Denk- und Lebensweisen (savoir être) • Erweiterung des sozio-kulturellen Orientierungswissens (savoir) • Förderung von Offenheit und Neugier gegenüber kultureller Praxen (savoir être) • Hineinversetzen in Befindlichkeiten und Denkweisen der fremdkulturellen Partner (savoir faire, savoir comprendre) • Wahrnehmung kultureller Differenzen, kontextadäquate Verständigung (savoir, savoir comprendre) • Training der Sprachmittlungsfertigkeit (savoir faire, savoir comprendre) • Aufbau eines interkulturell bedeutsamen Wortschatzes (savoir, savoir faire) Thema, Inhalte Mündliche Sprachmittlungsaufgabe zum Bereich Essen, Trinken, Speisekarte Input Deutschsprachige Speisekarte mit kulturell spezifischen Speisen und Getränken Sprachliche Mittel • Wortschatz zu Speisen und Getränken • Worterklärungen und Beschreibungen bzw. Umschreibungen • Vokabular zur Verstehensabsicherung Aufgabeninstruktion Du machst mit deinem französischen / spanischen Austauschschüler einen Ausflug in die Stadt. Ihr habt Hunger und Durst und setzt euch in ein kleines und einfaches Restaurant. Dein Austauschschüler versteht die Speisekarte nicht und fragt dich, was es zu essen und zu trinken gibt. Erkläre ihm die Angebote auf der Speisekarte. Anschließend: War die Sprachmittlung eher schwierig oder einfach? Was fiel dir besonders schwer, was besonders leicht? Gab es Speisen oder Getränke, die du überhaupt nicht erklären konntest? Woran könnte das gelegen haben? Teilaufgabe B - Französisch und Spanisch - Sprachmittlung Austauschfahrten nach Frankreich oder Spanien sind in aller Regel reziprok, und die Schülerinnen und Schüler empfangen ihre Gastschüler in Deutschland. Häufig kommt Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 67 41 (2012) • Heft 1 es bei freien Aktivitäten zu der Situation, dass man unterwegs kurz in ein Lokal einkehrt oder etwas an einem Imbiss zu sich nimmt. Die Abbildung 2 zeigt eine vermeintlich einfache Speisekarte, die sich für die Sprachmittlung allerdings als äußerst komplex entpuppt. Abb. 2: Speisekarte 68 Andreas Grünewald 41 (2012) • Heft 1 Für die meisten der dort aufgeführten Speisen und Getränke gibt es keine adäquate Übertragungsmöglichkeit. 2 Was entspricht etwa einem Bauernfrühstück oder einem KiBa (Kirsch-Bananensaft) in Frankreich oder Spanien? Die Schülerinnen und Schüler werden also mit der Situation konfrontiert, sprachlich und kulturell spezifische Getränke und Speisen auf möglichst einfache Art und Weise dem französischen oder spanischen Austauschschüler zu vermitteln. Sie werden für kulturelle Eigenarten des eigenen Kulturraumes sensibilisiert und versuchen, sich in die Perspektive des Gastschülers und dessen kulturelle Eigenarten hineinzuversetzen. Sie müssen produktiv mit der eigenen sprachlichen Begrenztheit umgehen und auch entscheiden, welche der aufgeführten Speisen sie überhaupt mitteln können. Auf jeden Fall werden die Lerner feststellen, dass manche Speisen sich aufgrund kultureller Spezifika allerhöchstens beschreibend erklären lassen, jedoch nicht erfolgreich übersetzt werden können (z.B. Bauernfrühstück oder Jägerschnitzel). Der für Sprachmittlungsaufgaben entscheidende Aspekt der Interaktion lässt sich im Klassenraum nur begrenzt simulieren, da die Schülerinnen und Schüler in der Regel über ein konsensuelles sozio-kulturelles Orientierungswissen verfügen, was die Rolle des „Sprachmittlers“ sehr vereinfacht. Als Vorbereitung für den „Ernstfall“ ist es dennoch sinnvoll, diese Aufgabe in Partnerarbeit durchzuführen. 5. Fazit Die in diesem Beitrag nur sehr knapp skizzierten Ansätze zur Entwicklung, Dimensionierung bzw. Modellierung interkultureller Kompetenz sind wichtige Schritte, um den Bereich sprachlich-kulturellen Lernens konkreter und damit auch in der Unterrichtspraxis anwendbar zu machen. Insbesondere die konkreten Teilaufgaben A und B verdeutlichen, dass die Förderung beziehungsweise die Anbahnung der interkulturellen Kompetenz nicht nur ein wichtiges, sondern auch ein durchaus umsetzbares Ziel für den Fremdsprachenunterricht darstellt. Auf der Ebene konkreter Praxisbeispiele konnte die Funktion von Critical Incidents zur Förderung der interkulturellen Kompetenz aufgezeigt werden. Der Sprachmittlung wird seit 2004 durch die Ausweisung als kommunikative Fertigkeit im Kompetenzraster der KMK vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Die besondere Bedeutung der Sprachmittlung für die Anbahnung interkultureller Kompetenz konnte exemplarisch dargestellt werden. Dabei ist die wechselhafte Beziehung noch einmal herauszustellen: Eine Sprachmittlungsaufgabe erfordert einerseits interkulturelle Kompetenz, andererseits dient sie auch dazu, diese auszubauen. Schließlich stellt sich die Frage nach der Evaluation beziehungsweise der Messbarkeit von interkultureller Kompetenz. Erste Ansätze wurden oben geschildert (B ENNETT 1986, DESI-K ONSORTIUM 2008, H ESSE 2009, W ITTE 2009). Es bleibt allerdings offen, 2 Da sich die Bezeichnungen für einige Speisen und Getränke nur recht schwer in eine andere Sprache [oder: ins Spanische und Französische] übertragen lassen, stehen Lösungsansätze zu einer möglichen Sprachmittlung als Download bereit (siehe Fußnote 1, S. 59). Förderung interkultureller Kompetenz durch Lernaufgaben 69 41 (2012) • Heft 1 ob der Bereich des interkulturellen Lernens, der auf Einstellungen, Sichtweisen, Empathiefähigkeit und dergleichen abzielt, überhaupt einer psychometrischen Messung zugänglich ist. Dies setzte voraus, dass jede Teilkompetenz in trennscharfe Feinziele aufgegliedert werden könnte. B YRAM (1997: 105) unternimmt schon früh einen derartigen Versuch, stellt diese Vorgehensweise aber selbst in Frage, da er die Atomisierung der eigentlich eng miteinander verzahnten Teilkompetenzen als ein Problem sieht. Er schlägt daher als eine mögliche Lösung das Portfolio als Evaluationsinstrument für die interkulturelle Kompetenz vor. Der Lernende wird durch eine Reihe von Fragen angeregt, eine interkulturelle Erfahrung detailliert zu beschreiben und dann in kognitiver, affektiver und kritischer Weise zu analysieren (vgl. H U 2008: 303). Derzeit sehe ich die interkulturelle Kompetenz als ein zu erreichendes pädagogisches Ziel an, dessen Messung nur in Teilbereichen möglich sein wird. Literatur A DELANTE (2010): Lehrwerk für den Spanischunterricht. Band 1. Klett: Stuttgart. 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It then briefly describes three different approaches to defining test constructs, favouring an interactive approach which takes both linguistic competencies and task characteristics into account. Subsequently, pertinent psycholinguistic aspects are dealt with in some detail, including the relationship between listening and reading comprehension processes, the dimensionality of listening comprehension and the importance of understanding difficulty-generating task characteristics. In the final section, the author concludes that the ability to process realistic spoken language automatically in real time is at the core of listening comprehension construct and should hence be the primary focus of assessment tasks. 1. Bedeutung von Hörverstehen Hörverstehen spielt sowohl in der Alltagskommunikation als auch in vielen universitären und beruflichen Kontexten eine wichtige Rolle. Trotz dieser faktischen Bedeutsamkeit wurde zumindest in Deutschland die Vermittlung und die Überprüfung der fremdsprachlichen 1 Hörverstehenskompetenz lange Zeit nicht gebührend beachtet. In jüngerer Zeit ist allerdings ein deutlicher Wandel zu beobachten. Im deutschen Schulkontext belegen dies u.a. die Ausführungen zum Hörverstehen in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache Englisch/ Französisch (vgl. KMK 2004) und die zur Implementierung und Überprüfung der Bildungsstandards entwickelten Hörverstehensaufgaben (vgl. P ORSCH / T ESCH / K ÖLLER 2010; R UPP / V OCK / H ARSCH / K ÖLLER 2008). Auch in der Fachliteratur ist sowohl in Deutschland als auch international ein verstärktes Interesse an Fragen der Vermittlung und des Testens des Hörverstehens zu beobachten. In diesem Zusammenhang werden angesichts der Wichtigkeit multimodaler Medienkompetenz für die heutige Informationsgesellschaft auch zunehmend Aspekte des Hör-Seh- Verstehens thematisiert. Im Hinblick auf die Testung des Hörverstehens ist von zentraler Bedeutung, was unter Hörverstehen zu verstehen ist. Denn ohne ein tiefer gehendes Verständnis und * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Rüdiger G ROTJAHN , Ruhr-Universität Bochum, Seminar für Sprachlehrforschung, 44780 B OCHUM . E-Mail: ruediger.grotjahn@rub.de Arbeitsbereiche: Sprachtestforschung, Forschungsmethodologie, Lernerfaktoren 1 „Fremdsprache“ ist im Folgenden in einem weiten Sinne zu verstehen, der die Bedeutung „Zweitsprache“ mit einschließt. Aus Platzgründen bleiben Unterschiede zwischen fremdsprachlichem und zweitsprachlichem Hörverstehen unberücksichtigt. Hörverstehen: Konstrukt und Messung 73 41 (2012) • Heft 1 eine genaue Beschreibung des Konstrukts können weder begründet Aufgaben und Instrumente zur Messung des Hörverstehens entwickelt werden noch die Güte vorliegender Aufgaben und Instrumente beurteilt werden. Ich werde mich deshalb im Folgenden vor allem mit Aspekten der Konstruktdefinition beschäftigen. Dazu gehe ich zunächst kurz auf drei Ansätze der Konstruktdefinition ein. Anschließend beschäftige ich mich relativ ausführlich mit psycholinguistischen Aspekten des Hörverstehens und der Aufgabenkonstruktion. Der Beitrag schließt mit einigen generellen Implikationen aus den Darlegungen zur Konstruktdefinition und Aufgabenkonstruktion für die Messung des Hörverstehens. Argumentiert wird insgesamt aus der Perspektive standardisierten Testens. Aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben spezifische Aspekte der Testung des Hör-Seh-Verstehens. Aktuelle Hinweise hierzu finden sich in P ORSCH / G ROTJAHN / T ESCH (2010). 2. Kompetenzorientierte vs. aufgabenbasierte Definition des Testkonstrukts Theoretisch und empirisch begründete Modellvorstellungen zu den psycholinguistischen Merkmalen des Hörverstehens sowie zu den psycholinguistischen Anforderungen der zu konstruierenden Aufgaben sind zusammen mit einer Beschreibung der Testkandidaten und der Testziele die Basis für die Definition des Testkonstrukts, d.h. der zu messenden Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände. Eine adäquate Definition des Testkonstrukts ist damit von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von validen Hörverstehenstests. Bei der Definition des Testkonstrukts kann man mit B UCK (2001: 102 ff) und anderen Autoren folgende drei Vorgehensweisen unterscheiden: a) einen kompetenzbasierten Ansatz; b) einen aufgabenbasierten Ansatz und c) einen interaktiven Ansatz in Form einer Verbindung von kompetenz- und aufgabenorientierten Vorstellungen. 2 Beim kompetenzbasierten Ansatz der Konstruktdefinition geht man davon aus, dass die im Test gezeigte Leistung ein Indikator lernerseitiger Kompetenzen ist - so z.B. sprachlicher und strategischer Kompetenzen im Rahmenmodell des Hörverstehens bei B UCK (2001: 104). Entsprechende Kompetenzen sind nicht direkt beobachtbar und werden als relativ stabil im Hinblick auf kontextuelle und aufgabenspezifische Faktoren angesehen. Die entscheidende Frage bei einer rein kompetenzbasierten Definition des Konstrukts Hörverstehen ist, inwieweit eine gezeigte Leistung, wie z.B. die korrekte Lösung von Mehrfachwahlaufgaben, ein valider Indikator der nicht direkt beobachtbaren zugrundeliegenden Kompetenz Hörverstehen ist. Bei einem streng aufgabenbasierten Ansatz ist man dagegen in erster Linie daran interessiert, welche Aufgaben die Testteilnehmer lösen können. Unterschiede zwischen 2 B UCK (2001) stützt sich seinerseits vor allem auf die grundlegende Arbeit von C HAPELLE (1998). Weitere Hinweise zur Berücksichtigung der Interaktion von Fähigkeiten und Kontextfaktoren bei der Konstruktdefinition findet man z.B. bei B ACHMAN (2007) und C HALHOUB -D EVILLE / D EVILLE (2006). 74 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 den Testteilnehmern werden hier nicht auf Unterschiede in zugrunde liegenden Kompetenzen, sondern auf Kontext- und Aufgabenmerkmale zurückgeführt. Die Aufgaben werden so gewählt, dass sie die zielsprachliche Verwendungsdomäne (im Sinne von B ACHMAN / P ALMER 2010: 60) möglichst adäquat repräsentieren. Ist dies der Fall, dann lässt sich relativ direkt von der Testleistung auf entsprechende Leistungen außerhalb der Testsituation schließen. Ein streng aufgabenbasierter Ansatz vermeidet damit zwar das Problem der Validität des Schlusses von Testleistungen auf zugrunde liegende Kompetenzen, nicht jedoch das Problem der Inhaltsvalidität der eingesetzten Aufgaben in Bezug auf die zielsprachliche Verwendungsdomäne. Dies ist vor allem dann ein gravierendes Problem, wenn die zielsprachliche Verwendungsdomäne nicht adäquat beschrieben werden kann oder wenn z.B. aus testökonomischen Gründen nur relativ wenige Aufgaben eingesetzt werden können. Der interaktive Ansatz bei der Definition des Testkonstrukts führt die gezeigte Leistung sowohl auf zugrunde liegende Kompetenzen als auch auf Merkmale von Aufgaben zurück. Während beim reinen aufgabenbasierten Ansatz entscheidend ist, dass die Testaufgaben möglichst weitgehend mit den im zielsprachlichen Verwendungskontext zu lösenden kommunikativen Aufgaben übereinstimmen, ist beim interaktiven Ansatz entscheidend, dass die Lösung der Testaufgaben ähnliche Kompetenzen verlangt wie die Lösung relevanter zielsprachlicher Aufgaben. B UCK (2001: 111) argumentiert zu Recht, dass der interaktive Ansatz das größte (praktische) Potenzial für die Testentwicklung aufweist. Entsprechend gehen aktuelle Testentwicklungsprojekte mittlerweile zumeist von komplexen interaktiven Vorstellungen bei der Definition des Testkonstrukts aus (vgl. z.B. B ACHMAN / P ALMER 2010; W EIR 2005). Auch ich werde im Folgenden ein interaktives Modell zugrunde legen. 3. Psycholinguistische Merkmale des Hörverstehens 3 Fremdsprachliches Hörverstehen beinhaltet die Rezeption akustisch präsentierter Sprache durch einen Hörer, wobei dieser das Ziel verfolgt, eine mentale semantische Repräsentation der akustisch präsentierten Informationen aufzubauen. Dementsprechend charakterisiert M EIßNER (2006: 258) Hörverstehen auch als einen „Prozess, in dem sensorisch einlaufende verbal-lautliche Daten Sinnkonstruktionen auslösen“. Weder der Prozess des Hörverstehens noch das Produkt in Form des erzielten Hörverständnisses sind unmittelbar beobachtbar. Beobachtbar sind lediglich bestimmte Reaktionen des Rezipienten, wie z.B. eine Verständnis oder Unverständnis signalisierende Antwort auf eine Frage oder eine nichtsprachliche Reaktion, so etwa das Schließen eines Fensters als Reaktion auf eine Äußerung wie „Es ist kalt“; oder auch das Ankreuzen einer bestimmten Antwortoption in einem Test. In ihrer nicht direkten Beobachtbarkeit unter- 3 Die Ausführungen des Abschnitts 3 beruhen in Teilen auf G ROTJAHN / T ESCH (2010a: Abschnitt 2.2.3.1) sowie G ROTJAHN (2003: Kap. 6), G ROTJAHN (2005) und G ROTJAHN (in Vorbereitung). Hörverstehen: Konstrukt und Messung 75 41 (2012) • Heft 1 scheidet sich das Hörverstehen ähnlich wie das Leseverstehen in zentraler Weise von den produktiven Teilkompetenzen des „Sprechens“ und des „Schreibens“. Bei der Modellierung des fremdsprachlichen Hörverstehens kann man in Anlehnung an das Leseprozessmodell von K HALIFA / W EIR (2009: 42) u.a. folgende Komponenten, Ebenen und Prozesse unterscheiden (vgl. auch G ROTJAHN / T ESCH 2010b: 95): a) eine metakognitive Komponente mit Prozessen wie: Entscheidung über ein Hörziel; Wahl einer dem Ziel entsprechenden Hörstrategie; Überwachung des Hörprozesses (z.B. in Bezug auf sich widersprechende Informationen); b) eine zentrale Verarbeitungskomponente mit hierarchisch aufeinander aufbauenden Prozessen wie: Dekodierung des akustischen Inputs und Worterkennung; Konstruktion einer auditiv basierten Textoberfläche; Zugriff auf das mentale Lexikon; syntaktische Analyse; Konstruktion einer propositionalen Bedeutung auf der Teilsatz- und Satzebene in Form einer sog. Textbasis; Inferenzen anhand der bisherigen Textinformationen und weiterer Wissensbestände; Konstruktion eines mentalen Modells (Situationsmodells) und schließlich c) eine Wissenskomponente als Basis der Verarbeitungsprozesse mit Teilkomponenten wie: sprachliches Wissen; thematisches Wissen; allgemeines Weltwissen; Diskursstrukturwissen in Form von Wissen über Textsorten und rhetorische Figuren (vgl. für weitere Modellkomponenten auch B UCK 2001: 104, F IELD 2008: 242 sowie das integrierte Modell des Hör- und Leseverstehens bei K ÜRSCHNER / S CHNOTZ 2008). Vor dem Hintergrund des beschriebenen Modells lassen sich anhand der Verarbeitungsrichtung zwei grundlegende Typen von Prozessen unterscheiden: aufsteigende Prozesse und absteigende Prozesse - auch als bottom-upbzw. top-down-Prozesse bezeichnet. Bei der aufsteigenden Verarbeitung werden kleinere Elemente zu größeren Einheiten zusammengesetzt, z.B. lautliche Segmente zu Silben, Wörtern und Teilsätzen. Bei der absteigenden Verarbeitung beeinflussen dagegen hierarchiehöhere Komponenten die Verarbeitung auf den hierarchieniedrigeren Stufen. So können z.B. der sprachliche und situationelle Kontext oder auch die Kenntnis möglicher Kollokationen die Dekodierung einzelner Wörter beeinflussen (vgl. F IELD 2008: 132 f). Dabei kann der Rückgriff auf den sprachlichen Kontext und die Hörsituation zwei Funktionen haben: a) Weiterverarbeitung bereits dekodierten Materials z.B. mit dem Ziel der Disambiguierung homophoner Lautketten; b) Ausgleich von fehlendem Wissen und/ oder beschränkter kognitiver Verarbeitungskapazität (kompensatorische Funktion). Da bei der aufsteigenden Verarbeitung in erster Linie das Hördokument den Verstehensprozess steuert, bei der absteigenden Verarbeitung dagegen die im Langzeitgedächtnis des Hörers gespeicherten Wissensrepräsentationen der primäre Steuerungsfaktor sind, wird der Gegensatz zwischen aufsteigender und absteigender Verarbeitung zuweilen auch als „datengesteuert“ vs. „wissensgesteuert“ charakterisiert. In der Regel wird das fremdsprachliche Hörverstehen als ein interdependentes Wechselspiel von aufsteigender und absteigender Verarbeitung gesehen (vgl. F IELD 2008: 132 f; K ÜRSCHNER / S CHNOTZ 2008; L EUCHT / R ETELSDORF / M ÖLLER / K ÖLLER 2010; M EIßNER 2006: 259; W OLFF 2003). So setzen z.B. Identifikation und Einschätzung der Relevanz des Themas eines Hörbeitrages sowohl eine (rudimentäre) Verarbeitung des lautlichen Inputs (Dekodierung) als auch eine Berücksichtigung des 76 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 sprachlichen Kontextes und der Hörsituation voraus. Für diese Interaktion zwischen Daten und Wissen gibt F IELD (2008: 133) ein illustratives Beispiel. Angenommen ein Lerner hat in einem Hördokument die Lautkette [ve t blz] korrekt als das ihm bekannte Wort vegetables („Gemüse“) identifiziert. Bei einer aufsteigenden Verarbeitung ist der Lerner zwar möglicherweise zunächst über den Laut [ ] gestolpert. Bei der weiteren Dekodierung könnte dann aber der sprachliche Kontext und weiteres sprachliches Wissen geholfen haben (z.B. in Form von Wörtern wie cabbages, carrots oder einer Kollokation wie fruit and vegetables) oder auch die außersprachliche Situation (ein Gemüseladen). In der praxisorientierten fremdsprachenbezogenen Hörverstehensdidaktik wird häufig vor allem die Bedeutung von top-down-Prozessen herausgestellt und der strategische Aspekt des Hörverstehens betont. Dagegen wird vor allem in psycholinguistisch orientierten (fremdsprachenbezogenen) Arbeiten verstärkt auf die Bedeutung effizienter bottom-up-Prozesse hingewiesen - und zwar speziell auf die Wichtigkeit einer schnellen und korrekten Worterkennung (vgl. z.B. P OELMANS 2003; F IELD 2008). So konnte u.a. gezeigt werden, dass insbesondere weniger effiziente Hörer auf top-down- Prozesse zurückgreifen, um Defizite bei der bottom-up-Verarbeitung zu kompensieren (vgl. z.B. T SUI / F ULLILOVE 1998; G OH 2000; F IELD 2008: 134 ff). Bei einer solchen kompensatorischen Verarbeitung kommt es jedoch nicht selten zu einem inadäquaten Hörverständnis. Vor diesem Hintergrund sollten m.E. Hörverstehenstests vor allem bei nicht sehr weit fortgeschrittenen Lernern auch speziell die Fähigkeit zum schnellen und korrekten Dekodieren des sprachlichen Inputs in hinreichendem Maße erfassen (vgl. auch die Forderung von M EIßNER 2006: 267 nach Schulung und Überprüfung der Fähigkeit des „auf die Sprachform gerichteten Feinverstehens“). Ein gravierender Unterschied zwischen Hör- und Leseverstehen ist, dass Hörverstehen ein Echtzeit-Prozess ist (vgl. auch F IELD 2008: 27 f; K ÜRSCHNER / S CHNOTZ 2008; L EUCHT [et al.] 2010). Dies heißt u.a., dass beim Hören der auditive Eindruck wegen des zeitlich-sequentiellen Charakters des Signals im Gegensatz zum Lesen flüchtig ist. Die Tatsache, dass Hörverstehen in Echtzeit abläuft und dass der Hörer damit im Vergleich zu einem Leser ein weit geringeres Maß an Kontrolle über den Text ausüben kann, hat u.a. zur Folge, dass ein inadäquates Verständnis beim weiteren Hören zumeist nur sehr eingeschränkt korrigiert werden kann. Außerdem scheinen Hörer aufgrund der geringeren Selbststeuerungsmöglichkeiten dazu zu neigen, bei der Verarbeitung längerer und semantisch reichhaltiger Texte vergleichsweise früh semantische Makrostrukturen zu bilden, d.h. die wesentlichen Informationen zu fokussieren, während Leser leichter auch Details fokussieren können (vgl. K ÜRSCHNER / S CHOTZ 2008: 142 f). Sind noch parallel zum Hören Items zu lesen oder vorher gelesene oder gehörte Arbeitsanweisungen und Items zusammen mit (früheren) Textinformationen im Gedächtnis zu halten, kann es leicht zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses kommen. Insbesondere dann, wenn die Items erst nach dem Hören des Textes zu lösen sind, testet man zudem, neben dem ‚eigentlichen‘ Hörverstehen, auch stets die Fähigkeit zur mittelfristigen Speicherung von Informationen (vgl. auch B UCK 2001: Kap. 1; G ROT - JAHN 2005; M EIßNER 2006: 263). Hier kann man allerdings argumentieren, dass auch Hörverstehen: Konstrukt und Messung 77 41 (2012) • Heft 1 außerhalb von Testsituationen viele zielsprachliche Hörkontexte hohe Anforderungen an das Gedächtnis stellen und diese Anforderungen deshalb durchaus als konstruktrelevant angesehen werden können. Während es sich bei Hörtexten um kontinuierliche akustische Signale handelt, liegen schriftliche Texte als Systeme mehr oder minder diskreter Einheiten vor (Buchstaben, Wörter etc.). Ein Hörtext ist für den Hörer zunächst einmal ein mit Pausen unterbrochener Lautstrom, in dem im Unterschied zu Lesetexten die Wortgrenzen nur sehr bedingt markiert sind. Um den Text zu verstehen, muss der Hörer den Lautstrom zumindest partiell in Einzelwörter zerlegen. Die Segmentierung in Wörter und die korrekte Worterkennung stellt eine der Hauptschwierigkeiten beim Hören (fremdsprachiger) Texte dar. Die Schwierigkeiten werden noch verstärkt, wenn der Hörtext eine deutliche Tendenz z.B. zu Koartikulation, Assimilation, Reduktion und Elision aufweist. 