Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2015
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Gnutzmann Küster SchrammISSN 0932-6936 www.flul-online.de www.narr.de Themenschwerpunkt: Mehrsprachigkeitsdidaktik J enny J akisch Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ���������������������������������������������� 3 h élène M artinez Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen ��� 7 J enny J akisch Mehrsprachigkeitsförderung über die 1� Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch ������������������������������������������������������������ 20 G abriele b lell The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano� Mehrsprachige Filme im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II ���� 34 F rank s chöpp Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung des schulischen Englisch- und Italienischunterrichts �������������� 47 G rit M ehlhorn Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von mehrsprachigen Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden ���������������������������������������������� 60 e lisabeth l anGer Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive ��������������� 73 k atJa l ochtMan Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern ����������������������������������� 87 s ílvia M elo -p FeiFer An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages: translanguaging in multilingual chat rooms ����������� 100 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) 44� Jahrgang (2015) · 2 Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Claus Gnutzmann, Frank G� Königs und Lutz Küster Themenschwerpunkt: Mehrsprachigkeitsdidaktik koordiniert von Jenny Jakisch FLuL 44. Jahrgang (2015) · 2 (Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: M e hr s pr a c hi g k e it s di d a ktik Koordination: J AKISCH J ENNY J AKISCH Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ............................................................ 3 H ÉLÈNE M ARTINEZ Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen ............. 7 J ENNY J AKISCH Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch .................................................................................................. 20 G ABRIELE B LELL The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II ................. 34 F RANK S CHÖPP Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung des schulischen Englisch- und Italienischunterrichts ................................................ 47 G RIT M EHLHORN Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von mehrsprachigen Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden ....................................................................................... 60 E LISABETH L ANGER Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive ............................ 73 K ATJA L OCHTMAN Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern ................................................... 87 44. Jahrgang (2015) • Heft 2 Herausgeber: Claus G NUTZMANN (Braunschweig), Frank G. K ÖNIGS (Marburg), Lutz K ÜSTER (Berlin) © 2015 Narr Francke Attempto Verlag www.flul-online.de J ENNY 44 (2015) • Heft 2 S ÍLVIA M ELO -P FEIFER An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages: translanguaging in multilingual chat rooms ........................................... 100 Ni c ht t h e m a ti s c h e r T e il 114 H ERBERT C HRIST (†) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - eine Perspektive für europäische Bürgerinnen und Bürger ........................................................................................... 115 M e hr S c hrif tli c hk e it bitt e ! 130 P r o u n d C o ntr a : B u c h b e s pr e c h u n g e n • R e z e n s i o n s artik e l Daniel R EIMANN : Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen. Stuttgart: Ibidem 2014 (J OCHEN P LIKAT ) .............................................................. 132 Anka B ERGMANN (Hrsg.): Fachdidaktik Russisch. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2014 (D AGMAR A BENDROTH -T IMMER ) ........................................ 134 Stephan B REIDBACH , Britta V IEBROCK (Hrsg.): Content and Language Integrated Learning (CLIL) in Europe. Frankfurt/ M.: Lang 2013 (W OLFGANG H ALLET ) ....................... 136 Michael B ECKER -M ROTZEK , Karen S CHRAMM , Eike T HÜRMANN , Helmut Johannes V OLLMER (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster [etc.]: Waxmann 2013 (C LAUS G NUTZMANN ) ........................................................................ 139 Inf orm a ti o n e n • Vo r s c h a u 143 44 (2015) • Heft 2 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag J ENNY J AKISCH * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik widmet sich das vorliegende Themenheft einem Forschungsfeld, an dem mittlerweile kein Weg mehr vorbeiführt. Fragen der Konzeptualisierung, Förderung und didaktischen Modellierung von Mehrsprachigkeit werden seit vielen Jahren in den fremdsprachendidaktischen Diskursen - vor allem romanistischer Art - verhandelt. Dabei besteht in den verschiedenen (Teil-)Disziplinen Einigkeit darüber, dass der Ausbau von Kenntnissen in mehr als einer Fremdsprache wichtig und sinnvoll ist. Nach wie vor offen ist allerdings, wie der Beitrag der einzelnen Fächer zur Mehrsprachigkeitsentwicklung konkret aussehen kann und welche Elemente eine Mehrsprachigkeitsdidaktik beinhalten sollte. Angesichts der vielfältigen Anforderungen und Wünsche, denen diese gerecht werden müsste, verwundert es jedoch kaum, dass viele Ansätze zur Anbahnung von Mehrsprachigkeit derzeit noch eher unverbunden nebeneinander stehen bzw. sich auf Einzelmaßnahmen beschränken. Schon der Mehrsprachigkeitsbegriff selbst gibt Raum zu unterschiedlichen Auslegungen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann sicherlich die richtungsweisende Vorgabe der Sprachenpolitik der Europäischen Union verstanden werden: Jeder EU-Bürger sollte zusätzlich zur Muttersprache über ausbaufähige Kenntnisse in zwei weiteren Sprachen verfügen. Die inhaltliche Füllung dieser Leitvorstellung fällt jedoch weniger konkret aus, und es wird bewusst offen gehalten, welcher Art die Kompetenzen in den weiteren Sprachen sein sollen. Dem Mehrsprachigkeitsgedanken zufolge geht es damit weniger um bestimmte sprachliche ‚Fixpunkte‘, die erreicht werden müssen, als um die Tatsache, dass überhaupt eine Auseinandersetzung mit zusätzlichen Sprachen stattfindet.Die Komplexität des Mehrsprachigkeitsbegriffs resultiert auch daraus, dass unter ihm unterschiedliche Formen der Mehrsprachigkeit subsumiert werden. Andere Sprachen werden nämlich längst nicht mehr nur in der Schule gelernt (schulische Mehrsprachigkeit), sondern immer häufiger in Form verschiedener Herkunftssprachen bereits in den Unterricht mitgebracht (lebensweltliche Mehrsprachigkeit). Dementsprechend vielfältig sind die Ansätze, die unter dem Oberbegriff Mehrsprachigkeit firmieren. Sie reichen von der (romanischen) Interkomprehension über die * Korrespondenzadresse: Dr. Jenny J AKISCH , TU Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: j.jakisch@tu-braunschweig.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Praktika und Praxis in der Lehrerbildung, Englisch als europäische Verkehrssprache. Mehrspra chigkeit sdidaktik 4 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 Förderung der Herkunftssprachen bis hin zu transcurricularem Fremdsprachenlernen mit besonderem Fokus auf der Entwicklung von Sprachlernkompetenz. Hinzu kommt, dass in der schulischen Realität nach wie vor häufig das Bild eines überwiegend einsprachigen, von Fächergrenzen und -traditionen geprägten Fremdsprachenunterrichts vorherrscht, während Fachdidaktiker schon seit Langem für eine Überwindung dieser Form des ‚monolingualen Habitus‘ plädieren. Dabei gerät allerdings mitunter in Vergessenheit, dass der Mehrsprachigkeitserziehung im schulischen Alltag durchaus Grenzen gesetzt sind und dass allzu idealistische Mehrsprachigkeitsvorstellungen Gefahr laufen, bei den beteiligten Akteuren (v.a. bei den Lehrern) eher das Gegenteil zu bewirken. Vor diesem Hintergrund unternimmt das Themenheft „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ den Versuch, die Expertise der verschiedenen fremdsprachendidaktischen Fächer zusammenzuführen, aber auch kritisch zu reflektieren, welche möglichen Chancen und Herausforderungen sich mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Lehr- und Lernformen verbinden. Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Sprachen (z.B. Englisch, Spanisch, Italienisch und Russisch), Zielgruppen (Schüler, Lehrer, Studierende) sowie Forschungskontexte (neben Deutschland weitere europäische Länder) in den Blick genommen. Der einführende Beitrag von H ÉLÈNE M ARTINEZ (Universität Gießen) zeichnet die Wandlung nach, die der Mehrsprachigkeitsbegriff in den letzten Jahren erfahren hat, und skizziert davon ausgehend gegenwärtige Aufgaben, Herausforderungen und Potenziale der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Dabei wird deutlich, dass es bereits eine Vielzahl von Aufgabenformaten gibt, um Mehrsprachigkeit zu fördern, deren curriculare Anbindung aber noch weitgehend aussteht. Die Autorin unterstreicht ferner, dass den Lehrkräften eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit zukommt und plädiert dafür, Standards für die Lehrerbildung zu erarbeiten, in denen die dafür notwendigen Kompetenzen aufgefächert werden. J ENNY J AKISCH (TU Braunschweig) beschäftigt sich mit der Rolle, die dem Fach Englisch im Rahmen der Mehrsprachigkeitsförderung zuteilwird. Als am häufigsten gelernte 1. Fremdsprache muss hier eine Grundsteinlegung für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen erfolgen. Sie skizziert, auf welchen Mehrsprachigkeitsfeldern der Englischunterricht aktiv werden könnte, und diskutiert mögliche Vor- und Nachteile einer diesbezüglichen Öffnung des Englischunterrichts. Die eher verhaltenen Reaktionen der von ihr befragten Schüler/ -innen und Lehrer/ -innen zu Mehrsprachigkeit im und durch Englischunterricht lassen deutlich werden, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Fremdsprachendidaktik für mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterricht eintritt, in der Schulpraxis einer Rechtfertigung bedarf. Im darauf folgenden Beitrag von G ABRIELE B LELL (Universität Hannover) wird demonstriert, wie sich mehrsprachige Filme als Abbild einer sprachlich und kulturell vielfältigen Welt für die Mehrsprachigkeitserziehung - mit besonderem Schwerpunkt auf dem inter- und transkulturellen Lernen - einsetzen lassen. Am Beispiel des Sprachenpaares Englisch-Spanisch zeigt die Autorin anschaulich auf, welche Optionen für das mehrsprachige sprachrezeptive sowie sprachproduktive Handeln derartige Filme Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 44 (2015) • Heft 2 als Unterrichtsgegenstand bieten. Die von ihr skizzierten Aufgabenformate sind vielfältig und reichen von der Spracharbeit im engeren Sinne (z.B. Suche nach lexikalischen Gemeinsamkeiten zwischen dem Englischen und Spanischen) bis hin zur Diskussion gesellschaftspolitischer Fragen (z.B. Einwanderung). F RANK S CHÖPP (Universität Würzburg) widmet sich Vernetzungsmöglichkeiten zwischen dem Italienischen und Englischen. Da Italienisch meist als 3. oder 4. Fremdsprache gelernt wird, haben die Schüler schon Sprachwissen und Sprachlernerfahrungen aus anderen Sprachen. Wie Schöpp ermitteln konnte, greifen sie jedoch weniger auf ihre Kenntnisse aus anderen romanischen Sprachen zurück, sondern nutzen das Englische als Brückensprache, um sich unbekannte italienische Wörter und Strukturen zu erschließen. Der Autor spricht sich dafür aus, dieses Potenzial nicht ungenutzt zu lassen und demonstriert anhand konkreter Unterrichtsbeispiele, in welcher Form Kenntnisse aus dem Englischen für die Entschlüsselung italienischer Texte genutzt werden können. Im Zentrum des Beitrags von G RIT M EHLHORN (Universität Leipzig) steht die lebensweltliche Mehrsprachigkeit. Genauer geht es um die Situation von Herkunftssprechern des Russischen und Polnischen, die ihre in der Familie erworbenen Sprachen im institutionellen Kontext weiterlernen. Die von ihr präsentierten Daten aus Interviews mit Schüler/ -innen, ihren Eltern und Lehrenden geben aufschlussreiche Einblicke in die Wahrnehmung vorhandenen Sprachenpotenzials und den Umgang mit dieser Ressource. Wiewohl die Jugendlichen selbst ihre Mehrsprachigkeit als positiv empfinden und ihre Russischbzw. Polnischlehrkräfte große Anstrengungen unternehmen, um einen ansprechenden und motivierenden Unterricht zu gestalten, werden außerhalb des Herkunftssprachenunterrichts im normalen Schulalltag kaum Möglichkeiten geschaffen, diese Kenntnisse einzubringen. Dass dies eine Aufgabe ist, die nicht allein die Fremdsprachenlehrkräfte betrifft, erläutert E LISABETH L ANGER (Universität Wien). Ihre Ausführungen zum Umgang mit Sprache(n) im Fachunterricht in Österreich beruhen auf der Erkenntnis, dass sprachliches und fachliches Lernen untrennbar miteinander verbunden sind. Kenntnisse in der Bildungssprache sind daher die Voraussetzung für sachfachliches Lernen. Sie können aber nicht bei allen Schülern vorausgesetzt werden - sei es, weil diese aus bildungsfernen Schichten kommen, sei es, weil sie mit einer anderen Sprache als der Umgebungssprache aufgewachsen sind. Ein sprachaufmerksamer Sachfachunterricht, wie ihn die Autorin anhand verschiedener Beispiele charakterisiert, trägt der Tatsache Rechnung, dass viele Schüler insbesondere beim Umgang mit Texten an ihre (sprachlichen) Grenzen stoßen. Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, sollte daher fester Bestandteil der Lehrerbildung sein. K ATJA L OCHTMAN (Vrije Universiteit Brussel) gibt einen Überblick über mehrsprachigkeitsförderliche Angebote in den Beneluxländern. Ähnlich wie in Deutschland ist auch dort der traditionelle, an einer Sprache ausgerichtete Fremdsprachenunterricht noch weit verbreitet - und das, obwohl das Beneluxgebiet per se mehrsprachig ist. Sie stellt den bilingualen Sachfachunterricht als eine Möglichkeit vor, die individuelle Mehrsprachigkeit zu fördern. Da das gewählte Kommunikationsmedium für alle Ler- 6 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 nenden eine Fremdsprache ist, hätten auch Schüler mit einer anderen Herkunftssprache hier die gleichen Ausgangsbedingungen. Es fehlt jedoch derzeit noch an geeigneten Aus- und Fortbildungsprogrammen für Content and Language Integrated Learning. Der das Themenheft schließende Beitrag von S ÍLVIA M ELO -P FEIFER (Universität Hamburg) stellt eindrücklich zur Schau, wie kreativ Sprachbenutzer mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln umgehen, wenn sie den entsprechenden Raum dazu haben. Die Autorin widmet sich der Interkomprehension zwischen romanischen Sprachen und präsentiert Daten, die eine Weiterentwicklung des ‚klassischen‘ Interkomprehensionsansatzes nahelegen. Dieser zielt darauf ab, sich auf Grundlage einer Brückensprache eine Sprache, die man nicht formal erlernt hat, rezeptiv zu erschließen. In den von ihr untersuchten mehrsprachigen Chatrooms werden sprachliche Grenzen insofern irrelevant, als die Sprecher alle ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen mobilisieren, um gemeinsam in einem dynamischen Prozess Bedeutung auszuhandeln. Die Beiträge bilden die Vielfalt ab, die die Mehrsprachigkeitsdidaktik auszeichnet. Trotz unterschiedlicher Ansätze und Initiativen, die sie in den Blick nehmen, haben sie eines gemeinsam: Sie alle zeigen, dass es an der Zeit ist, das Sprachenlernen sowie dessen Erforschung nicht als Einzelaufgabe ausgewählter Fächer und Disziplinen zu verstehen. Die längst zur Normalität gewordene sprachliche und kulturelle Vielfalt macht ein Umdenken nötig, bei dem Sprachen stets im Plural gedacht und verstanden werden. 44 (2015) • Heft 2 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag H ÉLÈNE M ARTINEZ * Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen Abstract. The aim of this article is to show that the didactics of plurilingualism plays an important role in conceptualizing, fostering and researching individual plurilingualism, but that the education of language teachers poses certain challenges that must be overcome before it can contribute to an overall change. This article first considers more recent developments of the concept of plurilingualism and the paradigmatic shift it brings for teaching and learning languages and then presents the major contributions offered by the didactics of plurilingualism. The last chapter concludes by discussing future trends and suggestions for language teacher education. 1. Mehrsprachige Kompetenz als Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht Im Zuge linguistischer, psychologischer und nicht zuletzt didaktischer Reflexionen hat der Begriff der Mehrsprachigkeit entscheidende Umorientierungen und Sinnverschiebungen erfahren. Diese tragen der Beobachtung Rechnung, dass Menschen im Laufe ihres Lebens ihre Sprachen und Spracherfahrungen stets erweitern, angefangen von den Sprachen des Elternhauses über die Sprache(n) der jeweiligen Gesellschaft bis hin zu in der Schule, an der Universität oder im Ausland erworbenen Fremdsprachen (vgl. E UROPARAT 2001: 17). Demnach „[bezeichnet] der Begriff ‚mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz‘ die Fähigkeit, Sprachen zum Zweck der Kommunikation zu benutzen und sich an interkultureller Interaktion zu beteiligen, wobei ein Mensch als gesellschaftlich Handelnder verstanden wird, der über - graduell unterschiedliche - Kompetenzen in mehreren Sprachen und über Erfahrungen mit mehreren Kulturen verfügt. Dies wird allerdings nicht als Schichtung oder als ein Nebeneinander von getrennten Kompetenzen verstanden, sondern vielmehr als eine komplexe oder sogar gemischte Kompetenz, auf die der Benutzer zurückgreifen kann“ (ebd.: 163). 1 * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Hélène M ARTINEZ , Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Romanistik, Didaktik der romanischen Sprachen, Karl-Glöckner-Str. 21G, 35394 G IEßEN . E-Mail: helene.martinez@romanistik.uni-giessen.de Arbeitsbereiche: Lernerautonomie, Mehrsprachigkeitsdidaktik, Bildungsstandards und Kompetenzorientierung (Förderung von Sprachlernkompetenz und Weiterentwicklung von Aufgabenkonstruktion). 1 Diese Definition basiert auf der Begriffsbestimmung von C OSTE et al. (1997: 12). 8 Hélène Martinez 44 (2015) • Heft 2 Eine erste Sinnverschiebung des Konzepts von Mehrsprachigkeit ist dieser Definition inhärent: Mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz beruht nicht auf der Addition einzelsprachlicher Kompetenzen, sondern ist eine sprachenübergreifende Kompetenz, auf welche in verschiedenen Situationen flexibel zurückgegriffen wird, um eine effektive Kommunikation mit bestimmten Gesprächspartnern zu ermöglichen. Mehrsprachigkeit bedeutet also nicht zwingend, zwei oder mehr Sprachen in vollem Maße zu beherrschen. (vgl. B AUSCH 2003: 439). Bereits 1990 betonten B ERTRAND / C HRIST (1990: 208): „Als mehrsprachig darf schon bezeichnet werden, wer auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnis in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in verschiedenen Diskursbereichen hat (um z. B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte zu lesen oder Fachgespräche führen zu können).“ Eine mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz ist demzufolge eine „ungleichmäßige Kompetenz“ (E UROPARAT 2001: 132). „Ungleichmäßig“ oder partiell insofern, als anerkannt und akzeptiert wird, dass die Lernenden meist in einer Sprache kompetenter als in den anderen sein können und ihr Kompetenzprofil in einer Sprache sich von dem in anderen unterscheiden kann (z.B. sehr gute mündliche Kompetenz in zwei Sprachen, aber gute schriftliche Kompetenz in nur einer von beiden). Die o.g. Definition macht auch deutlich, dass es sich um eine kontextabhängige, dynamische, variable und „sich verändernde Kompetenz“ (ebd.) handelt, die ständig Verfall und Erweiterungen unterworfen ist. Damit geht einher, dass das mehrsprachige Profil der jeweiligen Person einzigartig und die mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz äußerst individuell ist. Das sprachliche Repertoire ist eng mit der eigenen Identität verbunden und entwickelt sich unterschiedlich, je nach Biografie und Lebensweg (vgl. C OSTE et al. 1997: 29). Hier wird eine weitere Sinnverschiebung deutlich: Der Einzelne als Sprecher mehrerer Sprachen steht im Mittelpunkt der Überlegungen - nicht die Frage nach der Kenntnis einer bestimmten Anzahl von Sprachen oder nach den vorherrschenden Sprachen in einem gegebenen Territorium. Neben der Aufwertung, die alle Sprachen und Sprecher mehrerer Sprachen erfahren 2 , verbindet sich mit diesem Konzept ein bestimmtes Menschenbild, das für die Förderung der Mehrsprachigkeit von besonderer Relevanz ist: „Der Mensch ist potentiell und aktuell mehrsprachig, weil seine Sprache (seine Muttersprache) Elemente vieler Sprachen enthält, die er kennt und nutzt, zumeist ohne sich dessen bewusst zu sein, und im aktuellen Verstande, weil er grundsätzlich mehrere („viele“) Sprachen erwerben/ lernen kann [...].“ (C HRIST 2004: 31) Die Fokussierung auf den Einzelnen als (Mehr-)Sprachenverwender und Lerner eröffnet zugleich eine neue Dimension. Mehrsprachigkeit ist in diesem Sinne die Kompetenz, mit Sprachen und Sprachenlernerfahrungen umzugehen und sie auf das Lernen weiterer Sprachen zu transferieren (C HRIST 2006: 50). Wie B LELL / D OFF (2014: 2) 2 Sprachen und Spracherfahrungen werden als „capital“ bezeichnet (vgl. C OSTE et al. 1997: 30). Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen 9 44 (2015) • Heft 2 betonen, „[markiert] diese veränderte Zielsetzung die Wendung von einer standardbasierten Defizitorientierung von Mehrsprachigkeit hin zum Sprecher als einem sprachlich und kulturell geprägten Individuum“. Diese Wende ist verbunden mit einer „Demokratisierung“ des Konzepts (C OSTE 2013: 38) und stellt herrschende Praktiken und Vorstellungen in Frage: „La notion, en passant d’une représentation des apprentissages visant une maîtrise complète et parfaite, hors contexte, à la mise en œuvre d’une compétence située, toujours différente et constamment renouvelée, déstabilisent ainsi les paradigmes dominants“ (C ASTELLOTTI / M OORE 2011: 244). Die Implikationen für den schulischen (Fremdsprachen-)Unterricht liegen auf der Hand: Das Ziel kann nicht länger in der isolierten Vermittlung von zwei, drei oder mehr Fremdsprachen bestehen. Vielmehr gilt es, eine mehrsprachige Kompetenz bzw. ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem allen sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler eine entscheidende Funktion zukommt (vgl. E UROPARAT 2001: 17). Die Gestaltung eines solchen sprachenübergreifenden (Fremdsprachen-)Unterrichts, der sowohl Schulfremdsprachen als auch migrationsbedingte Sprachen der Schüler einschließt und als Ressource betrachtet, stellt einen Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht dar, von dem der E UROPARAT (ebd.) anmerkt, dass „er noch genauer herausgearbeitet und in praktisches Handeln übertragen werden [muss]“. 2. Beitrag der Mehrsprachigkeitsdidaktik zum Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht: Aufgaben und Potenziale Anliegen der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist es, das Ziel der Mehrsprachigkeit lehrbar bzw. lernbar sowie erforschbar zu machen (vgl. E SCUDÉ / J ANIN 2010: 18). Eine solche Operationalisierung setzt allerdings (zunächst) eine schärfere Konturierung des Begriffs voraus, welche gleichermaßen Gegenstand der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist. Mehrsprachigkeitsdidaktik hat unterschiedliche Ausprägungen und muss daher im Plural gedacht werden (vgl. H U 2010; C ANDELIER 2009; M EIßNER 2005b). Allen mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen ist gemeinsam und für sie kennzeichnend, dass sie auf einem „inferentiellen Lernbegriff“ (M EIßNER / R EINFRIED 1998: 15f.) basieren: „[c]e qui caractérise comme telle(s) la / les didactiques du plurilinguisme, c’est la volonté de favoriser par l’intervention didactique, des démarches d’apprentissage des langues dans lesquelles l’apprenant peut s’appuyer sur ses connaissances linguistiques préalables, dans quelque langue que ce soit. (...) cette définition se situe au niveau du processus d’apprentissage que l’on cherche à développer“ (C ANDELIER / C ASTELLOTTI 2013: 182). Im Folgenden soll exemplarisch gezeigt werden, welchen Beitrag die Mehrsprachigkeitsdidaktik zur Förderung der Mehrsprachigkeitskompetenz und damit zum Paradigmenwechsel im Fremdsprachenunterricht leistet. Fokussiert wird auf ausgewählte Beiträge hinsichtlich der Konzeptualisierung, der unterrichtlichen Umsetzung sowie der 10 Hélène Martinez 44 (2015) • Heft 2 Erforschung von Mehrsprachigkeitskompetenz. 3 Im bundesdeutschen Kontext wegweisend waren die Arbeiten zur Interkomprehensionsdidaktik und Tertiärsprachendidaktik (vgl. M EIßNER / R EINFRIED 1998; B AHR et al. 1996). 4 2.1 Beitrag zur Konzeptualisierung von Mehrsprachigkeit 2.1.1 Mehrsprachigkeit als Kompetenz Kompetenzen werden generell als Fähigkeit zur Problemlösung bzw. als Handlungsfähigkeit in bestimmten Domänen verstanden. So heißt es im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR): „Sprachverwendende und Sprachlernende setzen eine Reihe von Kompetenzen ein, die sie im Laufe früherer Lernerfahrungen entwickelt haben, um die in kommunikativen Situationen erforderlichen Aufgaben und Aktivitäten auszuführen, denen sie sich gegenübersehen.“ (E UROPARAT 2001: 103) Das Kompetenzmodell der europäischen Referenztexte (C OSTE et al. 1997, 2009) unterstreicht, dass Kompetenzen durch die Mobilisierung von Ressourcen entstehen. Nach Auffassung einschlägiger Bildungsforscher (u. a. L E B OTERF 2004) ist Kompetenz weit mehr als die „Summe deklarativen Wissens, prozeduraler Fertigkeiten, persönlichkeitsbezogener Kompetenzen und allgemeiner kognitiver Fähigkeiten“ (vgl. E UROPARAT 2001: 21). Als kompetent gilt eine Person, wenn es ihr gelingt, die für eine Problemlösung jeweils notwendigen Ressourcen (Wissen, Einstellungen, Fertigkeiten) zu identifizieren, zu mobilisieren und miteinander zu kombinieren (L E B OTERF 2004; 2014). (Mehrsprachigkeits-)Kompetenz wird somit bezeichnet als ein „savoir-mobiliser“ bzw. eine Mobilisierungsfähigkeit (L E B OTERF 2004: 16). Diese Definition betont, dass Kompetenz nicht als statische Größe gefasst wird, sondern als Handlungskompetenz d.h. als „mise en œuvre située, processuelle, dynamique“, als „agir-même“ (B RON - CKART / B UELA 2005 zitiert nach C ANDELIER / C ASTELLOTTI 2013: 302). Mehrsprachigkeitskompetenz impliziert zugleich, dass Lernende über Sprachlernkompetenzen (savoir-apprendre) verfügen, die ihnen erlauben, in der Kommunikation flexibel und situationsangemessen ihre Ressourcen und Teilkompetenzen zu mobilisieren. 2.2.1 Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA), gedacht als Ergänzung des GeR und des Sprachenportfolios, liefert einen weiteren Beitrag zu 3 Die vorliegende Auswahl zielt nicht auf Vollständigkeit, sondern dient lediglich der Konkretisierung des Sachverhalts. 4 Im bundesdeutschen Kontext formulierte man das Ziel der Mehrsprachigkeit bereits in den 80er Jahren (u.a. C HRIST 2000; Z APP 1983; C HRIST et al. 1980). Zur Entstehung der Mehrsprachigkeitsdidaktik bzw. Interkomprehensionsdidaktik siehe M EIßNER (u.a. 2005b; 1995) sowie M ARTINEZ / R EINFRIED (2006). Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen 11 44 (2015) • Heft 2 einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Erziehung. Der RePA ist das Ergebnis des von Michel C ANDELIER pilotierten Projekts des European Centre for Modern Languages of the Council of Europe (ECML) in Graz und zielt darauf ab, die Kompetenzen und Ressourcen, die im Kontext mehrsprachiger und mehrkultureller Kommunikationssituationen aktiviert werden (können), zu beschreiben und damit pädagogisch fassbar zu machen (vgl. M EIßNER 2013: 79). Dabei wird angenommen, dass Ressourcen - anders als komplexe und situationsabhängige Kompetenzen - bis zu einem gewissen Grad isoliert dargestellt werden können und sich im Hinblick auf den Grad ihrer Beherrschung definieren und im schulischen (Fremdsprachen-)Unterricht aufbauen lassen. Gemäß der Definition von Mehrsprachigkeitskompetenz beschreibt der RePA zwei allgemeine Kompetenzbereiche, „deren Entwicklung durch die Anwendung von pluralen Ansätzen besonders begünstigt erscheint“: die „Kompetenz, sprachlich und kulturell im Kontext von Alterität zu kommunizieren“ sowie „die Kompetenz zum Aufbau und zur Ausweitung eines mehrsprachigen und plurikulturellen Repertoires“ (C ANDELIER 2009: 20). Dabei listet der RePA systematisch in Form von Deskriptoren die damit verbundenen Kompetenzen und Ressourcen auf, bezogen auf savoirs, savoir-faire und savoirêtre und nicht zuletzt savoir-apprendre (vgl. auch M EIßNER 2013; M ARTINEZ / S CHRÖ - DER -S URA 2011). Der RePA ermöglicht damit eine Konkretisierung der (Teil-)Kompetenzen und Ressourcen, die in einer Kommunikationssituation mobilisiert werden können und liefert eine wichtige Grundlage für die Konstruktion von Aufgaben sowie von sprachenübergreifenden Curricula zur Förderung der mehrsprachigen und mehrkulturellen Kompetenz (vgl. C OSTE 2013: 200ff.). 2.2 Beiträge zur Lehrbarkeit bzw. Lernbarkeit von Mehrsprachigkeit 2.2.1 Mehrsprachigkeitsfördernde Aufgabenformate Mittlerweile stehen eine Reihe von Aufgaben und Aufgabenformaten zur Verfügung mit dem Ziel, das mehrsprachige - und mehrkulturelle - Repertoire der jeweiligen Lernenden aufzubauen und auszuweiten bzw. ihre multi language (learning) awareness zu schulen. Sie umfassen die Förderung rezeptiver Kompetenzen im Rahmen interkomprehensiver Ansätze, die Schulung produktiver und interkultureller Kompetenzen sowie der Diskursfähigkeit, beziehen sich auf typologisch verwandte wie auch familienübergreifende Sprachen, lehnen sich an Ansätze an, die sich des Englischen als Brückensprache bedienen (Deutsch oder Spanisch nach Englisch) oder berücksichtigen die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler. Sie beruhen auf einer systematischen Vernetzung des Sprachwissens und fokussieren auf die Reflexion über Sprache(n) und die Bewusstmachung von Transfer. Sie integrieren neue Medien und wenden sich sowohl an jüngere Schüler/ -innen als auch an junge Erwachsene (u.a. H ALLET 2015; L EITZKE -U NGERER et al. 2012; A BENDROTH -T IMMER / F ÄCKE 2011; B AUR / H UF - EISEN 2011; M ORKÖTTER 2011; D EGACHE 2006; H U 2005; M EIßNER 2005a). Wenn auch eine Typologie solcher Aufgaben noch aussteht, lassen sich dennoch u.a. die folgenden Prinzipien und Zielsetzungen benennen: 12 Hélène Martinez 44 (2015) • Heft 2 • Verfahren zur Verknüpfung mit vorgelernten Sprachen • Verfahren zum sprachvernetzenden Lernen • inter- und intralingualer Transfer und interkomprehensive Verfahren • didaktischer Transfer und interkomprehensive Verfahren • (mehrsprachige) Sprachmittlung • die Herkunftssprache(n) einbeziehende Verfahren • Förderung von Sprachreflexion bzw. Sprach(en)- und Sprach(en)lernbewusstheit • Förderung metakognitiven Wissens • Förderung der Lernmotivation • Förderung von Flexibilität, Offenheit und Neugier in Bezug auf Sprachen und Kulturen 2.2.2 Gesamtsprachencurriculum und curriculare Verankerung sprachenübergreifender Kompetenzen Bereits Anfang 2000 erschienen erste Vorschläge für ein Gesamtsprachencurriculum (B AUSCH / H ELBIG -R EUTER 2003; H UFEISEN / L UTJEHARMS 2005). Nach H UFEISEN (2011: 265) „[schafft] ein Gesamtsprachencurriculum einen planerischen Rahmen, in dem die Vertreter/ -innen der jeweiligen Sprachen (z.B. die Lehrkräfte) untereinander kommunizieren und die Vertreter/ -innen der Sprachen- und Sachfächer miteinander arbeiten können“. Ein Gesamtsprachencurriculum zielt auf „die Integration verschiedener Aspekte des (institutionellen) Sprachenlernens, um Synergien beim Sprachenlernen nutzbar zu machen, wie z.B. Grammatikterminologie, Planung und Umsetzung von Inhalten, Lernstrategien“ (ebd.: 266). Das Ziel, Mehrsprachigkeit als durchgängiges und eigenständiges Bildungsziel zu etablieren (vgl. R EICH / K RUMM 2013), verbindet sich mit Forderungen an den schulischen (Fremdsprachen-)Unterricht: Berücksichtigung und Einbezug der vorhandenen individuellen Mehrsprachigkeit der Lernenden in den schulischen Alltag, Wertschätzung der bereits vorhandenen individuellen Mehrsprachigkeit der Lernenden, Förderung der schulischen Mehrsprachigkeit, Sensibilisierung der Lehrenden für Fragen rund um die Mehrsprachigkeit, Ausbildung und Förderung von sprachübergreifender Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit, Trainieren von (Fremd-)Sprachenlernstrategien, Förderung interkulturellen Lernens, Ausnutzung von Synergieeffekten und Lernökonomie sowie systematische Integration individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in alle Unterrichtsfächer (z.B. durch bilingualen Sachfachunterricht) (vgl. u.a. H UFEISEN 2011). Ein Gesamtsprachencurriculum ist allerdings aufgrund des hohen strukturellen Verwaltungsaufwands schwer umzusetzen. H UFEISEN (ebd.: 265) befürchtet sogar, „dass es sich mit ziemlicher Sicherheit niemals realisieren [lassen wird]“. Gleichwohl stellt dieses heuristische Modell eine wichtige Grundlage für vielfältige Initiativen dar. Eine davon ist die curriculare Verankerung sprachenübergreifender Kompetenzen in den Thüringer Lehrplänen, basierend auf der Ausbildung und Förderung sprachenübergreifender Sprach(en)- und Sprach(en)lernbewusstheit (vgl. B EHR 2011, für ähnliche Ansätze in der Schweiz Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen 13 44 (2015) • Heft 2 und Österreich s. die Lehrpläne Passepartout 5 oder Plan d’Études Romand 6 sowie R EICH / K RUMM 2013). Erst über eine solche Verankerung in den Lehrplänen lässt sich eine Implementierung mehrsprachigkeitsfördernder Ansätze in die Unterrichtspraxis verwirklichen. 