4 F IELD (2008: 141) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der Zitierform eines Wortes, d.h. einer kontextfreien, isolierten Realisation eines Wortes durch einen sorgfältig artikulierenden Standardsprecher, und den vielfältigen lautlichen Realisationen ein und derselben Zitierform in authentischer zusammenhängender Sprache. Lernende erwerben im Fremdsprachenunterricht zunächst in der Regel die Zitierform, z.B. [ækt u li] oder auch [æktju li] für engl. actually. Begegnet der Lerner dann Realisationen wie [æ li] oder [æk i], dann gelingt häufig nicht die Zuordnung dieser Realisationsformen zu der gespeicherten Zitierform (vgl. ebd.: 153). Diese Variabilität des lautlichen Signals ist eine der zentralen Schwierigkeiten beim fremdsprachlichen Hörverstehen. Angesichts dieser und weiterer Spezifika des Hörverstehens kommt F IELD (2008: 27 f) zu Recht zu folgender sehr kritischen Bewertung des Ausmaßes an Übereinstimmung zwischen Hör- und Leseverstehen: „A reader has the advantage of a standardised spelling system. By contrast, a listener is exposed to speech sounds which vary considerably from one utterance to another, and from one speaker to another, and which even blend into each other. […] the signal which the listener has to deal with requires an entirely different kind of processing to that demanded by reading. […] Of course, it cannot be denied that the two skills have certain meaning-building elements in common. They both draw upon the same comprehension processes (extracting ideas, relating the ideas to what has gone before, interpreting what the speaker/ reader has left unsaid, making connections to world knowledge). But this resemblance should not be overstated. Because of the temporary nature of the speech signal, a listener has to carry forward in her memory all the ideas that have been expressed so far if she wishes to build a complete account of a conversation. By contrast, […] a reader can always look back. So even at the level of comprehension the processes are distinct. “ Eine partiell ähnliche Position vertreten auch K ÜRSCHNER / S CHNOTZ (2008) in Bezug auf den muttersprachlichen Leseprozess. Die Autoren unterscheiden zunächst einmal 4 Vgl. z.B. G OH (2000), F LOWERDEW / M ILLER (2005: Kap. 4); F IELD (2008, Kap. 9) sowie auch die Diskussion von Unterschieden zwischen „konzeptioneller Mündlichkeit“ und „konzeptioneller Schriftlichkeit“ bei G ROTJAHN (2005: 128 ff) und zwischen Schreib- und Sprechgrammatik im Französischen bei M EIßNER (2006: 246 f). 78 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 zwischen einer eher monistischen und einer eher dualistischen Position. Vertreter der monistischen Position gehen davon aus, dass zumindest bei geübten Lesern „das Lesen und das Hören von Texten auf den höheren kognitiven Verarbeitungs- und Repräsentationsebenen auf gleichartigen Prozessen beruhen“ (ebd.: 141). Dies bedeutet zugleich, dass bei geübten Lesern und Hörern modalitätsspezifische Unterschiede bei der Wahrnehmung sprachlichen Inputs auf den hierarchisch niedrigeren Ebenen keinen Einfluss auf die Verarbeitung auf den höheren Ebenen haben. Vertreter der dualistischen Position sind dagegen der Ansicht, „dass zwischen Hören und Lesen modalitätsbedingt grundlegende Unterschiede bestehen, die sowohl auf den unteren als auch auf den höheren Ebenen der kognitiven Verarbeitung vorhanden sind“ (ebd.: 141). K ÜRSCHNER / S CHNOTZ (2008) präferieren vor dem Hintergrund der Forschungslage selbst ein integriertes Modell des Hör- und Leseverstehens, bei dem „die Prozesse im Arbeitsgedächtnis auf unteren Verarbeitungsebenen noch teilweise modalitätsspezifisch sind und auf den höheren Verarbeitungsebenen zunehmend modalitätsunspezifisch werden“ (ebd.: 146). Entsprechend können auf den höheren semantischen Verarbeitungsebenen „zwar quantitative Unterschiede zwischen dem Hörverstehen und dem Leseverstehen hinsichtlich der Elaboriertheit und Differenziertheit der mentalen Repräsentationen auftreten. Diese Unterschiede sind jedoch nicht auf qualitativ unterschiedliche Prozesse auf den höheren Verarbeitungsebenen zurückzuführen, sondern durch Unterschiede auf den niedrigeren Verarbeitungsebenen bedingt“ (ebd.: 146). Dabei beziehen sich K ÜRSCHNER / S CHNOTZ (2008) allerdings auf (kompetente) Muttersprachlern. M.E. spricht vieles dafür, dass es im Fall von Fremdsprachenlernern, vor allem, wenn diese nicht sehr weit fortgeschritten sind, auch bei den hierarchiehöheren Verarbeitungsprozessen qualitative Unterschiede zwischen Hör- und Leseverstehen gibt. Neuere Befunde zur empirischen Unterscheidbarkeit von Hörverstehen und Leseverstehen sowie zur Unterscheidbarkeit von Teilkompetenzen beim Hörbzw. Leseverstehen finden sich z.B. in S ONG (2008) und L EUCHT [et al.] (2010). Insgesamt gesehen sind die Befunde nicht eindeutig. So kommt S ONG (2008) zu dem Schluss, dass sich Teilkompetenzen wie „understanding the main and topical ideas“ und „understanding supporting and specific details“ (ebd.: . 441) empirisch unterscheiden lassen. Dagegen kommen L EUCHT [et al.] (2010) in Bezug auf die Fertigkeiten selektives vs. genaues Verstehen zu dem Ergebnis, dass diese für Lerner der achten Jahrgangsstufe „keine empirisch voneinander abgrenzbaren Teilkompetenzen innerhalb englischsprachigen Lese- und Hörverstehens“ (ebd.: 134) darstellen. Allerdings weist S ONG (2008) darauf hin, dass die Ergebnisse von Studien zur Trennbarkeit von Teilkompetenzen vom Sprachstand der Testteilnehmer sowie von Merkmalen der Aufgabe abhängen können (vgl. hierzu auch S HIN 2008). Dies bedeutet, dass in Studien, in denen empirisch nicht zwischen modalitätsspezifischen Teilkompetenzen unterschieden werden konnte, bei einer gezielten Messung anhand von trennschärferen Merkmalen und Aufgabenformaten möglicherweise eine empirische Differenzierung hätte erreicht werden können. Zudem gilt, dass metrische Mehrdimensionalität zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die qualitative Unterschiedlichkeit der bei der Lösung einer Aufgabe involvierten Kompetenzen ist. Konkret bedeutet dies, dass auch im Fall hoch Hörverstehen: Konstrukt und Messung 79 41 (2012) • Heft 1 korrelierter Leistungsdaten aus Verstehenstests die jeweils zugrundeliegenden kognitiven Kompetenzen durchaus qualitativ unterschiedlich sein können (vgl. H ARTIG / H ÖHLER 2010; S CHNOTZ [et al.] 2010: 144). Eine Vielzahl von Aufgabenmerkmalen, die das Verstehen erschweren oder erleichtern können, werden unter Angabe weiterer Literatur z.B. bei B UCK (2001: 32 ff, 149 ff), G ROTJAHN (2005), A LDERSON / F IGUERAS / K UIJPER / N OLD / T AKALA / T ARDIEU (2006), G ROTJAHN / T ESCH (2010a, b), G REEN / Ü NALDI / W EIR (2010), R OSSA (2010: 140 ff), H ARTIG / F REY (2012) und L EUCHT / H ARSCH / P ANT / K ÖLLER (2012) aufgeführt. Wichtige Merkmale sind z.B.: Akzent und Dialekt, Prosodie, Sprechgeschwindigkeit, Zahl der Sprecher und Unterscheidbarkeit der Stimmen, Verzögerungen und Pausen, Häufigkeit der Textdarbietung, konzeptuelle Schwierigkeit des Textinhalts, (interkulturell differierende) non-verbale Signale. Entsprechende Merkmale sind bei der Entwicklung von Testaufgaben als potenziell schwierigkeitsgenerierende Faktoren zu berücksichtigen. Natürlich müssen Merkmale, die sich allein auf den Text oder allein auf die zugehörigen Items beziehen, noch um Merkmale ergänzt werden, die der Wechselwirkung zwischen Hörtext und Item Rechnung tragen. So ist z.B. ein Item, zu dessen Lösung Informationen nötig sind, die über den gesamten Text verstreut sind, tendenziell schwieriger als ein Item, das sich auf eine sprachlich einfach formulierte Einzelinformation bezieht. Im bekannten „Dutch CEFR Grid for Reading and Listening“ (vgl. A LDERSON [et al.] 2006 sowie www.lancs.ac.uk/ fss/ projects/ grid/ [letzter Zugriff: 26.2.2012]), das u.a. im Projekt „Deutsch Englisch Schülerleistungen International (DESI)“ sowie bei der Entwicklung von Testaufgaben zur Überprüfung der Bildungsstandards für die erste Fremdsprache am IQB eingesetzt wurde, werden entsprechende Wechselwirkungen leider unzureichend berücksichtigt (vgl. auch die entsprechende Kritik in L EUCHT [et al.] 2012). Die Abschätzung des Anteils eines Merkmals an der Gesamtschwierigkeit einer Aufgabe kann z.B. regressionsanalytisch (vgl. z.B. L EUCHT [et al.] 2012) oder auch auf der Basis der Item-Response-Theorie erfolgen (vgl. z.B. W ILSON / M OORE 2011). Die vorangehenden Ausführungen zu potenziellen schwierigkeitsgenerierenden Merkmalen haben eine Reihe von Konsequenzen für die Gestaltung von Hörverstehensaufgaben und die Interpretation der Testergebnisse. So sollte man potenzielle Schwierigkeitsfaktoren bereits bei der Textauswahl berücksichtigen. Weiterhin kann man (zusätzlich) versuchen, die Schwierigkeit einer Aufgabe über die Manipulation relevanter Merkmale systematisch in Richtung auf eine bessere Übereinstimmung mit dem Fähigkeitsprofil der Testpopulation verändern. Außerdem lassen sich Aussagen zu den schwierigkeitsbestimmenden Merkmalen von Aufgaben auch für eine Festlegung und inhaltliche Beschreibung von Kompetenzniveaus (vgl. H ARSCH / H ARTIG 2011) oder auch für die individuelle Diagnose spezifischer Stärken und Schwächen bei einzelnen Teilkompetenzen des Hör- und Leseverstehens (vgl. z.B. S AWAKI / K IM / G EN - TILE 2009) nutzen. Bei der gezielten Veränderung der Schwierigkeit von Aufgaben stellt sich allerdings das Problem, dass die Manipulation von Hörtexten zum einen sehr aufwändig ist, da sie die Neuaufnahme des Textes auf Tonträger erfordert, und dass zum anderen sowohl die Veränderung von Textmerkmalen als auch eine Neuaufnahme 80 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 (mit anderen Sprechern) zu einer Verringerung der Authentizität führen kann. Weiterhin ergibt sich beim Versuch der Steuerung der Aufgabenschwierigkeit über eine Manipulation einzelner Merkmale das Problem, dass die Merkmale in der Regel in einer komplexen Wechselwirkung stehen. Dies hat zur Folge, dass die Schwierigkeit einer bestimmten Konfiguration von Merkmalen nur sehr bedingt anhand der Schwierigkeiten der zugehörigen Einzelmerkmale vorhergesagt werden kann. Eine wichtige Kontextvariable in Bezug auf die Schwierigkeit und (kognitive) Validität von Hörverstehensaufgaben ist die Präsentationshäufigkeit der Texte zusammen mit der Positionierung der zum Text gehörenden Items. Da die Frage der Präsentationshäufigkeit der Texte und Positionierung der Items in Testentwicklungsprojekten häufig kontrovers diskutiert wird, gehe ich auf diesen Aspekt etwas ausführlicher ein (weitere Hinweise finden sich in G ROTJAHN 2003: Kap. 6; G ROTJAHN / T ESCH 2010a: 131 f). Die meisten Texte werden in der Realität nur einmal gehört und können zudem auch häufig nur einmal gehört werden. Auch in einer face-to-face-Kommunikation kann man im Fall von Nichtverstehen bestenfalls hin und wieder nachfragen. Allerdings sind insbesondere Gespräche häufig durch ein hohes Maß an Redundanz und Wiederholung gekennzeichnet. Ein zweimaliges Hören hilft jedoch, den potenziellen Einfluss störender Kontextfaktoren zu minimieren. So kann in der Praxis häufig nicht sichergestellt werden, dass die räumlichen Gegebenheiten und die technische Ausstattung bei jeder Testadministration eine vergleichbar hohe Qualität aufweisen. Außerdem kann jederzeit unvorhergesehener, störender Lärm auftreten (vgl. G ERANPAYEH / T AYLOR 2008: 3). Weiterhin kann es sein, dass bestimmte Testteilnehmer ein Item nicht adäquat bearbeiten, weil sie noch dabei sind, ein sehr schwieriges vorangehendes Item zu lösen (vgl. G ERAN - PAYEH 2008: 20). Ein zweites Hören bedeutet in diesem Fall eine zweite Chance. Insgesamt sprechen diese und weitere Argumente eher für eine mehrmalige Präsentation insbesondere im Fall von längeren Texten (vgl. auch S AKAI 2009). Nicht ohne Grund werden mittlerweile in fast allen Cambridge ESOL Tests die Hörtexte zweimal präsentiert. Eine in Teilen traditionsbedingte Ausnahme ist das International English Language Testing System (IELTS). Allerdings wird dort darauf geachtet, dass die Hörtexte so viel Redundanz aufweisen, dass die zugehörigen Items auch bei nur einmaliger Präsentation des Textes z.B. im Fall von kurzen Störgeräuschen mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit gelöst werden können (vgl. G ERANPAYEH / T AYLOR 2008: 4). Letztlich sollte man allerdings die Entscheidung über die Zahl der Präsentationen vom jeweiligen Testziel, vom zielsprachlichen Verwendungskontext und auch vom Aufgabenformat abhängig machen. So ist bei einer sehr kurzen Lautsprecherdurchsage mit nur einem Item eine einmalige Präsentation gut begründbar, zumal wenn in relevanten zielsprachlichen Hörsituationen entsprechende Durchsagen ebenfalls nur ein einziges Mal gehört werden können (vgl. auch K OPPENHAGEN 2011: 140). Was die Positionierung der Items betrifft, so spricht sich z.B. B OLTON (1996: 47) dafür aus, beim Testen auf der Grundstufe den Text zweimal zu präsentieren, und zwar wie folgt: Die Testteilnehmer hören zunächst den Text. Sie lesen dann die Aufgabe(n), Hörverstehen: Konstrukt und Messung 81 41 (2012) • Heft 1 damit sie bei der zweiten Präsentation zielgerichteter hören können. Anschließend hören sie den Text zum zweiten Mal und lösen dabei - oder danach - die Aufgabe(n). Diese sog. Sandwich-Variante, die auch bei den DESI-Hörverstehenstests zum Einsatz gekommen ist, wird von S CHNEIDER (2007) eher kritisch gesehen, da aus den Testresultaten nicht ersichtlich sei, „ob das Hören ohne oder mit Frage oder ob einfach das erste oder das zweite Hören die Lösung der Aufgabe ermöglicht hat“ (ebd.: 281). Die Ansicht, dass die Sandwich-Variante das Verstehen insgesamt erleichtert, wird u.a. durch S HERMAN (1997) empirisch gestützt (vgl. auch S AKAI 2009: 362 f). Die Befunde von S HERMAN deuten weiterhin darauf hin, dass sich im Fall einer einmaligen Präsentation vorangestellte Items in unterschiedlicher Weise auf das Verstehen auswirken können. Indem vorangestellte Items die Aufmerksamkeit auf bestimmte Informationen lenken, können sie einerseits das Verstehen erleichtern. Andererseits können sie jedoch auch zu einer Informationsüberlastung und als Folge „flacheren“ Verarbeitung des Textes führen. Allerdings hat nach S HERMAN die Voranstellung der Items einen positiven affektiven Effekt, da der Hörer nicht im Unklaren über die als relevant erachteten Informationen gelassen wird. Außerdem sind vorangestellte Items häufig authentischer als nachgestellte Aufgaben, da in der Realität das Hören eines Textes zumeist mit spezifischen Zielsetzungen und Fragestellungen auf Seiten des Hörers verbunden ist und als Folge Texte auch in realen Sprachverwendungssituationen unterschiedlich tief verarbeitet werden. Bei zweimaliger Präsentation des Hörtextes besteht zudem die Möglichkeit, dass sich die Schüler zunächst das Item anschauen, dann den Text hören, ohne schon eine Antwort oder Lösung eintragen zu müssen und erst nach oder während des zweiten Hörens ihren Eintrag machen. Dadurch reduziert sich die potenzielle Beeinträchtigung des Hörvorgangs durch Lesen und Schreiben. Hörverstehen ist wie Leseverstehen eine zielgerichtete Aktivität. Der Hörer kann bei seinem Bemühen um Verstehen unterschiedliche und im Zuge des Hörens auch wechselnde Ziele verfolgen: Er kann z.B. bestimmte Detailinformationen dem Text entnehmen wollen oder lediglich ein globales Verständnis des Textes anstreben. Das jeweilige Hörziel steuert somit die Art und Weise, wie der Hörer den Text verarbeitet und damit die jeweilige spezifische Höraktivität/ Hörstrategie. Entsprechend wird in der Literatur analog zu den Lesetypen u.a. zwischen folgenden Hörtypen differenziert: detailliert, selektiv, global, orientierend, kursorisch, total (vgl. die Literaturbelege in G ROTJAHN 2005 sowie auch F IELD 2008: 66 für eine Klassifikation von Hörtypen anhand des Ausmaßes und des Fokus der Aufmerksamkeit). Ähnlich wird auch in Testspezifikationen häufig u.a. zwischen folgenden Hörzielen bzw. Höraktivitäten unterschieden: Verstehen von a) Kernaussagen, b) Hauptaussagen und c) relevanten Details (vgl. für ein Beispiel G ROTJAHN / T ESCH 2010a: 138). Weiterhin kann der Hörer in einer Kommunikationssituation eine Reihe unterschiedlicher Rollen einnehmen. Er kann z.B. Gesprächsteilnehmer, Adressat, Zuhörer oder auch (zufälliger) Mithörer sein (vgl. F IELD 2008: 60 ff; I MHOF 2003: 37 ff; R OST 2004). Die verschiedenen Rollen beinhalten höchst unterschiedliche Anforderungen an den Hörer. Vor allem die Rolle als aktiver Gesprächsteilnehmer stellt deutlich andere kognitive Anforderungen als z.B. die Rolle eines Zuhörers bei einem Vortrag. Als Ge- 82 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 sprächsteilnehmer kann der Hörer z.B. Bedeutungen aushandeln und sein eigenes Verstehen anhand der Reaktionen der Gesprächsteilnehmer überprüfen. Die Notwendigkeit, die eigenen Gesprächsbeiträge zu planen, kann jedoch zugleich das Verstehen der Äußerungen des Gesprächspartners erheblich beeinträchtigen. Aus den genannten Gründen kann man im Rahmen von mündlichen Interviews auch nur sehr eingeschränkt die Fähigkeit zum Verstehen von Einwegkommunikation überprüfen. Ebenfalls problematisch im Hinblick auf das Testen ist die Rolle als Mithörer z.B. eines Gesprächs von Fremden. Dem Mithörer steht nicht das Situations- und Sachwissen der Sprecher zur Verfügung. Dies kann das Verstehen sogar für Muttersprachler unmöglich machen. 4. Schlussfolgerungen Es dürfte im Vorangehenden deutlich geworden sein, dass das jeweils zu Grunde gelegte Testkonstrukt sowie die Anforderungen der eingesetzten Aufgaben von entscheidender Bedeutung für die Validität des jeweiligen Hörverstehenstest ist. Da die Angemessenheit eines Testkonstrukts von den jeweiligen Zielsetzungen und Adressaten eines Tests und den aufgrund der Testergebnisse zu treffenden Entscheidungen sowie auch von praktischen Zwängen bei der Testerstellung und beim Testeinsatz abhängt, ist es nicht möglich, ein für alle Testverwendungssituationen ideales Hörverstehenskonstrukt zu definieren. Dennoch lassen sich einige Empfehlungen definieren, die für eine Vielzahl von Verwendungskontexten relevant sind. Bereits B UCK (2001: 112-115) hat entsprechende Empfehlungen in Bezug auf ein sog. „default listening construct“, d.h. eines Standardkonstrukts für das Hörverstehen, formuliert. Es handelt sich dabei um ein kompetenzorientiertes Konstrukt, das sich jedoch leicht um Merkmale wie Art der zu bewältigenden Aufgaben, Spezifika der Hörsituation und Merkmale der Testteilnehmer zu einem interaktiven Modell erweitern lässt. Kern des Standardkonstrukts ist die Fähigkeit des Hörers zur Verarbeitung sprachlichen Inputs. Das Modell fokussiert dabei zentrale sprachliche Kompetenzen unter Ausschluss soziolinguistischen Wissens. B UCK (2001: 113) gibt sechs Empfehlungen für eine adäquate Definition dieses Standardkonstrukts. Von zentraler Bedeutung ist die Empfehlung, vor allem jene Aspekte zu testen, die spezifisch für das Hörverstehen sind und die nicht in anderen Testteilen getestet werden können. Entsprechend sollte in Hörverstehenstests die Fähigkeit zur schnellen, automatischen On-line-Verarbeitung von Texten mit typischen Merkmalen mündlicher Sprache der primäre Fokus sein. Auch für F IELD (2008) ist dies ein zentrales Merkmal von Hörverstehenskompetenz. Betrachtet man bekannte internationale Sprachtests wie TOEFL iBT oder TestDaF oder auch Untersuchungen wie DESI wird allerdings deutlich, dass dieser grundlegende Aspekt einer validen Messung von Hörverstehen bisher nicht immer hinreichend berücksichtig wird. So werden z.B. in DESI aus curricularen Erwägungen nicht wenige „Texte eingesetzt, die sich stärker an schriftsprachlichen Konventionen orientieren“ (N OLD / R OSSA 2007: 182). Dies wird Hörverstehen: Konstrukt und Messung 83 41 (2012) • Heft 1 von S CHNEIDER (2007: 280) explizit kritisiert, der darauf hinweist, dass „auch reale Anwendungssituationen nach bzw. außerhalb der Schule die Auswahl der Hörtexte und der Aufgaben mitbestimmen“ sollten. Eine stärkere Berücksichtigung von authentischen Texten mit deutlichen Kennzeichen von konzeptioneller Mündlichkeit ist in vielen Kontexten auch im Hinblick auf einen potentiellen positiven Washback-Effekt in Form einer stärkeren Beschäftigung mit entsprechenden Texten im Fremdsprachenunterricht, angezeigt. Bei den aktuellen Vergleichsarbeiten Jahrgangsstufe 8 (VERA-8) werden auch aus diesem Grunde bei der Testung des Hörverstehens in der ersten Fremdsprache relativ häufig Texte mit deutlichen Merkmalen von Mündlichkeit eingesetzt. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in Abschnitt 3 ist über den Aspekt der hinreichenden Berücksichtigung von Merkmalen konzeptioneller mündlicher Sprache hinaus zu fragen, welche Verstehensprozesse, Wissensbestände und Strategien auf welchen Hierarchieebenen hörverstehensspezifisch sind und nicht in anderen Testteilen hinreichend valide getestet werden können. Geht man davon aus, dass sich Hörverstehen und Leseverstehen in erster Linie in Bezug auf Spezifika der unteren Ebenen unterscheiden, dass jedoch auf den oberen Ebenen keine grundlegenden qualitativen Unterschiede in den involvierten Prozessen existieren, dann sollte bei der Testung des Hörverstehens - mehr als bisher in der Regel üblich - die Messung hierarchieniedriger Kompetenzen wie die Fähigkeit zum oberflächennahen Hören fokussiert werden. Weiterhin sollten auf den hierarchiehöheren Ebenen vor allem solche inferenziellen Fähigkeiten überprüft werden, die in einem engen Zusammenhang mit typischen Merkmalen des akustischen Signals stehen, wie z.B. Intonations- und Akzentverläufe zur Signalisierung bestimmter Bedeutungen und Einstellungen. Aufgaben, deren Lösung oberflächennahes Hören erfordert, finden sich u.a. im neuen Pearson Test of English Academic (vgl. z.B. die Formate „Repeat sentence“, „Highlight incorrect words“, „Write from dictation“ in P EARSON E DUCATION 2011: 10, 34, 35). In Bezug auf inferenzielle Hörverstehensprozesse, die in ähnlicher Weise auch beim Leseverstehen zum Einsatz kommen, ist zu überlegen, ob diese Kompetenzen nicht kostengünstiger im Zuge der Testung des Leseverstehens überprüft werden können. Ein weiterer Bereich, der bei der Testung des Hörverstehens stärker als bisher Berücksichtigung finden sollte, ist das interaktive Hören in einer Sprechsituation. Dieses stellt spezifische Anforderungen an den Hörer, da Sprache mehr oder minder gleichzeitig rezipiert, produziert, geplant und überwacht werden muss. Dies unterscheidet interaktives Hören substantiell vom Mithören oder Zuhören monologischer oder dialogischer Hörtexte. Die unterschiedlichen Anforderungen können u.a. dazu führen, dass ein Hörer, der hochkompetent in nicht interaktiven Situationen ist, deutlich geringere Leistungen beim interaktiven Hören zeigt - z.B. als Folge einer unzureichenden Automatisierung der produktiven mündlichen Teilkompetenzen. Üblicherweise wird die Fähigkeit zum interaktiven Hören bei der Überprüfung der mündlichen Produktion miterfasst, so z.B. im Zuge eines Gesprächs zwischen Prüfling und Prüfer. Damit jedoch die Überprüfung interaktiver Hörkompetenz in valider Weise geschieht, muss 84 Rüdiger Grotjahn 41 (2012) • Heft 1 zum einen dem Kandidaten im Gespräch geeigneter Input geliefert werden, und zum anderen muss die jeweilige Reaktion des Kandidaten auf den Input anhand geeigneter Kriterien bewertet werden. Wie hier am besten vorzugehen ist, ist bisher nicht hinreichend empirisch untersucht. Literatur A LDERSON , J. 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Furthermore, the students’ reading performance is correlated with their subjective assessment of the frequency and intensity of training presented in the questionnaire. Results show a statistically significant relationship between the use of methods when dealing with French texts and reading performance. The promotion of methodological competencies can thus be regarded as crucial in the domain of foreign language teaching. 