2.3 Beiträge zur Forschung Die Mehrsprachigkeitsforschung im Rahmen der Fremdsprachenlehr- und -lernforschung ist vielfältig, und die Studien lassen sich in Anlehnung an M EIßNER (2007: 87f.) wie folgt kategorisieren: (1) Forschungen zu Meinungen und Einstellungen von Lernenden über ihre eigenen Sprachenbiographien, über den Unterricht unterschiedlicher Schulsprachen und zu ihren Einstellungen zur Mehrsprachigkeit (zuletzt M EIßNER et al. 2008); (2) (Grundlagen-)Forschungen zu Interkomprehension und Mehrsprachenverarbeitungsprozessen bzw. Tertiärsprachen (u.a. J ESSNER 2004; M EIßNER 2004; M IßLER 1999) 7 ; (3) Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht und Mehrsprachenunterricht bzw. Förderung der individuellen und lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von Schülern (u.a. V OLGGER 2012; B ÄR 2009; H U 2003). Wenige Studien befassen sich mit der Lehrerperspektive (H EYDER / S CHÄDLICH 2014; J AKISCH 2014). Die Mehrsprachigkeitsforschung schafft mit ihren Ergebnissen wichtige Voraussetzungen für die Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze im Lehr-/ Lerngeschehen (vgl. auch A LLGÄUER -H ACKL / J ESSNER 2014). Ein aus meiner Sicht wichtiger Beitrag dieser Forschung ist der Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Sprachlernbewusstsein bzw. Sprachlernkompetenz, welcher empirisch erhoben hat, dass mehrsprachige Personen über eine sogenannte „mehrsprachige Aneignungskompetenz“ (vgl. M ARTINEZ / S CHRÖDER -S URA 2011) verfügen, die ihnen erlaubt, bereits erworbene Sprachenkenntnisse, Sprachlernerfahrungen und -strategien durch Transfer für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzen (vgl. C HRIST 2006: 60; D OYÉ / M EIßNER 2010). Aus der Perspektive der Tertiärsprachendidaktik sind Sprachen und sprachenspezifische Faktoren - neben biologischen, kognitiven und affektiven Faktoren - wesentliche Gesichtspunkte zur Erklärung der individuellen Variationen von Fremdsprachenerwerbsprozessen (vgl. Faktorenmodell von G IBSON / H UFEISEN 2003: 18). 3. Herausforderungen und Perspektiven Wie unter Kapitel 2 angedeutet, hat sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik zu einem dynamischen Wissenschaftszweig entwickelt, der auf unterschiedliche plurale Ansätze mit verschiedenen Schwerpunkten (Interkomprehensionsdidaktik, Tertiärsprachendi- 5 Siehe: http: / / www.erz.be.ch/ dam/ documents/ ERZ/ AKVB/ de/ 03_Lehrplaene_Lehrmittel/ lehrplaene_ lehrmittel_vs_fremdsprachen_passepartout_und_italienisch_d.pdf (15/ 03/ 2015). 6 Siehe: http: / / www.plandetudes.ch/ web/ guest/ francais (15/ 03/ 2015). 7 Für einen Überblick der psycholinguistisch orientierten Mehrsprachigkeitsforschung s. A LLGÄUER - H ACKL / J ESSNER (2014). 14 Hélène Martinez 44 (2015) • Heft 2 daktik, migrationsbedingte Mehrsprachigkeit, integrierte Didaktik, Eveil aux langues etc.) zurückblicken kann. Wenn auch nicht alle Arbeitsfelder und Fragestellungen bis heute erschöpfend erarbeitet sind (vgl. C HRIST 2000), liegen inzwischen doch zahlreiche theoretische und empirische Arbeiten, internationale wissenschaftlich begleitete Pilotprojekte sowie praxisbezogene Vorschläge vor (u.a. S CHMELTER 2015; B LELL / D OFF 2014; A BENDROTH -T IMMER / H ENNIG 2014; L EITZKE -U NGERER et al. 2012; M AR - TINEZ 2011). Unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht die in den letzten Jahren in der Schweiz oder in Österreich entstandenen mehrsprachigkeitsfördernden Materialien und Lehrwerke wie Mille-feuilles 8 oder Découvrons le français - Französisch interlingual 9 bzw. Descubramos el español - Spanisch interlingual 10 . Ebenso sollte auf die die Rolle, die dem Englischen als Gateway to languages (u.a. S CHRÖDER 2009) zugesprochen wird, hingewiesen werden. Dennoch lassen sich auch noch aktuell Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung mehrsprachigkeitsfördernder Ansätze konstatieren, die auf eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis hindeuten. 11 Empirische Forschungsarbeiten belegen, dass eine positive Grundhaltung gegenüber mehrsprachigkeitsorientierten Verfahren nicht unbedingt mit einer Anwendung dieser Verfahren durch die Fremdsprachenlehrkräfte einhergeht (H EYDER / S CHÄDLICH 2014; M EHLHORN / N EVELING 2012). Die Realisierung mehrsprachigkeitsdidaktischer Anforderungen verlangt ein Umdenken auch seitens der Lehrkraft, und wirft damit die Frage der Professionalisierung von Lehrer/ -innen auf. Eine der größten Herausforderungen in der (Fremdsprachen- )Lehreraus- und Fortbildung bleibt und ist, „den Paradigmenwechsel vom monolingualen hin zum multilingualen, vernetzten Denken zu vollziehen“ (A LLGÄUER - H ACKL / J ESSNER 2014: 125, vgl. dazu auch H U 2003). Mit H U (2004: 71) ist anzunehmen, dass Fremdsprachenlehrer/ -innen ein neues Selbstverständnis entwickeln müssen. An dieser Stelle stößt man auf Hindernisse in der Persönlichkeitsstruktur von Lehrkräften, die mit dem individuellen Berufsverständnis und den jeweiligen subjektiven Theorien bezüglich des (Mehr-)Sprachenlernens und -lehrens verbunden sind. Die Förderung der Mehrsprachigkeit stellt hohe Anforderungen nicht nur an den Lernenden, sondern auch an den Lehrenden, denn sie hat nicht nur mit savoir und savoir-faire bezogen auf Sprachen und Kulturen zu tun, sondern auch mit savoir-être (vgl. Deskriptoren des RePA). Sie spricht die Ebene der Motivation, der Emotion an (z.B. die Neugier und die Sensibilität gegenüber der sprachlichen Vielfalt) und nicht zuletzt der identitätsstiftenden Funktion von Sprachen und Sprachenlernen. Ansätze zum forschenden Lernen und Lehren wären sicher hilfreich bei einer Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Mehrsprachigkeit in die Praxis des schuli- 8 http: / / www.1000feuilles.ch/ platform/ content/ element/ 909/ 001593_mille_feuilles_elternbro schuere_internet.pdf (15/ 03/ 2015). 9 http: / / www.hpt.at/ Flipbooks/ DECOUVRONS/ (15/ 03/ 2015). 10 http: / / www.hpt.at/ Flipbooks/ DESCUBRAMOS/ (15/ 03/ 2015). 11 Siehe M EIßNER et al. (2011: 89f.) für eine detaillierte Analyse der Schwierigkeiten bei der Implementierung interkomprehensiver Ansätze. Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen 15 44 (2015) • Heft 2 schen (Fremdsprachen-)Unterrichts. In der Lehrerfortbildung wird es von zentraler Bedeutung sein, inwieweit es gelingt, Fachgruppen in den Schulen zu etablieren und gemeinsam tragfähige Konzepte unter Beteiligung der Schüler zu entwickeln, zu erproben und zu erforschen. In diesem Rahmen wären Handlungsforschungsprojekte zu entwickeln. Die reflektierte Erforschung des eigenen Unterrichts eröffnet neue Möglichkeiten für das Handeln, trägt zur Professionalisierung von Lehrkräften bei und könnte eine entscheidende Wirkung im Hinblick auf die Förderung vernetzenden Fremdsprachenlernens zeigen. In der Lehrerausbildung sollten die Studierenden • im Sinne einer engeren Verbindung zwischen Wissenschaft und (Lern-)Praxis befähigt werden, eigene mehrsprachige Erfahrungen und Fremdsprachenerwerbsprozesse sowie eigene subjektive Lehr- und Lerntheorien auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse zu reflektieren; • im Sinne kritischen theoriegeleiteten Handelns dazu angeleitet werden, Lehrpläne oder Curricula sowie mehrsprachigkeitsfördernde Materialien und Aufgaben wissenschaftlich fundiert und kritisch zu analysieren und zu reflektieren; • im Sinne der Aktionsforschung in einer systematischen Weise dazu angeregt und ermutigt werden, in den Schulpraktika mehrsprachigkeitsfördernde Materialien und Aufgaben zu erproben und deren Einsatz sowohl mit SchülerInnen als auch mit KollegInnen zu reflektieren; • im Sinne einer engeren Verbindung von Forschung und Praxis in die Lage versetzt werden, eine forschende Haltung zu entwickeln und eigene und fremde mehrsprachige Lernerfahrungen und Fremdsprachenerwerbsprozesse im Rahmen fremdsprachendidaktischer Lehrveranstaltungen und der universitären Sprachpraxis zu erforschen sowie begrenzte empirische Fallstudien durchzuführen. Dies impliziert, dass berufsspezifische Kompetenzprofile für die Lehrperson bezogen auf die Mehrsprachigkeit klar definiert werden müssen. Aufgabe der Mehrsprachigkeitsdidaktik wird es sein, Standards mit besonderer Berücksichtigung der Mehrsprachigkeitskompetenz (empirisch) zu erarbeiten (vgl. W IPPERFÜRTH 2009; E GLI C UENAT et al. 2010; B EACCO / B YRAM 2007) - auch Opportunity-to-learn- Standards (vgl. M AR - TINEZ 2015). Wird z.B. von den LehrerInnen erwartet, dass „[sie] die Sprachlernerfahrungen und -bedürfnisse ihrer Schüler und Schülerinnen erkennen und reflektieren [können], dass [sie] ggf. an deren bereits vorhandene Mehrsprachigkeit anknüpfen und diese in ihrem Unterricht nutzen [können], um die Perspektive auf das Lernen vor und nach dem schulischen Fremdsprachenunterricht zu öffnen“ (W IPPERFÜRTH 2009: 18), so setzt dies voraus, dass sie sich im Laufe ihrer Aus- und Fortbildung die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen bezogen auf savoirs, savoir-faire und savoir-être aneignen (vgl. auch RePA). 16 Hélène Martinez 44 (2015) • Heft 2 4. Fazit und Ausblick Eine Förderung von mehrsprachiger Kompetenz, wie sie im GeR (E UROPARAT 2001) definiert ist, geht mit der Entwicklung der mehrsprachigen und mehrkulturellen Identität des Lerners aber auch der Lehrpersonen und aller an diesem Prozess Beteiligten (Schulbehörde, Schulbuchautoren etc.) einher. Damit die Vorteile und Potentiale des fächer- und sprachenübergreifenden Lernens nicht ungenutzt bleiben, sind hier vor allem die Einzelsprachendidaktiken gefragt, sich den Ergebnissen der Mehrsprachigkeitsdidaktischer Forschung zu öffnen (vgl. M EIßNER 2004: 47). Im Sinne eines umfassenden Bildungsziels sollte die Förderung der mehrsprachigen und mehrkulturellen Kompetenz als eine gemeinsame Aufgabe der einzelnen Fremdsprachendidaktiken - inklusive der Didaktik des Englischen - verstanden werden. Literatur A BENDROTH -T IMMER , Dagmar / F ÄCKE , Christiane (2011): „Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit“. In: M EIßNER / K RÄMER (Hrsg.), 16-48. A BENDROTH -T IMMER , Dagmar / H ENNIG , Eva (Hrsg.) (2014): Plurilingualism and multiliteracies. International Research on Identity Construction in Language Education. Frankfurt/ M.: Lang. A LLGÄUER -H ACKL , Elisabeth / J ESSNER , Ulrike (2014): „Und was sagt die Mehrsprachigkeitsforschung dazu? 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It shows didactic options for ELT to this end but also points out the potential risks and limitations connected with such learning and teaching. 1. Einleitung Das Thema Mehrsprachigkeit ist für die Englischdidaktik mittlerweile kein neues mehr. Man fühlt sich als Vertreter einer so ‚mächtigen‘ Sprache wie dem Englischen der Förderung des Sprachenlernens insgesamt verpflichtet und möchte - so zumindest der Tenor in den fremdsprachendidaktischen Diskursen - einen Beitrag zur Mehrsprachigkeitsentwicklung der Lernenden leisten. Hintergrund dafür ist die Forderung der Sprachenpolitik der Europäischen Union nach Mehrsprachigkeit der Unionsbürger (d.h. Muttersprache + ausbaufähige Kenntnisse in zwei weiteren, vorzugsweise europäischen Sprachen oder kurz „M+2“). Darüber hinaus kommen Impulse für eine Neuausrichtung des Englischunterrichts aus der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Diese geht davon aus, dass integratives Fremdsprachenlernen als ein Lernen, das sich bestehende Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen zunutze macht und das Vorwissen stärker berücksichtigt, zu einer Effektivierung des Aneignungsprozesses beitragen kann. Englischunterricht hätte demnach die Aufgabe, bereits vorhandene Sprachen aufzugreifen sowie Grundlagen für weiteres Fremdsprachenlernen zu schaffen. Dass Mehrsprachigkeit und Englischunterricht zusammengedacht werden, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Interessensvertretung der Englischlehrerinnen und -lehrer 1 * Korrespondenzadresse: Dr. Jenny J AKISCH , TU Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: j.jakisch@tu-braunschweig.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Praktika und Praxis in der Lehrerbildung, Englisch als europäische Verkehrssprache. 1 Im Folgenden wird zur besseren Lesbarkeit für Begriffe wie Lehrerinnen und -lehrer oder Schülerinnen und Schüler nur noch die männliche Form verwendet. Gemeint sind damit stets beide Geschlechter. Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 21 44 (2015) • Heft 2 in Deutschland den Titel „Englisch & Mehrsprachigkeit (E & M)“ 2 trägt. Ferner wird in neueren Publikationen zum Englischunterricht - wenn auch in unterschiedlichem Umfang - auf Mehrsprachigkeit Bezug genommen. So weist beispielsweise H ALLET (2011: 23f.) „Mehrsprachigkeit und sprachvernetzendes Lernen“ als eine neue fremdsprachenspezifische Entwicklung aus und widmet der „mehrsprachigen Schule“ ein eigenes Kapitel (ebd.: 213-232). Darüber hinaus wird die Relevanz des Mehrsprachigkeitsgedankens in curricularen Vorgaben sichtbar. In den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss wird gefordert, „dass die kommunikativen, interkulturellen und methodischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler für ihr Handeln in mehrsprachigen Situationen am Ende der Sekundarstufe I verlässlich ausgebildet worden sind“ (KMK 2003: 11). Wenngleich nicht genauer erläutert wird, was „mehrsprachige Situationen“ sind, hat man schon vor über zehn Jahren erkannt, dass die zunehmende sprachliche und kulturelle Vielfalt neue Anforderungen an das Lehren und Lernen von Fremdsprachen stellt. Für einen Englischunterricht, der aktuelle Entwicklungen und reale Gegebenheiten berücksichtigt, dürfte Mehrsprachigkeit demnach kein Fremdwort sein. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass sich die Bedeutung, die dem Thema in den gegenwärtigen fremdsprachendidaktischen Diskussionen entgegengebracht wird, mit der Unterrichtswirklichkeit deckt. Ohnehin wäre zu fragen, ob und wie es möglich ist, eine planvolle Mehrsprachigkeitsentwicklung und die Vermittlung des Englischen sinnvoll miteinander zu verbinden. Ungeachtet einer allgemeinen Zustimmung zum Ziel der Mehrsprachigkeit wäre zu klären, welche Facetten dieser neuen Leitvorstellung überhaupt im Rahmen der schulischen Ausbildung und speziell im Englischunterricht umsetzbar sind. Dies darf nicht einseitig aus Perspektive der Fremdsprachendidaktik geschehen, sondern sollte unter Einbezug der Perspektiven derjenigen erfolgen, die die Mehrsprachigkeitsförderung anregen (Lehrer) bzw. von ihr profitieren sollen (Schüler). 3 Denn was aus fremdsprachendidaktischer Perspektive als erstrebenswert gilt, muss von den Akteuren des schulischen Handlungsfelds nicht zwangsläufig in gleicher Weise begrüßt werden. Dass integratives Sprachenlernen nicht nur Chancen eröffnet, sondern auch Unwägbarkeiten mit sich bringt, scheint jedoch im derzeitigen ‚Mehrsprachigkeitshype‘ unterzugehen. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag, welchen Anteil der Englischunterricht an der Anbahnung von Mehrsprachigkeit haben kann. Dazu wird diskutiert, wie sich vernetzendes Sprachenlernen im Fach Englisch anbahnen ließe und welche Vor- und Nachteile damit verbunden wären (Abschnitt 2). Daten aus einer Fragebogenstudie mit Schülern sowie Lehrerinterviews 4 helfen dabei, mehr über die in Schule vorherrschende Sichtweise auf das Phänomen zu erfahren (Abschnitt 3). Der 2 Vgl. http: / / englisch-und-mehr.de/ wp/ (06/ 03/ 15). 