1. Einleitung Die Ergebnisse der PISA-Studie offenbarten im Jahre 2001 die Schwächen des deutschen Bildungssystems, das im internationalen Vergleich lediglich Leistungen im unteren Mittelfeld hervorbrachte. Eine wichtige Erkenntnis im Zusammenhang damit war, dass Schülerinnen und Schüler (= SuS), die in der Lage waren, ihren Lernprozess zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und somit beim Lösen von Aufgaben methodisch-differenziert vorzugehen, besser abschnitten als diejenigen, die dies kaum oder gar nicht taten (vgl. OECD 2001: 127 ff). Gleichzeitig wurde auch die Lesekompetenz der Fünfzehnjährigen für unterdurchschnittlich im Vergleich mit anderen OECD-Ländern befunden (vgl. OECD 2001: 60 ff). Die Forderung nach Maßnahmen zur Vermittlung von Lesestrategien und -techniken, gewissermaßen einem methodisch-differenzierten Umgang mit Texten, wurde dabei nicht nur dem Deutschunterricht aufgetragen, sondern als fächerübergreifende Aufgabe deklariert (vgl. D RECHSEL 2010: * Korrespondenzadressen: Iulia P OPESCU , Master of Education, (derzeit) Studienreferendarin in den Fächern Englisch und Französisch in Berlin, Am Hanffgraben 5a, 12357 B ERLIN (Privatanschrift) E-Mail: iulia.popescu@gmx.net Arbeitsbereiche: Methodische Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht, Lernstrategien und -techniken, der Leseprozess in der Fremdsprache. Bettina N EUGEBAUER , Master of Arts, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), Unter den Linden 6, 10099 Berlin E-Mail: bettina.neugebauer@iqb.hu-berlin.de Arbeitsbereiche: (Fach)spezifische Kompetenz von Eltern als Determinante von Schülerleistung, Validität fremdsprachlicher Tests, Vergleichsarbeiten für die 8. Jahrgangsstufe (VERA-8) im Fach Französisch als 1. Fremdsprache. 88 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 86 f), nicht zuletzt, weil das Lesen eine Basiskompetenz für Lern- und Verstehensprozesse in allen Fächern darstellt. Vor allem auch im Fremdsprachenunterricht (= FSU) wird die Ausbildung und systematische Entwicklung textueller Kompetenzen für essenziell erachtet, weil Texte sowohl in lebensweltlichen als auch didaktischen Kontexten die diskursiven Grundeinheiten jeder Kommunikation darstellen (vgl. B AUSCH [et al.] 2007). In diesem Beitrag wird eine Untersuchung vorgestellt, die 2010/ 11 am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) auf der Basis von Normierungsdaten aus dem Jahre 2008 durchgeführt wurde. Diese ist insofern innovativ, als methodische Kompetenzen schulischen Lernens im Fach Französisch bislang noch nicht mit quantitativ empirischen Verfahren untersucht wurden. Zum einen wird dabei der Frage nachgegangen, wie oft SuS der 9. und 10. Klassenstufen mit Französisch als erster Fremdsprache üben, methodisch-differenziert mit Texten umzugehen. Zum anderen wird untersucht, welcher Zusammenhang zwischen einem methodisch-differenzierten Umgang mit Texten und der Leseleistung besteht. 2. Das Lernen lernen Bereits Anfang der Neunziger Jahre spricht man in Deutschland von einem „Lernenlernen-Boom“ (vgl. R UMPF 1990). Der früher behavioristisch-kognitiv geprägte Lernbegriff ist von einem veränderten gemäßigt konstruktivistischen ersetzt worden, nach dem die menschliche Wahrnehmung eine geistige (kognitive) Konstruktion ist, die von Erfahrungen, Einstellungen, Haltungen und Emotionen des jeweiligen Lerners geprägt wird (vgl. C HOTT / B ARTH 2008: 11-13). Der Fokus liegt nun auf dem autonomen selbstgesteuerten Lerner, der mithilfe seines Lernberaters für ihn geeignete Methoden entwickelt, seinen Lernprozess zu gestalten und somit seine Lernkompetenz zu optimieren, die ihn schließlich zu lebenslangem Lernen befähigt. Bezeichnungen wie ‚selbstständiges‘, ‚selbsttätiges‘ oder auch ‚methodisches‘, ‚eigenständiges‘ und ‚eigenverantwortliches Lernen‘ (vgl. C ZERWANSKI / S OLZBACHER / V OLLSTÄDT 2002: 16) spielen im Kontext gesellschaftlicher, wissenschaftlicher, technischer und auch kultureller Veränderungen in der aktuellen Diskussion eine wichtige Rolle. 2.1 Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Thema Die wichtige Rolle der Methodenkompetenz ist in vielfältiger Weise auch empirisch begründet und beforscht worden. Dazu soll im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden. 2.1.1 Studien zur Verbesserung der Methodenkompetenz Der Blick in die deutsche Unterrichtspraxis zeigt, dass methodische Kompetenzen auch nach und trotz der Ergebnisse aus PISA 2000 eher im Hintergrund bleiben. H Aß (2006: Testung und Evaluierung des Leseverstehens 89 41 (2012) • Heft 1 168) stellt fest, dass im alltäglichen Englischunterricht nach wie vor ‚konventionelle‘ Lehrtraditionen dominieren und einer systematischen Methodenschulung zu wenig Beachtung geschenkt wird. Das ist zumindest Schülerbefragungen neueren Datums (vgl. z.B. B ÄR 2009) zu entnehmen, denen zufolge die Thematisierung des Lernens bislang im FSU kaum eine bzw. gar keine Rolle gespielt hat. In Anlehnung an C HOTT und B ARTH (2008) sollen im Folgenden Untersuchungen vorgestellt werden, die sich mit der Möglichkeit, der Notwendigkeit sowie der Wirkung diesbezüglicher Fördermaßnahmen beschäftigt haben. Grundsätzlich gelten methodische Kompetenzen verglichen mit fachbezogenen, deklarativen Wissensformen als weniger planbar und systematisch schwieriger erzeugbar (vgl. F END 1998). Es gibt zahlreiche Studien, die sich mit der Frage befassen, ob man das Lernenlernen überhaupt lehren sollte. Viele empirische Studien haben gezeigt, dass gute Lerner sich im Vergleich zu weniger guten in Ausmaß und Qualität des Einsatzes ihrer Lernstrategien unterscheiden (vgl. M ANDL / F RIEDRICH 1992: 26) und nicht etwa in der Quantität. Die aktuellen PISA-Ergebnisse verzeichnen zwar Verbesserungen in der Lesekompetenz vor allem schwacher SuS, sie verweisen gleichzeitig aber auch auf einen noch immer vorhandenen Mangel an systematisch entwickelten und evaluierten Fördermaßnahmen der Lesekompetenz (vgl. K LIEME [et al.] 2010: 23). Ein methodisch-differenzierter Umgang mit Texten im Unterricht könnte in diesem Sinne einen ersten Schritt darstellen. W EINSTEIN und M AYER (1986) konnten die Hypothese bestätigten, dass es möglich ist, Lernende in niveauangepasster Weise Lernstrategien zu lehren. Vor allem im Bereich der Lesestrategien haben Interventionsstudien deren Lehrbarkeit bestätigen können (vgl. B IMMEL 2006: 366). Zu der Frage, wie strategische Kompetenz wirksam gefördert werden könne, verweist T ÖNSHOFF (2003: 334) auf zahlreiche empirische Studien aus dem FSU und anderen Unterrichtssituationen (vgl. die Überblicke bei C ARREL 1998, H ATTIE / B IGGS / P URDIE 1996; T ÖNSHOFF 1992). Ihnen zufolge scheint eine Strategievermittlung am wirkvollsten zu sein, wenn • sie integriert in den Unterricht (bspw. anhand geeigneter Lese- oder Hörtexte) vermittelt und geübt wird; • bewusstmachende Verfahren eingesetzt werden und die SuS das Warum, Wann und Wie ihres Strategieeinsatzes reflektieren (vgl. dazu auch M ARTINEZ 2004); • Gelegenheiten zur praktischen Anwendung und Reflexion von verschiedenen Strategien gegeben werden; • auch metakognitive Strategien zur Steuerung und Evaluation des Lernprozesses einbezogen werden. Inwiefern diese Erkenntnisse in gängigen Englisch- und Französischlehrwerken umgesetzt wurden, hat M ORKÖTTER (2009) untersucht. Dabei hat sie die Förderung von Lernkompetenz durch Strategien in den Lehrwerken English G 2000 (Englisch) und À plus! (Französisch) für die Klassen 5 und 6 verglichen. Insgesamt konnte sie eine starke Verengung des Strategiebegriffs auf Behaltens- und Gedächtnisstrategien und somit eine Ausblendung wichtiger Bereiche wie bspw. der Texterschließungsstrategien 90 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 sowie eine mangelnde Kopplung von strategiebezogenen Bewusstmachungen an konkrete sprachliche Aufgaben attestieren. Obwohl diese Studien die Notwendigkeit sowie die Wirksamkeit von Fördermaßnahmen zur Verbesserung der Methodenkompetenz weitgehend bestätigen, stellen C HOTT / B ARTH (2008: 35) fest, dass andere Studien keine oder nur geringe Erfolge derartiger Förderung ergaben. Auch G ROB / M AAG M ERKI (2001: 495) verweisen auf den bisher eher geringen bis unbedeutenden Zusammenhang zwischen Leistungsergebnissen und Strategienutzung hin (vgl. S TEBLER / R EUSSER 1997; B AUMERT 1993). Daraus resultiert die Frage, ob ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Förderung methodischer Kompetenz und der Leistung besteht. Da diese Frage für den Kompetenzbereich Lesen beantwortet werden soll, werfen wir zunächst einen Blick in die Leseforschung. 2.1.2 Ergebnisse aus der Leseforschung In Bezug auf die Wirksamkeit des Einsatzes von Lesestrategien in der Muttersprache lassen die Ergebnisse einer Untersuchung von G RÜTZ (2010: 98) annehmen, dass die Vermittlung von Verfahren zur Erschließung von Informationen aus dem Text mit Zunahme des Lesekompetenzniveaus an Bedeutung verliert. Je lesekompetenter der Leser, desto eigenständiger und erfolgreicher entnimmt er Informationen aus dem Text und handelt somit lesestrategisch. Insgesamt lässt die Studie von G RÜTZ vermuten, dass der Einsatz von Lesestrategien durch Lesende von der Aufgabenstellung, bewusstmachenden Verfahren, dem Grad an Vorwissen und Interesse sowie der Textsorte abhängt. Da diese Erkenntnisse sich jedoch nur auf das muttersprachliche Lesen beziehen, verweisen wir an dieser Stelle auf den Leseprozess in der Fremdsprache, zu dem vergleichsweise wenige Forschungsergebnisse existieren (vgl. L UTJEHARMS 2010: 14). L UTJEHARMS (ebd.: 21) nimmt an, dass die muttersprachliche Lesekompetenz den Erwerb fremdsprachlicher Lesekompetenz mit bedingt, da bereits mangelhafte Dekodierfähigkeiten in der Muttersprache auch den Erwerb der zielsprachigen Kompetenz beeinträchtigen. Eine wichtige Rolle spielen für sie dabei Nähe oder Distanz der Ausgangs- und Zielsprache, die bedinge, ob Transferprozesse eingesetzt werden. Demnach müssen geübte Leser einer noch nicht gut beherrschten Fremdsprache typische Strategien schwacher Muttersprachler einsetzen, wie z.B. das Inferieren auf der Ebene der Worterkennung. Gleichzeitig seien sie nach L UTJEHARMS im Vergleich zu Lesern, die das Lesen in ihrer Muttersprache erwerben, geübter im Inferieren, können bereits mehrere Auslöser gleichzeitig verarbeiten und auf eine bessere Textkompetenz zurückgreifen. Insgesamt wird angenommen, dass der Einsatz geeigneter Lesestrategien beim Lesen unterstützend wirkt (vgl. auch G RÜTZ 2010: 95). Wie wichtig Sprachkenntnisse bei Inferenzprozessen sind, wird aus den Untersuchungen von G RENFELL / H ARRIS (1999) und J ACQUIN (2010) deutlich. SuS stellten dabei auf Grund fehlender Sprachkenntnisse falsche Hypothesen zu einem Text auf, an denen sie konsequent festhielten (G RENFELL / H ARRIS 1999: 66). Die Vermutung liegt daher nahe, dass fremdsprachliche Leser ihre Testung und Evaluierung des Leseverstehens 91 41 (2012) • Heft 1 Interkulturelle Kompetenz Sprachkompetenz Sprachdefizite durch Inferenz auszugleichen versuchen, was jedoch oft scheitert. Die Autoren nehmen weiterhin ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Lesestrategien, Textsorte, Aufgabenstellung und Unterrichtspraxis an. 2.2 Entwicklung eines erweiterten Kompetenzmodells für den FSU Zum aktuellen Zeitpunkt fehlt es an wissenschaftlich abgesichertem Konsens zur Verwendung des Kompetenzbegriffs. Des Weiteren wird durch häufig unterschiedliche Bezeichnungen für gleiche Sachverhalte Unklarheit verursacht (vgl. C ZERWANSKI / S OLZBACHER / V OLLSTÄDT 2002: 14). Es ist uns kein detailliertes Modell methodischer Kompetenzen bekannt, das den Untersuchungsgegenstand dieser Studie erfassen könnte. Deshalb beziehen wir uns im Folgenden auf das Kompetenzmodell, das der Berliner Rahmenlehrplan Französisch (vgl. RLP-I 2006: 12) vorgibt. Für unsere Belange haben wir dieses um die der Methoden- und Sprachkompetenz untergeordneten Elemente (Lernstrategien, Lesen, Lesestrategien etc.) erweitert. Lernkompetenz bezweckt auf der Anwendungs- und Handlungsebene im FSU Methodenkompetenz Interkulturelle fremdsprachige Handlungsfähigkeit Lernstrategien Lerntechniken Lesetechniken Lesen Lesestrategien … … Abb. 1: Erweitertes Kompetenzmodell für den FSU (eigene Darstellung) beobachtbar in Form von methodischdifferenzierter Umgang mit Texten beobachtbar in Form von 92 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 An oberster Stelle des Modells in Abb. 1 befindet sich die Lernkompetenz, ein übergeordnetes allgemeines Konstrukt, das die Fähigkeit zum Lernen bezeichnet. Sie umfasst die überfachliche Fähigkeit zur selbstständigen Aneignung von Sach- und Fachwissen, die Auswahl geeigneter Methoden sowie die Organisation der Zusammenarbeit mit Mitschülern (vgl. M EYER 2007: 153). Richtet man den Blick auf die Anwendungs- und Handlungsebene des FSU, so sollte diese Lernkompetenz dazu genutzt werden, eine interkulturelle fremdsprachige Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Diese kann wiederum laut Berliner Rahmenlehrplan (vgl. RLP-I 2006: 12) nur im Zusammenspiel von interkultureller Kompetenz, Sprachkompetenz und Methodenkompetenz entwickelt werden. Gleichzeitig bedeutet dies, dass sich auch alle Kompetenzen gegenseitig beeinflussen, teilweise ineinander übergehen und im FSU nicht isoliert unterrichtet werden sollten. Die Methodenkompetenz, als ein wichtiger Teilbereich der Lernkompetenz, bezeichnet dabei die Fähigkeit zur eigenständigen Beschaffung, Vorbereitung, Speicherung und Anwendung von Wissen (vgl. C HOTT / B ARTH 2008: 10). Der methodenkompetente Fremdsprachenlerner muss demzufolge über ein geeignetes Methodeninventar verfügen, das er in verschiedenen Situationen gezielt einsetzen kann. Dazu gehören bspw. Lernstrategien, d.h. interne mentale Handlungspläne, die nicht beobachtet, sondern nur anhand von Aussagen inferiert werden können (vgl. V IEBROCK 2010: 191). Laut T ÖNSHOFF (2003: 331 f) steuert und kontrolliert der Lerner den Aufbau, die Speicherung, den Abruf und den Einsatz von Informationen mithilfe von Lernstrategien. Beobachtbar werden diese u.a. durch den Einsatz von Lerntechniken. Diese bezeichnen nach D ECKE -C ORNILL und K ÜSTER (2010: 216) „etablierte Handlungspläne, die einzeln gelernt und geübt und als Elemente einer persönlich ausgewählten Lernstrategie verwendet werden können“. Lesestrategien können als eine Form von Lernstrategien beim Umgang mit Texten betrachtet werden. Auch sie können als mentale Handlungspläne nur direkt über die Verwendung von Lesetechniken fungieren, die als konkrete Handlungen der Lernenden zur Unterstützung ihres Leseverhaltens verstanden werden können, wie z.B. das Unterstreichen wichtiger Textpassagen. Lesestrategien und Lesetechniken bilden somit gewissermaßen eine Schnittstelle zwischen Sprach- und Methodenkompetenz, da sie sowohl den Leseaspekt als auch den strategisch-methodischen Aspekt enthalten. Analog lässt sich dies auf andere Sprachkompetenzen wie z.B. Hören übertragen, wobei dann von Hörstrategien bzw. Hörtechniken gesprochen wird. Der fett gedruckte Pfeil zwischen Methoden- und Sprachkompetenz zeigt den Untersuchungsbereich dieser Studie auf. Der Untersuchungsgegenstand wird dabei als ‚methodisch-differenzierter Umgang mit Texten‘ bezeichnet und die Begriffe ‚Lern-‘, ‚Lesestrategien‘, ‚Lern-‘ und ‚Lesetechniken‘ als darin eingeschlossen betrachtet, was im Modell durch die geschwungene Klammer illustriert wird. Testung und Evaluierung des Leseverstehens 93 41 (2012) • Heft 1 3. Die empirische Studie 3.1 Forschungsfragen In der hier vorgestellten Studie wird der Zusammenhang von methodischen Kompetenzen und der Leseleistung im Fach Französisch untersucht. Die dafür durchgeführte Analyse gliedert sich in zwei Teile mit jeweils unterschiedlichem Forschungsschwerpunkt. In einem ersten Schritt soll zunächst untersucht werden, mit welcher Häufigkeit der methodisch-differenzierte Umgang mit Texten, der in einigen bildungspolitischen Forderungen deutlich wird, in die Unterrichtspraxis umgesetzt wurde. Die in Abschnitt 2.1 dargestellten Studien lassen vermuten, dass auch lange nach dem „PISA-Schock“ das Lernenlernen im Unterricht noch selten thematisiert wird. Daher lautet die erste Forschungsfrage: 1. Mit welcher Häufigkeit üben SuS den methodisch-differenzierten Umgang mit Texten im Jahr 2008 im Fach Französisch? Ziel der Untersuchung ist, einen Überblick über die Häufigkeit zu geben, mit der SuS bestimmte Tätigkeiten beim Umgang mit Texten im Fach Französisch in den letzten sechs Monaten vor der Befragung ausgeübt haben, und die Ergebnisse zu diskutieren. Nachdem das Unterrichtserlebnis der SuS erfasst worden ist, stellt sich eine weitere Frage, nämlich ob ein Zusammenhang zwischen der Förderung methodischer Kompetenz und Leseleistung besteht. Wie in Abschnitt 2.1 bereits dargestellt, gibt es dazu unterschiedliche Studien, wobei diejenigen, die einen solchen Zusammenhang vermuten lassen, überwiegen. Somit kann auch zwischen der Teilkomponente ‚methodisch-differenzierter Umgang mit Texten‘, wie sie in Abschnitt 2.2 definiert wurde, und der Leseleistung ein Zusammenhang vermutet werden. Folgende Forschungsfrage kann daher abgeleitet werden: 2. In welchem Zusammenhang stehen die Häufigkeit, mit der ein methodisch-differenzierter Umgang mit Texten geübt wird, und die im Test erbrachte Leseleistung? Ziel der Untersuchung ist dabei, den Zusammenhang der methodisch-differenzierten Tätigkeiten (Lesestrategien, Lesetechniken, etc.) mit der Leseleistung zu erfassen. 3.2 Untersuchungsdesign und Versuchsdurchführung Die im Folgenden dargestellte Untersuchung basiert auf Daten, die im Jahr 2008 vom IQB erhoben wurden. 1 Dabei sind lediglich jene Daten relevant, die im Kompetenzbereich Leseverstehen mithilfe von insgesamt 184 Items erhoben wurden. Die Items wurden Blöcken à 20 Minuten zugewiesen, die wiederum mithilfe eines Multi-Matrix-Designs auf insgesamt 28 Testhefte verteilt wurden, wobei mit jedem Testheft zwei oder mehr Kompetenzen getestet wurden. Aus administrativen Gründen konnten nicht alle 1 Die so genannte Normierungsstudie wird in P ORSCH / T ESCH / K ÖLLER (2010) ausführlich dargestellt. 94 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 SuS in allen Kompetenzbereichen getestet werden. Zusätzlich zu den Kompetenzdaten wurden mithilfe von Schülerfragebögen u.a. zum Unterrichtserlebnis weitere Daten erhoben. Bei der im Folgenden beschriebenen Untersuchung handelt es sich daher um eine Querschnittstudie, die die Situation im Jahr 2008 erfasst und keine prozessbezogenen Aussagen treffen kann. Das IEA Data Processing and Research Center (DPC) in Hamburg wurde mit der Organisation und praktischen Durchführung der Studie beauftragt. Insgesamt wurden in einer repräsentativen, bundeslandübergreifenden Stichprobe von 100 Schulen SuS aus den Jahrgängen 9 und 10 getestet. Die reine Testzeit für den Leistungstest betrug 120 Minuten. Mithilfe von Schülerteilnahmelisten, die von den Lehrerinnen und Lehrern (LuL) bzw. Schulkoordinatoren auszufüllen waren, wurden zusätzlich zu den Leistungsdaten Hintergrunddaten der SuS, z.B. der Migrationshintergrund, erhoben. Das Ausfüllen des Schülerfragebogens war für die SuS freiwillig und von der Einwilligung der Eltern abhängig. Die Bearbeitung des Schülerfragebogens dauerte ca. 75 Minuten. Durch erfahrene, geschulte Testleiter konnten bundesweit vergleichbare Testbedingungen geschaffen werden. 3.3 Stichprobe und Erhebungsinstrumente Insgesamt liegen Daten zu 3.602 SuS vor. Beteiligt waren drei Bildungsgänge (Schulen mit mehreren Bildungsgängen inklusive integrierter Gesamtschule, Realschulen und Gymnasien) in den sechs Bundesländern, in denen Französisch als erste Fremdsprache angeboten wird (Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Baden-Württemberg und Hessen). Die meisten Testpersonen der Gesamtstichprobe besuchten zum Testzeitpunkt das Gymnasium (N = 692). Für unsere Studie wurden lediglich SuS betrachtet, die sowohl am Leistungstest für den Kompetenzbereich Leseverstehen teilgenommen als auch den Schülerfragebogen ausgefüllt hatten (470 aus der 9. und 396 aus der 10. Jahrgangsstufe). Der Ausschluss von SuS aus den Analysen ist auf mehrere Punkte zurückzuführen: (1) es lag keine Einverständniserklärung der Eltern zur Testung vor, (2) der freiwillige Schülerfragebogen wurde von den SuS nicht ausgefüllt, und (3) es lagen designbedingt nicht ausreichend Leistungsdaten für das Leseverstehen von den SuS vor, sodass nicht allen SuS mit Leistungsdaten die entsprechenden Fragebogendaten zugeordnet werden konnten. Leistungstest: Der Leistungstest erfasst Kompetenzdaten für das Leseverstehen im Fach Französisch mit insgesamt 184 Items. Diese berücksichtigten unterschiedliche Aufgabenformate (offen, halboffen, geschlossen), Textsorten und Themen und variierten in den kognitiven Anforderungen, die sich aufgrund von A-priori-Einschätzungen den Niveaustufen A1 bis C1 des GER (vgl. E UROPARAT 2001) zuordnen ließen. 2 Die Leseaufgaben, die in Anlehnung an die Bildungsstandards (vgl. KMK 2003, 2004) mit Hilfe des Testkonstrukts des IQB entwickelt wurden, wurden vor der Nor- 2 Beispielaufgaben können auf der IQB-W EBSITE (www.iqb.hu-berlin.de) eingesehen werden. Testung und Evaluierung des Leseverstehens 95 41 (2012) • Heft 1 mierungsstudie präpilotiert und pilotiert, sodass sie mehrmals empirisch überprüft, gegebenenfalls überarbeitet und somit optimiert wurden. Schülerfragebogen: Der Schülerfragebogen beinhaltet neben Fragen zum sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund der SuS auch Skalen zum Unterrichtserlebnis, die für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse sind. Nach der Umpolung negativer Items wurden die Skalen einer explorativen Faktorenanalyse (Varimax; Hauptkomponentenanalyse) unterzogen. Für die resultierenden Faktoren wurden Reliabilitätsanalysen durchgeführt. Kriterien zur Verwendung der Faktoren waren neben inhaltlichen Überlegungen auch eine Mindestitemanzahl von drei Items und ein Cronbach’s > 0,5. Diese Bedingungen konnte lediglich Faktor I (‚methodisch differenzierter Umgang mit Texten‘) erfüllen. Der Faktor I erklärt zudem den größten Anteil an der Gesamtvarianz und erfasst somit das Konstrukt ‚Methodenkompetenz‘ am besten. Faktor I besteht aus acht Items, die sich auf die Häufigkeit, mit der die SuS in den vergangenen sechs Monaten eine bestimmte Aktivität im Französischunterricht geübt haben, beziehen. Verschiedene Aussagen (Bsp. „Ich habe geübt, die Hauptaussage eines französischen Textes herauszufinden“) mussten dabei anhand einer klassischen Likert-Skala mit fünf Antwortoptionen (1 = nie bis 5 = (fast) jede Stunde) eingeschätzt werden (Cronbach’s = 0,82). 3.4 Ergebnisse: Forschungsfrage 1 (Häufigkeiten) Bei der Berechnung der Häufigkeiten, mit denen die bereits beschriebenen Tätigkeiten in den letzten sechs Monaten im Unterricht praktiziert wurden, lässt sich zunächst eine Tendenz zur Mitte feststellen, d.h. die meisten SuS geben an, die erwähnten Tätigkeiten mehrmals in den letzten sechs Monaten geübt zu haben. Ein Blick in die Häufigkeiten zeigt ein differenzierteres Bild auf. Dabei werden jeweils die zwei oberen und unteren Antwortmöglichkeiten (‚nie‘ und ‚1 Mal‘ [1. Spalte] sowie ‚fast jede Stunde‘ und ‚mehrmals pro Stunde‘ [3. Spalte]) zusammengefasst und in Prozenten angegeben. Item Häufigkeit in den letzten sechs Monaten nie und 1 Mal mehrmals fast jede Stunde a Hauptaussage in Texten finden 31,0 % 51,5 % 17,5 % b roten Faden in argumentativen Texten finden 61,4 % 31,6 % 7,1 % c konkrete Informationen aus einem Text heraussuchen 29,2 % 52,9 % 17,7 % d Bedeutung der Wörter aus dem Kontext erschließen 27,0 % 39,2 % 33,8 % e Schlussfolgerungen über Absichten, Gefühle, Einstellungen des Autors ziehen 54,7 % 33,0 % 12,4 % 96 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 Item Häufigkeit in den letzten sechs Monaten nie und 1 Mal mehrmals fast jede Stunde f zur Lösung von Aufgaben Informationen aus mehreren Texten suchen 48,3 % 40,6 % 11,1 % g sich schnell einen groben Überblick über den Inhalt eines Textes verschaffen 44,8 % 41,0 % 14,2 % h wichtige Stellen im Text hervorheben 44,3 % 36,8 % 19,0 % Tab. 1: Kumulative Prozente der Häufigkeit, mit der bestimmte Tätigkeiten in den letzten sechs Monaten geübt wurden Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nach Aussage der SuS in den letzten sechs Monaten Item d ‚Bedeutung der Wörter aus dem Kontext erschließen‘, eine relativ leichte Tätigkeit, am häufigsten und Item b ‚roten Faden in argumentativen Texten finden‘, eine relativ komplexe Tätigkeit, am seltensten im Unterricht geübt wurde. Auf der Basis der erhobenen Daten kann insgesamt festgehalten werden, dass ein methodisch-differenzierter Umgang mit Texten im Jahr 2008 mehrmals im Halbjahr stattfand. 