3 Dieser Kreis ließe sich natürlich erweitern. So wären beispielsweise Eltern und Erziehungsberechtigte, Studierende sowie in der Lehreraus- und -fortbildung Tätige weitere Personengruppen, deren Sichtweisen auf Mehrsprachigkeit und vernetzendes Fremdsprachenlernen sich erkunden ließen. 4 Mein herzlicher Dank gilt den Lehrern und Schülern, die mit großem Interesse an der empirischen Erhebung mitgewirkt und sich Zeit für meine Fragen genommen haben. 22 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 Beitrag schließt mit einer Bilanzierung des im Englischunterricht für „M+2“ Leistbaren (Abschnitt 4). 2. Mehrsprachigkeitsförderung und Englischlernen - wie passt das zusammen? Ausgehend von Überlegungen zum Stellenwert des Englischen in Europa widmet sich der folgende Abschnitt der Schlüsselrolle der in Deutschland meistgelernten 1. Fremdsprache Englisch. Darüber hinaus werden Eckpunkte eines mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts vorgestellt. Anschließend wird diskutiert, welcher Mehrwert aus einer Aufnahme mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien in das Fach Englisch resultieren kann und welche Bedenken eine solche Art des Unterrichtens mit sich bringt. 2.1 Die Schlüsselrolle der Fremdsprache Englisch In Europa finden sich zwei sprachenpolitische Tendenzen, die (scheinbar) nicht zusammenpassen: Offiziell gilt die von der Europäischen Union erhobene Forderung nach „M+2“, die darauf abzielt, die in Europa vorherrschende Situation der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zu bewahren. Nicht zuletzt sollen so dem immer raumgreifenderen Verhalten des Englischen begegnet und Alternativen für den Austausch unter Europäern mit verschiedenen Erstsprachen entwickelt werden. Allen mehrsprachigkeitsoptimistischen Bekundungen zum Trotz dominiert aber im kommunikativen Tagesgeschäft schon längst das Modell „M+Englisch“ (vgl. H OUSE 2002: 69). Englisch ist den Angaben des Spezial Eurobarometers 386 von 2012 zufolge zudem die Sprache, in der sich die EU-Bürger neben ihrer Muttersprache am besten verständigen können (vgl. E UROPÄISCHE K OMMISSION 2012: 24). Stellt man sich angesichts dieser Ausgangslage die Frage, wie das Ziel der Mehrsprachigkeitsentwicklung und das Lehren und Lernen des Englischen zusammenpassen, steht man vor einem Dilemma: Die hervorgehobene Position des Englischen lässt sich nicht einfach negieren, zumal Kenntnisse des Englischen heutzutage unabdingbar sind. Dies zeigt sich in bildungspolitischen Entscheidungen wie dem Fremdsprachenfrühbeginn (in der Regel mit Englisch) 5 , dem bilingualen Sachfachunterricht (in dem nun, obwohl ursprünglich mit dem Französischen ins Leben gerufen, das Englische überwiegt) 6 sowie einer steigenden Tendenz zu englischsprachigen Studiengängen 7 . Problematisch wird dies, wenn das Fremdsprachenlernen mit dem Englischen beginnt 5 1.753.000 Grundschüler lernen Englisch, 97.583 Kinder Französisch (vgl. S TATISTISCHES B UNDESAMT 2014: 86ff.). 6 V gl. dazu B REIDBACH (2013: 13). 7 2012 wurden in Deutschland 886 Studiengänge in englischer Sprache angeboten (vgl. G NUTZMANN / L IPSKI -B UCHHOLZ 2013: 118), mittlerweile sind es bereits 1432 (vgl. DAAD-D ATENBANK 2015). Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 23 44 (2015) • Heft 2 und aufhört - sei es, weil im schulischen Bildungsgang nur eine Sprache vorgesehen ist, oder sei es, weil weitere Sprachenkenntnisse angesichts der kommunikativen Reichweite des Englischen nicht länger als notwendig erachtet werden. Das Englische verstellt daher in vielen Fällen den Weg zu weiterem Fremdsprachenlernen und wird so zur „Bedrohung oder gar Sackgasse“ (V OLLMER 2001: 92) für „M+2“. Gerade weil dem so ist, ist die Mitarbeit der 1. Fremdsprache gefragt, wenn Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen Wirklichkeit werden sollen. Denn Englisch ist als Sprache zu dominant und als Schulfach zu wichtig, als dass es sich seiner Verantwortung für die Anbahnung von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitskompetenz entziehen könnte. Wenn Lernende keine Gelegenheit dazu haben, eine 2. Fremdsprache zu belegen oder dies nur tun, weil es sich um eine schulische Vorgabe handelt, muss eine Sensibilisierung für die Relevanz des Sprachenlernens schon im Englischunterricht angeregt werden. Ein Umdenken hinsichtlich der didaktisch-methodischen Ausrichtung des Faches ist notwendig, damit der Englischunterricht „die Schülerinnen und Schüler besser als bisher auf den lebensbegleitenden Umgang mit Sprachen und Kulturen vorbereiten kann“ (S CHRÖDER 2009: 74). Von der Mehrsprachigkeitsdidaktik wird dem Englischunterricht daher die Aufgabe zugeschrieben, den Grundstein für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitskompetenz zu legen und als „Brückensprache und Türöffner für das Erlernen weiterer Fremdsprachen“ (N EUNER 2005: 167), „zusätzliche Schubkraft“ für multiples Sprachenlernen (K URTZ 2011: 71) oder als „Gateway to Languages“ (S CHRÖDER 2009) zu fungieren. In Kooperation mit den anderen Sprachen müsste also hier die Basis für vernetzendes, transcurriculares Fremdsprachenlernen geschaffen werden. Mit anderen Worten: Gerade jene Sprache, die für sich den Status einer ‚Weltsprache‘ mit enormer kommunikativer Reichweite in Anspruch nehmen kann, hätte demnach die Grenzen und Nachteile des Kommunikationsmodells „M+Englisch“ zu reflektierten und den Lernern aufzuzeigen, dass „English only“ weder für sie selbst noch für das gemeinsame Miteinander in Europa eine tragfähige Option ist. 2.2 Handlungsfelder eines mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts Es mangelt nicht an konzeptionellen Vorschlägen für die Gestaltung eines Englischunterrichts im Zeichen der Mehrsprachigkeit (vgl. u.a. K URTZ 2011; S CHRÖDER 2009; V OLLMER 2001 sowie E LSNER 2010). Ferner gibt es Entwürfe für konkrete Vernetzungsräume zwischen Englisch und ausgewählten schulischen Fremdsprachen (vgl. z.B. B LELL / L EITZKE -U NGERER 2011 oder G RÜNEWALD / S ASS 2014). Darüber hinaus finden sich erste Unterrichtsmaterialien für „Englisch und Mehrsprachigkeit“ (vgl. z.B. B EHR 2005; P REKER -F RANKE / P REKER 2011). Im Kern belaufen sich die von Seiten der Fremdsprachendidaktik vorgebrachten Vorschläge auf folgende Dimensionen (vgl. Abb. 1, S. 24): 24 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 Abb. 1: Dimensionen eines mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts Der Englischunterricht kann den Weg für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen ebnen, indem er ergänzend zum Aufbau interkultureller kommunikativer Kompetenzen im Englischen im Rückbzw. Vorgriff auf bereits erworbene bzw. noch zu lernende Sprachen • Language Awareness vermittelt und die Grundlagen für Kommunikation über Sprache legt, beispielsweise durch das Fortführen der aus dem Deutschunterricht bekannten Terminologie (sprachlich-kognitive Dimension), • Gelingenserfahrungen im Umgang mit der Fremdsprache ermöglicht und so die Einsicht fördert, dass das Sprachenlernen Freude bereiten und Zugänge zu anderen Kulturen eröffnen kann (affektiv-motivationale Dimension), • die Lernenden für die innere Vielfalt der anglophonen Bezugsländer sensibilisiert und sie auf den Umgang mit plurikulturellen Kommunikationssituationen (einschließlich Lingua franca-Kommunikation) vorbereitet (interkulturelle Dimension), • zum gezielten Einsatz individuell wirksamer Lern- und Arbeitstechniken anleitet und deren sprachenübergreifende Verwendbarkeit verdeutlicht (methodische Dimension) und/ oder • explizit Diskussionen über die Vor- und Nachteile des Englischen als globaler Lingua franca anregt und die europäische Dimension des Sprachenlernens sowie das Ziel der individuellen Mehrsprachigkeit behandelt (inhaltlich-thematische Dimension). 8 8 Es handelt sich hierbei um exemplarische Konkretisierungen der erarbeiteten Dimensionen; die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 25 44 (2015) • Heft 2 Gerade Letzteres rückt angesichts der Kompetenzorientierung in den Hintergrund, wäre jedoch eine nicht minder wichtige Möglichkeit, „M+2“ zu mehr Präsenz im Englischunterricht zu verhelfen. Betrachtet man die aufgeführten Punkte, fällt auf, dass vieles davon dem Englischunterricht nicht völlig fremd ist. Neu ist allerdings, dass andere Sprachen (und damit ist immer gemeint: sowohl in den Unterricht mitgebrachte als noch zu lernende Sprachen) systematisch mitbedacht und bei der Planung und Durchführung des Unterrichts berücksichtigt werden. Dies dürfte einem Fach, das an den Schulen eine gesicherte Stellung hat und es gewohnt ist, auch im Alleingang erfolgreich zu sein, freilich nicht leicht fallen. 2.3 Vor- und Nachteile einer Öffnung des Englischunterrichts für Mehrsprachigkeit Die vorgestellten Dimensionen eines mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts haben deutlich werden lassen, dass eine Kursänderung in Richtung „M+2“ ein Umdenken verlangt. Wenngleich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht genau bestimmt werden kann, in welcher Form und in welchem Umfang die skizzierten Handlungsfelder Eingang in den Englischunterricht finden könnten, ist doch offensichtlich, dass Änderungen hinsichtlich des Selbstverständnisses des Faches nötig sind. Ob es daher ausreicht, an die Verantwortung des Englischunterrichts für das Sprachenlernen insgesamt zu appellieren, ist fraglich. Überlegt man, mit welchen Argumenten der Englischunterricht zu mehr Engagement für Mehrsprachigkeit motiviert werden könnte, ließen sich folgende Aspekte anführen: • Optimierung des Lernprozesses durch die Berücksichtigung mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien Durch eine bessere Anknüpfung an das von den Lernern (z.B. aus ihren Herkunftssprachen) mitgebrachte Vorwissen sowie die Förderung von Language Awareness und Language Learning Awareness ließe sich - so die Annahme - das Lernen des Englischen effektivieren und die Verarbeitungstiefe erhöhen. Ein Englischunterricht, der andere Sprachen nicht ‚künstlich‘ ausklammert, sondern bewusst aufgreift und als Anlass für Sprachenvergleiche nutzt, könnte außerdem dazu beitragen, die Konturen der zu lernenden Sprache, d.h. dem Englischen, deutlicher hervortreten zu lassen. • Stärkung des Profils des Faches Wiewohl dem Englischunterricht als Hauptfach ein hohes Maß an Anerkennung von Schülern und Eltern entgegengebracht und das Englische als prestigeträchtige Sprache wahrgenommen wird, wäre es fatal, sich aufgrund dessen in Sicherheit zu wägen. Immerhin gibt es Überlegungen, die dem Fach Englisch zur Verfügung stehende Stundenzahl zugunsten bilingualer Angebote zu reduzieren (vgl. z.B. H UFEISEN 2011: 272). Englisch wäre dann Medium der Kommunikation, 26 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 nicht aber Unterrichtsgegenstand. Dies ginge mit einem Verlust an inhaltlicher Freiheit für das Fach einher und könnte schlimmstenfalls in einer ‚Zuliefererfunktion‘ für CLIL (Content and Language Integrated Learning) resultieren (vgl. D ECKE -C ORNILL 1999; D OFF / L ENZ 2011: 35). • Vorbereitung der Schüler auf das Agieren in einer mehrsprachigen und plurikulturellen Lebenswelt Viele Schüler wachsen heute in einem Umfeld auf, in dem sie den Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen und den Umgang mit unterschiedlichen Kulturen als selbstverständlich erleben. Im zusammenwachsenden Europa haben sie immer häufiger Gelegenheit, ihre Englischkenntnisse anzuwenden - allerdings meist nicht in der Kommunikation mit native speakers, sondern im Austausch mit anderen Englischlernenden. Der schulische Englischunterricht muss die daraus resultierenden veränderten Ausgangsbedingungen und Zielvorstellungen zur Kenntnis nehmen und in geeigneter Form berücksichtigen (vgl. H ALLET 2011: 219). Insbesondere wäre zu bedenken, dass die Identitätsentwicklung einer zunehmenden Zahl von Jugendlichen von Mehrsprachigkeit geprägt ist (siehe dazu u.a. K RUMM 2013; M EISSNER 2013). Neben diesen potenziellen ‚Gewinnen‘, die sich aus einer Hinwendung des Englischunterrichts zu Mehrsprachigkeit und vernetzendem Sprachenlernen ergeben können, gibt es jedoch auch Bedenken, die mit einer solchen Art des Unterrichtens einhergehen: • Belastung des Englischunterrichts mit zusätzlichen Aufgaben Englischkenntnisse sind für die individuellen Sprachenprofile (junger) Europäer unabdingbar. Den komplexen Zielsetzungen des Englischunterrichts, insbesondere der Vermittlung interkultureller kommunikativer Kompetenzen, lässt sich daher nicht im ‚Schnelldurchgang‘ gerecht werden. Sollen nun auch noch sprachenübergreifende Fragestellungen beim Englischlernen berücksichtigt werden, droht möglicherweise eine „Überfrachtung des regulären Englischunterricht[s] mit immer neuen Aufgaben“ (K URTZ 2008: 138). Vor allem wenn Lehrende die einzubeziehenden Sprachen nur ansatzweise oder gar nicht beherrschen, dürfe es ihnen schwer fallen, Sprachvergleiche zu initiieren und produktiv für die Vermittlung des Englischen zu nutzen. • Kompetenzverluste im Englischen Will man die oben skizzierten Handlungsfelder eines mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts bedienen, muss mehr Zeit für sprachenübergreifende Phänomene aufgewendet werden. Diese Zeit könnte dann aber für das ‚Kerngeschäft‘ des Englischunterrichts, d.h. die Vermittlung mündlicher und schriftlicher Kompetenzen im Englischen, fehlen. Dies wäre schon allein deshalb problematisch, weil solide Kenntnisse in der 1. Fremdsprache die Voraussetzung für vernetzendes Sprachenlernen sind (vgl. K LEIN 2007: 218). Außerdem dürfte eine Fokussierung auf die Aneignung von Sprachlernkompetenz nicht dazu führen, dass „dem Erwerb der sprachstrukturellen Dimension der Fremdsprache kaum noch Beachtung geschenkt wird“ (G NUTZMANN 2004: 48). Insofern wäre zu prü- Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 27 44 (2015) • Heft 2 fen, was die Reflexion über Sprache sowie der Sprachvergleich zum Spracherwerb im engeren Sinne, d.h. dem Erwerb grammatikalischer und lexikalischer Strukturen, beitragen könnten. • Vernachlässigung kommunikativer Ziele Wird dem ‚Lernen lernen‘ mehr Bedeutung beigemessen und das Gespräch über Sprache angeregt, geht Unterrichtszeit für den Austausch in der Fremdsprache verloren. Es drohen eine Beeinträchtigung der kommunikativen Ausrichtung des Englischunterrichts und eine stärkere ‚Verkopfung‘ (vgl. K URTZ 2008). Gerade mit Blick auf die häufig als Alleinstellungsmerkmal des bilingualen Sachfachunterrichts geltende bedeutungsvolle Kommunikation über reale Inhalte darf sich der reguläre Fremdsprachenunterricht nicht noch weiter vom Ziel der Einübung fremdsprachlicher Verständigung entfernen. Auch die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich das Englischlernen vollzieht (Nachmittagsunterricht, Doppelstunden), lassen ein stärkeres Abheben auf reflexive Momente nicht immer sinnvoll erscheinen (vgl. K URTZ 2011: 79f.). Die Orientierung an einer „Ethik der Mehrsprachigkeit“ (M EISSNER 2001: 5), die anerkennt, dass sich die Lehrenden aller Sprachen „wohl oder übel den Kuchen teilen“ müssen (ebd.: 6), ist für Unterrichtende des Französischen oder Spanischen wohl mit einer größeren Notwendigkeit verbunden als für das Fach Englisch. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern eine solche ethisch wünschenswerte Verantwortungsübernahme für weiteres Sprachenlernen Grund genug ist, die nötigen Änderungen in der schulischen Praxis auf den Weg zu bringen. Die im Folgenden präsentierten Auszüge aus Daten einer empirischen Untersuchung (J AKISCH 2015) sollen dabei helfen, dieser Frage nachzugehen. 3. Mehrsprachigkeit und Englischunterricht aus der Sicht von Lernenden und Lehrenden Um eine realistische Vorstellung davon zu entwickeln, was der Englischunterricht für die Förderung von Mehrsprachigkeit leisten kann bzw. nicht leisten kann, wurden 273 Schüler des 10. Jahrgangs sowie 15 Englischlehrer im Schuljahr 2011/ 12 zu ihren Sichtweisen auf und Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und Englischunterricht befragt. Da die gewählten Gruppen das Forschungsfeld aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen, kamen dabei unterschiedliche Forschungsinstrumente zum Einsatz: Für die Schüler ein Fragebogen, der neben geschlossenen Fragen auch Freitextfelder enthielt, in denen individuelle Aussagen kommuniziert werden konnten, und für die Lehrer qualitative Experteninterviews. Folgende Forschungsfragen waren maßgebend: 1. Was denken die Akteure über das von der EU postulierte Lern- und Bildungsziel der individuellen Mehrsprachigkeit? 