3.5 Ergebnisse: Forschungsfrage 2 (Zusammenhang) Um zu überprüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis aller in der Teilstichprobe beteiligten SuS in Bezug auf einen methodisch-differenzierten Umgang mit Texten und ihren Leistungsdaten im Lesen gibt, wurde der Faktor I (‚methodisch-differenzierter Umgang mit Texten‘) mit den Leistungsdaten im Lesen korreliert. Die Korrelation des Unterrichtserlebnisses mit der Leseleistung (r = 0,27) fiel relativ hoch aus, und auch der Wert für die Signifikanz (p = 0,0) zeigt, dass man hierbei von einem statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis und der Leseleistung sprechen kann. 3 Somit zeigen SuS, die angeben, einen methodisch-differenzierten Umgang mit Texten nicht regelmäßig praktiziert zu haben, auch schlechtere Leistungsergebnisse. Ein Blick auf die einzelnen Items gibt eine noch differenziertere Rückmeldung. 3 Zum Vergleich: Die Autoren von PISA sprechen im internationalen Vergleich von einem positiven Zusammenhang bei einer aufgeklärten Varianz von 4,60 % (vgl. OECD 2001: 128 ff). Die aufgeklärte Varianz unserer Untersuchung beträgt 7,12 %. Testung und Evaluierung des Leseverstehens 97 41 (2012) • Heft 1 Item Korrelation (Pearson’s r) mit der Leseleistung a Hauptaussage in Texten finden 0,20 4 b roten Faden in argumentativen Texten finden 0,16 4 c konkrete Informationen aus einem Text heraussuchen 0,19 4 d Bedeutung der Wörter aus dem Kontext erschließen 0,26 4 e Schlussfolgerungen über Absichten, Gefühle, Einstellungen des Autors ziehen 0,23 4 f zur Lösung von Aufgaben Informationen aus mehreren Texten suchen 0,12 4 g sich schnell einen groben Überblick über den Inhalt eines Textes verschaffen 0,15 4 h wichtige Stellen im Text hervorheben 0,12 4 Tab. 2: Korrelation (Pearson’s r) der Leseleistung mit den Items des Faktors 1 Gemäß der Tabelle 2 lässt sich der stärkste Zusammenhang für Item d ‚Bedeutung der Wörter aus dem Kontext erschließen‘ und der geringste für das Items f ‚zur Lösung von Aufgaben Informationen aus mehreren Texten suchen‘ sowie das Item h ‚wichtige Stellen im Text hervorheben‘ verzeichnen. 4. Diskussion 4.1 Die Forschungsfragen Die Ergebnisse zur ersten Forschungsfrage weisen darauf hin, dass im Französischunterricht ein methodisch-differenzierter Umgang mit Texten acht Jahre nach PISA 2000 mehrmals im Halbjahr stattfand. Hierbei ist anzumerken, dass die Konzentrationsfähigkeit der SuS nach einer knapp 4-stündigen Testung wahrscheinlich nachgelassen hat und mit ihr auch die Motivation zum Ausfüllen des Schülerfragebogens. Eine andere Versuchsdurchführung, bei der der Fragebogen am nächsten Tag ausgefüllt worden wäre, war aus organisatorischen Gründen nicht möglich. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass die vorherige Bearbeitung von Aufgaben zum Leseverstehen auch die Rezeption und Selbsteinschätzung der eigenen Methodenkompetenzen beeinflusst. Problematisch war dabei die Komplexität der Items, welche Tätigkeiten erfragten, für die wiederum andere Aktivitäten und Strategien vorausgesetzt werden mussten. Ebenso kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob die SuS die Fragen genau 4 Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. 98 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 verstanden oder die erfragten Tätigkeiten bewusst wahrgenommen und den Fragebogen somit entsprechend der tatsächlich stattgefundenen Unterrichtspraxis ausgefüllt haben. Die am häufigsten geübte Tätigkeit war laut den Berechnungen ‚die Bedeutung unbekannter Wörter aus dem Kontext erschließen‘, eine Kompetenz im Bereich der Lexikerschließung, die nach dem Kompetenzstufenmodell des IQB auf dem Niveau A2/ B1 von den SuS beherrscht wird, die den MSA anstreben. Es erscheint plausibel, dass genau diese Tätigkeit häufiger geübt wurde als andere, da sie eine aktive Schüler- und eine passive Lehrerrolle impliziert. Für LuL ist es vermutlich leichter umsetzbar, die SuS zunächst selbstständig unbekannte Vokabeln aus dem Kontext erschließen zu lassen als bspw. mit ihnen zu üben, Schlussfolgerungen über die Absichten eines Autors zu ziehen, eine viel komplexere und aus mehreren Teilstrategien zusammengesetzte Tätigkeit, die laut den Erhebungen relativ wenig geübt wurde. Am seltensten wurde laut den Befragungen das Finden und Erläutern eines roten Fadens in argumentativen Texten geübt (Item b). Denkbar ist hierbei, dass die SuS diese Tätigkeit zwar häufig, jedoch unbewusst und unreflektiert geübt haben. Aus der Untersuchung von G RÜTZ (2010) für den Leseprozess in der Muttersprache ist bekannt, dass kompetente Leser erfolgreich Informationen aus Texten entnehmen und diesbezügliche Fördermaßnahmen an Bedeutung verlieren, sodass die LuL möglicherweise ihre fachdidaktischen Absichten hinter dem Üben dieser Tätigkeit nicht explizit gemacht haben. Schließlich kann aber auch vermutet werden, dass diese Aktivität eher selten praktiziert wurde, da sie im Vergleich zu anderen relativ komplex ist und mehrere Teiltätigkeiten voraussetzt, die zuvor stattgefunden haben müssen. Vielleicht fehlt noch immer vielen LuL das Wissen darüber, wie solche Tätigkeiten systematisch geübt werden können. Die Ergebnisse zur zweiten Forschungsfrage haben einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis der SuS in Bezug auf einen methodisch-differenzierten Umgang mit Texten und ihrer Leseleistung im Fach Französisch gezeigt. Empirische Studien, die in Abschnitt 2 beschrieben wurden, haben dies bereits vermuten lassen. An dieser Stelle sollte allerdings Folgendes beachtet werden: Der eingesetzte Schülerfragebogen hat ein Bewusstsein über den Einsatz der beschriebenen Tätigkeiten gewissermaßen vorausgesetzt und durch allgemeine Formulierungen wie ‚die Hauptaussage erfassen‘ auch die Transferierbarkeit von Strategien suggeriert, was als problematisch einzuschätzen ist. Auch das komplexe Konstrukt ‚Lesen‘ bringt einige Probleme mit sich. So mangelt es bislang noch immer an einem für die Fremdsprache empirisch abgesicherten Modell des Leseverstehens. Die Tendenz, den Leseprozess in einzelne Teilfertigkeiten zu segmentieren und Kompetenzniveaus zuzuordnen, wie sie im Kontext standardbasierter Testentwicklung üblich ist, gilt ebenfalls als umstritten. Dies deuten zahlreiche Arbeiten an, die u.a. die Validität des GER und der Bildungsstandards, an denen sich auch das IQB orientiert, anzweifeln (vgl. z.B. B AUSCH [et al.] 2005). Zudem gilt, dass der nachgewiesene Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis in Bezug auf methodische Textkompetenzen und der Leseleistung durch das Ermitteln von Korrelationen noch keine eindeutigen Schlussfolgerungen über Ursa- Testung und Evaluierung des Leseverstehens 99 41 (2012) • Heft 1 chenzusammenhänge erlaubt. Jedoch signalisieren die nachgewiesenen statistischen Zusammenhänge, dass bestimmte im Unterricht geübte Tätigkeiten sich in einem gewissen Maß positiv auf die Leseleistung auswirken können. Welche das sind, zeigt der Blick auf die Einzelitems. So ließ sich für Item d ‚Bedeutung der Wörter aus dem Kontext erschließen‘ der stärkste Zusammenhang zwischen dem Unterrichtserlebnis und der Leseleistung verzeichnen. Dies korrespondiert mit den Ergebnissen der Leseforschung aus Abschnitt 2.1.2, nach denen der Leseprozess in der Fremdsprache maßgeblich von den vorhandenen Sprachkenntnissen beeinflusst wird. Eine der ersten Verarbeitungsebenen, die Wortebene, spielt dabei offensichtlich eine entscheidende Rolle. Für zukünftige Studien wäre es interessant, diesen Zusammenhang auch im Hinblick auf bildungsgangspezifische Unterschiede zu analysieren. Zudem wäre der Zusammenhang vermutlich noch höher, wenn man die Komplexität des Konstrukts ‚methodische Kompetenzen‘ besser erfassen könnte. So deutet das erweiterte Kompetenzmodell aus Abschnitt 2.2 bereits an, dass Sprach-, methodische und interkulturelle Kompetenzen im FSU nur im Zusammenspiel erfolgreich gefördert werden können. Folglich ist es schwer, einen Teilaspekt der methodischen Kompetenzen aus der komplexen Unterrichtsgesamtheit zu entnehmen und ihn genau empirisch abzubilden. Eine weitere Schwierigkeit stellen die vielen begrifflichen Unklarheiten bzw. Unstimmigkeiten in den Definitionen der Begriffe dar. Vor allem der Begriff ‚Strategie‘ hat sich als problematisch herausgestellt, weil in der Fachliteratur keine Einigkeit darüber besteht, ob Strategien grundsätzlich bewusst sind oder ob sie bewusstseinsfähig sind, aber unbewusst und automatisch ablaufen können (vgl. z.B. F RIEDRICH / M ANDL 1992). Ähnlich umstritten ist auch deren Transferierbarkeit (vgl. G ROB / M AAG M ERKI 2001: 492). 4.2 Ausblick Diese Untersuchung stellt unseres Erachtens, trotz aller dargestellten Restriktionen, einen wichtigen Forschungsbeitrag zum Themenbereich methodischer Kompetenzen dar. Zum einen spiegelt sie die Unterrichtspraxis in Bezug auf methodische Kompetenzen beim Umgang mit Texten anhand einer repräsentativen Stichprobe sieben Jahre nach dem „PISA-Schock“ in Deutschland. Durch die Fokussierung auf die prozedurale Ebene von Unterricht und die Förderung bzw. Ausbildung methodischer Kompetenzen ergänzt sie deutsche Schulleistungsuntersuchungen, die diese Kompetenzen lediglich implizit über Leistungsdaten in Form von messbaren Produkten erfassen. Zum anderen weist sie einen Zusammenhang zwischen methodischen Kompetenzen und der Leseleistung empirisch nach. Dies kann zukünftig als Anregung für die Entwicklung eines theoretischen Modells methodischer Kompetenzen und dessen empirische Absicherung dienen, woran es noch immer mangelt. Gerade im Hinblick erkenntnistheoretischer, gesellschaftlicher, technischer und kultureller Veränderungen gewinnt die Rolle methodischer Kompetenzen an Bedeutung und erweist sich im Bereich des Leseverstehens als wertvoll, sodass eine wirksame Förderung dieser Kompetenzen Eingang in den FSU finden sollte. 100 Iulia Popescu, Bettina Neugebauer 41 (2012) • Heft 1 Literatur B ÄR , Marcus (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht der Klassen 8 bis 10. 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New York: Macmillan, 315- 327. 41 (2012) • Heft 1 Aktuelle Dissertationsvorhaben Im Februar 2011 fand in Berlin auf Einladung von Daniela C ASPARI (FU) und Lutz K ÜSTER (HU) die „7. Nachwuchstagung der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) für den wissenschaftlichen Nachwuchs“ statt. Sie war mit 73 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sehr gut besucht und gliederte sich in 8 Sektionen. Vier der vortragenden Promovenden erhalten in unserer Zeitschrift - verteilt auf das vorliegende und das folgende Heft - die Gelegenheit, ihr Dissertationsvorhaben in groben Zügen vorzustellen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei um Einblicke in die „wissenschaftliche Werkstatt“ der Betreffenden und somit um vorläufige Arbeitsstände; diese allerdings machen neugierig. Die Herausgeber N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l © 2012 Narr Francke Attempto Verlag 41 (2012) • Heft 1 J ENNY J AKISCH * Mehrsprachigkeit und Englischunterricht Möglichkeiten und Grenzen schulischer Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld von Theorie und Praxis Abstract. With individual plurilingualism (“M+2”) as the desired aim of European language policy, schools and especially modern foreign language departments have been asked to facilitate the development of competencies in several languages. As English is the first foreign language for almost all German pupils and since its important role as a global and European lingua franca cannot be neglected, it has become clear that the foundations for plurilingualism should be established in English. In order to substantiate the possible contribution of English language classes to plurilingual education, learners’ as well as teachers’ experiences in this area were surveyed in an empirical study. The article introduces a PhD-project that is being undertaken at the University of Braunschweig and presents the project’s main ideas and research questions as well as outlining the methodological approach. 1. Einbettung in den Forschungsdiskurs Das Thema Mehrsprachigkeit als sprachenpolitische Forderung der europäischen Union ist derzeit fester Bestandteil der fremdsprachendidaktischen Diskussionen. Zusätzlich zur Muttersprache soll jeder Bürger Europas über ausbaufähige Kenntnisse in zwei weiteren Fremdsprachen verfügen („M+2“), wobei das dabei zu erreichende Kompetenzniveau bewusst offen gehalten wird. Individuelle Mehrsprachigkeit lässt sich über schulisches Fremdsprachenlernen vermitteln, sie kann aber auch aus einer bereits zu Beginn des institutionellen Fremdsprachenunterrichts vorhandenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit resultieren. Ziel der angestrebten Mehrsprachigkeit ist neben der Befähigung der Schüler zur Bewältigung von Kommunikationssituationen in mehr als einer Fremdsprache die Entwicklung einer Mehrsprachigkeitskompetenz als „Fähigkeit, Kenntnisse in einer Sprache und des Sprachlernprozesses für das Erlernen einer anderen Fremdsprache zu nutzen“ (H ALLET / K ÖNIGS 2010: 303). Lerner sollen folglich in die Lage versetzt werden, bereits vorhandenes Wissen und schon erworbene Kompetenzen in das Lernen einer neuen Sprache einfließen zu lassen. Ausgehend von diesem Mehrsprachigkeitsverständnis ist es Aufgabe von Schule und Fremdsprachenunterricht, die gewünschte Mehrsprachigkeit herbeizuführen und * Korrespondenzadresse: Jenny J AKISCH , Technische Universität Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: j.jakisch@tu-bs.de Arbeitsbereiche: Englisch als europäische Verkehrssprache, Mehrsprachigkeitsdidaktik, Praktika und Praxis in der Lehrerbildung. Mehrsprachigkeit und Englischunterricht 105 41 (2012) • Heft 1 die Schüler zu plurilingualen Unionsbürgern zu erziehen. Damit einher geht die Forderung nach einem stärker integrativen Fremdsprachenunterricht statt eines bisher vorwiegend additiv ausgerichteten Fremdsprachenlernens. Der Unterricht in den verschiedenen (fremd-)sprachlichen Fächern sollte daher besser miteinander vernetzt werden und die Fremdsprachenlehrer sind dazu angehalten, intensiver miteinander zu kooperieren. In der Praxis, d.h. der schulischen Wirklichkeit, muss die Entwicklung von Mehrsprachigkeit allerdings innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen realisiert werden, die sich z.T. als „administrative und organisatorische Zwänge“ (C HRIST 2006: 49) oder als „institutionelle Hemmnisse“ (D E F LORIO -H ANSEN / H U 2003: X) darstellen. Darüber hinaus zeichnet sich ein Ungleichgewicht zwischen der Lebenswelt der Schüler und den sprachenpolitischen Vorstellungen im vereinten Europa ab: Auf der einen Seite dominiert das Englische als mehrheitlich erste Fremdsprache und weltweite Lingua franca mit hohem kommunikativem Nutzen, das aber die Motivation zum Lernen weiterer Fremdsprachen vermutlich eher sinken lässt, auf der anderen Seite steht der bildungspolitische Anspruch nach Kenntnissen in mindestens zwei modernen Fremdsprachen. V OLLMER (2001: 92) bringt das Dilemma auf den Punkt: [Z]um einen besteht die Notwendigkeit, sich das Englische als globales Verständigungsmittel anzueignen und sich dieser Sprache für vielfältige Zwecke kompetent zu bedienen […], zum anderen kann Englisch tendenziell als Bedrohung oder gar Sackgasse für Mehrsprachigkeit gelten. In Anbetracht der Tatsache, dass dieses Problem von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, Angebote frühkindlicher Englischförderung sowie bilingualer Sachfachunterricht in der Arbeitssprache Englisch hoch im Kurs stehen und offenbar allgemeine Einigkeit in Bezug auf das mit Englisch einhergehende hohe cultural capital besteht, scheint eine genauere Beschäftigung mit dem Thema Mehrsprachigkeit aus der Perspektive der Englischdidaktik dringend geboten. 2. Englischunterricht im Kontext von Mehrsprachigkeit Dass sich der Englischunterricht bisher eher wenig mit den Mehrsprachigkeitsinitiativen und -bemühungen anderer Fächer bzw. Disziplinen auseinandergesetzt hat, verwundert angesichts der ihm in der Regel von Schülern und Eltern entgegengebrachten Wertschätzung, der außerschulischen Bedeutung des Englischen und seiner relativ gesicherten Stellung als schulisches Hauptfach mit hohem Stundenvolumen nicht. Obwohl das Lernziel Mehrsprachigkeit Eingang in verschiedene sprachenpolitische Dokumente gefunden hat und sich beispielsweise in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache findet (vgl. KMK 2003: 11), ist schulisches Fremdsprachenlernen bisher vorwiegend einzelsprachlich konzipiert, und die Ausrichtung am Ideal der Mehrsprachigkeit ist kein wesentlicher Bestandteil des Englischunterrichts. Vielmehr scheint sich das Fach Englisch mehr und mehr als Alleinherrscher auf dem schulischen Spra- 106 Jenny Jakisch 41 (2012) • Heft 1 chenmarkt zu etablieren, mit der negativen Konsequenz, dass „nur eine Fremdsprache, nämlich das Englische, ernsthaft und in der nötigen Breite gelehrt wird“ (A HRENS 2008: 9). Gleichwohl kann sich das Fach Englisch den mit Mehrsprachigkeit verbundenen Forderungen und Überlegungen nicht verschließen, ist doch das Englische für einen Großteil der Schüler und in weiten Teilen Deutschlands die erste (schulische) Fremdsprache, der daher eine zentrale Bedeutung für die Grundlegung von Mehrsprachigkeit zukommt. Die realen Gegebenheiten, die eine andere Sprachenfolge eher unrealistisch erscheinen lassen, und den besonderen Status des Englischen berücksichtigend, scheint es daher angebracht, „darüber nachzudenken, ob nicht ein modifizierter Englischunterricht selbst die Schülerinnen und Schüler besser als bisher auf den lebensbegleitenden Umgang mit Sprachen und Kulturen vorbereiten kann“ (S CHRÖDER 2009: 74). Auf fachdidaktischer Ebene setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung von Mehrsprachigkeit auf dem Englischen aufbauen muss und dass Englischunterricht seiner Verantwortung als „Gateway to Languages“ (S CHRÖDER 2009) nachzukommen hat, um als „Brücke und Tor in die Welt anderer Sprachen“ (H ALLET 2011: 220) zu wirken. Der Englischunterricht ist daher gefordert, sein Selbstverständnis und seine didaktisch-methodische Ausrichtung zu überdenken und ggf. neu zu profilieren. Dazu müssen nicht nur die Kompetenzen der Schüler in der Zielsprache Englisch (weiter-)entwickelt werden, sondern es sind darüber hinaus im Rückbzw. Vorgriff auf schon vorhandene bzw. noch zu lernende Sprachen weiterhin Grundlagen affektiv-motivationaler, sprachlich-kognitiver, methodischer und interkultureller Art für das Lernen weiterer Fremdsprachen zu legen (vgl. u.a. V OLLMER 2001, S CHRÖDER 2009, K URTZ 2011). Inwiefern ein so gestalteter Englischunterricht Gefahr läuft, Lernende und Lehrende zu überfordern und durch eine „Überfrachtung […] mit immer neuen Aufgaben“ (K URTZ 2008: 138) seine eigentlichen Kernziele, wie die Vermittlung von funktionalen kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen, zu vernachlässigen droht, müsste allerdings noch genauer geklärt werden. 3. Erkenntnisinteresse und empirische Umsetzung des Forschungsvorhabens Entgegen der Tendenz zu einem vorschnellen Enthusiasmus hinsichtlich der durch mehrsprachige Ansätze zu erwartenden ‚Gewinne‘ ist Ziel des Dissertationsvorhabens, aus der Perspektive der Englischdidaktik kritisch zu untersuchen, welche Möglichkeiten und Grenzen mit Mehrsprachigkeit im Fach Englisch verbunden sein könnten. Dies ist nicht nur nötig, um zu verhindern, dass Mehrsprachigkeit vorschnell als neues Paradigma betrachtet wird, sondern erscheint auch deshalb unabdinglich, weil sprachenpolitische Entwicklungen von allen Beteiligten mitgetragen werden müssen: Mehrsprachigkeit lässt sich […] nicht ‚verordnen‘. Die Vorstellung von der zentralen Bedeutung von Verständigung und wechselseitigem Verstehen in Europa wird sich nur dann Mehrsprachigkeit und Englischunterricht 107 41 (2012) • Heft 1 verwirklichen lassen, wenn die beteiligten Menschen - Schüler, Lehrer, Eltern - für diese Leitidee gewonnen werden können (N EUNER 2005: 176). Das Projekt setzt sich daher zum Ziel, Mehrsprachigkeit im Spannungsfeld von Theorie und Praxis zu analysieren und mögliche Diskrepanzen zwischen einer eher (sprachen-) politisch idealisierten Sicht und einer tendenziell eher pragmatisch-realistischen Schulsicht aufzuzeigen. Der Relevanz guter Englischkenntnisse und damit der Bedeutung des Schulfaches Englisch Rechnung tragend, soll darüber hinaus erkundet werden, inwiefern und auf welche Weise Englischunterricht und das Ideal der Mehrsprachigkeit verbunden werden können. Ausgehend von der These, dass der Weg zu Mehrsprachigkeit das Englische mit einschließen muss, gilt es, den möglichen Beitrag des Englischunterrichts zur Entwicklung von Mehrsprachigkeit zu konkretisieren. Dazu ist es jedoch nötig, die Ausgangsbedingungen für die Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze genauer in den Blick zu nehmen, bleiben doch die schulischen Gegebenheiten, innerhalb derer die Implementierung von Mehrsprachigkeit stattfinden muss, sowie die Perspektive der beteiligten Akteure häufig unberücksichtigt. Um mehr über die Sichtweise der an der Realisierung schulischer Mehrsprachigkeit Beteiligten zu erfahren, wurden daher im Rahmen einer empirischen Studie Englischlerner des 10. Jahrgangs verschiedener niedersächsischer Gymnasien (n=273) sowie Englischlehrer mit unterschiedlichen Zweitfächern (n=15) zu ihren Einstellungen gegenüber und ihren Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und sprachenübergreifendem Lernen befragt. Da Daten von einer größeren Zahl an Schülern erhoben werden sollten, kam für diese Gruppe mit dem quantitativen Instrument des Fragebogens eine stärker vorstrukturierte Erhebungsmethode zum Einsatz, deren Geschlossenheit allerdings durch den Einsatz von Teilfragen mit Freitextoption bewusst durchbrochen wurde. Der Perspektive der Lehrer konnte eher mit einer offeneren, im qualitativen Ansatz zu verortenden Methode Ausdruck verliehen werden, sodass die Wahl auf leitfadenbasierte Experteninterviews fiel. Die flexibel zu handhabenden Leitfragen dienten der Vergleichbarkeit des Interviewmaterials und halfen dabei, den thematischen Rahmen sinnvoll zu begrenzen. Die Auswertung der Daten mithilfe der webbasierten Software Evasys (Schülerfragebögen) sowie in Anlehnung an Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (Lehrerinterviews) strebt an, unterschiedliche Sichtweisen auf Möglichkeiten und Grenzen von Mehrsprachigkeit im und durch Englischunterricht aufzudecken. Dass die Ergebnisse auf unterschiedliche Datenformate zurückgehen und daher nur bedingt vergleichbar sind, ist insofern vertretbar, als das Ziel des Forschungsvorhabens im Offenlegen verschiedener Perspektiven auf Mehrsprachigkeit und Englischunterricht besteht. Die so gewonnenen Erkenntnisse, d.h. die subjektiven Auffassungen der Schüler und Lehrer, sollen der theoretischen Begründung des Konzepts schulische Mehrsprachigkeit gegenübergestellt werden. Die Analyse der strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen des ‚englischen Klassenzimmers‘ und die Erforschung der Leitvorstellungen der Mitwirkenden erlauben eine realistischere Einschätzung des möglichen Beitrags des Faches Englisch zur Erziehung zu Mehrsprachigkeit. 