2. Wie stehen sie zur anvisierten Öffnung des Englischunterrichts für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen? 28 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 3. Wie (und unter welchen Rahmenbedingungen) kann der Englischunterricht aus ihrer Sicht zur Umsetzung von Mehrsprachigkeit beitragen? Im Folgenden sollen Forschungsfrage 2 und 3 anhand ausgewählter Daten genauer in den Blick genommen werden. 3.1 Englischunterricht als Ausgangspunkt für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Fremdsprachenlernen Mehrsprachigkeitsförderlicher Englischunterricht greift vorhandene Sprach(en)kenntnisse auf und bereitet weiteres Sprachenlernen vor. Er agiert im Verbund mit den anderen Sprachenfächern einer Schule und stellt wann immer möglich Anknüpfungspunkte zu diesen her. Nahezu alle befragten Schüler zeigen sich interessiert an einem Englischunterricht, der Sprachlernkompetenz vermittelt (84,6% stimmen dem Item „Ich möchte im Englischunterricht gezeigt bekommen, wie ich eine Sprache am besten lerne“ zu). 82,8% befürworten außerdem die Aussage „Ich wünsche mir, dass der Englischunterricht Lerntechniken und Strategien vermittelt, die auf andere Sprachen übertragbar sind“. Die Gruppe reagiert allerdings weniger offen, sobald es um die konkrete Einbeziehung anderer Sprachen in den Englischunterricht geht (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Berücksichtigung anderer Sprachen im Englischunterricht („Der Englischunterricht sollte auch andere Sprachen berücksichtigen, indem er …) Dass Verknüpfungen zum Deutschen hergestellt werden, stößt auf Zustimmung. Die Bezugnahme auf andere gelernte Fremdsprachen erscheint nur noch knapp der Hälfte der Schüler wünschenswert. Ein Aufgreifen anderer Ausgangssprachen im Englischunterricht wird hingegen nur von wenigen Jugendlichen als erstrebenswert erachtet - 11,8 4,4 4,1 66,4 54 33,6 21,8 44,6 62,3 0 10 20 30 40 50 60 70 Bezüge zu anderen in der Klasse vorhandenen Sprachen herstellt Bezüge zu anderen Fremdsprachen, die wir lernen oder noch lernen werden, herstellt Bezüge zum Deutschen herstellt Zustimmung Ablehnung weiß nicht Prozent Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 29 44 (2015) • Heft 2 ein Ergebnis, das sicherlich vor dem Hintergrund der Tatsache zu interpretieren ist, dass die Schüler kaum Erfahrungen mit einer solchen Art des Unterrichts haben und sich daher an den ihnen vertrauten Fächergrenzen orientieren. Die Lehrer signalisieren, dass die zuerst gelernte Fremdsprache den weiteren Umgang mit Fremdsprachen beeinflusst. Sie zweifeln nicht an der zentralen Rolle des Englischen als 1. Fremdsprache: „Ich glaube, dass das Englische traditionell und wahrscheinlich auch von der Verwandtschaft zum Deutschen her tatsächlich die geeignete Eingangsfremdsprache für die allermeisten Kinder ist. Und ich weiß, dass bei den jüngeren Schülerinnen und Schülern auch ein ganz großes Interesse daran besteht, eine 2. Fremdsprache zu lernen. Also ich glaube, dass viele motiviert sind von den ersten Schritten, die sie in Englisch gemacht haben, auch mal eine 2. Fremdsprache zu probieren. […] Und insofern sehe ich schon Englisch als so einen door-opener für den weiteren Fremdsprachenerwerb.“ (I 14) 9 Dem Englischen eine Sonderrolle für die Anbahnung von Mehrsprachigkeit zuzuschreiben, wie es im Zitat getan wird, ist jedoch nicht für alle Kollegen selbstverständlich. Vielmehr betonen die Interviewpartner, dass der Einstieg in das Fremdsprachenlernen über jede Fremdsprache erfolgen könne, und fragen sich, warum es gerade der Englischunterricht ist, der hier aktiv werden soll: „Man [kann] natürlich Verbindungen [zwischen dem Englischen und anderen Sprachen, Erg. JJ] herstellen, ja klar. Aber kann man nicht aus jeder Sprache heraus Verbindungen zu anderen Sprachen herstellen? Gleichheiten, Ähnlichkeiten, Kontraste? “ (I 11). Es wird in Frage gestellt, dass sich der gewünschte ‚Mehrsprachigkeitseffekt‘ über eine Sprache wie das Englische einstellen kann, denn Englisch „hat ja nicht unbedingt alle Strukturen, die man in anderen Sprachen braucht“ (I 8). Eine Öffnung für andere Sprachen stehe zudem im Widerspruch zu den derzeit geltenden Vorgaben: „Na da müssten wir ein neues Curriculum und neue Bücher bekommen, weil das ist ja im Prinzip im Augenblick wirklich auf das Erwerben DIESER Fremdsprache ausgerichtet“ 10 (I 1). Basierend auf der während der Ausbildung vermittelten Einschätzung, als Englischlehrer schwerpunktmäßig für eine Sprache verantwortlich zu sein und im Englischunterricht kommunikative Kompetenzen in einer Sprache zu fördern, ist die praktische Umsetzung der dem Englischunterricht zugedachten ‚neuen‘ Aufgabe für die Mehrheit der befragten Lehrer daher noch mit vielen Fragen verbunden. 11 3.2 Ideen für die Gestaltung mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterrichts Ein Englischunterricht, der Mehrsprachigkeit anbahnt, widmet sich nicht nur der (Weiter-)Entwicklung der Kompetenzen der Schüler in der Zielsprache Englisch. Vielmehr legt er im Rückbzw. Vorgriff auf schon vorhandene bzw. noch zu lernende 9 Bei der Transkription wurde eine größtmögliche Annäherung an die Standardorthografie angestrebt. Das „I“ steht für „Interview“, die Zahl danach bezeichnet die Interviewnummer. 10 Die Großbuchstaben im Zitat stehen für ein besonders laut ausgesprochenes Wort. 11 Weitere Lehrersichtweisen werden in J AKISCH (2014) vorgestellt. 30 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 Sprachen Grundlagen affektiv-motivationaler, sprachlich-kognitiver, methodischer und interkultureller Art für das Lernen weiterer Fremdsprachen. So individuell, wie sich Lernprozesse vollziehen, sind auch die Vorschläge der Schüler für einen Englischunterricht, der Lust auf mehr macht. Der Englischunterricht kann beispielsweise zu Mehrsprachigkeit beitragen, indem er „zeigt, dass auch andere Sprachen als die Muttersprache spannend sind“ (F232) 12 . Darüber hinaus könnte man den mit dem Fremdsprachenlernen einhergehenden Nutzen stärker beleuchten und auf Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen hinweisen: „Der Englischunterricht kann einem die Vorteile verschiedener Sprachen aufzeigen und versuchen, immer wieder Parallelen zu Deutsch und anderen Fremdsprachen zu finden. So wäre man nicht so isoliert in jeder einzelnen Sprache, sondern könnte davon profitieren.“ (F24) Die Simulation mehrsprachiger Kommunikationsanlässe wäre ein weiterer Weg, um andere Sprachen im Englischunterricht aufzugreifen: „Mit Rollenspielen, in denen man mehr als eine Fremdsprache verwenden muss, z.B. zusätzlich zu Englisch auch Französisch (nur 2-3 Sätze)“ (F96). Wenngleich diese Anregungen auf ganz unterschiedliche Dimensionen des oben dargestellten Schemas (vgl. Abb. 1) Bezug nehmen, zeigen sie doch, wie lohnenswert es sein könnte, die Meinungen der Schüler zu Mehrsprachigkeit und vernetzendem Fremdsprachenlernen im Englischunterricht zu thematisieren und ihre Wünsche ggf. aufzugreifen. Auch die Lehrer äußern verschiedene Vorschläge 13 für einen Englischunterricht, der - zumindest hypothetisch - weiteres Sprachenlernen anbahnt bzw. vorhandene Sprachen aufgreift: Der Englischunterricht könnte Mehrsprachigkeit in lernmethodischer Hinsicht anbahnen (11 Zuordnungen), grammatikalische (11 Zuordnungen) und lexikalische Parallelen (9 Zuordnungen) aufzeigen und durch einen erfolgreichen Umgang mit der Fremdsprache für weiteres Sprachenlernen motivieren (ebenfalls 9 Zuordnungen). Für integratives Sprachenlernen sei außerdem eine Vereinheitlichung der terminologischen Grundlagen sinnvoll (angesprochen in 5 Interviews), und auch interkulturelle Ziele könnten sprachenübergreifend ausgelegt werden (2 Nennungen). Insbesondere das zuerst genannte Mehrsprachigkeitsfeld, die Übertragbarkeit der im Fach Englisch erworbenen methodischen Kompetenzen, böte sich als Einstieg in die Öffnung des Englischunterrichts für Mehrsprachigkeit an. Denn um die Übertragbarkeit der im Englischunterricht erlernten Methoden auf andere Fremdsprachen in Aussicht zu stellen oder zu thematisieren, wie man eine Sprache am besten lernt, muss man diese nicht ‚vollständig‘ beherrschen. Dieses Mehrsprachigkeitsfeld hätte somit den Vorteil, dass es potenziell von jedem Englischlehrer bedient werden könnte. 12 Die Angabe bezeichnet die Nummer des Fragebogens. 13 Die Lehreraussagen zu diesem thematischen Feld wurden gesammelt und durch Kategorienbildung systematisiert (vgl. K UCKARTZ 2014). Mehrsprachigkeitsförderung über die 1. Fremdsprache: Der Beitrag des Faches Englisch 31 44 (2015) • Heft 2 4. Fazit und Implikationen Die Diskussion der zu erwartenden ‚Gewinne‘ sowie der Bedenken, die sich mit mehrsprachigkeitsförderlichem Englischunterricht verbinden, hat gezeigt, dass eine Öffnung des Faches gegenüber „M+2“ keinesfalls frei von Widersprüchen ist. Ebenso haben die Analysen der Daten aus den Schülerfragebögen sowie den Lehrerinterviews deutlich werden lassen, dass noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten ist, um die aus fremdsprachendidaktischer Sicht unvermeidliche Öffnung des Englischunterrichts für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen in der Schule voranzubringen. Es erscheint daher wenig sinnvoll, den Englischunterricht mit dem eher abstrakten Wunsch nach einer Berücksichtigung mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien zu konfrontieren. Eher wäre es praktikabel, sich zunächst auf ausgewählte Dimensionen transcurricularen Fremdsprachenlernens, wie beispielsweise das lernmethodische Feld, zu konzentrieren. Allerdings sind es nicht nur Fragen der unterrichtlichen Umsetzung, die Lehrende und Lernende umtreiben. Eher sind es die Einstellungen der Lehrer und Schüler, an denen sich festmacht, wie mehrsprachigkeitsförderlich der Englischunterricht sein kann. Solange Lehrer und Schüler keine Vorteile in der neuen Art des Unterrichts sehen und „M+2“ nicht für zwingend notwendig erachten, werden Unterrichtskonzepte oder Materialvorschläge kaum das nötige Umdenken bewirken können. Dennoch darf die hervorgehobene Bedeutung des Englischen als Sprache und Schulfach nicht dazu führen, dass der Englischunterricht die Augen vor den veränderten Ausgangsbedingungen des Fremdsprachenlernens im Zeitalter der Mehrsprachigkeit verschließt. Literatur B AUR , Rupprecht S. / H UFEISEN , Britta (Hrsg.) (2011): „Vieles ist sehr ähnlich“. Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. B EHR , Ursula (Hrsg.) 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It is assumed that these films, with their multilingualism and multiculturalism may sensitize audiences for transnational and global cinema and therefore support interand transcultural learning. Furthermore, owing to subtitling and dubbing techniques, linguistic aspects like listening and reading (apart from viewing) have become the focus of interest once more and offer learning potential for cross-curricular classes. Using the example of a short tragicomedy The Mexican Dream, these assumptions will be discussed theoretically and their implementation will be outlined. 1. Mehrsprachige Filme und Mehr-/ Transkulturalität Zwei- und mehrsprachige Filme (auch mit Untertitelungen) sind sowohl im Kino als auch im Fernsehen kaum mehr eine Ausnahme. Die zunehmende sprachliche und kulturelle Vielfalt der Gesellschaften und Kulturen bildet sich heute auch im Kino und im Fernsehen ab, getrieben durch wirtschaftliche Vernetzungen, globalisierte Produktion und Distribution. Die filmischen Schauplätze werden weltumspannender, teilweise flüchtiger und durchlässiger (z.B. Grenzen, Flughäfen, Bahnhöfe, Bushaltestellen) (z.B. Lost in Translation USA/ J 2003). Sie werden zu „Nicht-Orten“, wie A UGÉ sie bereits 1994 beschreibt. Die inszenierten mehrsprachigen Erzählungen haben nicht selten einen komplexen Netzwerkcharakter und entwickeln, meist episodisch erzählt, sowohl kulturen- (z.B. Babel, F/ USA/ Mex 2006) als auch parallel-zeitenverbindende Narrative bis in die Vergangenheit und Zukunft hinein (z.B. Cloud Atlas DL/ USA/ China/ Singapore 2012). Erzählt wird meist nichtlinear und chronotopisch, d.h. immer in Abhängigkeit vom jeweiligen Ort und Zeit. Die Filme entwerfen Szenarien für Protagonisten, die heimatlos sind oder als Abenteurer, Immigranten, Globetrotter und Kriminelle weltweit agieren. 1 Das Transnational Cinema als neuer filmwissenschaftlicher Theorieansatz * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Gabriele B LELL , Leibniz Universität Hannover, Englisches Seminar, Königsworther Platz 1, 30167 H ANNOVER . E-Mail: gabriele.blell@engsem.uni-hannover.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Kulturdidaktik, Film- und Mediendidaktik, Interkulturelles Lernen. 1 Ein kurzer Abriss zum mehrsprachigen Film und zu fächer- und sprachenübergreifender Filmarbeit in B LELL (2015 in Vorbereitung). The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 35 44 (2015) • Heft 2 versucht dieses vielschichtige Phänomen zu greifen, aus hegemonialer Perspektive (Hollywood), aber auch aus der Perspektive ehemaliger kolonialer und Länder der Dritten Welt (vgl. E ZRA / R OWDEN 2006; D REXLER in Vorbereitung). Die meist weltumspannenden Filmthemen, die wechselnden Orte und Zeiten, das Neben- und Gegeneinander filmischer Genres oder eine kulturenübergreifende Symbolik fordern quasi generisch eine Viel- und Mehrstimmigkeit der Charaktere ein. Mehrsprachigkeit wird damit zum deutlichen Authentifizierungsbzw. darstellerischen Realitätsmerkmal im Film, wodurch zusätzlich soziale oder politische Ungleichheiten markiert werden. Damit erzeugt Mehrsprachigkeit im Film auch „a dialogue of social forces [...] that is contradictory, multi-speeched and heterogeneous“ (1981: 365), um mit B AKHTIN zu sprechen. 2 Mehr- und Transkulturalität sowie Mehrsprachigkeit sind somit einander wechselseitig bedingende Phänomene einer Vielzahl moderner mehrsprachiger Filmproduktionen. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass diese Filme aufgrund der in ihnen manifesten Sprachenvielfalt und der unterschiedlichen kulturellen Produktions- und Rezeptionskontexte für transnationales und globales Kino sensibilisieren können, d.h. für filmsprachliche Realitäten (universale/ transnationale Bilder und Sounds vs. lokale Bilder und Sounds). Damit kann durch mehrsprachige Filme auch inter-/ transkulturelles Lernen, einschließlich der Fähigkeit zu flexiblem Perspektivenwechsel, unterstützt werden. Zum anderen richten mehrsprachige Filme aufgrund von (Nicht-)Synchronisation und verschiedenen Formen der Untertitelung den Fokus verstärkt auf die verbalsprachliche Textqualität (neben der traditionell bildsprachlichen), was wiederum Lernpotenzial für den fächerübergreifenden Sprachenunterricht mit sich bringt. Am Beispiel des englisch-spanischen Kurzfilms The Mexican Dream (2003) sollen diese Thesen diskutiert und anwendungsorientiert für sprachenübergreifendes Lernen erörtert werden. Thema des Films ist die Metapher der ‚Mauer‘ - als sprachliche und/ oder kulturelle Grenze, Hürde, Demarkation oder Trennung: undurchlässig und durchlässig zugleich. 2. Mehrsprachiges kulturelles Handeln Für den mainstream cinema-verwöhnten erwachsenen deutschen Zuschauer, aber auch für den entdeckungsfreudigen Jugendlichen 3 bedeuten mehrsprachige Filme angestrengte Rezeptionsarbeit, wenn man sich nicht ausschließlich auf synchronisierte und damit letztendlich immer subjektiv verfremdete Fassungen einlassen will. Es muss gesehen, gehört (Hör-Seh-Kompetenz) und auch gelesen werden (Lesekompetenz), um 2 In B LELL (2015 in Vorbereitung) werden diesbezüglich vier Funktionen von Mehrsprachigkeit (MS) im Film unterschieden: 1. MS zur Erhöhung erzählerischer Darstellungsweisen, 2. MS zur Stützung sozialkritischer Herangehensweisen, 3. MS als Mittel zur kontrastiven Charakterdarstellung und 4. MS als sinnstiftendes Mittel für postkoloniale und transkulturelle Erzählungen. 3 Im deutschsprachigen Raum gibt es bisher keine Untersuchungen zum Rezeptionsverhalten im Umgang mit mehrsprachigen Filmen. 