108 Jenny Jakisch 41 (2012) • Heft 1 Literatur A HRENS , Rüdiger (2008): „Universalismen im Englischunterricht - gibt es die? “ In: B AUSCH / B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM (Hrsg.), 9-17. B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2008): Fremdsprachenlernen erforschen: sprachspezifisch oder sprachenübergreifend? Arbeitspapiere der 28. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. C HRIST , Ingeborg (2006): „Wozu lernt man heute fremde Sprachen? “ In: S CHERFER , Peter / Wolff, Dieter (Hrsg.): Vom Lehren und Lernen fremder Sprachen. Eine vorläufige Bestandsaufnahme. Frankfurt/ M. [u.a.]: Lang, 39-68. 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The author proposes to study the mediatic change on the basis of system theory. The results are applied to language pedagogy by an approach little known in the German-speaking debate, the pedagogy of multiliteracies. Based on these theoretical grounds, the author’s research project analyzes the weblog Generación Y by the Cuban Yoani Sánchez in order to evaluate the potential of digital media for the foreign language classroom. 1. Problemstellung Der Technologieschub der vergangenen zwei Jahrzehnte hat nicht nur unseren täglichen Mediengebrauch, sondern durch diesen auch die Gesellschaft selbst tiefgreifend verändert. Diese Veränderungen haben als Forderung an fast alle Schulfächer, das Thema Medien in den Unterricht zu integrieren, auch in aktuelle Bildungsdiskurse Einzug gehalten. Der hohe Stellenwert des Medienbegriffs basiert auf der Einschätzung, dass eine mündige Teilhabe an Gesellschaft kaum möglich ist, wenn man Medien - gemeint sind meist digitale Medien - nicht kompetent zu nutzen versteht. Ihre Allgegenwart weckt aber auch vielfach die Befürchtung einer medialen Überforderung. Mahnende, teils offen medienpessimistische Stimmen kennen wir allerdings aus dem Fernsehzeitalter. Was also ist neu an den „neuen“ Medien? Eine mögliche Antwort ist quantitativer Art: Ohne Zweifel haben die digitalen Medien den Zugang zu Inhalten radikal vereinfacht. Die vielleicht noch wichtigere Neuerung liegt vermutlich in den Möglichkeiten, die sich für jeden Nutzer daraus ergeben, dass nun jeder selbst Inhalte veröffentlichen kann (vgl. M ÜNKER 2009). Das Schlagwort Web 2.0 („Mitmach-Web“) fasst die vielfältigen Formen der Selbstpublikation in Foren, Weblogs, Sozialen Netzwerken oder Foto- und Videoplattformen zusammen. Diese sind in kürzester Zeit zu den populärsten Anwendungen im Internet geworden. Eine demokratische Teilhabe an * Korrespondenzadresse: Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Mediendidaktik, multiliteracies, Bilingualer Sachfachunterricht. 110 Jochen Plikat 41 (2012) • Heft 1 Medien scheint endlich möglich: Jeder vernetzte Rechner ist nicht nur ein Empfangs-, sondern auch ein Sendeapparat. Die Kehrseite ist jedoch, dass allzu leicht persönliche, oft sehr private Informationen auf digitalem Wege an die Öffentlichkeit gelangen und später unkontrolliert weiter verbreitet werden können. Hieraus ergibt sich eine neue Verantwortung im Umgang mit eigenen und fremden Daten, da es in letzter Konsequenz nur noch eine Instanz gibt, die über die Veröffentlichung entscheidet: den Nutzer selbst. Es herrscht große Übereinstimmung darin, dass sich schulische Bildung beiden Dimensionen der Teilhabe an digitalen Öffentlichkeiten - Rezeption und Produktion - widmen muss. Und sie tut es. ‚Medienkompetenz‘ (z.B. B AACKE 1997) ist nach einem ersten Boom in den 1970er Jahren erneut zu einem zentralen Begriff der Bildungsdiskussion geworden. Sie ist in den länderspezifischen curricularen Vorgaben fest verankert und wird bald auch in den bundesweit gültigen Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife der KMK für die 1. Fremdsprache zu finden sein. Dem Fremdsprachenunterricht scheint beim Einsatz von Medien eine besonders wichtige Rolle zuzufallen. Dies liegt einerseits daran, dass er in dem Bemühen, im Klassenzimmer realitätsnahe Lernsituationen zu schaffen, in besonderem Maße von der Arbeit mit auditiven, audiovisuellen und digitalen Medien profitieren kann. Ein zweiter Grund besteht darin, dass eines der Hauptmerkmale der digitalen Welten ihre Mehrsprachigkeit ist. Die vorwiegend einsprachige und auf der Schrift als Leitcode basierende mediale Umgebung des Gutenberg-Zeitalters hat in der sogenannten Turing-Galaxis, in der nicht mehr das Buch, sondern der vernetzte Computer das Leitmedium darstellt, einer mehrsprachigen, meist mit mehrfach kodierten Texten operierenden Praxis Platz gemacht. Dem Fremdsprachenunterricht fällt bei der Erschließung des vielsprachigen Textuniversums Internet naturgemäß eine zentrale Rolle zu. In der anhaltenden Diskussion um Medien in der Fremdsprachendidaktik fällt auf, dass der Begriff zwar vielfach verwendet wird, dass aber weder in behördlichen noch in wissenschaftlichen Texten zum Fremdsprachenunterricht überzeugende Definitionen zu finden sind. Wie aber kann den Akteuren klar sein, worin genau eine Kompetenz besteht, deren Gegenstand so auffallend unpräzise beschrieben ist? Wie kann diese gefördert werden, und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Fremdsprachenunterricht? Haben digitale Medien ein persönlichkeitsbildendes Potential, und wenn ja, wie kann es sich entfalten? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, scheint meist mit einem Medienbegriff operiert zu werden, der sich an Aspekten der technisch-materiellen Instrumentalität orientiert. Daraus kann die Tendenz entstehen, technische Medien um ihrer selbst willen einzusetzen, was etwa T HIERING (1998) scharf kritisiert. 2. Forschungslücke, Fragestellung und erste Ergebnisse So ausführlich der Medienbegriff in der gesamten abendländischen Geistesgeschichte, zunächst in der Philosophie, seit dem 20. Jahrhundert aber auch in den Sozial- und Medienwissenschaften diskutiert worden ist (vgl. u.a. M ERSCH 2006), so spärlich ist diese Neue Medien - Neue Literalität 111 41 (2012) • Heft 1 Diskussion bislang in der Fremdsprachendidaktik rezipiert worden. Zwar sind zahlreiche Forschungsarbeiten direkt oder indirekt der Mediendidaktik zuzuordnen. Eine grundsätzliche Diskussion des für die Fremdsprachendidaktik so zentralen Begriffs selbst ist jedoch bisher nur punktuell erfolgt. Besonders wenig wurden bisher die Beiträge der Systemtheorie zu diesem Thema rezipiert, was insofern ein Manko darstellt, als diese eine aus meiner Sicht ausgesprochen leistungsfähige Medientheorie entwickelt hat. Aus der eingangs geschilderten Problemstellung und der Forschungslücke ergibt sich folgende Forschungsfrage für den ersten Teil meines Projektes: Wie lassen sich die medialen Veränderungen, die sich durch die Allgegenwart digitaler Medien ergeben, beschreiben? Zur Beantwortung dieser Frage soll mit der in der deutschsprachigen Diskussion entscheidend durch die Arbeiten Niklas Luhmanns geprägten Systemtheorie eine soziologische Theorie herangezogen werden, die den Kommunikationsbegriff ins Zentrum stellt und auf ihm aufbauend eine Medientheorie von großer begrifflicher Schärfe entwickelt (vgl. L UHMANN 1997 u. 2004). Luhmann erarbeitet seinen Medienbegriff auf Grundlage einer einfachen Frage: Wie kann Kommunikation überhaupt möglich sein, obwohl psychische Systeme doch in sich geschlossen sind? Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen sind eine black box, also dem direkten Zugang entzogen. Soll eine Verständigung doch zustande kommen, müssen - so Luhmann - drei Schwellen von Unwahrscheinlichkeit überwunden werden: Erstens ist es unwahrscheinlich, dass ein anderer meine Mitteilung als solche wahrnimmt (und nicht etwa als zufälliges Geräusch) und sie versteht; zweitens ist es unwahrscheinlich, dass meine Mitteilung einen physisch abwesenden Adressaten erreicht; drittens ist es unwahrscheinlich, dass der Adressat meinen Sinnvorschlag übernimmt (vgl. L UHMANN 1997: 190 ff). Luhmann nennt nun die sozialen Einrichtungen, welche die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation auf diesen verschiedenen Schwellen bearbeiten, indem sie Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit transformieren, Medien. Medien operieren in L UHMANNS Erklärungsansatz auf den genannten drei Schwellen der Unwahrscheinlichkeit und lassen sich so klassifizieren: Das Medium Sprache steigert die Wahrscheinlichkeit des Verstehens einer Mitteilung, Verbreitungsmedien (Schrift, Radio, Fernsehen, digitale Medien, u.a.) steigern die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von physisch nicht anwesenden Personen, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (auch Erfolgsmedien genannt, wie z.B. Wahrheit, Geld) steigern die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen. In Bezug auf meine Fragestellung scheint nun eine Besonderheit der digitalen Medien darin zu bestehen, dass sie jedem Nutzer produktiven Zugang zu einem Verbreitungsmedium ermöglichen. Jeder kann Inhalte veröffentlichen, über Hyperlinks mit beliebig vielen anderen Inhalten vernetzen und auf diese Weise Kaskaden von Anschlusskommunikationen in Gang setzen. Dies war im vordigitalen Zeitalter weitgehend den etablierten Massenmedien vorbehalten. Ihre klassische gatekeeper-Funktion 112 Jochen Plikat 41 (2012) • Heft 1 wurde durch digitale Medien spürbar aufgeweicht, das soziale System Massenmedien ist in Bewegung geraten. Eine der Stärken von L UHMANNS Medienbegriff liegt darin, dass er eine technischinstrumentelle Sicht auf Medien überwindet und so ihre soziale Funktionalität deutlicher herausarbeitet. Die deskriptive Ausrichtung der Systemtheorie bedingt allerdings, dass sie dort an eine Grenze stößt, wo es um weiterführende, in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht auch normative Fragestellungen geht. Der Bedeutung der digitalen Medien entsprechend beschäftige ich mich im zweiten Teil des Projektes mit ihren möglichen Auswirkungen auf den Fremdsprachenunterricht: Ergeben sich auf Grundlage einer systemtheoretisch fundierten Analyse der digitalen Medien Herausforderungen an und Chancen für den Fremdsprachenunterricht, und wenn ja, welche? Ein normativer Ansatz, der sich meines Erachtens gut zur Beantwortung dieser zweiten Frage eignet, ist in dem im deutschsprachigen Raum bisher nur ansatzweise rezipierten literacy-Begriff der englischsprachigen Bildungsdiskurse zu finden. Insbesondere die auf ihm aufbauende pedagogy of multiliteracies hat die medialen und sozialen Veränderungen des digitalen Zeitalters am konsequentesten aufgenommen. Das Konzept der multiliteracies wurde Mitte der 1990er Jahre von einer Gruppe um Bill Cope und Mary Calantzis entwickelt (vgl. T HE N EW L ONDON G ROUP 1996). Öffnung und Wandel gesellschaftlicher Prozesse legen nahe, so ihre Beobachtung, einsprachig oder nationalstaatlich fundierte Literalität zu überwinden und Bildungsprozesse an der Vielfalt gesellschaftlicher Entwicklungen und Diskurse entlang neu auszurichten. Sie stellen einerseits eine weltweit zunehmende sprachliche und kulturelle Diversität („Vielfalt der Stimmen“) fest, andererseits den wachsenden Einfluss neuer, v.a. digitaler Kommunikationstechnologien („Vielfalt der Medien und Technologien“). Dabei distanzieren sie sich ausdrücklich von einem traditionellen Konzept von Erziehung, das v.a. die Assimilation an bestehende Verhältnisse und die Homogenisierung von Differenz anstrebt. Lernen soll vielmehr einen emanzipatorischen Charakter bekommen, indem es als dreischrittiges Verfahren konzipiert wird. Dabei wird vorhandenes Wissen zuerst rezipiert (Available design), zweitens in einem Prozess der Bedeutungsaushandlung re-konfiguriert (Designing) und drittens als Ergebnis verfügbar gemacht (the Redesigned). Besonders der dritte Schritt weist über die individuelle Ebene hinaus und kann als Beitrag zur Gestaltung der Zukunft der Gesellschaft verstanden werden. In diesem Sinne ist der programmatische zweite Teil des Titels - Designing social futures - zu verstehen (vgl. T HE N EW L ONDON G ROUP 1996). Das Modell macht zudem deutlich, wie zentral für alle Aspekte des Lernens der souveräne Umgang mit Sprache - auch fremder Sprache - und verschiedenen Kommunikationstechnologien ist (vgl. B ACH 2007). Die beiden theoretischen Stränge - die Systemtheorie und die pedagogy of multiliteracies - möchte ich auf ein Weblog anwenden, über das ich auf die mögliche Relevanz der digitalen Medien für den Fremdsprachenunterricht aufmerksam wurde. Es Neue Medien - Neue Literalität 113 41 (2012) • Heft 1 handelt sich um Generación Y der Kubanerin Yoani S ÁNCHEZ (o.J.). Das Beispiel Kuba ist insofern besonders interessant, als Presse, Rundfunk und Fernsehen unter strikter staatlicher Kontrolle stehen. S ÁNCHEZ nutzt nun m.E. ausgesprochen virtuos die Möglichkeiten eines Weblogs, um diese Kontrolle zu unterlaufen, und liefert so ein hervorragendes Beispiel für das emanzipatorische Potential der digitalen Medien. Die Arbeit mit ihren Texten könnte es in besonderem Maße erlauben, die Förderung sprachlicher Kompetenzen mit mediendidaktischen und persönlichkeitsbildenden Aspekten zu verbinden. Aus der Verwendung der beiden Theoriestränge erhoffe ich mir folgenden Mehrwert: Die Systemtheorie hilft zu verstehen, was genau in den digitalen Medien vor sich geht. Die pedagogy of multiliteracies hilft zu verstehen, worin ihr bildendes Potential für die Fremdsprachendidaktik liegen könnte. Die Anschlussfähigkeit der beiden Ansätze möchte ich in meinem Projekt herausarbeiten und überprüfen, ob sich ihre Verbindung für die fremdsprachendidaktische Diskussion als tragfähig erweist. Daher wende ich in meiner Arbeit die erarbeiteten Konzepte auf das Weblog Generación Y an, um beispielhaft die Relevanz der digitalen Medien für den schulischen Fremdsprachenunterricht zu untersuchen. Literatur B AACKE , Dieter (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. B ACH , Gerhard (2007): „Multiliteralität und der europäische Bildungsauftrag“. In: E LSNER , Daniela / K ÜSTER , Lutz / V IEBROCK , Britta (Hrsg.) (2007): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel „Multiliteralität“. Frankfurt/ M.: Lang. L UHMANN , Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. L UHMANN , Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. M EDIENPÄDAGOGISCHER F ORSCHUNGSVERBUND S ÜDWEST (Hrsg.) (2011): JIM 2011. Jugend, Information, (Multi-)Media. Stuttgart. Online verfügbar unter http: / / www.mpfs.de/ fileadmin/ JIM-pdf11/ JIM2011.pdf (31.03.2012). M ERSCH , Dieter (2006): Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius. M ÜNKER , Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. S ÁNCHEZ , Yoani (o.J.): Generación Y [Weblog]. Online verfügbar unter http: / / www.desdecuba.com/ generaciony/ (31.03.2012). T HE N EW L ONDON G ROUP (1996): „A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures“. In: Harvard Educational Review 66.1, 60-92. Auch Online verfügbar unter: http: / / wwwstatic.kern. org/ filer/ blogWrite44ManilaWebsite/ paul/ Articles/ A_Pedagogy_of_Multiliteracies_Designing_ Social_Futures.htm (31.03.2012). T HIERING , Christian (1998): „Medieneinsatz und Persönlichkeitsförderung im Fremdsprachenunterricht“, In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 51.2, 66-73. 41 (2012) • Heft 1 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Dietmar R ÖSLER , Nicola W ÜRFFEL : Online-Tutoren. Kompetenzen und Ausbildung. Tübingen: Narr 2010 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 259 Seiten [29,00 €] „Dieses Buch versteht sich als empirischer Beitrag zur Erforschung der Online-Tutorierung, bezogen auf die Tutorierung von Fremdsprachenlernprozessen.“ (14). Die Autoren machen damit auf zwei zentrale Ansatzpunkte ihrer Arbeit aufmerksam: Erstens wird die Frage, über welche Kompetenzen Tutoren im Sinne einer Professionalisierung ihrer Tätigkeit verfügen sollten, mangels empirischer Untersuchungen häufig immer noch eher normativ beantwortet (vgl. 36 f). Zweitens bezieht sich die überwiegende Zahl der Beiträge und empirischen Untersuchungen zur Online-Tutorierung nicht auf das Fremdsprachenlernen. Fremdsprachenlernspezifische Aussagen zur Wirkung tutorieller Aktivitäten und zu entsprechenden Kompetenzen von Tutoren liegen in systematischer Form bisher nicht vor. Die Autoren wollen deshalb zum einen durch empirisch gestützte Aussagen zur allgemeinen Diskussion um jene Kompetenzen, die Online-Tutoren benötigen, beitragen, zum anderen wollen sie „anhand der Analyse der Daten aus der Ausbildung von Fremdsprachenlehrenden an der Universität Gießen für das Fach Deutsch als Fremdsprache auch zeigen, wie die Komponente Online-Tutorierung in die Ausbildung so integriert werden kann, dass sie die Spezifika des ‚spezifischen Anforderungsbereichs‘ ernst nimmt“ (50). Die vorgelegte Untersuchung bezieht sich auf das Gießener Elektronische Praktikum (GEP), das Studierenden des Faches Deutsch als Fremdsprache (DaF) auf der Basis von Kooperationen mit ausländischen Partnern möglichst früh im Studium Lehrerfahrungen ermöglichen soll (Kapitel 1, 17-24). Die Untersuchungsdaten wurden im Rahmen von E-Mail-Tutorien mit Deutsch- Studierenden einer US-amerikanischen Universität erhoben, die zwischen 2002 und 2005 durchgeführt wurden (19). Neben den E-Mail-Daten standen v.a. die Austauschtagebücher und Praktikumsberichte der Tutoren, abschließende Leitfadeninterviews mit den Tutoren sowie Aufnahmen von Reflexionsprozessen aus dem Begleitseminar zur Verfügung. In ihrer - m.E. viel zu kurzen - Darstellung zum Forschungsdesign (22-24) geben die Autoren an, „im Sinne der Methode des theoretischen Samplings“ gearbeitet zu haben, ohne allerdings zu erläutern, wie sie dabei vorgegangen sind (24). Im Sinne der Grounded Theory (GT) müsste der Prozess der Datenerhebung durch eine sich entwickelnde Theorie kontrolliert worden sein (G LASER / S TRAUSS 1967, 45 1 ). Unklar ist auch, warum nicht fallbezogen vorgegangen wurde. Bereits die im Buch abgedruckten Ausschnitte aus den Tagebüchern und den Leitfadeninterviews machen „Appetit“ auf eine Gesamtbetrachtung der Fälle, deren Rekonstruktion dann die Basis für kontrastive Analysen nach dem Prinzip des minimalen und des maximalen Vergleichs hätte liefern können. Eine konsequent die Perspektive der Tutoren rekonstruierende Analyse wäre jedoch auch über den von den Autoren verwendeten Ansatz der Qualitativen Inhaltsanalyse (23) hinausgegangen, deren Produktivität in Kombination mit qualitativen Verfahren im Umfeld der GT aber ohnehin fraglich ist (z.B. P RZYBORSKI / W OHLRAB -S AHR 2010, 183 2 ). Im zweiten Kapitel erläutern die Autoren, dass sie einen explorativ-interpretatorischen Ansatz verfolgen und auf Kategorisierungen aus vorliegenden Kompetenzkonstrukten nur aus heuristischen Gründen zurückgreifen. Ihr Ziel sei es „Hinweise auf handlungsleitende Kompeten- 1 Barney G. G LASER , Anselm S TRAUSS (1967): The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine. 2 Aglaja P RZYBORSKI , Monika W OHLRAB -S AHR (2010): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 3., korr. Aufl. München: Oldenbourg. 116 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 zen“ in den Daten zu finden und auf diese Weise Ansätze für ein empirisch begründetes Kompetenzmodell für Online-Tutoren aufzuzeigen. Im dritten Kapitel konzentrieren sich R ÖSLER / W ÜRFFEL auf die soziale Kompetenz der Online-Tutoren. Dieser Kompetenz kommt insofern eine Schlüsselfunktion zu, als beim Tutoring unter Online-Bedingungen die Gestaltung der Beziehung zwischen Tutoren und Tutees eine besondere Herausforderung darstellt. Es gibt zur Frage der Beziehungsgestaltung in telekollaborativen Austauschprojekten vor allem in der anglo-amerikanischen Forschung Vorarbeiten, die zeigen, dass Online-Medien spezifische Formen der Interaktion, Kommunikation und Begegnung etablieren, sodass Online-Kooperationen, die eine gewisse Verbindlichkeit bezüglich der Ausgestaltung der Lehr-/ Lernbeziehung zwischen den Beteiligten anstreben, fachlich vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden müssen (z.B. B ELZ / K INGINGER 2002 3 ; W ARE / K RAMSCH 2005, 202 f 4 ). Die Analysen des vorliegenden Bandes bestätigen die Bedeutung dieser Problematik für wichtige Bereiche des Online-Tutorings. Die zentrale Herausforderung für die Online-Tutoren besteht offenbar darin, die Erfahrung der Problematik des Changierens zwischen einer persönlichen und einer formellen Beziehung zu reflektieren und bewusst für die didaktische Gestaltung der verschiedenen Phasen des Tutoriums zu nutzen. In diesem Zusammenhang zeigen R ÖSLER / W ÜRFFEL auch auf, wie sich Tutoren mit der Motivation ihrer Tutees, mit Maßnahmen zur deren Motivierung und mit dem mangelnden Erfolg ihrer Motivierungsmaßnahmen auseinandersetzen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Tutoren - vermutlich durch die Bedingungen der Online-Kommunikation verstärkt (vgl. 109) - nicht nur in Bezug auf die Bewertung der Motivation ihrer Tutees, sondern auch hinsichtlich geeigneter Maßnahmen zur Motivierung zu starker Verunsicherung, zum Teil sogar zu Frustration neigen. Mit Blick auf die didaktisch-methodische Ebene zeigen R ÖSLER / W ÜRFFEL im vierten Kapitel u.a., dass sich die Tutorien unter den offenen Rahmenbedingungen des GEP nicht von vornherein an einem Lehrwerk oder einem Curriculum orientieren. Vielmehr müsse die Frage, welche Gegenstände im Tutorium wie behandelt werden, zwischen den jeweiligen Tutoren und Tutees „ausgehandelt“ werden (122). Aus der Analyse der Probleme, welche die Online-Tutoren bei der Themenwahl, -einführung und -fortführung hatten, leiten die Autoren in der Ausbildung von Online-Tutoren zu berücksichtigende fachübergreifende Kompetenzen für die Bereiche Kommunikationsstrategie und affektive Ansprache ab. Am Beispiel der Verwendung und Behandlung von Aufgaben und Übungen wird deutlich, dass fehlende begriffliche Differenzierungsfähigkeit und mangelnde Fähigkeit, didaktische Funktionen und Einsatzmöglichkeiten zu reflektieren, die Handlungsfähigkeit der Tutoren beeinträchtigt, da diese ihr Handlungsrepertoire nicht überblicken (vgl. 165 f). Im fünften Kapitel beschäftigen sich R ÖSLER / W ÜRFFEL mit der Ausbildung von Online-Tutoren am Beispiel des GEP. Unter Berufung auf „Prinzipien des reflektierenden Erfahrungslernens, des forschenden und des entdeckenden Lernens“ (230) schreiben sie dem Begleitseminar die Funktion zu, Raum für die gemeinsame Reflexion der frühen, nicht selten verunsichernden Praxiserfahrungen bereitzustellen und Gelegenheit zur Erarbeitung von Wissen zu relevanten Schwerpunktthemen zu geben (233-244). Im Schlusskapitel gehen R ÖSLER / W ÜRFFEL nochmals auf die Frage einer gewinnbringenden Kombinierbarkeit von Theorie und Praxis im Sinne des Erfahrungslernens ein. Sie resümieren, 3 Julie A. B ELZ , Celeste K INGINGER (2002): „The cross-linguistic development of address form use in telecollaborative language learning: Two case studies“. In: The Canadian Modern Language Review 59.2, 189-214. 4 Paige D. W ARE , Claire K RAMSCH (2005): „Toward an intercultural stance: Teaching German and English through telecollaboration“. In: The Modern Language Journal 89.2, 190-205. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 117 41 (2012) • Heft 1 dass die Sensibilisierung in der Praxisphase im Kern darin besteht, die Realität der Lehr-/ Lernpraxis entgegen den eigenen Vorannahmen „als überraschend widerspenstig und ‚komplizierter als angenommen‘ [zu] erfahren“ (246). Das konnten die Autoren auf der Basis ihrer Daten für eine ganze Reihe von Aspekten der Durchführung des Online-Tutoriums nachweisen. Als Fazit möchte ich festhalten, dass ich vor allem die Darstellungen zur Auseinandersetzung der Online-Tutoren mit den Anforderungen, mit denen sie vermeintlich oder tatsächlich konfrontiert werden, instruktiv und anregend fand. Diese Ergebnisse können sicherlich als Ausgangspunkt für die Ermittlung von Professionalisierungsbedarfen mit Blick auf die Kompetenzen von Online-Tutoren dienen. Insgesamt habe ich allerdings den Eindruck, dass die doppelläufige Zielsetzung der Arbeit, zum einen auf der Basis empirischer Forschung einen Beitrag zur Diskussion um Kompetenzen von Online-Tutoren im fremdsprachendidaktischen Kontext und zum anderen einen didaktisch-konzeptionellen Beitrag zur Frage, wie auf der Basis der Ergebnisse dieser Forschung die Ausbildung für Online-Tutoren gestaltet werden müsste, zu liefern, zu ambitioniert geraten ist. Ich denke, dass eine Fokussierung auf den empirischen Forschungsteil mit einer Eingrenzung des Gegenstandes auf die fallanalytische Rekonstruktion der Erfahrungen, welche die Tutoren im Online-Tutorium gemacht haben, mit Blick auf die von den Autoren selbst bemängelte Forschungslage konsequenter und produktiver gewesen wäre. Trotz dieser kritischen Hinweise bin ich der Meinung, dass R ÖSLER / W ÜRFFEL mit dem vorliegenden Band einen wichtigen Beitrag zu einer stärker auf die Spezifika der Fremdsprachendidaktik orientierenden Diskussion um Kompetenzen von Online-Tutoren vorgelegt haben. Das Buch vermittelt exemplarisch einen sehr guten Eindruck von der potenziellen Produktivität von Online-Tutorien für die Professionalisierung von angehenden Lehrkräften, aber auch von den didaktischen Herausforderungen, die sich aus der Notwendigkeit einer fachlichen Begleitung einer solchen Praxisphase ergeben. Insofern kann es allen, die sich mit dem Bereich des Online- Lehrens und -Lernens von Fremdsprachen beschäftigen, als anregende Lektüre empfohlen werden. Bielefeld U DO O HM Laurenz V OLKMANN : Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache. Tübingen: Narr 2010, 296 Seiten [19.90 €] Ein vielfach besprochenes Problem der Kompetenz-Standardisierung des Fremdsprachenunterrichts und der Outcome-Orientierung im Gefolge des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen und der deutschen Bildungsstandards ist gewiss die Simplifizierung aller Vorstellungen vom Fremdsprachenlernen und dessen Reduktion auf den Erwerb von skills, jedenfalls im Sinne testbaren Outcomes. Vor diesem Hintergrund liest man im Titel des vorliegenden Buchs von Laurenz V OLKMANN beinahe unwillkürlich ein Ausrufezeichen mit. Denn diese Fachdidaktik besteht nicht nur emphatisch darauf, dass es kein Sprachlernen ohne kulturelles Lernen geben kann, sondern das Buch macht auch auf jeder Seite deutlich, dass „derartige reduktionistische Verständnisse“ (S. 28) und simplizistische Vorstellungen sowohl von fremdsprachlichen Erwerbsprozessen als auch von Inhalten und Themen des Englischunterrichts in die Irre gehen und zur fragwürdigen Ergebnissen führenmüssen: Kultur und Sprache sind unauflösbar ineinander verwoben, und die Frage nach dem „Verhältnis von Sprach- und Kulturunterricht“ (S. 2) gehört zu den Kernfragen einer Fremdsprachendidaktik. Zu V OLKMANNS programmatischen Grundannahmen gehört daher, dass einerseits aus grundsätzlichen Erwägungen, die im Generalkonzept ‚Kultur‘ begründet sind, andererseits aus Sicht 118 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 jüngerer kulturwissenschaftlicher, fachwissenschaftlicher und didaktischer Entwicklungen Komplexität und „Unübersichtlichkeit“ (S. 3) kulturelle und theoretische Gegebenheiten sind, denen sich kein fachdidaktischer Entwurf entziehen kann. Der Autor macht es sich folgerichtig zur Aufgabe, vorschnellen Simplifizierungen zu widerstehen, Komplexität und Diversität kultureller wie theoretischer Entwicklungen zu thematisieren und sie in dieser Fachdidaktik soweit als möglich abzubilden. Dass daraus keine leichte Lesekost und keine einfachen Unterrichtsvorschläge entstehen können, liegt auf der Hand. Vielmehr ist es dieser Fachdidaktik in weiten Teilen darum zu tun, die Vorstellungen von Kultur, von kultureller Differenz und deren Überwindbarkeit, von der Begegnung und den Aushandlungen mit Menschen aus anderen kulturellen Kontexten auf ihre theoretischen Voraussetzungen und (oft verdeckten) Annahmen hin zu befragen. Man könnte sagen: Dieses Buch spürt den kulturtheoretischen Vorstellungen nach, von denen jedes didaktische Denken und Handeln bestimmt ist, auch und gerade dann, wenn sich die Akteure ‚theoriefrei‘ fühlen oder geben, denn „auch einem kulturelle Aspekte nur in geringem Maße berücksichtigenden oder sie ausblendenden Fremdsprachenunterricht [liegt] ein bestimmtes Kulturkonzept zugrunde“ (S. 35). Aus diesem Grund widmet V OLKMANN nach dem einführenden Überblickskapitel, in dem er die zentralen Themen und Fragestellungen des Buches vorstellt, den Theorien und Konzepten von „Kultur - Zielkultur - Zielkulturen“ das 2. Kapitel, worin er sich zunächst ausführlich verschiedenen Kulturtheorien und Begriffen zuwendet. Im Kern stellt V OLKMANN zwei Kulturbegriffe gegeneinander: Deskriptiv-anthropologische Ansätze betrachten Kultur in der Nachfolge Max W EBERS als ein von Menschen erzeugtes sinnbehaftetes und bedeutungshaltiges Gewebe, als die Gesamtheit aller von einer Gemeinschaft geteilten Denk- und Wertvorstellungen sowie sozialer Praktiken und Handlungsformen. Dieser Vorstellung von Kultur, die sich als von Gleichen unter Gleichen verhandeltes und verhandelbares sinnhaftes Ganzes darstellt, steht die skeptische Annahme entgegen, dass auch kulturelle Erzeugungsprozesse von Machtdispositionen und hierarchischen Setzungen geprägt sind, die bestimmte Denk- und Vorstellungsweisen privilegieren und andere marginalisieren oder unterdrücken. „Wertigkeiten“ (S. 39) und „Verwertbarkeit“ sind daher auch wichtige kulturtheoretische Kategorien, die einem naiven, egalitären Kulturverständnis entgegenstehen und für einen kritisch-emanzipatorischen Kulturbegriff unverzichtbar sind. Unabhängig von diesen politischen Implikationen stellt sich dennoch die eher pragmatische Frage, wie die Fremdsprachendidaktik zu einem operablen, modellbildenden und praxisleitenden Kulturbegriff gelangen kann. Zu Recht rekurriert V OLKMANN dabei auf die Kultursemiotik, die sich seit G EERTZ ’ berühmtem Diktum, „that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun“, beinahe konsensuell herausgebildet hat. Der Autor unterstreicht die Gültigkeit dieser Vorstellung von Kultur als eines zeichenhaften, textuellen Gewebes mit der ausdifferenzierenden und didaktischen Erörterung des P OSNERSCHEN dreidimenisonalen Kulturmodells, weil es in der Tat, wie V OLKMANN (S. 41 ff) zeigt, für eine auf textuelle und kulturelle Kompetenzen zielende Didaktik hochgradig anschlussfähig ist. In den Kap. 6 („Aspekte der Vermittlung von Kultur und Sprache“) und 7 („Textsorten und Kultur-/ Sprachvermittlung“) werden die Textualität der Kultur und deren textuelle bzw. mediale Repräsentation aus fremdsprachendidaktischer Perspektive wieder aufgegriffen und noch einmal didaktisch fundiert. Die Überlegungen zum Dachbegriff ‚Kultur‘ werden in Kap. 3 unter dem Titel „Mentalitäten und ‚Nationalcharakter‘“ stärker unterrichtspraktisch und -thematisch gewendet. Denn im fremdsprachlichen Klassenzimmer sind die von V OLKMANN kritisch diskutierten Vorstellungen von kollektiven und nationalen Identitäten immer präsent, zum Teil auch in stereotypisierender Form (Kap. 3.3: „Die Bedeutung von Stereotypen“ und 3.4: „Mythos nationale Identität). V OLKMANN plädiert dafür, solche zum Teil fest verankerten kulturellen Essenzialisierungen und Stereotypi- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 119 41 (2012) • Heft 1 sierungen durch deren Thematisierung bewusst zu machen und Angebote für die kritische Reflexion zu schaffen. Natürlich kann eine fremdsprachliche Kulturdidaktik nicht umhin, sich ausführlich dem interkulturellen Paradigma zu widmen, wenngleich eines der Verdienste dieser Fachdidaktik darin besteht, dass Fragen der Kulturvermittlung und didaktische Optionen auch jenseits dieses - zuweilen selbst wieder stereotyp verwendeten und enggeführten - Konzepts von kultureller Interaktion aufgezeigt werden. In Kap. 4 („Lernziel Fremdverstehen - Realität Dominanzstrukturen“) und in Kap. 5 („Interkulturelle Kompetenz“) werden die Theoriestränge des interkulturellen Paradigmas ausführlich rekonstruiert, auch weit über die fremdsprachendidaktische Theoriebildung hinaus bis in die Erziehungswissenschaft und in die Wirtschaftswissenschaften hinein. Exemplarisch wird in diesen beiden Kapiteln deutlich, dass diese Fachdidaktik interessierten Leserinnen und Lesern Orientierung in einem bisweilen sehr unübersichtlichen Feld divergierender, weit verstreuter Ansätze gibt, indem diese knapp umrissen werden, Vorzüge und Schwächen gegeneinander gestellt, Grenzen aufgezeigt und in keinem Fall vorschnell verworfen werden. In den beiden Kapiteln 4 und 5 findet sich denn auch gewissermaßen eine komplette Geschichte der Herausbildung des interkulturellen Paradigmas in der Fremdsprachendidaktik. Eine echte Frage eher als ein kritischer Kommentar wird durch die Komplexität des Gegenstandes und durch die Fülle der jeweils herangezogenen Forschungsliteratur provoziert: Wahrscheinlich sind, wie der Autor in der Einleitung vermerkt, Überlappungen, Querverweise und Redundanzen unvermeidlich. Dennoch kann man sich hier und da weniger Wiederaufnahmen und eine stringentere Verhandlung (erklärtermaßen) zentraler Thematiken vorstellen, z.B. bei der Erörterung der Globalisierungsproblematik, die in den Unterkapiteln 2.5, 3.6 und 4.3 verhandelt wird, oder auch bei der Diskussion des medialen Wandels und dessen didaktischer Bedeutung, wenn kulturdiagnostische Überlegungen (Kap. 2.5; „Globale Medienkultur / globale Popkultur“) von der Bestimmung der Kompetenzziele in Kap. 6.3 („Medienkompetenzen“) abgelöst werden. Das große Verdienst der vorliegenden fremdsprachlichen Kulturdidaktik liegt jedoch in der kenntnisreichen und sorgfältigen Klärung der theoretischen Grundlagen der kulturvermittelnden Aufgaben des Englischunterrichts und der angestrebten kollektiven wie individuellen Interaktion mit anderen Kulturen bei gleichzeitiger Schaffung der sprachlichen Voraussetzungen. Beim gegenwärtigen Stand der Theoriebildung in der fremdsprachlichen Kulturdidaktik kann man einen völlig kohärenten Entwurf nicht erwarten, und wahrscheinlich ist ein solcher bei der überzeugend dargelegten Diversität und Widersprüchlichkeit der Ansätze überhaupt nicht erreichbar. Aber diese Fachdidaktik legt den Grundstein für die weitere kulturdidaktische Theoriearbeit und für die entsprechenden methodischen Fragen, die in ein theorieorientiertes Werk wie das vorliegende jeweils nur exemplarisch und illustrativ Eingang finden können. Komplementär zu den in diesem Band dargelegten theoretischen Ansätzen muss die Fremdsprachendidaktik vor allem die Frage klären, wo genau der Ort des lernenden Individuums im komplexen Geflecht der kulturellen Interaktion ist und wie sich Denk- und Lernprozesse anregen lassen, die dem fremdsprachlich interagierenden Individuum selbst die Positionsbestimmung ermöglichen. Das im vorliegenden Buch (in Kap. 6.2) ebenfalls erörtere konstruktivistische „Lern-/ Lehrparadigma“ fordert diese Weiterbeschäftigung in Richtung einer lernerzentrierten unterrichtlichen Praxis geradezu heraus. Gießen W OLFGANG H ALLET 120 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 Astrid R EICH : Lexikalische Probleme in der lernersprachlichen Produktion. Communication Strategies Revisited. Tübingen: Stauffenburg 2010, 446 Seiten [64,80 €]. Die vorliegende Monographie, die eine Überarbeitung der 2004 von Astrid R EICH eingereichten Dissertation darstellt, behandelt Schwierigkeiten bei der zweitsprachlichen Produktion und Rezeption einzelner lexikalischer Einheiten. Die theoriebasierte Arbeit bezieht sich vereinzelt auf unterstützende Gesprächsbeispiele deutschlernender polnischer und italienischer Migranten, die im Rahmen des von 1987-1992 geführten und von Norbert Dittmar an der FU Berlin geleiteten DFG-Forschungsprojekts „Modalität von Lernervarietäten im Längsschnitt“ (P-MoLL) erhoben wurden. Erklärtes Ziel der Arbeit ist es, den lexikalischen Zugriff sowie Modelle zur Erklärung lexikalischer Schwierigkeiten und die Bewältigung derartiger Probleme durch Strategien darzustellen. Nach einer einführenden, exemplarischen Illustration der Problematik wird deutlich, dass der Diskurs um die wichtigsten Standardbeschreibungen häufiger, lexikalisch basierter Schwierigkeiten wieder aufzugreifen ist, um Ansatzpunkte für eine neue Beschreibung und Bewertung der Phänomene zu gewinnen. Hierfür zieht R EICH sowohl die Kommunikationsstrategien-Forschung (KSF), die sich im Kern mit lexikalischen Schwierigkeiten von Lernern beschäftigt (siehe Kapitel 2 sowie die exolinguale Konversationsforschung im Kapitel 3), heran. Beide Ansätze werden zunächst chronologisch skizziert, dann in Bezug auf die zentrale Fragestellung kritisch reflektiert. So wird deutlich, dass es schon früh einige problematische Entwicklungen und Definitionsversuche (vgl. die Dichotomie product vs. process) in der KSF gegeben hat, die bislang nicht gelöst worden sind. Insgesamt erscheint laut R EICH die ontologische Erfassung von Kommunikationsstrategien auf Grund unklarer Verhältnisse und Widersprüche zu schwierig, um zu einer einheitlichen Taxonomie von Kommunikationsstrategien zu führen. Auch die bis dato unternommenen empirischen Analysen weisen i.d.R. nur lose Verbindungen zu den theoretischen Überlegungen auf, die die Autoren über die mentale Natur von Strategien anstellen. Dies hänge z.T. mit der Datenerhebung und der Datenauswahl (R EICH 2010: 89), jedoch primär mit den wesentlichen Schwächen taxonomischer Ansätze zusammen. Auf der Grundlage ihrer Analysen kommt R EICH zu dem überzeugenden Schluss, das Konzept der Kommunikationsstrategien gänzlich aufzugeben. Wenn lexikalische Schwierigkeiten am Ausgangspunkt der Überlegungen stehen, seien Kommunikationsstrategien folglich bestenfalls als Teilaspekt der Problembearbeitung zu verstehen. In der Weiterführung behandelt die Verfasserin lexikalische Schwierigkeiten aus konversationeller Sicht. Da die KSF sich v.a. anfänglich hiermit nur am Rand beschäftigte, beruft sie sich auf K ASPER / K ELLERMANN (1997) 1 und teilt die KSF in eine marginale ‚interindividuelle‘ und eine dominante ‚intraindividuelle‘ Richtung auf (R EICH 2010: 125), wobei der interindividuelle Ansatz bei der Analyse von zweitsprachlichen lexikalischen Schwierigkeiten konversationelle Elemente zu berücksichtigen versucht. Daraufhin erweitert R EICH den Blick auf konversationelle Aspekte, indem weitere konversationsbzw. gesprächsanalytische Forschungsansätze im deutschen und internationalen Raum besprochen werden. Aus diesen Ergebnissen erstellt sie einen Katalog von Kriterien bzw. Dimensionen, mit denen sich lexikalische Aushandlungssequenzen aus einem interaktiven Blickwinkel beschreiben lassen. Dieser Katalog umfasst u.a. die Zahl und Art der Gesprächsschritte, die Differenzierung der sequentiellen und inhaltlichen Anteile, die Ausführung der kritischen Abschnitte ‚Problemsignalisierung‘ und ‚Problembearbeitung‘, die 1 Gabriele K ASPER , Eric K ELLERMAN c (1997): „Introduction: Approaches to communication strategies“. In: K ASPER , Gabriele / K ELLERMAN , Eric (Hrsg.): Communication Strategies: Psycholinguistic and Sociolinguistic Perspectives. London: Longman, 1-13. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 121 41 (2012) • Heft 1 Eingrenzung von Problemursachen und die Problemkategorisierung, die Ursache(n), die Funktion und den Verlauf von expandierten Sequenzen, den ‚Erfolg‘ der Aushandlungssequenz sowie die Wirkungen über die problematische Sequenz hinaus (ebd.: 198 f). Im Anschluss daran greift R EICH einige dieser Aspekte heraus, um ihre Bedeutung für die Erforschung lexikalischer Problembehandlungen abschließend zu beurteilen. Unter Rückgriff auf die aus Kapitel 2 und 3 gewonnenen Erkenntnisse arbeitet die Autorin zwei verwandte Aspekte heraus, die im weiteren Verlauf der Arbeit besonders aufgegriffen werden sollen: mentale Ursachen der ‚lexikalischen Schwierigkeiten‘ und lexikalisch-semantische Aspekte bei der Problembearbeitung. Insgesamt kommt sie zu dem Schluss, dass selbst die fortschrittlichsten Arbeiten im Bereich der KSF nicht die Entstehung lexikalischer Schwierigkeiten und die subsequente Bearbeitung durch ‚Kommunikationsstrategien‘ als Prozess beschreiben können, sondern vielmehr die kognitiven Grundlagen, auf denen die Strategien mutmaßlich basieren, erläutern. Erst die Perspektive der Sprachproduktionsforschung, basierend auf dem im 4. Kapitel behandelten Sprachproduktionsmodell von L EVELT (1989) 2 , erlaube eine modellhafte Erfassung sowohl der Ursachen als auch des Entstehungsprozesses von ‚Ersatzmaßnahmen‘. So werden Formen und Aspekte von Störungen bzw. Störungsbedingungen in den Phasen der konzeptionellen Planung und des Lemma-Zugriffs offenbart. R EICH schlussfolgert, dass die modellhaften Vorstellungen von der Sprachproduktion mit einigen Zusatzannahmen insgesamt einen vielversprechenden integrativen Rahmen liefern, in dem lexikalische Schwierigkeiten der exolingualen Kommunikation betrachtet werden können. In diesem Sinne setzt sie sich zum Ziel, im 5. Kapitel Vorschläge zu entwickeln, die sich auf die jüngste, von L EVELT / R OELOFS / M EYER (1999) 3 entwickelte Modellvariante beziehen. Die Struktur dieses Netzwerkmodells eröffne neue Möglichkeiten, die Zugriffsprobleme sowie die wiederholt diagnostizierten Beschreibungsprobleme neu zu betrachten. Das Modell versteht den Zweitspracherwerb als einen Prozess des Aufbaus von zweitsprachenspezifischen Lemma- und Morphem-Knoten in den entsprechenden Schichten oder in einem variablen Umfang die Anfügung kulturspezifischer, nichtsprachlicher Konzeptknoten in der konzeptuellen Schicht des Aktivationsnetzwerkes; L2-Lemmata werden somit nicht durch L1-lexikale Konzepte aufgerufen, sondern durch eigene lexikale Konzepte. Das bloße Vorhandensein eines lexikalischen Konzepts setzt das Wissen um seine unmittelbare Versprachlichungsmöglichkeit voraus. Somit baut der L2-Erwerb Knoten für lexikale Konzepte auf, um sowohl bedeutungsstiftende Verbindungen innerhalb des konzeptuellen Stratums als auch stratumsübergreifende Verbindungen zwischen den Knoten der verschiedenen Schichten herzustellen. Trotz einiger von R EICH aufgeführter Unklarheiten reicht die Modellierung aus, um für die in der zweitsprachlichen Produktion aufkommenden Probleme einen modelltheoretischen Rahmen abzustecken. So werden zweitsprachliche Lexikalisierungsschwierigkeiten (die gemäß dem Schwerpunkt der Arbeit von verwandten Problemen wie lexikalen Fehlgriffen, Angemessenheitsproblemen oder globalen Planungsschwierigkeiten abgegrenzt werden) als Störungen der Aktivationsausbreitung verstanden. Im abschließenden Kapitel 6 resümiert R EICH noch einmal die jeweiligen Stärken und Schwächen der KSF sowie der exolingualen Interaktionsforschung und geht insbesondere auf die Vor- und Nachteile beider Perspektiven ein, wobei hervorgehoben wird, dass erst letztere ein Instrumentarium bereit stellt, mit dem dyadische Koordination zu erfassen ist. Jedoch erlauben die Beschreibungen beider Ansätze keine Möglichkeit, die Zusammenhänge zwischen Handlungen 2 Willem L EVELT (1989): Speaking: From Intention to Articulation. Cambridge: MIT. 3 Willem L EVELT , Ardi R OELOFS , Antje M EYER (1999): „A theory of lexical access in speech production“. In: Behavioral and Brain Sciences 22, 1-75. 122 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 (d.h. Strategien) und ihrer koordinierten Verwendung zu offenbaren. Erst L EVELTS (1989) auf die Rezeption ausgedehntes Sprachproduktionsmodell ermöglicht dies, u.a. durch die Annahme, dass lexikalische Schwierigkeiten eine Störung der Sprachverarbeitung seien. Ein wichtiges Ergebnis dieser Überlegung ist, dass R EICH die Vermittlungsnotwendigkeit von, ja sogar die Existenz von Kommunikationsstrategien bestreiten kann, die nach dieser Sicht zur universellen Sprachfähigkeit gehören. Jedoch bestehe weiterhin das Problem, dass primär die Bearbeitung lexikalischer Probleme anstatt deren Ursachen fokussiert wird. Diesem Problem versucht sie in ihren Überlegungen auf der Basis des von L EVELT / R OELOFS / M EYER (1999) vorgestellten Aktivationsnetzwerks nachzugehen, um die Prozessabläufe konkreter zu modellieren. Dabei stellt R EICH ihre Überlegungen nicht anderen Modellen voran; v.a. die Bearbeitung von Lexikalisierungsschwierigkeiten sei nach wie vor das interessanteste Thema für den Zweitspracherwerb. Da Bearbeitungsphänomene jedoch ineinander greifen und planhaft koordiniert werden (müssen), sollte eine umfassende kognitive Planung angenommen werden, die eine Grundlage für vermeintlich heterogene Bearbeitungsmaßnahmen bietet. Um mit lexikalen Problemen behaftete Gesprächssituationen zu analysieren, bedürfe es einer Reihe teils neuer Analysekriterien, welche die verschiedenen Prozessebenen und damit verschiedene linguistische Beschreibungsebenen betreffen. Diese präsentiert R EICH als ein Ergebnis ihrer Arbeit, bevor sie am Schluss auf sich daraus ergebende Forschungsfragen eingeht. Insgesamt bietet die Monographie eine intensive und detaillierte Besprechung unterschiedlicher Beschreibungsansätze für lexikalische Probleme in der fremdsprachlichen Produktion. Die Autorin vertritt dabei die Position, dass Kommunikationsstrategien als eine für die Fremdsprachenforschung und -lehre wenig nützliche Größe anzusehen ist. R EICHS Besprechung der unterschiedlichen Perspektiven legt nahe, dass ihr Versuch, bereits bestehende Modellierungen für Ursachen lexikalischer Schwierigkeiten zu modifizieren, eine äußerst sinnvolle Ergänzung des heutigen Diskurses darstellen kann. Wenn auch gelegentlich die für die Arbeit besonders relevante Frage nach der Problemursache von lexikalischen Schwierigkeiten ein wenig aus dem Blick gerät und die von P-MoLL zur Verfügung stehenden Daten kaum (an nur etwa 15 Stellen) genutzt werden, leistet Reich zweifelsohne einen wichtigen Beitrag für die Erforschung lexikalischer Schwierigkeiten. Paderborn N ICOLE M ARX Annick D E H OUWER , Antje W ILTON (eds.): English in Europe Today. Sociocultural and Educational Perspectives. Amsterdam, Philadelphia 2011 (AILA Applied Linguistics Series (AALS)), 170 Seiten [Hardcover] 128,00 € Der vorliegende Band ist Karlfried Knapp anlässlich seiner offiziellen Verabschiedung von der Universität Erfurt gewidmet. Der so Geehrte hat viele Jahre mit großem Engagement die englische Sprache in Forschung und Lehre vertreten, insbesondere in ihrer Rolle als lingua franca sowie als Lehr- und Lerngegenstand in schulischen Kontexten, so dass der Titel des Buches zwei seiner wichtigen Forschungsschwerpunkte vereint. Der Band ist in der AILA Applied Linguistics Series erschienen, als Dank, wie die Herausgeber in ihrer „Dedication“ betonen, für Knapps langjährige Tätigkeit als Generalsekretär der AILA. Die Herausgeberinnen vermitteln in ihrem Einleitungsaufsatz „The dynamics of English in a multilingual Europe“, ausgehend von einer historischen Perspektive und mit Blick auf die in der europäischen Geschichte wechselnden linguae francae wie z.B. Latein, Griechisch Französisch, Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 123 41 (2012) • Heft 1 Deutsch, Russisch und heute natürlich Englisch („English is currently a lingua franca that educated people throughout Europe are expected to know“ (5)) einen Einblick in die Omnipräsenz des Englischen in Europa, aber auch in das Phänomen der europäischen Mehrsprachigkeit. Des Weiteren werden in der Einleitung Problemstellungen, die sich mit der Rolle des Englischen in Europa befassen, diskutiert und mit den acht folgenden Aufsätzen in Beziehung gesetzt. Hier geht es u.a. um die Frage, ob das Englische in seiner Funktion als lingua franca eine wesentliche Voraussetzung für die paneuropäische Kommunikation oder eher ein Hindernis für eine aktive Mehrsprachigkeit sei. Ist die Verbreitung des Englischen somit als Bereicherung des europäischen Sprachenrepertoires