36 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 visuelle und verbale kulturelle Bedeutungen zu erschließen und um schließlich damit (fremd-)sprachlich handeln zu können (fremd-/ sprachliche Handlungskompetenz). Zur Verfügung stehen dafür gewöhnlich die Originalfassung (ohne Untertitel) oder die Originalfassung mit zugeschalteten Untertiteln durch entsprechende DVD-Technik (softcoded subtitles), meist entweder als Synchronisation von der Fremdsprache in die Muttersprache (L2>L1) oder eine andere Fremdsprache (L3>L2) oder auch in der Fremdsprache selbst (L2>L2, sogenannte closed captions). Darüber hinaus können mehrsprachige Filme auch hardcoded subtitles haben, d.h. Untertitel, die direkt in die Originalversion eingeschrieben und nicht ausschaltbar sind (z.B. englischsprachige Untertitel für das Arabische in der englischen Originalversion von Babel). Das Potenzial für die Arbeit mit mehrsprachigen Filmen im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe II ist groß, aber genauso schwierig in der didaktischen Umsetzung, da die Spracharbeit, rezeptiv und auch produktiv, kaum vom visuellen und kulturellen Filmerleben und -verstehen getrennt werden kann. Spezifisch gegenstandsbezogene Spracharbeit an zwei oder mehreren Sprachen mit Film (focus on form) kann punktuell und i.S. einer teaching intervention hilfreich sein, um Filmbilder oder Dialoge zu entschlüsseln und damit Bewusstsein für bestimmte sprachliche Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu schärfen. Gleichzeitig wird es jedoch auch darum gehen müssen, den Sprachgebrauch in der spezifischen kulturellen Konnotation - und gleichzeitig bildgestützt - deuten und verstehen zu können (focus on meaning). Kulturelles und sprachliches Handeln sollten also möglichst zusammengedacht werden, um die Schüler/ innen zu kompetent handelnden kulturellen Akteuren zu machen. Insofern sind auch Überlegungen zur Frage, wie kulturelles Filmverstehen im Fremdsprachenunterricht durch unterschiedliche kulturwissenschaftliche Bezüge geschärft werden kann, notwendig, um einen rezeptiv-performativen Zugang auch zu mehrsprachigen Filmen zu finden. Lotta K ÖNIG s kulturwissenschaftliche Perspektive auf Filmbildung (in Vorbereitung) ist diesbezüglich hilfreich. Sie geht von einem weiten Kulturbegriff aus, der auch immer ‚Sprache‘ miteinbezieht: Ein textuelles Kulturverständnis (B ACHMANN -M EDICK 2004) ermöglicht das Erkennen (Benennen und Beschreiben) kultureller Bedeutungskonstruktionen im Film; ein performatives Kulturverständnis dagegen ermöglicht über kritisch-evaluative Partizipation und aktive Auseinandersetzung der Schüler/ innen die eigene Teilhabe an der Konstruktion kultureller Bedeutung (H ALLET 2010) (z.B. kleine eigene Produktionen als ‚Antworten‘ auf Filmszenen). Auch D REXLER folgert aus filmwissenschaftlicher Perspektive für das Transnational Cinema, also auch das mehrsprachige Kino, mannigfaltige Umgangspraxen, „d.h. eine eher performativ als rezeptiv orientierte Betrachtung“ (D REXLER 2015 in Vorbereitung). Schließlich eröffnet ein hybrides Verständnis von Kultur (B HABA / R UTHERFORD 1990; H ALLET 2002) die Möglichkeit, Diversität und Differenzen auszuhandeln und auszuhalten (z.B. cross-dressing als politischer Ausdruck) (K ÖNIG in Vorbereitung). Dennoch ist das „filmbezogene sprachliche Handeln“ - in einer Sprache oder in mehreren Sprachen - gleichzeitig eine Art konstitutives Alleinstellungsmerkmal für alle Sprachenfächer, im Vergleich zu den Fächern Geschichte, Musik oder Kunst, die The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 37 44 (2015) • Heft 2 sich auch mit Film beschäftigen, aber einen anderen gegenständlichen Schwerpunkt haben. Das Filmverstehen wird in diesen Fächern immer „leiden“, wenn das sprachliche Verstehen nicht zu großen Teilen gegeben ist, auch wenn die Bildstützung verstehensfördernd sein kann. Das Göttinger Modell 4 zu einem sprach- und kulturübergreifenden Filmcurriculum „Film erleben und verstehen“ (B LELL / G RÜNEWALD / K EPSER / S URKAMP in Vorbereitung) umfasst neben drei weiteren Kompetenzbereichen auch den des „Filmbezogen sprachlich handeln“, der wiederum den Teilkompetenzbereich „Rezeptiv und produktiv mehrsprachig handeln“ umfasst. In der folgenden Tabelle wird der Versuch unternommen, (kulturwissenschaftlich perspektiviertes) kulturelles Handeln im Umgang mit Film mit filmbezogenem (mehr-)sprachlichen Handeln zu verknüpfen. (Mehr-)Spracharbeit im Film sollte grundsätzlich medienspezifisch ‚ganzheitlich‘ sein. D.h., auch für die Spracharbeit sollte der Film grundsätzlich als plurimediales Medium begriffen werden, welches Hör- und Sehimpulse zur Verfügung stellt. Insbesondere für mehrsprachiges Lernen sollte die Mehrkanaligkeit in der Rezeption bewusst genutzt werden, um Verstehensprozesse zu erleichtern. T HALER s (2010: 142- 146) grundlegende Verfahren zur Arbeit mit (Musik-)Videos (z.B. sound-first/ soundoff/ vision-first/ vision-off approach) sind dabei wichtig, um visuelle und akustische Wahrnehmungen zu schärfen und zeitweilig spezifische Formaspekte in den Blick zu nehmen (focus on form). Die in B LELL (in Vorbereitung) erarbeitete Übersicht zu Sprachhandlungstypen, Operatoren und (Beispiel-)Textsorten für (mehr-)sprachliches filmbezogenes Handeln diente für die entwickelte Übersicht (Abb. 1, S. 38) als Grundlage und wurde kompetenzbezogen erweitert und zu filmbezogenem kulturellen Handeln in Verbindung gesetzt. Filmbezogen mehrsprachiges Handeln ist insbesondere für die folgenden Teilkompetenzbereiche möglich: Hören und Hör-/ Sehverstehen, Lesen, Sprachreflexion (sprachrezeptiv handeln) sowie Sprechen, Schreiben, Sprachmitteln und szenisches Spielen (performing) (sprachproduktiv handeln). Sprachreflexives Lernen als focus on form durchzieht dabei alle Kompetenzbereiche integrativ. Die Übergänge zwischen den Bereichen sind fließend und keineswegs starr. Die Sprachhandlungsbereiche sind generell lerner-, gegenstands- und produktorientiert (Lerngegenstand Film und eigene Produkte) sowie prozessorientiert (Aushandlungsprozesse zwischen Schüler/ innen). 4 Der Begriff wird hier abgeleitet von einer im März 2014 in Göttingen stattgefundenen sprachenübergreifenden Expertentagung zum Thema „Film in den Fächern der sprachlichen Bildung“ (Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch). Die Kongresspublikation (B LELL et al. 2015) ist in Vorbereitung. 38 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 Filmbezogen mehrsprachig handeln Kulturverständnis Mehrsprachiges kulturelles Handeln Textuell Performativ Hybrid Sprachrezeptiv handeln Hören- und Hör-/ Sehverstehen ♦Bildgestützt ausgewählte mehrsprachige (ms) Dialoge zusammenfassen und interpretieren (Hypothesenbildung durch Interkomprehensionsstrategien: phonologisch, pragmatisch, lexikalisch; pro- und retroaktiv) ♦Ausgewählte (stumme) Bilddialoge in verschiedenen Sprachen zusammenfassen und Kernaussagen in mehreren Sprachen vergleichen Lerngegenstand (Film), Sprache(n) Lesen ♦Ausgewählte Szenen ms Filmscripts verstehend lesen und deuten (Nutzung interkomprehensiver Verfahren, insbesondere lexikalisch, orthographisch und morphosyntaktisch) ♦Ausgewählte ms Untertitel verstehend lesen (z.B. L2>L2/ L3>L3) und mit dem Hörergebnis vergleichen (Interpretation von Bedeutungsverschiebungen) Sprachreflexion ♦Ausgewählte ms Diskursphänomene reflektieren (z.B. Sprache der Charaktere / code switching) ♦Untertitelungen in mehreren Sprachen (soft coded) vergleichen und kulturell-sprachliche Differenzen in ihrer Wirkung reflektieren (Worterschließungstechniken, ein- und zweisprachige Wörterbücher nutzen) Sprachproduktiv handeln Sprechen ♦(Bildgestützte) ms Hörergebnisse frei in der Zielsprache (ZS) (oder einer anderen Fremdsprache (FS) vertonen; den Figuren glaubhaften Ton, Soziolekt sowie Mimik und Gestik in der ZS zuweisen (revoicing) ♦Filmbilder und ms Dialoge aus einer Figuren-, Erzähler- oder Reporterperspektive für den Zuschauer in der ZS (oder einer anderen Sprache) interpretieren (voice over) (Perspektivenwechsel beachten) Lerngegenstand (Film), Lernprozesse, Sprache(n) Schreiben ♦Bildgestützt kurze eigene Untertitel in der ZS (oder einer anderen FS) verfassen und editieren (captioning) und dabei interkulturell sensibel agieren (mgl. Bedeutungsverschiebungen diskutieren) ♦Ausgewählte Szenen (Bild- und ms Sprachimpuls) in ein eigenes Script übertragen (in die ZS oder andere FS) (Genrewechsel beachten) ♦Für ausgewählte ms Szenen Zwischentitel (stützende Nutzung von Mimik, Gestik, Körperhaltung) oder speech bubbles in der ZS (oder anderer FS) verfassen Sprachmitteln ♦Bildgestützt ausgewählte ms Szenen (ganzheitlich) in die ZS oder andere FS (in Expertengruppen, workshops) sprachmitteln Szenisch spielen ♦Dialogisches spielerisches Inszenieren von Hörergebnissen (oder Leseergebnissen) in der ZS (oder einer anderen FS) und Interpretieren von mgl. Bedeutungsverschiebungen; dabei Aussprache und Intonation ‚imitierend’ üben. Abb. 1: Überblick filmbezogen mehrsprachig handeln (in Anlehnung an bzw. Weiterentwicklung von K ÖNIG und B LELL in Vorbereitung) The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 39 44 (2015) • Heft 2 3. Filmbezogen mehrsprachig handeln: English-Español 3.1 The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano Der reale Mexikanische Traum / Sueño Mexicano (weniger der von mexikanischen Intellektuellen) ist seit mehr als 100 Jahren eng an den American Dream geknüpft, auch wenn der Traum vieler Mexikaner/ innen durch die anhaltende schwere ökonomische Krise in den USA, durch eine neo-Antimigrationsgesetzgebung in Bundesstaten wie z.B. Georgia, Alabama oder Virginia und auch durch organisierte Kriminalität und Menschenhandel an der Grenze oftmals „zerplatzt“ 5 oder zum persönlichen und familiären Trauma wird. Tausende mittelamerikanische Einwanderer (meist Mexikaner/ innen) versuchen, über die mexikanische Grenze in die USA zu gelangen, um dort Fuß zu fassen. So auch Ajileo Barajas (alias Jesús Chuy Pérez) in der nur 28-minütigen Tragikomödie The Mexican Dream (2003) des Regisseurs Gustavo Hernández Pérez. Gedreht ist der Film in Spanisch und Englisch (mit englischen (hard coded) Untertiteln). Ajileo träumt jedoch nicht nur von den USA, sondern auch davon, ein großer Hollywoodstar zu sein, um seiner Familie in Mexiko ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Film erzählt dicht und nicht-linear. Die Geschichte beginnt in medias res, in einem schäbigen Motel, in dem Ajileo seinen Bart abnimmt und sich als Frau verkleidet, um auf seinen Coyoten zu warten, einen betrügerische Schleuser (trickster). Mit einer Aufforderung an sein Spiegelbild ¡Mírame, cabrón! und einem scharfen jump cut erscheint danach eine Art Prolog, der rückblickend in Comic-Manier Ajileos Masterplan zur Flucht visualisiert. Von da ab wird der Plot konsequent zeit- und ortversetzt vorangetrieben, zum einen Ajileos Etappen auf der Flucht in die USA (motel, desierto) und zum anderen seine Suche nach einer Rolle in Hollywood (bar, car wash, American Dream Productions). Teilweise wird geschickt parallel erzählt, mit horizontal getrenntem Screen (split screen) und unterschiedlichen Filtern (Mexiko: Ocker vs. USA: Blau), andererseits aber auch zeitversetzt mit Rückblicken (flashbacks) und Vorausschau (flash forward). Erzählt wird immer aus Ajileos Perspektive, in Spanisch auf seinem strapaziösen Weg durch das mexikanisch-amerikanische Niemandsland (mit englischen Untertiteln) und in Englisch (mit deutlich mexikanischem Akzent) als (illegaler) Migrant in Hollywood. Leitmotivisch wird das gesamte mexikanische Narrativ zudem durch die tief in der mittelamerikanischen Folklore verwurzelte Legende der La Llorona / The Crying Woman (personifiziert durch Ajileo in weißen Frauenkleidern) gleichnishaft getragen. Sie ist eine von Gott verdammte Frau, die als ihr eigener Geist bis an ihr Lebensende weinend auf der Erde nach ihren und auch von ihr getöteten Kindern suchen muss. Man sagt, man sollte La Llorona meiden, da sie Menschen töten würde, um wieder in den Himmel zu kommen. Ajileos Ausruf vor zwei amerikanischen Grenzposten: Thanks God. Excuse me, im Vorfeld mit dem Coyoten eingeübt, ist es dann auch, der die beiden texanischen Grenzposten, von denen einer mexikanischer Herkunft ist, Ajileo in Frauenkleidern als göttliche Erscheinung der La Llorona deuten 5 Zwischen 1995-2000 sind 700.000 in den USA lebende Mexikaner/ innen nach Mexiko zurückgekehrt; zwischen 2000-2005 hat sich die Zahl verdoppelt (vgl. The Week in the Americas. 06.05.2013). 40 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 (Epiphanie) und sie (ihn) nicht erschießen, sondern ihr (ihm) nur ehrfurchtsvoll und ängstlich hinterher blicken lässt auf seinem vorgezeichneten Weg. 3.2 The Mexican Dream: fächerübergreifend mehrsprachig (zweisprachig) handeln Die 2003 mit dem Houston International Film Festival Award ausgezeichnete Kurzproduktion birgt großes fächerübergreifendes Potenzial für den Englischals auch Spanischunterricht. In nur 28 Minuten vermag der Film das inter-/ transkulturelle überaus aktuelle Thema der (illegalen) Immigration filmisch und auch sprachlich eindrucksvoll zu gestalten. Einfühlsame Bilder, wie beispielsweise die Kulturen übergreifende Gestalt der legendenumwobenen La Llorona, lokale amerikanische und mexikanische Bilder, Sounds und Musik, die durchgängige englisch-spanische Dramaturgie sowie Bilder des zwischenstaatlichen Niemandslands Mexiko/ USA eröffnen ein reiches und perspektivisch vielfältiges kulturelles und auch sprachliches Handlungsfeld für Schüler/ innen, ein Agieren in mehreren, auch „dritten Räumen“, „a third space, that does not simply revise or invert the dualities, but revalues the ideological bases of division and difference“ (B HABHA 1992: 58). Im Folgenden soll exemplarisch der Frage nachgegangen werden, wie die Spanischkompetenz von Schüler/ innen fächerübergreifend und insbesondere auch fächerverbindend (S URKAMP 2012: 263-265) durch Querverbindungen zum Englischen gefördert und auch umgekehrt bewusst auf das Englische Bezug genommen werden kann. In Anlehnung an den oben entwickelten ganzheitlichen Ansatz filmbezogenen mehrsprachigen Handelns sollen für diesen Kurzfilm mögliche Aufgaben bzw. Methoden für das Sprachenpaar Englisch/ Spanisch vorgestellt werden. Hören und Hör-Sehverstehen (1) Völlig sprachenunabhängig kann der sprachfreie Comic-Prolog (00: 01: 38-00: 02: 50) im Englisch- oder Spanischunterricht paarweise (in Sprachtandems Englisch/ Spanisch) oder in Expertengruppen geschaut werden (silent viewing), um (a) Wortschatz in beiden Sprachen für den Filminhalt zu generieren und (b) Hypothesen zur Geschichte Ajileos anzustellen (Immigration als aktuelles inter-/ transkulturelles Thema). Gemeinsam kann basierend auf retro- oder proaktiven Aushandlungsprozessen (z.B. Entdecken von lexikalischen oder phonetischen Ähnlichkeiten und Unterschieden) ein bilinguales Wörterbuch für den Film angelegt werden. (vgl. Abb. 2: grau unterlegt sind z.B. formale Ähnlichkeiten, die auf einen positiven interlingualen Transfer hinweisen). Oder es kann an der Stelle z.B. die Verlaufsform im Präsens verglichen werden (Engl: to be + verb/ ing vs. estar + gerundio). In diesem Zusammenhang bieten sich auch kleinere Übungen zur Wortkomposition, zur Prä- und Suffigierung sowie zur Bildung von intra- und interlingualen Wortnetzen an, um das mehrdirektionale Arbeiten zwischen den Sprachen Deutsch, Englisch und Spanisch einzuüben: „Ordnen, Unterscheiden, Vergleichen, Identifizieren, Analysieren, Kontrastieren, Analogien bilden, merkmalsgestütztes Erraten, Reflektieren“ (R EISSNER 2012: 188). The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 41 44 (2015) • Heft 2 Wortschatzgenerierung Englisch e.g. bad dream / ghost buy shoes / buy a wig cross the desert / wilderness the police is tracing sb. in the desert / loud sirene the sun and many cactuses There is a person who illegally wants to cross a border ... maybe to the USA? Wortschatzgenerierung Spanisch por ejemplo: un mal sueño / fantasma / espíritu comprar zapatos / una peluca cruzar el desierto la policía está persiguiendo a alguien en el desierto / la sirena alta / el sol y muchos cactus Hay una persona que quiere cruzar una frontera ... ¿... posiblemente a EE.UU. ... ? Abb. 2: Comic-Prolog (00: 01: 38-00: 02: 50) und möglicher bilingualer Wortschatz (2) Ajileos cross-dressing (00: 01: 18-00: 01: 33) ist ein von ihm ganz bewusst gewählter performativer Akt. In Frauenkleidern und damit in der tradiert-sozialen Rolle einer schwachen Frau hofft er auf Vorteile in möglichen widrigen Auseinandersetzungen mit männlichen Grenzern. Seine Verwandlung zur La Llorona-Frau wiederum theatralisiert und perfektioniert seinen Verwandlungsakt und lässt sein neues Ich tief mit der lateinamerikanischen und partiell auch der texanischen Folklore verschmelzen. Sein (innerer) Dialog mit seinem neuen Spiegel-Ich (Ajileos Stimme aus dem off) kann dazu dienen, seine Beweggründe für diese Verkleidung herauszufinden, in Englisch oder in Spanisch. Die aufgestellten Hypothesen können dabei verifiziert oder falsifiziert werden. Am Hörbeispiel wird auch schnell erkennbar werden, dass Ajileos Englisch einen starken Akzent hat und seine englische Syntax grammatisch inkorrekt ist. Der Sprachenwechsel ins Spanische nach der Verkleidung ist abrupt: ¡Mírame, cabrón! Jedoch auch gerade an dieser Stelle ließen sich Aushandlungsprozesse zu den Gründen für sein code-switching anregen. Gesucht werden kann zusätzlich nach den vielfältigen, teilweise hybriden Konnotationen von cabrón / cabro (Mistkerl, Alter, Typ etc. / Schwuchtel) (vgl. Abb. 3, S. 42). Szenisch Spielen (3) Die gleiche Szene bietet sich darüber hinaus geradezu an (möglicherweise in einer post-viewing Phase), Schüler/ innen zu eigenen „Verwandlungen“ zu motivieren und Dinge über sich selbst herauszufinden. Das kann sowohl in Englisch, Spanisch oder einer anderen Fremdsprache als auch in der Muttersprache sein. In welcher Sprache fallen die Maskeraden am leichtesten? In welcher Sprache finde ich mehr Schutz? etc. Der Monolog kann dafür beispielsweise wiederum in Tandems ins Spanische, eine andere Fremdsprache oder auch die Muttersprache übersetzt werden. (Use the dialogue’s structural frame and compose your own autobiographical poem. / Usa la estructura del diálogo interior y compone tu propio poema.) Ist die Spiellust der Schüler/ innen groß, könnte daraus auch eine kleine selbst gefilmte Videocollage mit autobiographischen Wünschen, Träumen etc. entstehen (vgl. Abb. 3, S. 42). 42 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 As far as I know, as far as I concern, as far as I believe, as far as I .... I don’t know what the fuck I’m saying, but I always want to be an actor. (.....) ¡Mírame, cabrón/ cabro)! Try to analyze the lyrical I’s dialogue from a psychological perspective. / Analiza el diálogo interior (yo lírico) desde el punto de vista psicológico. In pairs: Listen carefully to Ajileo in order to find out his reasons for cross-dressing. Use the subtitles as well / En parejas: Escuchad atentamente a Ajileo para descubrir sus motivos de transformación. Usad los subtítulos también. Abb. 3: Cross-dressing Szene (00: 01: 18-00-00: 1: 33) aus Gustavo Pérez: The Mexican Dream, USA 2003 Hören und Sprechen (4) Im Film gibt es eine äußerst tragisch-komische Szene (00: 15: 32-00: 16: 18), in welcher der Coyote zwei Sätze mit Ajileo einübt: Thank God. Excuse me. Obwohl die Lexik für Ajileo kein Problem darstellt, hat er große Probleme, diese Sätze phonetisch zu bewältigen. In Tandems kann wiederum an dieser Szene reflektiert werden, wo Aussprachehürden zwischen dem Englischen und dem Spanischen liegen können, z.B. wird im Spanischen nicht zwischen kurzen und langen Vokalen unterschieden, für den englischen Vokal wie in “thanks” gibt es kein so offenes Äquivalent im Spanischen, der th- Laut existiert nicht im Spanischen etc.. Den Schüler/ innen sollte dabei auch bewusst werden, dass eine falsche Aussprache gerade in Notsituationen zu schwerwiegenden Missverständnissen führen kann. Gleichzeitig können die neuen spanischen Wörter aus dem Film-Glossar wiederholend phonetisch geübt werden − eine quasi pattern-drill Übung, die jedoch im Kontext der Filmszene ihre eigene Authentizität und interkulturelle Bedeutsamkeit gewinnt. Lesen und Schreiben / Sprechen und Sprachmitteln (5) Durch das code switching im Film entstehen Szenen, in denen Spanisch gesprochen wird und die Englisch untertitelt sind (hard coded). Die englischsprachigen Szenen sind nicht untertitelt. Hier wiederum bieten sich verschiedene Formen rezeptiven und produktiven sprachlichen Handelns an: Comparing (Vergleich Untertitel und Dialog), Captioning (das Erstellen von eigenen Untertiteln, subtitle) oder Revoicing (den Charakteren eine Stimme geben, dub). Interlinguale und Untertitelungsaktivitäten sind sprachlich anspruchsvoll, aber erfordern ebenso das kontinuierliche Aushandeln subjektiver Interpretationsprozesse auf der Basis von Bild und Ton und erzählerischen Parametern. Auch die Wahl der Perspektive muss beachtet werden „to reflect on the source text, culture and the target text culture, at levels of both verbal and non-verbal discourse, as well as at a more general level“ (B ORGHETTI 2011: 120f.). Wiederum in The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 43 44 (2015) • Heft 2 Sprachtandems kann beispielsweise an ausgewählten Szenen mit Hilfe des Filmscripts nach möglichen Bedeutungsverschiebungen und denkbaren Erklärungen dafür gesucht werden. Möglich ist es ebenso (bei einem silent viewing), auf der Grundlage der rezipierten englischen Untertitel nach passenden Repliken im Spanischen zu suchen, um später den Dialog zu den laufenden Bildern zu inszenieren (revoicing). Mit Hilfe eines vorbereitenden Lücken-Scripts kann das wiederum auch sprachalternierend geschehen. Bei Nutzung entsprechender Software wie z.B. Subtitle Workshop, Subtitle Edit oder ClipFlair 6 könnten die Schüler/ innen dazu das Arbeitsfeld eines AV-Übersetzers (Audio Visual Translation) kennenlernen (vgl. Abb. 4). Ajileo (A): ¿Oye Coyote, así que tú has estado en Hollywood? ¿Qué tal es, cabrón? / / Coyote, you’ve been to Hollywood, what’s it like? / / Coyote (C): Hollywood para mí es el único pinche lugar en la tierra donde si miras para abajo se ven las estrellas. / / Hollywood is the only place on earth where you look down and see stars./ / A: ¿Cómo la ves? Así a toda madre, ¿no? , ... ¿Oye, tú crees que es difícil conseguir papel de actor? / / That must be great. What about getting acting roles? / / C: ¿Actor? ¿Tú quieres ser actor? - A: Claro, ¡¿qué tiene? ! / / You want to be an actor? - Yes, what’s wrong? / / C: ¡El único papel que vas a conseguir es el del baño, buey! / / The only role you get is a roll of toilet paper./ / C: ¡Actor! ¡Con esa cara de pinto! / / With that face? Forget it./ / A: Por ejemplo: me gustaría protagonizar un superhereo. ¿Eso sería a toda madre, no? / / I’d like to play a superhero. That’d be great./ / C: ¿Sabes cuál es el único papel que vas a protagonizar? / / You know who you’ll play? / / A: ¿Cuál? / / What? / / C: El super … − el superlimpiador de carros, lavaplatos y lavaculos de los gringos, pendejo. / / The Super Washing Man! Washing cars, dishes, and Gringo’s asses, moron./ / C: ¡No, te agüites! / / Don’t cry./ / Abb. 4: Coyote und Ajileo über Hollywood (00: 05: 42 - 00: 06: 31) (6) Um die Geschichte Ajileos in ihrer politischen Brisanz und interkulturellen Tragweite zu verstehen und auch die leitmotivische Unterlegung mit der Legende der La Llorona nachzuvollziehen, bietet es sich an, die Geschichte in Englisch und Spanisch zu lesen und den Versuch zu unternehmen, in einem kontrastiven Ansatz das Gelesene für die Mitschüler/ innen zusammenzufassen (Sprachmitteln): (a) eine bewusst kurze und einfache spanische Zusammenfassung (erstellt durch den Spanischkurs für den Englischkurs) und (b) eine detailliertere englischsprachige Zusammenfassung für alle durch den Englischkurs. Wiederum in Sprachtandems können dann im Nachhinein wichtige Kernaussagen in beiden Sprachen festgehalten und gleichzeitig nach neuen Kognaten gesucht werden. Die Sprachmittlungssituation und auch die Textvorlage wären für die beteiligten Schüler/ innen authentisch und realistisch (vgl. Kriterien für 6 Die AVT-Tools sind gewinnbringende Werkzeuge für den Fremdsprachenunterricht, sofern man auf bestehende Videokataloge oder auch eigene Videoproduktionen zurückgreifen kann/ will. Für Kinofilme muss vorher immer die Rechtslage geklärt werden (vgl. auch B LELL 2015 in Vorbereitung). 44 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 gelungene Sprachmittlungsaufgaben nach R ÖSSLER 2012: 140-141). Die vielen existierenden zweisprachigen und auch bebilderten Versionen zur La Llorona (z.B. H AYES 2003: 89-103) sind schließlich hervorragend dafür geeignet, selbstständig interkomprehensiv zu arbeiten und damit Lust am (Wieder-)Erkennen von Morphemen, Lexemen, grammatischen Phänomenen und syntaktischen Strukturen zu entwickeln (vgl. Beispielvorgehen für die Arbeit mit mehrsprachigen Texten und die Erstellung einer Hypothesengrammatik in R EISSNER 2012: 200-201). Sehen und Schreiben (7) Den dramaturgischen Höhepunkt des Films bildet Ajileos Zusammentreffen mit zwei amerikanischen Grenzposten in der Wüste. Durch eine Reihe von shot-andreverse shots und tracking shots, durch dramatische musikalische Untermalung und sehr sparsame Rede steigt die Spannung, die Ajileo durch Thank God. Excuse me. auflöst und seinen Weg durch die Wüste in Richtung Grenze fortsetzt (vgl. 3.1). Die emotional aufgeladenen Bilder (s. Abb. 5: Standbilder) sind nahezu selbstredend und laden zum Kommentar ein, in Englisch, Spanisch oder auch einem hybriden Sprachmix. Die Ergebnisse können in Form einer kommentierten Reihe von Bildcollagen im Klassenraum ausgestellt werden. Leistungsstarke Schüler/ innen können auch Kommentare zu Bildern verfassen, die das Thema des Mexikanischen Traums und damit das äußerst aktuelle Thema der (illegalen) Einwanderung in den europäischen bzw. deutschen Kontext transferieren. 7 Aufgrund der großen Aktualität und Realitätsnähe dieses Films ließe sich in post-viewing Aktivitäten z.B. auch eine Filmvorführung durch den schulischen Filmclub organisieren, für den ein zweisprachiges Poster, Flyer oder andere Ausstellungstexte von einem Englisch- und Spanischkurs entworfen werden. Abb. 5: Gustavo Pérez: The Mexcian Dream (2003), (0020: 00-00: 25: 00) 7 Als mögliche Bildvorlagen würden sich z.B. anbieten: Europe’s Huddled Masses (2014), Schengengrenze Bayern-Tirol (2007) oder Einwanderer in Deutschland (2015) (siehe Literaturverzeichnis). The Mexican Dream: El Otro Lado Del Sueño Americano. Mehrsprachige Filme 45 44 (2015) • Heft 2 4. Fazit Das gewählte Filmbeispiel veranschaulicht die vielfältigen Möglichkeiten für filmbezogenes mehrsprachiges Handeln im Vernetzungsraum Englisch-Spanisch. Die methodisch-didaktischen Szenarien sind gegenstandsbezogen, aktuell und realitätsnah sowie handlungs- und lernerorientiert und unterstützen das kulturelle und interkulturelle Handeln der Schüler/ innen. Sie berücksichtigen sowohl vorrangig sprachrezeptive (Hören, Hör-Sehverstehen, Lesen und Sprachreflexion) als auch sprachproduktive Handlungskontexte (Sprechen, Schreiben, Sprachmitteln und szenisches Spielen). Bedeutsam für die Anbahnung und Entwicklung filmbezogenen mehrsprachigen Handelns ist jedoch die kontinuierliche Anleitung und Befähigung der Schüler/ innen zur vergleichendkontrastiven Sprachreflexion, in rezeptiven wie auch in produktiven Szenarien. (Mehr- )Sprachenarbeit mit Film sollte angemessen eng, aber auch grundsätzlich medienspezifisch ganzheitlich weit sein und ebenso visuell-kulturelle Parameter in die Reflexionsprozesse integrieren (focus on form / focus on meaning). Möglich sind die beschriebenen Szenarien in der Sekundarstufe II - binnendifferenziert über Sprachtandems oder Expertengruppen, fächerübergreifend (z.B. über Exkurse in das andere Fach anhand von Zusatzmaterialien) oder fächerverbindend (z.B. in einer ab Klasse 10/ 11 einsetzenden gemeinsamen Stunde Englisch-Spanisch). Ein entsprechendes Engagement und grenzüberschreitendes Denken aller Beteiligten sollte Voraussetzung für ein solches Herangehen sein. Literatur A UGÉ , Marc (1994): Orte und Nichtorte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/ M.: S. Fischer Verlag. B ACHMANN -M EDICK , Doris (Hrsg.) ( 2 2004): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen: Francke. 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B LELL , Gabriele / G RÜNEWALD , Andreas / K EPSER , Matthis/ S URKAMP , Carola (in Vorbereitung): „Film in den Fächern der sprachlichen Bildung: Entwurf eines sprach- und kulturübergreifenden Curriculums für Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch“. In: B LELL / G RÜNEWALD / K EPSER / S URKAMP (Hrsg.). B ORGHETTI , Claudia (2011). „Intercultural learning through subtitling: The cultural approach“. In: M C L OUGHLIN , Laura I. / B ISCIO , Marie / N I M HAINNÍN , Áine (Hrsg.): Audiovisual Translation. 46 Gabriele Blell 44 (2015) • Heft 2 Subtitles and Subtitling. Theory and Practice. Frankfurt/ M.: Lang, 111-137. D REXLER , Peter (in Vorbereitung): „Filmgeschichte im internationalen und fächerübergreifenden Diskurs. Implikationen für die schulische Filmbildung in den Sprachfächern“. In: B LELL / G RÜNE - WALD / K EPSER / S URKAMP (Hrsg.). E ZRA , Elizabeth/ R OWDEN , Terry (Hrsg.) (2006): Transnational Cinema. The Film Reader. London/ NY: Routledge. H ALLET , Wolfgang (2002): Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT. H ALLET , Wolfgang (2010): „Performative Kompetenz und Fremdsprachenunterricht“. In: Scenario 1, 1-18. http: / / research.ucc.ie/ scenario/ 2010/ 01/ hallet/ 02/ de (14/ 04/ 2015). H AYES , Joe (2003): „La Llorona“. In: H AYES , Joe (Hrsg.): The Day it Snowed Tortillas/ El Día que Nevaron Tortillas. El Paso: Cinco Punto Press (Folktales told in Spanish and English), 89-103. K ÖNIG , Lotta (in Vorbereitung): „Kulturelles Handeln mit Film. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Filmbildung in den sprachlichen Fächern am Beispiel der Kategorie ‚gender‘“. In: B LELL / G RÜNEWALD / K EPSER / S URKAMP (Hrsg.) (in Vorbereitung). R EISSNER , Christina (2012): „Den Sprachenunterricht vernetzen: Das Englische als Brückensprache zum Spanischen“. In: L EITZKE -U NGERER , Eva / B LELL , Gabriele / V ENCES , Ursula (Hrsg.) (2012): English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem,181-202. R ÖSSLER , Andrea (2012): „Die Aktivität Sprachmittlung als Chance zur Vernetzung von Englisch und Spanisch“. In: L EITZKE -U NGERER / B LELL / V ENCES (Hrsg.), 137-150. S ÁENZ , Benjamin A. (2006): Dreaming the End of War. El Paso: Cinco Punto Press. S URKAMP , Carola (2012): „Vernetzendes Denken im fremdsprachlichen Filmunterricht Englisch/ Spanisch am Beispiel von Real Women Have Curves“. In: L EITZKE -U NGERER / B LELL / V ENCES (Hrsg.), 259-276. T HALER , Engelbert (2010): „Filmdidaktik“. In: H ALLET , Wolfgang/ K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze: Kallmeyer/ Klett, 142-146. Filme B ABEL , USA 2006, R. Alejandro González Iñárritu (DVD 2006). C LOUD A TLAS , DL/ USA/ China/ Singapore 2012, Tom Tykwer (DVD 2012). L OST IN T RANSLATION , USA/ J 2003, R. R. Sofia Coppola (DVD 2004). 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While English is the most popular foreign language in Germany and a compulsory subject in the curriculum, Italian, an optional subject, occupies the sixth position in the hierarchy of foreign languages being taught in public schools. As a matter of fact, Italian is most often studied as a third (L4) or fourth (L5) foreign language. Thanks to the growing interest in the way previously learned non-native languages influence the acquisition of an additional language, we know today that L3, L4, L5 learners have language specific knowledge and competencies at their disposal that L2 learners do not. However, in many classrooms, languages are still taught without any reference to each other. The main purpose of this paper is therefore to illustrate that the interaction between English and Italian can lead to positive transfer and that English, although it is not part of the family of Romance languages, can take over the role of a bridge language to Italian. 1. Englisch und Italienisch im deutschen Schulsystem Die beiden Fremdsprachen, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, nehmen im deutschen Schulsystem Positionen ein, die unterschiedlicher kaum sein könnten: auf der einen Seite das Englische, die in Europa wichtigste Fremdsprache 1 , die von Schülerinnen und Schülern aller Schulformen und Klassen im gesamten Land in der Regel als erste Fremdsprache gelernt wird. Auf der anderen Seite das Italienische, eine „Orchidee“ (B OGDANSKI / R EIMANN 2004) im Fächerkanon, die im Norden und Osten der Bundesrepublik (mit Ausnahme Berlins) nahezu inexistent ist und deren Hochburgen in Nordrhein-Westfalen, den südlichen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg sowie in Hessen und der Bundeshauptstadt liegen. Vergleicht man die Zahlen der Lernenden beider Sprachen im Schuljahr 2013/ 14 an allgemeinbildenden Schulen, so wird das Ausmaß dieses Ungleichgewichts deutlich: 7.307.948 Englischlernenden * Korrespondenzadresse: Frank S CHÖPP , Neuphilologisches Institut - Romanistik, Universität Würzburg, Am Hubland, 97074 W ÜRZBURG . E-Mail: frank.schoepp@uni-wuerzburg.de Arbeitsbereich: Didaktik der romanischen Sprachen. 