zu sehen oder als Bedrohung der sprachlichen Diversität? Das Spannungsverhältnis zwischen einem native speaker-Standard als Modell des Englischunterrichts und dem zunehmenden, teilweise dominierenden Gebrauch des Englischen als lingua franca gehört ebenso zu den zentralen Diskussionspunkten wie die Frage des positiven Einflusses der Medien (TV, Internet, u.a.) auf die Herausbildung der englischen Sprachfähigkeit bei Jugendlichen. Mit der Rolle des Englischen als Medium in internationalen Schulen und im tertiären Bildungsbereich sowie damit verbundenen Problemen des Verstehens und der Verständigung in englischsprachigen Lehrveranstaltungen wird ein weiterer Themenbereich in den Blick genommen, der mit den anderen genannten dem Untertitel der Publikation Rechnung trägt. Anglisten scheinen im Allgemeinen den Stellenwert und die Funktionen des Englischen in Europa positiver zu sehen als z.B. Romanisten, die diesem Phänomen eher kritisch gegenüberstehen und für das mit dem Englischen verbundene ‚Bedrohungspotenzial‘ stärker sensibilisiert sind. Die beiden anglistischen Herausgeber bilden in ihrer Einstellung zum Englischen keine Ausnahme, wie sie im Resümee ihres Beitrags feststellen: „Without English as a lingua franca there would be much less communication and mutual understanding amongst Europeans today“ (11). Ob die Bedeutung des nicht ohne Pathos formulierten Folgesatzes „Let us embrace this language of wider communication and together with Europe’s other languages make it our own“ wirklich klar ist, sei dahingestellt, zumal sich dem Leser nicht ganz erschließt, was mit dem enthusiastischen „make it our own“ konkret gemeint ist. Der Beitrag von Jasone C ENOZ zu „The increasing role of English in Basque education“ skizziert wichtige sprachenpolitische Veränderungen in den letzten Jahren durch die gestiegenen Anteile des Englischen im Primarstufenbereich (und schon davor), der Zunahme von CLIL und auch der wachsenden Bedeutung des Englischen in der universitären Lehre. Diese Entwicklung ist umso beachtlicher, als das Englische traditionsgemäß in den südeuropäischen Ländern zweite Fremdsprache nach Französisch war, mittlerweile jedoch im Baskenland, aber nicht nur dort, das Französische verdrängt hat und in den Stundentafeln der schulischen Lehrpläne entsprechend begünstigt wurde. Die große Nachfrage nach dem Englischen im Primarstufenbereich hat aus der Sicht von kritischen Beobachtern einen hohen Preis, da der Englischunterricht auf Kosten des frühen Baskischunterrichts durchgeführt werde. Die sprachliche Anglifizierung hat sich mittlerweile im Hochschulbereich mit über 100 englischsprachigen Studiengängen im Bacherlorbereich ausgewirkt. Im Vergleich zu Deutschland, wo die Zahl der fremdsprachlichen BA-Studiengänge gleich hoch ist, ist dies bemerkenswert, zumal im Baskenland nur 2,7 Millionen Menschen leben und die Gesamtstudierendenzahl um ein Vielfaches kleiner ist. „English language testing“ von Susan M. G ASS und Daniel R EED berichtet von einem Kooperationsprojekt zur Sprachtestentwicklung zwischen einer griechischen und einer US-amerikanischen Universität. Der Beitrag liefert ein höchst eindrucksvolles Beispiel dafür, wie interkulturelle Unterschiede die Durchführung eines solchen Projektes, bedingt durch unterschiedliche Ziele, Einstellungen und Kontexte (business vs academic) in den beiden Ländern, gefährden können. Als exemplarischer Problempunkt sei hier die Bedeutung von Testzertifikaten in Griechenland genannt, mithilfe derer man sich einen besseren Arbeitsplatz und generell eine bessere 124 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 Zukunft verspricht. Dass bei der Verwirklichung des Projektes wirtschaftliche Interessen eine nicht geringe Rolle spielten, wird durch den starken Einfluss von privaten Sprachschulen bei der Sprachtestentwicklung unterstrichen: „In other words, school owners are important stakeholders who, as consumers of the test, also figure prominently in decisions made about content, distribution, and format“ (44). Der Artikel von Annelie K NAPP zum Thema „When comprehension is crucial“ befasst sich mit dem Gebrauch des Englischen als Arbeitssprache in der universitären Lehre. Der Beitrag beginnt mit einer Einführung zur Rolle des Englischen im Studium von deutschen Studierenden, in der sowohl die Vorzüge wie auch die Nachteile des Englischen für Nicht-Muttersprachler diskutiert werden. Angesichts einer bei vielen Studierenden festzustellenden Selbstüberschätzung der eigenen Englischkompetenzen und des Ignorierens dieses Faktums auf Seiten der Lehrenden ist ein diesbezüglicher Hinweis der Verfasserin nur zu berechtigt: „[P]roblems of putting non-native speakers of English at a disadvantage in terms of time and effort needed as well as in terms of communicative success have to be taken seriously“ (53). Die empirische Analyse von Unterrichtsdiskursen aus verschiedenen Disziplinen in international zusammengesetzten Lehrveranstaltungen ermöglicht Einblicke in Strategien, die Studierende und Dozenten verwenden, um Verständnis und Verständigung über fachliche Inhalte herzustellen. Zu den am heftigsten diskutierten Fragen der sprachdidaktischen Dimension des Englischen als lingua franca (ELF) gehört die Frage nach der Eignung eines Standard English-Modells für den Englischunterricht, insbesondere eines solchen Unterrichts, der auch die lingua franca-Perspektive in den Blick nimmt. Während die Protagonisten von ELF ein Standardsprachenmodell ablehnen mit der Begründung, dass dieses für die ELF-Kommunikation nicht relevant sei, plädieren angewandte Linguisten und Sprachdidaktiker, die eine scharfe Trennung von ELF und Englisch als Fremdsprache (EFL) für Unterrichts- und Anwendungszwecke weder für sinnvoll noch für praktikabel halten und neben dem Mündlichen auch den Erwerb von schriftlichen Kompetenzen für relevant erachten, weiterhin für eine Orientierung am muttersprachlich basierten Standardmodell. Der Beitrag von Kurt K OHN über „English as a lingua franca and the Standard English misunderstanding“, stellt einen interessanten Versuch dar, den geschilderten Konflikt aufzulösen, indem er zum einen auf die vorrangige Verwendung des Englischen als europäische lingua franca verweist und zum anderen auf die Sprachlehr- und -lernbiographie der ELF-Anwender Bezug nimmt: „For European ELF speakers with a learning background in EFL, it is perfectly natural to have most of their communicative contact with other non-native speakers and, at the same time, feel communally attracted to native speaker and Standard English characteristics and values“ (89). Der Beitrag von Li W EI mit dem Titel „The early acquisition of English as a second language“ befasst sich mit dem bilingualen Spracherwerb von drei chinesischen Kindern, die im Alter von etwas über einem Jahr nach England gekommen waren. Mit ihren Eltern fand die Kommunikation weitgehend auf Mandarin statt, für den Erwerb des Englischen als Zweitsprache standen andere Quellen zur Verfügung. Für den Wortschatzerwerb stellte sich heraus, dass die Kinder in den ersten Stadien des Zweitspracherwerbs in großem Umfang auf Übersetzungsäquivalente zurückgriffen. In der Entwicklung der Syntax zeigte sich bei Produktionsfehlern der Einfluss der Erstsprache durch L1-Interferenzen. Im Hinblick auf Übersetzungsäquivalenz und syntaktische Interferenz entwickelt Li Wei die Comparability Hypothesis, gemäß der lexikalische und syntaktische Elemente und Strukturen, die vollständig kompatibel oder in starkem Kontrast zueinander stehen, relativ leicht erworben werden, wohingegen solche, die weniger eindeutig sind, weitere Fehler und Interferenzen hervorrufen. „,The more languages, the more English? ‘ A Dutch perspective“ von Jacomine N ORTIER greift im Titel ein Zitat des Soziologen de Swaan auf, mit dem er die einzigartige Funktion des Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 125 41 (2012) • Heft 1 Englischen als internationale lingua franca beschreibt. N ORTIER nimmt dieses Zitat zum Ausgang ihrer Überlegungen, ob der allgegenwärtige Einfluss und die Bedeutung des Englischen zu einer Bedrohung des Niederländischen führen. Ihre Betrachtung von Anglizismen, die Verwendung des Englischen in der Werbesprache und der Gebrauch des Niederländischen in Sitzungen der EU in Brüssel lässt die Autorin zu dem Schluss kommen, dass für das Niederländische zwar ein Domänenverlust zugunsten des Englischen festzustellen ist, es aber auf keinen Fall gerechtfertigt sei, von einer Gefährdung des Niederländischen zu sprechen. Entgegen der sonst bei Linguisten im Allgemeinen üblichen Abstinenz, Empfehlungen zum Sprachverhalten zu geben, findet sich hier folgender Ratschlag: „We should be realistic and alert not to use English when Dutch is available“ (131). Ausgangspunkt des Beitrags von Barbara S EIDLHOFER „Conceptualizing ,English‘ for a multilingual Europe“ ist die Feststellung, dass es wichtig sei, eine gemeinsame europäische Sprache zu haben, dass eine solche Sprache andererseits aber als Bedrohung der von der EU sprachenpolitisch verordneten europäischen Mehrsprachigkeit angesehen werde. S EIDLHOFER trägt in pointierter und durchaus nachvollziehbarer Weise eine Reihe von Argumenten vor, die das Dilemma des Mehrsprachigkeitsdogmas der EU vor dem Hintergrund internationaler und interkultureller Kommunikation deutlich werden lassen. Alternativ schlägt sie vor, eine Form des Englischen als lingua franca mit eigenen Normen zu entwickeln, das gleichsam konkurrenzlos neben den europäischen Nationalsprachen steht und diese ergänzt. Auch wenn die Autorin ausführt, dass Beschreibungen von ELF im Entstehen seien, die zeigten, dass ELF sich in seinen Formen und Funktionen vom native speaker-English merklich unterscheide, so muss man sich fragen, ob diese Besonderheiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausreichen, um ELF faktisch als eine eigene Sprache zu konzeptualisieren, zusätzlich zum Englischen als Nationalsprache. Der Artikel von Marjolijn H. V ERSPOOR , Kees DE B OT und Eva V AN R EIN zu „English as a foreign language“ hat die Rolle des außerschulischen Sprachinputs, insbesondere der Populärmedien wie TV, Internet, Video und Computerspiele zum Gegenstand. Bedenkt man, dass Schätzungen zufolge 40-60% der im niederländischen Fernsehen gezeigten Programme in einer Fremdsprache gesendet werden und berücksichtigt man weiterhin Sender wie MTV, so kommt jeder holländische Fernsehzuschauer auf mindestens eine Stunde englischsprachigen Fernsehkonsum pro Tag. Auf der Grundlage einer empirischen „Semi-Längsschnittstudie“, in der Schüler mit und ohne Medieneinfluss sowie bilingual und nicht-bilingual unterrichtete Schüler untersucht wurden, konnte ermittelt werden, dass die Entwicklung der englischen Sprachfähigkeit ganz wesentlich durch den außerschulischen medialen Sprachinput geprägt ist. Bei der nichtmedial beeinflussten Gruppe handelte es sich im Übrigen um Schüler, die aus religiösen Gründen den Medienkonsum ablehnen. Hier erwies es sich, dass die bilingual unterrichteten Schüler höhere sprachliche Leistungen erzielten als die nicht-bilingual unterrichteten, so dass durch den Faktor bilingual eine gewisse Kompensation für den Verzicht auf nicht-medialen Sprachinput erreicht werden konnte. Der von Annick D E H OUWER und Antje W ILTON attraktiv konzipierte und sorgfältig edierte Sammelband vereinigt neben dem orientierenden Einleitungsaufsatz der Herausgeberinnen acht weitere ansprechende und z.T. sehr innovative Beiträge von bekannten europäischen und amerikanischen angewandten Linguisten. Die Aufsätze dokumentieren das breite theoretische, methodische und inhaltliche Spektrum, was sich natürlicherweise hinter einem Thema wie dem gewählten verbirgt. Man möchte dem Buch eine möglichst weite Verbreitung wünschen, was angesichts seines Preises allerdings ein frommer Wunsch bleiben wird. Braunschweig C LAUS G NUTZMANN 126 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 Grit M EHLHORN , Christine H EYER (Hrsg.): Russisch und Mehrsprachigkeit. Lehren und Lernen von Russisch an deutschen Schulen in einem vereinten Europa. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2011 (Forum Sprachlehrforschung, Bd. 10), 219 S. [34,80 €] Eigenständige Publikationen zur Russischdidaktik hat es seit Ende der 1990er Jahre ebenso wenig gegeben wie wissenschaftliche Fachtagungen. Mit zwei Halleschen Kolloquien, die 1994 und 1998 auf Geschichte und Perspektiven des Russischunterrichts in Deutschland schauten (vgl. F RENZEL / S CHRÖDER 1996 1 und F RENZEL / R ICHTER 1999 2 ) endete für ein knappes Jahrzehnt (jedenfalls der dokumentierte) russischdidaktische Diskurs. Gründe hierfür lagen nicht so sehr in einem fehlenden Gegenstand oder mangelnden Aufgaben, denn in der „Abstufung bzw. Elimination der Russisch-Methodik“ nebst „Re-Philologisierung der ostdeutschen Universitäten“ (S CHRÖDER 1999: 25), die in den slawistischen Instituten ihre Spuren hinterließen. In dem Bestreben, einen reflektierten Austausch über Theorie und Praxis der Schulfremdsprache Russisch anzuregen, knüpft der vorliegende Band faktisch an die genannten Publikationen an. Er hat somit ein gutes Jahrzehnt zu überbrücken, in dem die Praxis des Russischunterrichts sich durchaus weiterentwickelt hat, die fachdidaktische Diskussion sich bislang jedoch nur punktuell auf dessen spezifische (Rahmen)bedingungen bezieht. Eine systematische Reflexion der Praxiserfahrungen und deren Integration in ein Gesamtkonzept des schulischen Russischunterrichts stehen bislang aus. Diese Situation kennzeichnen die Herausgeberinnen Grit M EHLHORN und Christine H EYER in ihrem Vorwort als unbefriedigend. Mit der Präsentation der Ergebnisse zweier Tagungen - 2008 in Magdeburg und 2010 in Leipzig - wollen sie vor allem „die theoretische Diskussion (wieder) beleben“ (8). Als maßgebliche Initiatoren und Gründungsmitglieder des Fachverbandes Russisch und Mehrsprachigkeit, der seit 2008 Russisch im GMF als einem multilingual angelegten Sprachenverband Deutschlands vertritt, stehen sie für die Einbindung der Diskussion um Russisch in den Mehrsprachigkeitsdiskurs. Es geht dabei sowohl um den Stellenwert des Russischunterrichts in einem gesamtsprachlichen Curriculum, als auch um die konzeptionelle Entwicklung eines „europatauglichen“ Russischunterrichts (11). Entsprechend dem grundsätzlichen Bestreben der Herausgeberinnen, Forschung und Unterrichtspraxis zusammen zu bringen, kommen die Beiträger sowohl aus dem Kontext universitärer Fachdidaktik als auch aus dem schulischer Unterrichtspraxis. Einige Beiträge basieren auf den Ergebnissen von Abschlussarbeiten, andere dokumentieren laufende Qualifizierungsarbeiten und Forschungsprojekte. Einführend sieht Christine H EYER Russischunterricht im Sinne europäischer Sprachenpolitik als Beitrag zur Entwicklung individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und zeichnet die „Konturen einer veränderten Konzeption des Russischunterrichts“, die mit der Kompetenzorientierung als veränderter Zielstellung in vielem über die kommunikative Konzeption vom Beginn der 1990er Jahre hinausgeht. Dies werde vor allem in der Erweiterung des Spektrums kommunikativer Aktivitäten um die Sprachmittlung, in der Umsetzung von Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik, in einem veränderten Textsortenangebot sowie in Veränderungen in der Aufgaben- und Evaluationskultur ersichtlich. Es bedürfe nun sowohl der Auseinandersetzung mit grundlegenden Prinzipien der Fremdsprachendidaktik als auch der detaillierten Erarbeitung damit zusammenhängender Handlungsfelder sowie der empirischen Erforschung der Praxis des 1 Bernhard F RENZEL , Konrad S CHRÖDER (1996): Russischunterricht in der ehemaligen DDR. Augsburg: Universität. 2 Bernhard F RENZEL , Angela R ICHTER (Hrsg.) (1999): Russischunterricht in Deutschland. Rückblicke und Perspektiven. Halle: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 127 41 (2012) • Heft 1 Russischlehrens und -lernens. Die weiteren Beiträge greifen in diesem Sinne unterschiedliche Aspekte auf. Grit M EHLHORN und Madlen W AHLICHT stellen erste Schlussfolgerungen des Projekts „Mehrsprachigkeit in der Schule: Transfer aus zuvor gelernten Sprachen als Lernerleichterung im Unterricht der romanischen und slawischen Sprachen an sächsischen Schulen“ vor und gehen der zentralen Frage der Nutzung von vorgelernten Fremdsprachen nach, insbesondere den Möglichkeiten des Transfers von sprachlichem und strategischem Wissen im Tertiärsprachenunterricht Russisch. Sie kommen zu dem Schluss, dass die schulische Realität noch weit von einem Gesamtsprachencurriculum entfernt ist (41), wenn auch Sprachvergleiche v.a. im lexikalischen Bereich durchaus ihren Platz haben. Zudem weisen die Autorinnen darauf hin, dass die morphologisch komplexe Sprache Russisch als erste slawische Sprache in der Fremdsprachenfolge nur in eingeschränktem Maße von Interkomprehensionsmechanismen profitieren kann und sich hieraus spezifische Anforderungen an den Unterricht ergeben. Agnieszka Z AWADSKA zeigt, dass die Lehrplananforderungen für Russisch als Tertiärsprache vielfach als nicht adäquat empfunden werden und, da nicht empirisch basiert, offensichtlich den Bedingungen gerade von Russisch als 3. Fremdsprache nicht gerecht werden. Sie demonstriert, dass zwar die Russisch-Lehrwerke dem aktuellen Erkenntnisstand und den Anforderungen der Tertiärsprachendidaktik entsprechen, jedoch Abschlussniveauanforderungen der Curricula und daraus resultierende Lernpensen „hochgeschraubt“ (89) und dringend zu entrümpeln sind. Im Weiteren fragt M EHLHORN nach Implikationen der Mehrsprachigkeitsdidaktik für den Fremdsprachenunterricht und zeigt an vielfältigen Materialien aus verschiedenen Lehrwerken in Bezug auf unterschiedliche Sprachebenen, dass und wie Transfer im Bereich des bewussten Umgangs mit Sprachstrukturen sowie im Bereich von Lernstrategien und methodischen Kompetenzen dem Fremdsprachenunterricht zugutekommen kann. Hier werden Anknüpfungspunkte deutlich, die der russischdidaktische Fachdiskurs für die anderen Fremdsprachen bieten kann: die Etablierung eines Gesamtsprachencurriculums und eine integrierte Sprachdidaktik sind wohl nur möglich auf der Basis eines gemeinsamen Gesamtkonzepts sprachlicher Bildung und der Spezifizierung des Beitrags, den die einzelnen Sprachfächer jeweils dazu leisten können. Empirisch basiert und auf die Erfassung subjektiver Sichtweisen und Handlungsmuster gerichtet sind die Beiträge von Ruth-Ulrike D EUTSCHMANN , Anna T ICHOMIROVA und Natalja S AVCHUK . D EUTSCHMANN stellt in ihrem Beitrag ein explorativ-interpretativ basiertes Forschungsprojekt vor, das nach dem Ertrag der Fremdsprachenassistenz für den Russischunterricht fragt, T ICHOMIROVA und S AVCHUK befassen sich mit dem für den Russischunterricht auf verschiedenen Ebenen relevanten Thema der Mutterbzw. Herkunftssprachler. Bei T ICHOMIROVA geht es um die Sicht und die Erfahrungen von Lehrenden im Umgang mit russischsprachigen Schülern. Die dargestellten Beispiele vermitteln ein gutes Bild dessen, was derzeit in der Praxis des Russischunterrichts läuft. Es wird aber auch sehr deutlich, dass es hier weiterer empirischer Forschung bedarf, um zum einen die lernerseitigen Voraussetzungen und Motivationen zu erheben und zum anderen die Wirkungen der differenzierenden Maßnahmen empirisch fundiert zu klären. Die Probanden von S AVCHUK sind Lehramtsstudierende mit muttersprachigem Hintergrund, Studierende also, die ihre Erstsprache als Fremdsprache unterrichten wollen. S AVCHUK zeigt, dass der Grad der Reflexionskompetenz bei den Befragten „sehr unterschiedlich ausgeprägt“ (155) ist, und dass viele Probanden wenig sensibilisiert sind für Besonderheiten und daraus resultierende Schwierigkeiten beim Erlernen ihrer Sprache als Fremdsprache. Diese Ergebnisse sollten in einer gezielten Förderung von Studierenden mit muttersprachigem Hintergrund im Lehramtsstudium Berücksichtigung finden. Jule B ÖHMER analysiert aus der Perspektive der Sprachstandsforschung die orthographischen Kenntnisse russisch-deutsch bilingualer Schüler im Deutschen und im Russischen. Die Ergeb- 128 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 nisse stützen Befunde aus anderen Untersuchungen, dass die bilingualen Probanden offensichtlich ein höheres phonologisches Bewusstsein als ihre monolingualen Altersgefährten entwickeln, der Bereich der Orthographie aber stark einzelsprachlich geprägt ist und dass von orthographischen Kenntnissen nicht direkt auf den Sprachstand zu schließen ist. In zwei weiteren Beiträgen werden Handlungsfelder abgesteckt, die sich insbesondere aus den konzeptuellen Überlegungen zum Russischunterricht ergeben. Bei Heike W APENHANS geht es um Sprachmittlung als wesentliche Komponente der von H EYER thematisierten Erweiterung des kommunikativen Spektrums. Deren Notwendigkeit und Platz im Fremdsprachenunterricht erwächst, wie W APENHANS zeigt, vor allem aus unterschiedlich ausgeprägter gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit, in der der Einzelne unterschiedliche kommunikative Rollen ausfüllen kann. Katja L EHNERT setzt sich mit der Spezifität der russischen Anzeigenwerbung, mit deren gestalterischen und sprachlich-strukturellen Elementen sowie kulturellen und sprachlichen Besonderheiten auseinander und entwickelt daraus Vorschläge zur praktischen Arbeit mit Anzeigenwerbung im Russischunterricht. Der vorgelegte Band nimmt wichtige Themen der Russischdidaktik auf der didaktisch-konzeptuellen wie der methodisch-erarbeitenden Ebene in Angriff und gewährt Einblick in empirische Forschungsprojekte. Er gibt damit dem russischdidaktischen Diskurs einen entscheidenden Anstoß, der hoffentlich bald in weiteren Tagungen und Publikationen Fortsetzung findet, denn das Spektrum der interessierenden Themen ist groß. Berlin A NKA B ERGMANN Younghee S HEEN : Corrective Feedback, Individual Differences and Second Language Learning. Dordrecht, New York [etc.]: Springer 2011 (Educational Linguistics; Band 13), 199 Seiten [102,99 €] Die Bedeutung individueller Unterschiede für die Effektivität korrektiven Feedbacks (KF) wurde von der Forschung zur mündlichen und schriftlichen Fehlerkorrektur lange kaum beachtet. Erst seit einigen Jahren hat man damit begonnen, Faktoren wie Vorwissen, Einstellungen, Fremdsprachenlerneignung, Fremdsprachenverwendungsangst, Alter usw. in Untersuchungen zur Wirkung von Korrekturhandlungen mit zu berücksichtigen. Einen Beitrag zu dieser Forschung leistet die vorliegende Monographie von Younghee S HEEN . Mit dieser Publikation präsentiert die Autorin die Ergebnisse ihrer von Zoltán D ÖRNYEI betreuten und im Jahr 2006 an der University of Nottingham vorgelegten Dissertation, welche sie für die Veröffentlichung aktualisiert und um einige Kapitel ergänzt hat. Der Aufbau des Buches im Überblick: Nach der Einführung (Kap. 1,18 S.) folgen je ein Kapitel über die theoretischen Grundlagen der Feedbackforschung (Kap. 2, 20. S.) sowie die Behandlung der Fehlerkorrektur in der auf den Zweit-/ Fremdsprachenunterricht bezogenen pädagogischen Fachliteratur (Kap. 3,13 S.). Es schließen sich vier Kapitel an, welche im Kern die Ergebnisse von S HEENS Untersuchungen präsentieren: zunächst zum Vergleich mündlicher Feedbacktypen (Kap. 4, 37 S.), nachfolgend zum Vergleich schriftlicher Feedbacktypen (Kap. 5, 21 S.), als nächstes zur Gegenüberstellung der beiden Teiluntersuchungen zum mündlichen und schriftlichen KF (Kap. 6, 15 S.) und schließlich zum Einfluss individueller Unterschiede auf die Wirkung der untersuchten mündlichen und schriftlichen Fehlerkorrekturen (Kap. 7, 30 S.). Den Abschluss bilden die Schlussfolgerungen (Kap. 8, 17 S.) sowie das Literaturverzeichnis (15 S.) und der Index zu Autoren und Stichwörtern (7 S.). Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 129 41 (2012) • Heft 1 Die Kapitel 1 bis 3 führen knapp, aber fundiert in die Thematik ein. Zunächst werden zentrale Konzepte der Feedbackforschung definiert. Unter KF versteht S HEEN „feedback that provides learners with evidence that something they have said or written is linguistically incorrect“ (S. 2), und dies unabhängig vom Medium und Zeitpunkt der Korrektur. Es folgt eine Einführung in die relevanten theoretischen Kontroversen. Eine zentrale Frage lautet, inwieweit negative Evidenz für den Erwerb einer Zweitsprache erforderlich oder zumindest nützlich ist. Obwohl S HEEN sich selbst dem kognitiv-interaktionistischen Ansatz zurechnet, welcher vom potenziellen Nutzen des KF ausgeht, bemüht sie sich um einen weiten Blickwinkel und stellt auch konkurrierende Forschungsansätze vor. Bei ihrem Überblick über KF im Spiegel der pädagogischen Fachliteratur stellt S HEEN fest, dass die dort zu findenden Empfehlungen häufig eher auf persönlichen Erfahrungen basieren und der Komplexität des Unterrichtsgeschehens selten gerecht werden. Die in den Kapiteln 4 bis 7 präsentierten quasi-experimentellen Untersuchungen stellen Teilstudien eines Forschungsprojekts dar, das S HEEN an einem Community College in den USA durchgeführt hat. Beteiligt sind daran zehn Lehrkräfte und 143 erwachsene Lernende mittleren Kompetenzniveaus aus insgesamt zwölf intakten Englisch-als-Zweitsprache-Kursen. S HEEN teilt ihr Sample in vier Behandlungs- und eine Kontrollgruppe auf. Den Gegenstand der Behandlung bildet die Verwendung definiter und indefiniter Artikel im Rahmen narrativer Aufgaben, die von den Mitgliedern zweier Gruppen mündlich und von denen der beiden anderen Gruppen schriftlich zu bearbeiten sind. Je Behandlungsgruppe wird ein anderer Feedbacktyp eingesetzt. Der Wirkungsmessung dienen schriftliche Tests vor und unmittelbar nach der Behandlung sowie noch einmal mit einem zeitlichen Abstand von drei bis vier Wochen. Zunächst vergleicht S HEEN die beiden mündlichen Feedbacktypen: Beim recast handelt es sich um die Wiederholung einer fehlerhaften Lernenden-Äußerung durch den Lehrenden, wobei dieser den oder die darin enthaltenen Fehler korrigiert. Im Gegensatz zu dieser eher impliziten Strategie stellt die metalinguistische Korrektur eine Form der expliziten Korrektur dar, bei welcher dem Lernenden neben dem zielsprachlichen Modell auch metalinguistische Informationen präsentiert werden. Der Vergleich ergibt, dass der explizitere Korrekturtyp zu erkennbaren Erwerbsfortschritten führt, während die impliziteren recasts ohne Wirkung bleiben, da sie in der Regel nicht als KF wahrgenommen werden. Indem S HEEN auch beim schriftlichen Feedback die Effektivität zweier auf bestimmte sprachliche Elemente fokussierter Korrekturtypen vergleicht, bedient sie sich erstmals einer Methodologie, die sonst nur zur Untersuchung mündlichen Feedbacks verwendet wird. Auch dieser Vergleich ergibt, dass sich der explizitere, informativere Feedbacktyp besser dazu eignet, die Lernenden auf den sprachlichen Fokus der Korrektur aufmerksam zu machen. Bei einer Gegenüberstellung der mündlichen und schriftlichen Feedbacktypen zeigt sich, dass die schriftliche direkte Korrektur merklich besser abschneidet als die mündlichen recasts, während sich das metalinguistische Feedback in beiden Modi in etwa als gleich effektiv erweist. Daraus folgt, dass für die Effektivität des KF die Explizitheit und nicht der Modus den Ausschlag gibt. Anders als der Titel des Buches vielleicht erwarten ließe, widmet sich ausschließlich das Kapitel 7 dem Einfluss individueller Unterschiede. In der bis dahin ersten quasi-experimentellen Unterrichtsstudie, die den Einfluss individueller Faktoren auf die Effektivität fokussierter Feedbackstrategien untersucht, konzentriert sich S HEEN auf den kognitiven Faktor der Fremdsprachenlerneignung sowie die affektiven Faktoren Einstellungen und Fremdsprachenverwendungsangst. Korrelationsanalysen der Daten ergeben, dass die Testergebnisse der recast-Gruppe nicht, die der drei anderen Gruppen dagegen statistisch signifikant mit allen Faktoren korrelieren. Vorausgesetzt, das KF ist explizit genug, um bemerkt zu werden, kann es den Erwerb also insbesondere dann begünstigen, wenn die Lernenden sich durch eine hohe Lerneignung auszeichnen, 130 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 positiv gegenüber der Fehlerkorrektur eingestellt sind und ihre Aufmerksamkeit nicht durch eine hohe Fremdsprachenverwendungsangst beeinträchtigt wird. Im letzten Kapitel fasst S HEEN nicht nur ihre eigenen, sondern auch die wichtigsten Ergebnisse der Feedbackforschung insgesamt zusammen und diskutiert deren Implikationen für die Unterrichtspraxis. Den Kristallisationspunkt bildet dabei eine Frage, die sich aus den beiden zentralen Ergebnissen ihrer Forschung ergibt: Einerseits dokumentieren diese einen klaren Vorteil expliziter Feedbacktypen gegenüber impliziten; andererseits belegen sie, dass es sich bei KF um ein hoch komplexes und variables Phänomen handelt, dessen Wirkung u.a. von einer Reihe individueller Faktoren abhängt. Ist es also überhaupt zulässig, einem bestimmten Feedbacktyp gegenüber anderen eine höhere Effektivität generell zuzusprechen, oder muss KF stets den spezifischen Voraussetzungen der Lernenden angepasst werden? Bei dieser Frage, die das gesamte Buch durchzieht, handelt es sich um eine der Schlüsselfragen der gegenwärtigen Feedbackforschung. S HEEN vertritt hier letztlich eine pragmatische Position: Zwar sei es wünschenswert, das KF den Lernenden anzupassen, in der Unterrichtspraxis lasse sich dies jedoch kaum bewerkstelligen. Abgesehen von der Möglichkeit, die Lernenden durch Aufklärung für Fehlerkorrekturen zu sensibilisieren, bestehe die beste Option daher in der Bereitstellung expliziten Feedbacks, da dieses den Lernenden unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen am meisten nütze. Fazit: S HEENS Monographie weist durchaus einige Schwachstellen auf. So bedingt etwa der Aufbau des Buches, dass die Autorin immer wieder auf die gleichen Sachverhalte zurückkommt und sich dabei häufig wiederholt. Dies führt zu inhaltlichen Redundanzen, die beim Lesen bisweilen ermüden. Weiter ist zu beanstanden, dass S HEEN zwar die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zu denen anderer Studien in Beziehung setzt, dabei aber die Forschungsergebnisse experimenteller Laborstudien, namentlich solcher, die KF in Lerner-Lerner-Interaktionen untersuchen, weitgehend unberücksichtigt lässt. Wenn S HEEN z.B. schreibt (S. 159), zum Einfluss des Faktors Alter auf die Wirkung von KF gebe es bislang keine Forschungen, so ignoriert sie damit einige wichtige Laborstudien zu genau diesem Gegenstand. Ein weiterer Schwachpunkt besteht in S HEENS selektiver Behandlung der individuellen Unterschiede. Dass sie ihre eigene Studie auf drei Faktoren beschränkt, ist ihr nicht vorzuwerfen. Dass sie aber nicht wenigstens einen kurzen Überblick über den Forschungsstand zu anderen Faktoren, etwa dem Vorwissen oder dem lernersprachlichen Entwicklungsniveau, bietet, ist bei Berücksichtigung des Buchtitels als ein Defizit zu werten. Allen Beanstandungen zum Trotz stellt S HEENS Buch dennoch einen bedeutenden Beitrag zur Feedbackforschung dar. Hervorzuheben ist zum einen S HEENS Bemühen um die Zusammenführung der bislang separaten Forschungszweige zu mündlichem und schriftlichem KF. Ihre Anwendung der Methodologie zur Erforschung mündlicher Fehlerkorrekturen auf die Untersuchung schriftlicher Feedbacktypen setzt Maßstäbe. Als einer der ersten ihres Faches ist es ihr auf diesem Wege gelungen, die erwerbsfördernde Wirkung schriftlicher Korrekturen empirisch zu belegen. Zum anderen leistet S HEEN einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Einflusses individueller Unterschiede. Keiner der von ihr behandelten Faktoren wurde zuvor unter quasi-experimentellen Bedingungen im Unterricht untersucht. Wenngleich ihre Studie durch die Erhebung und Auswertung qualitativer Daten möglicherweise noch gewonnen hätte, wäre doch schon viel erreicht, wenn in Zukunft weitere Feedbackstudien, insbesondere zur Bedeutung individueller Faktoren, auf einem ähnlich hohen Niveau durchgeführt würden. Münster M ATTHIAS S CHOORMANN Berlin T ORSTEN S CHLAK (†) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 131 41 (2012) • Heft 1 Daniela C ASPARI , Lutz K ÜSTER , Lutz (Hrsg.): Wege zu interkultureller Kompetenz. Fremdsprachendidaktische Aspekte der Text- und Medienarbeit. Frankfurt/ M.: Lang 2010 (= Kolloquium Fremdsprachenunterricht, Band 40), 159 Seiten [26,80€] Die Einsicht, dass das Erlernen einer Sprache mit kulturbezogenen Lernprozessen untrennbar verbunden ist, gehört heute zu den stabilen Grundüberzeugungen der sich meist als ‚interkulturell‘ verstehenden Fremdsprachendidaktiken. Dabei hat sich im fremdsprachendidaktischen Diskurs der letzten Jahre der Begriff der ‚interkulturellen Kompetenz‘ als Bezeichnung einer Zielorientierung, die insbesondere den kulturbezogenen Aspekten fremdsprachlichen Lernens die Richtung vorgeben soll, weitgehend durchgesetzt, ohne dass mit diesem Begriff allerdings eine klare, konkrete und halbwegs konsensfähige inhaltliche Füllung verbunden wäre. Vielmehr steht der Begriff und mit ihm die gesamte Debatte über die ‚interkulturellen‘ Aspekte des Fremdsprachenlernens derzeit im Schnittpunkt widerstreitender bildungspolitischer und wissenschaftlicher Diskurse. Da ist zum einen der mit PISA, Bildungsstandards oder dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) angesprochene sozusagen ‚offizielle‘ bildungs- und sprachenpolitische Diskurs der Standard- und Kompetenzorientierung, von dem ein deutlicher Druck zur Standardisierung und Operationalisierung auch kulturbezogener Lernziele im Fremdsprachenunterricht ausgeht. Und da ist zum zweiten der kulturwissenschaftliche Diskurs, der gerade im Gegenteil den diskursiven Deutungs- und Konstruktcharakter von ‚Kultur‘ und die prinzipielle Nichtverfügbarkeit kultureller Inhalte und darauf bezogener Kompetenzen betont. In diesem Diskurs, der längst auch in den Fremdsprachenwissenschaften angekommen ist, geraten zudem zentrale Bestandteile einer sich als ‚interkulturell‘ begreifenden Fremdsprachendidaktik, etwa die Dichotomie von ‚eigener‘ und ‚fremder Kultur‘ oder überhaupt die Vorstellung einer ‚objektiv‘ beschreibbaren ‚Kultur‘, zunehmend außer Kurs. Vor diesem hier nur sehr knapp skizzierten Problemhintergrund diskutiert der vorliegende Sammelband, der auf ein „Fremdsprachendidaktisches Kolloquium Berlin-Brandenburg“ im Juli 2008 an der Humboldt-Universität in Berlin zurückgeht, insbesondere die Frage, auf welche Weise und mit Hilfe welchen textuellen und/ oder medialen Inputs sich ‚interkulturelle Kompetenz‘ im schulischen Fremdsprachenunterricht fördern und entwickeln lässt. Dass mit einer solchen Fokussierung auf im engeren Sinne didaktisch-methodische Fragestellungen nach dem ‚Wie‘ der Vermittlung die eigentlich viel brisanteren Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Begrifflichkeit von ‚interkultureller Kompetenz‘ angesichts der angesprochenen Problemlagen immer wieder in den Hintergrund geraten, liegt einerseits in der Natur der Sache, macht aber andererseits auch eine gravierende Schwäche des Bandes aus. Der Band versammelt insgesamt zehn Einzelbeiträge, von denen sich die Hälfte im weitesten Sinn der Kategorie ‚Vorschlagsdidaktik‘ zuordnen lassen, d.h. die Beiträge unterbreiten - ganz im Sinne der übergreifenden Fragestellung - mehr oder weniger gut argumentierende Vorschläge, mit Hilfe welcher Texte, Textsorten oder Mediengattungen sich interkulturelle Kompetenz im Fremdsprachenunterricht Englisch, Französisch oder Spanisch in sinnvoller Weise fördern und entwickeln lässt. Das reicht dann vom Medium Fotografie (H OLZBRECHER ) über die vom deutsch-französischen Kulturkanal ARTE produzierte Fernsehsendung Karambolage im Französischunterricht (K ÜSTER ), die Arbeit mit Blogs (P LIKAT ) oder mit dem die politische Vergangenheit thematisierenden Roman Soldados de Salamina von J AVIER C ERCAS im Spanischunterricht (B LAUE ) bis zu den Überlegungen von Volker Raddatz zum Potenzial englischsprachiger postkolonialer Literatur, die mit ihrer Auflösung hergebrachter Identitätsmuster und ihrer fragmentierten, auf jede Eindeutigkeit verzichtenden Erzählperspektive auch formal den Anforderungen an eine lerner- und prozessorientierte Fremdsprachendidaktik entgegen komme. 132 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 41 (2012) • Heft 1 Auch den Beitrag von Wolfgang Z YDATIß über sachfachliches, interkulturelles und fremdsprachliches Lernen in der gymnasialen Oberstufe könnte man der Kategorie ‚Vorschlagsdidaktik‘ zuordnen, versteht er sich doch, wie der Untertitel verdeutlicht, als „Plädoyer für fächerverbindende Seminarbzw. Projektkurse“ (63). Seine Vorschläge eröffnen aber deutlich weitere Perspektiven auf die Problematik des ‚Interkulturellen‘ insofern, als hier - an einem Beispiel aus dem Englischunterricht - der enge Zusammenhang zwischen sprachlichem, kulturellem und sachfachlichem Lernen verdeutlicht wird, der zu interessanten Überlegungen zur Kombination der Fremdsprachenfächer etwa mit naturwissenschaftlichem Unterricht Anlass gibt. Der Beitrag von Heidemarie S ARTER („Sprachmittlung und pragmalinguistische Aspekte interkulturellen Fremdsprachenunterrichts“) geht vom Stand der ‚interkulturell‘ orientierten Fremdsprachendidaktiken aus, wie er insbesondere im GER formuliert ist, und ergänzt diesen in zwei Richtungen: Zum einen hebt sie die Bedeutung der Sprachmittlung hervor, die ja auch im GER schon eine gewisse Rolle spielt, und zum anderen fordert sie insbesondere im Hinblick auf die Sprachmittlung die stärkere Einbeziehung kultureller Aspekte, die mit der Sprachverwendung einhergehen, in den Fremdsprachenunterricht. Mit letzterem sind die pragmalinguistischen Aspekte wie Direktheit/ Indirektheit des Adressatenbezugs, unterschiedliche Konnotationen scheinbar gleichbedeutender Begriffe oder die die indirekte Rede einleitenden sprachlichen Mittel gemeint, die eine „kulturadäquate Sprachverwendungskompetenz“ ausmachen (97). Der Hinweis auf die Rolle pragmalinguistischer Aspekte in einem sich als ‚interkulturell‘ begreifenden Sprachunterricht ist nun allerdings wirklich nicht neu, im Gegenteil: Auch die linguistische Forschung zur interkulturellen Kommunikation ist über die von S ARTER herangezogenen kontrastiven Studien etwa von H OUSE zu Sprachverwendungspraktiken im Deutschen und Englischen längst hinaus. Daniela C ASPARI untersucht in ihrem sehr eng an der schulischen Praxis des Französischunterrichts orientierten Beitrag die 2004 von der KMK beschlossenen Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung (EPA) für das Fach Französisch im Hinblick auf die Frage, wie ‚interkulturelle Kompetenz‘ in diesem Dokument konzeptualisiert wird und in welcher Weise sie in den dazu gehörigen Aufgabenstellungen überprüft wird. Das Ergebnis ist ernüchternd: Zwar werde der interkulturellen Kompetenz in der EPA auf einer eher allgemeinen Ebene durchaus ein hoher Stellenwert zugesprochen, aber weder sei ein kohärentes Konzept von interkultureller Kompetenz auszumachen noch seien in den Aufgabenstellungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, entsprechende Bezüge erkennbar. Hier seien Ergänzungen, insbesondere bei den mündlichen Aufgaben, dringend erforderlich. Abweichend vom derzeit dominanten bildungspolitischen Diskurs, der sich vorrangig an Output und learning outcomes orientiert und Fragen nach Lerninhalten und Medien eher nachrangig behandelt, fragt Andrea R ÖSSLER in ihrem Beitrag nach Standards für die Auswahl von Input und Lerngelegenheiten, mit deren Hilfe sich interkulturelle Kompetenz im Fremdsprachenunterricht entwickeln lasse. Dabei legt sie allerdings ein dem traditionellen interkulturellen Paradigma eng verbundenes Verständnis von ‚interkultureller Kompetenz‘ zugrunde, das sich wie selbstverständlich in der Begrifflichkeit von ‚eigener‘ und ‚fremder Kultur‘, von kulturspezifisch geprägten Kommunikationsformen, Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern bewegt, ohne die oben erwähnten kulturwissenschaftlichen Verflüssigungen dieser Konzepte auch nur ansatzweise zur Kenntnis zu nehmen. Dass die Didaktiken der an deutschen Schulen angebotenen Fremdsprachen ein großes Interesse daran haben müssen, Konzepte wie ‚interkulturelle Kompetenz‘ weniger auf begrifflicher und theoretischer Ebene zu diskutieren, sondern vor allem in Form von konkreten Lernmaterialien und Unterrichtsvorschlägen praktisch nutzbar zu machen, ist verständlich und nachvollziehbar. Das Spannungsfeld von theoretischer Reflexion und Grundlagenforschung auf der einen Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 133 41 (2012) • Heft 1 Seite und den Anforderungen der Praxis auf der anderen Seite ist der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Lernen und Lehren von Fremdsprachen immer schon inhärent und wird sich auch nie völlig zugunsten des einen oder anderen auflösen lassen. Eine Fremdsprachendidaktik, die sich als Wissenschaft begreift, sollte sich allerdings auch davor hüten, ihren wissenschaftlichen Anspruch in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Praxis und/ oder gegenüber bildungspolitischen Vorgaben zu vernachlässigen und sich als bloße Vorschlagsdidaktik zu gerieren. Wer heute über ‚interkulturelle Kompetenz‘ spricht, kann dies mit einem seriösen wissenschaftlichen Anspruch nicht mehr tun, ohne sich mit der in kulturwissenschaftlichen Diskursen seit langem formulierten Kritik an diesem Konzept zumindest auseinander zu setzen und daraus auch für eine mögliche praktische Umsetzung Konsequenzen abzuleiten. Dies kommt in den meisten Beiträgen des vorliegenden Bandes deutlich zu kurz. Dass es auch anders geht, zeigt aber der (englischsprachige) Beitrag von Gerhard B ACH , der sich auf der Basis aktueller kulturwissenschaftlicher Positionen sowie eigener Erfahrungen im Umgang mit Studierenden in ‚interkulturellen‘ Settings mit den üblichen Konzepten und Begrifflichkeiten wie ‚Kultur‘, ‚interkulturelle Kompetenz‘ und ‚third domain‘ auseinandersetzt und zeigt, dass kulturelle Zuschreibungen hochgradig subjektiv und fragil sind und nirgendwo sonst existieren als „in the individual’s mind“ (27). Es sei an der Zeit, so B ACH , „to review the tenets of our own arguments and the theories we construct around them“ (18). Der insgesamt sehr nachdenklich formulierte, mehr Fragen stellende als fertige Antworten liefernde Beitrag von B ACH , der den Sammelband eröffnet, setzt hier Standards, die von einigen der darauf folgenden Beiträge leider mehr oder weniger deutlich unterboten werden. Leipzig C LAUS A LTMAYER 41 (2012) • Heft 1 I n f o r m a ti o n e n • V o r s c h a u Vorschau auf Jahrgang 41.2 (2012) Der von Claus G NUTZMANN (Braunschweig) koordinierte Themenschwerpunkt für Jahrgang 41.2 (2012) trägt den Titel „Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen“. Zeiten, in denen Fremdsprachenlernen im Hochschulkontext überwiegend Philologiestudenten vorbehalten blieb, gehören der Vergangenheit an. Fremdsprachen, insbesondere Englisch, begegnen Studierenden mittlerweile in nahezu allen Fachrichtungen. Nicht umsonst stellen sich die Universitäten mit einem breiten Spektrum an fachsprachlichen Kursen auf die Bedürfnisse ihrer Studierenden ein. Internationalisierung heißt das neue Schlagwort im europäischen Hochschulkontext, wobei der Kontakt mit der Fremdsprache von der Rezeption internationaler Publikationen bis hin zur vollständigen Absolvierung des Studiums in der Fremdsprache reichen kann. Vor dem Hintergrund der veränderten Anforderungen an Hochschulabsolventen in einer globalisierten Welt, begünstigt durch die Einigung des europäischen Hochschulraums im Rahmen des Bolognaprozesses, waren viele europäische Universitäten in dem letzten Jahrzehnt zu tiefgreifenden Reformen bereit. Europa ist seither nicht mehr (nur) geprägt durch eine nationalstaatliche Diversität im Hinblick auf das Studienangebot, sondern zeichnet sich zunehmend (auch) durch seine große Zahl an inhaltlich und sprachlich international ausgerichteten Studiengängen aus. Zwar werden durchaus ernstzunehmende Bedenken um einen Verlust der wissenschaftlichen Mehrsprachigkeit in Lehre und Forschung geäußert, Auswirkungen auf die rasante Ausweitung von internationalen Studiengängen scheinen diese kritischen Anmerkungen jedoch kaum oder gar nicht zu haben. Während es beispielsweise in Deutschland im Jahr 2002 etwa 120 englischsprachige Studiengänge gab, erhöhte sich ihre Anzahl bereits im Jahr 2008 auf über 600 und aktuell auf mehr als 1000 Studienangebote (DAAD-Datenbank zu internationalen Studienangeboten in Deutschland). Dabei hat die in anderen europäischen Ländern ähnlich verlaufende Dynamik bei der Einrichtung internationaler Studiengänge sicherlich auch dazu geführt, dass die Stimmen der Reformgegner gegenüber denen der Internationalisierungsbefürworter leiser geworden sind. In Deutschland gehört die Internationalisierung im Hochschulkontext zu den wichtigsten „strategischen Zielen“, damit deutsche Universitäten und Hochschulen die „weltweite Sichtbarkeit ihrer akademischen Qualität“ (vgl. DAAD Jahresbericht 2009) erhöhen können. Ein Blick in die europäische Hochschullandschaft - unter Berücksichtigung verschiedener Länder, Sprachen und Wissenschaftsbereiche - soll Aufschluss über aktuelle Entwicklungen bei der Verwendung von Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen geben. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: Claus G NUTZMANN (TU Braunschweig): Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Jim C OLEMAN (The Open University, Milton Keynes): Non-specialist linguists in the United Kingdom in the context of the Englishisation of European Higher Education Christian F ANDRYCH , Betina S EDLACZEK (Universität Leipzig): Sprachbedürfnisse von Studierenden in dominant englischsprachigen Studiengängen. Eine empirische Studie Johann F ISCHER (Georg-August-Universität Göttingen): Das hochschulspezifische Ausbildungs- und Zertifizierungssystem UNIcert auf dem Weg zum handlungsorientierten Sprachtesten Claus Gnutzmann, Jenny Jakisch, Frank Rabe, Joana Willim (TU Braunschweig): Europäische Identität und Englisch als Lingua franca: Studentische Perspektiven Informationen • Vorschau 135 41 (2012) • Heft 1 Jochen H ELLMANN (DFH Saarbrücken): Binationale integrierte Studiengänge: Akademischer Mehrwert durch Bilingualität und Bikulturalität am Beispiel der Studiengänge der Deutsch- Französischen Hochschule Annelie K NAPP , Silke I MMERMANN (Universität Siegen): UniComm Englisch - ein Formulierungswörterbuch für die Lehrveranstaltungskommunikation Bernd W ÄCHTER (ACA, Brüssel): English-medium programmes in European higher education Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 42.1 (2013) Highlights der Fremdsprachendidaktik (koordiniert von Jenny J AKISCH , Frank G. K ÖNIGS und Lutz K ÜSTER ) Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG JANUAR 2012 JETZT BESTELLEN! Ludger Schiffler Effektiver Fremdsprachenunterricht Bewegung - Visualisierung - Entspannung narr studienbücher 2012, 160 Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,90 ISBN 978-3-8233-6680-5 Aufgrund neuerer Erkenntnisse der Gehirnforschung zeigt Schiffler, wie ein effektiveres Fremdsprachenlernen mit konkreten Beispielen in Englisch - Französisch - Spanisch und Deutsch als Fremdsprache möglich ist und wie Lehramtsstudierende, Referendare, Lehrer und Ausbilder zu Spezialisten des Fremdsprachenlernens werden können. Erprobt in der eigenen Unterrichtspraxis stellt das Buch konkret und verständlich effektive Methoden vor, wie beim Fremdsprachenunterricht „mit allen Sinnen“ gelernt werden kann und damit die unterschiedlichen Lernertypen bestmöglich erreicht werden. 002612 Auslieferung Januar 2012.indd 4 18.01.12 17: 06