1 Vgl. B ERNS (2007: 2): „English plays a special role in the European context because it is the most frequently used language of communication in interactions between two Europeans or a European and another speaker of English - whether a native or a non-native speaker - from anywhere in the world. Among Europeans, it is considered to be the most useful language to know apart from the mother tongue.“ 48 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 stehen 52.666 Italienischlernende gegenüber. 2 Während deutschlandweit allein mehr als 1,7 Millionen Primarschülerinnen und -schüler am Englischunterricht teilnehmen, handelt es sich bei den Italienischlernenden zu über 95% um Jugendliche, die ein Gymnasium (43.494, entspricht 82,58%) oder eine Integrierte Gesamtschule (6.934, entspricht 13,16%) besuchen. An allen anderen Schulformen spielt Italienisch als Unterrichtsfach keine Rolle. Zu welchem Zeitpunkt Italienisch als Fremdsprache an Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen zahlenmäßig an Bedeutung gewinnt, ist der folgenden Tabelle zu entnehmen (vgl. Abb. 1). G8-Gymnasien G9-Gymnasien Integrierte Gesamtschulen 3 Sekundarbereich I 13.177 791 2.253 5. Klassenstufe 98 0 234 6. Klassenstufe 249 0 266 7. Klassenstufe 594 0 253 8. Klassenstufe 6.114 51 532 9. Klassenstufe 6.099 425 445 10. Klassenstufe - 315 473 Ohne Angabe 23 0 50 Sekundarbereich II 26.587 1.925 4.550 10. Klassenstufe 11.738 - - 11. Klassenstufe 7.874 788 1.823 12. Klassenstufe 6.941 543 1.434 13. Klassenstufe - 580 1.293 Ohne Angabe 34 14 0 Bereich unbekannt 1.014 0 110 Insgesamt 40.778 2.716 6.934 Abb. 1: Italienischlernende nach Klassenstufen an G8- und G9-Gymnasien sowie an Integrierten Gesamtschulen im Schuljahr 2013/ 14 Diese Daten zeigen sehr eindrucksvoll, dass Italienisch im Bereich der ersten und zweiten Fremdsprache unbedeutend ist und die Zahl der Lernenden zu zwei Zeitpunkten zunimmt: zum einen am Übergang von Klassenstufe 7 zu Klassenstufe 8 (G8) bzw. von Klassenstufe 8 zu Klassenstufe 9 (G9), zum anderen beim Wechsel von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II. Italienisch ist somit im deutschen Schulsystem eine klassische dritte oder vierte Fremdsprache, d.h. die individuelle Entscheidung 2 Diese und alle weiteren Angaben zu den Lernendenzahlen sind den im Internet verfügbaren Daten des S TATISTISCHEN B UNDESAMTES (2014) entnommen. 3 Zusätzlich lernten im Schuljahr 2013/ 14 an Integrierten Gesamtschulen 21 Schülerinnen und Schüler im Primarbereich Italienisch. Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 49 44 (2015) • Heft 2 einer Schülerin oder eines Schülers zur Beschäftigung mit dem Italienischen erfolgt vor dem Hintergrund ihrer bzw. seiner Erfahrungen mit dem Lernen von zwei oder gar drei vorausgehenden schulischen Fremdsprachen. 4 Lernende des Italienischen sind damit bereits zu Beginn des Italienischunterrichts mehrsprachig 5 , was selbstverständlich Auswirkungen auf die Didaktik und Methodik des Unterrichts hat. 2. Das Lernen zweiter und weiterer Fremdsprachen H UFEISEN (2010) hat in ihrem Faktorenmodell 2.0 das Mehrsprachenlernen theoretisch dargestellt und in verschiedenen Stufen erklärt. Eine der Hauptaussagen des Modells, das in den vergangenen Jahren verschiedene Modifikationen erfahren hat, lautet, „dass zwischen dem Lernen einer ersten und einer zweiten (oder weiteren) Fremdsprache keineswegs nur ein quantitativer Unterschied besteht, sondern insbesondere ein qualitativer (…): Mit einem monolingualen Hintergrund, das heißt mit allein einer Sprache im individuellen Sprachenrepertoire, ist die erstmalige und anfängliche Begegnung mit einer neuen, fremden Sprache eine andere, als wenn dem bereits zwei ‐ , drei ‐ oder mehrsprachigen Repertoire eine weitere hinzugefügt wird: Sprachlernerfahrungen sind vorhanden, eventuell ein expliziertes und anwendbares Wissen darüber, wie an den neuen Sprachlernprozess erfolgversprechend herangegangen werden kann, eine vermutlich größere Gelassenheit gegenüber dem (wieder einmal) Neuen und Fremden. Das (Fremd ‐ )Sprachenlernen an sich ist nichts Neues oder gar Bedrohliches mehr“ (H UFEISEN 2010: 201). Die in dem Zitat angesprochenen Sprachlernerfahrungen und das in diesem Kontext relevante Wissen hat H UFEISEN unter dem Begriff „Fremdsprachenspezifische Faktoren“ zusammengefasst. Diese entwickeln sich im Kontakt mit der ersten Fremdsprache, der L2. Wirksam werden sie jedoch erst bei der Beschäftigung mit der zweiten Fremdsprache (L3), wenn die Lernenden auf ihre individuellen Erfahrungen mit der L2 zurückgreifen können. Da es sich, wie oben gesehen, beim Italienischen in der Regel um die L4 oder L5 einer Schülerin bzw. eines Schülers handelt, wiederholt sich beim Erlernen des Italienischen das institutionelle Fremdsprachenlernen bereits zum zweiten oder gar zum dritten Mal. Es ist somit grundsätzlich davon auszugehen, dass Lernende des Italienischen sowohl über umfangreiche Kenntnisse in anderen Sprachen als auch weitreichende Erfahrungen mit dem Sprachenlernen verfügen. Zudem kann angenommen werden, dass bei der Entscheidung für eine freiwillige dritte Fremdsprache ein generelles Interesse am Sprachenlernen vorliegt, was positive Auswirkungen auf die 4 Aus Platzgründen kann in diesem Beitrag nicht auf die herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit vieler Schülerinnen und Schüler eingegangen werden, die im Italienischunterricht selbstverständlich ebenfalls als Bereicherung wahrgenommen wird (vgl. S CHÖPP 2015). 5 Mit B ERTRAND / C HRIST (1990: 228) wird „Mehrsprachigkeit“ bzw. „mehrsprachig“ wie folgt definiert: „Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder unterschiedlichen Diskursbereichen hat (um z.B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Form aufzunehmen oder Texte zu lesen oder Fachgespräche führen zu können).“ 50 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 Motivation der Schülerinnen und Schüler haben dürfte. Dies gilt umso mehr, wenn eine Wahlmöglichkeit zwischen mehreren dritten Fremdsprachen besteht. 3. Englisch - die Konstante innerhalb heterogener Sprachlernbiographien Aufgrund der besonderen Stellung des Englischen als einziger Pflichtfremdsprache an deutschen Gymnasien und Gesamtschulen können mehrjährige Englischkenntnisse tatsächlich in jedem Italienischkurs vorausgesetzt werden. Dies unterscheidet das Englische von allen anderen schulischen Fremdsprachen. Die Sprachlernbiographien der meisten Schülerinnen und Schüler an den besagten Schulformen weisen in der Position der zweiten Fremdsprache Französisch oder Latein, daneben aber auch andere Sprachen aus, so dass in Italienischkursen in der Regel Lernende mit unterschiedlichen Sprachenfolgen aufeinandertreffen. Zwar gilt Französisch gemeinhin als die Brückensprache par excellence für den Zugang zu weiteren romanischen Sprachen (vgl. K LEIN 2006: 59) und wird dem Lateinischen zumindest in lexikalischer Hinsicht ein hohes Transferpotenzial in Bezug auf das Erlernen einer romanischen Sprache zugeschrieben (vgl. S IEBEL 2011), angesichts der Diversität der Sprachprofile im Italienischunterricht handelt es sich beim Englischen jedoch um die einzige wirklich allen verfügbare Fremdsprache. 6 Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Unterricht des Italienischen als in der Oberstufe neu einsetzende Fremdsprache auch von Jugendlichen besucht wird, die in der Sekundarstufe I außer Englisch keine zweite Fremdsprache gelernt haben. Wird Italienisch als dritte Fremdsprache in der Mittelstufe gewählt, so blicken die Schülerinnen und Schüler auf drei (G8) oder vier (G9) Jahre Englischunterricht in der Sekundarstufe zurück, handelt es sich bei Italienisch um eine in der Oberstufe neu einsetzende Fremdsprache, so haben die Lernenden bei Einsetzen des Italienischunterrichts bereits einen fünf- (G8) bzw. sechsjährigen (G9) Englischunterricht in der Sekundarstufe genossen. Nicht vergessen werden darf in diesem Kontext, dass Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Institution Schule mit der englischen Sprache konfrontiert werden, beispielsweise in Form von Liedern oder Computerspielen. 7 Die insgesamt intensive Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit dem Englischen 6 Darüber hinaus erweist sich der Rückgriff auf Französisch und Latein im Unterricht einer spät einsetzenden Fremdsprache häufig als höchst problematisch. Sobald nämlich der in der gymnasialen Unterstufe einsetzende Unterricht des Französischen bzw. Lateinischen für Lernende nicht mehr obligatorisch ist, d.h. in der Regel zu Beginn der Oberstufe oder spätestens am Ende der Einführungsphase, wählen jährlich zehntausende Jugendliche diese Sprachen ab. Es ist daher fraglich, inwieweit sich im Italienischunterricht der bewusste Rückgriff auf eine schulische Fremdsprache, der gegenüber ein Großteil der Schülerinnen und Schüler eine negative Einstellung hat, lernförderlich auf das Erlernen der Zielsprache auswirkt. 7 Vgl. H ASEBRINK et al. (2007: 112): „[…] young people do not encounter this language [i.e. English; FS] in language classes at school only, but have plenty of opportunities where they can have contact with English. […] Beyond school, there are at least three important factors contributing to the presence of English: the media, personal networks, and intercultural communication as it is exercised during vacations and travels abroad“. Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 51 44 (2015) • Heft 2 wirkt sich auf das Erlernen des Italienischen aus. Bekanntermaßen ist der Wortschatz des Englischen „eine einzigartige Mischung romanischer und germanischer Elemente“ (L EISI / M AIR 1999: 41), so dass insbesondere im lexikalischen Bereich interlinguale Transfermöglichkeiten zwischen Englisch und Italienisch bestehen. So finden sich etwa im alphabetischen Vokabelverzeichnis des Lehrwerks Scambio 1 (B ERNHOFER 2015: 186) alleine unter den mit abeginnenden Lexemen einige Wörter, die problemlos über den Rückgriff auf das Englische, nicht aber auf das Deutsche erschlossen werden können, z.B. abitante, aeroporto, ammirare, annuncio, arrivare, attore, autunno, avventura. Aber auch Gemeinsamkeiten im Bereich der Syntax und der Morphologie des Englischen und des Italienischen erweisen sich als äußerst hilfreich. So verweisen K LEIN / R EISSNER (2006: 71) beispielsweise auf die Nähe der englischen Kernsatztypen zu den romanischen. Dass die Schülerinnen und Schüler über mehrjährige Erfahrungen mit dem Lernen einer Fremdsprache verfügen, also zum Beispiel wissen, wie sie am erfolgreichsten Wortschatz lernen oder welche Arbeitsschritte für das Verfassen einer Inhaltsangabe erforderlich sind, vermag zudem die Entwicklung der individuellen Sprachlernbewusstheit positiv zu beeinflussen. Schließlich erscheint eine stärkere Vernetzung des Englischen und des Italienischen ebenfalls aus kulturbezogener Perspektive interessant, wenngleich dieser Aspekt im Italienischunterricht weniger relevant als im Spanischunterricht ist. Dennoch legitimieren beispielsweise die aktuellen italienisch-angloamerikanischen Kulturkontakte die Thematisierung der Migration mehrerer Millionen Italienerinnen und Italiener in die Vereinigten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert mitsamt der daraus resultierenden Folgen. Damit kann eine bewusste Vernetzung des schulischen Englisch- und Italienischunterrichts grundsätzlich auf drei Ebenen erfolgen, wobei diese Ebenen in der Praxis nicht immer streng voneinander abzugrenzen sind: 1. auf der Ebene der sprachbezogenen Vernetzung, 2. auf der Ebene der sprachlernstrategischen Vernetzung und 3. auf der der kulturbezogenen Vernetzung. 4. Zum Status quo des sprachenübergreifenden Lehrens und Lernens Obwohl durch zahlreiche in der Mehrsprachigkeitsdidaktik verortete Arbeiten seit dem Ende der 1990er Jahre empirisch belegt ist, dass die Etablierung sprachenübergreifender Ansätze im Unterricht einen Beitrag zur Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit leisten kann, dürfte das von H ALLET (2011: 214) gezeichnete Bild noch immer eher die Regel als die Ausnahme darstellen: „In wenigen Sätzen kann man die Beziehungen der an den Schulen unterrichteten Sprachen (auch Deutsch und Latein) untereinander so beschreiben: Die verschiedenen Sprachenfolgen folgen sukzessiv und sozusagen vertikal aufeinander; in ihrer jeweiligen Gleichzeitigkeit (horizontal) werden sie kaum oder nur beiläufig aufeinander bezogen, jedenfalls didaktisch und im Unterrichtsdiskurs. Auch sind die Fremdsprachendidaktiken und der schulische Fremdsprachenunterricht immer noch weitestgehend monolingual zugeschnitten. Den Lernenden aber sind kognitiv alle erlernten Sprachen praktisch in jedem einzelnen Sprechakt, […], gleichzeitig präsent. Sie suchen kognitiv mehr oder weniger automatisiert nach sprachstrukturellen oder lexiko-semantischen Analogien, Ähnlichkeiten, Verwandtschaften.“ 52 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 Dieser Befund ist insofern ernüchternd, als seit der Jahrtausendwende in nahezu allen Lehrplänen für die modernen Fremdsprachen explizit auf mögliche Synergieeffekte zwischen der Zielsprache und anderen (Fremd-)Sprachen eingegangen wird. Stellvertretend für eine Reihe aktueller Lehrpläne sei hier der rheinland-pfälzische Lehrplan Italienisch für die Sekundarstufen I und II (M INISTERIUM FÜR B ILDUNG , W ISSEN - SCHAFT , J UGEND UND K ULTUR R HEINLAND -P FALZ 2013: 6) zitiert, der im Kapitel „Didaktisch-methodische Leitlinien für den Unterricht“ unter dem Stichwort „Sprachvernetzung“ festhält: „Im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik nutzt der Italienischunterricht die Sprachkenntnisse der Lernenden zur Entwicklung ihres Sprachbewusstseins im Allgemeinen und zum Aufbau ihrer kommunikativen Kompetenzen im Besonderen“. Da die kognitive Nutzung von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Sprachen in erster Linie das Verstehen geschriebener Texte in einer vermeintlich neuen Sprache erleichtert, wird im Kapitel „Entwicklung kommunikativer Kompetenzen“ in Bezug auf die Entwicklung der Lesekompetenz im Italienischen völlig zu Recht ein im Vergleich zu den anderen Teilkompetenzen der funktionalen kommunikativen Kompetenz höheres Niveau gefordert. Allerdings werden im Lehrplan weder konkrete Sprachen noch Bereiche genannt, die sich für das sprachenvergleichende Arbeiten anbieten. Erfreulicherweise finden sich in den neueren Lehrwerken für den schulischen Italienischunterricht Strategienkapitel, die u.a. den Umgang mit unbekanntem Vokabular thematisieren und in diesem Zusammenhang die Schülerinnen und Schüler für den Sprachenvergleich zu sensibilisieren versuchen. Mit Blick auf die in diesem Beitrag interessierende Vernetzung des Italienischen und des Englischen fällt im Schülerband des Lehrwerks Scambio 1 (B ERNHOFER 2015) besonders positiv die sich an die Mehrsprachentabelle anschließende Übung auf (vgl. Abb. 2, S. 53). Hier werden die Lernenden explizit aufgefordert, ausgehend vom Italienischen das Englische (und das Französische) für den retroaktiven Transfer heranzuziehen, d.h. ital. avventura in Beziehung zu einer schon bekannten Sprache zu setzen, konkret zu engl. adventure (und/ oder franz. aventure). Derartige sprachfamilienübergreifende Übungen, die explizit auf das dem Englischen inhärente Potenzial für das Erlernen des Italienischen verweisen, sind sehr zu begrüßen und sollten einen festen Platz in jedem Italienischunterricht einnehmen. Tatsächlich erscheinen nach einer jahrelangen Konzentration auf den innerromanischen Transfer, insbesondere ausgehend vom Französischen als L3 auf Italienisch oder Spanisch als L4, seit der Jahrtausendwende vermehrt Arbeiten, die die Nützlichkeit von Englischkenntnissen für einen Zugang zu den romanischen Sprachen betonen (z.B. G RZEGA 2005; H EMMING / K LEIN / R EISSNER 2011; B RUN - NER / A NKERSTEIN 2013). Während mittlerweile eine Reihe interessanter Vorschläge zur theoretisch-konzeptionellen und unterrichtspraktischen Vernetzung der beiden Schulfremdsprachen Englisch und Spanisch vorliegen (vgl. die Beiträge in L EITZKE -U NGE - RER / B LELL / V ENCES 2012; G RÜNEWALD / S ASS 2014), steht eine entsprechende Beschäftigung mit dem Sprachenpaar Englisch-Italienisch noch aus. Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 53 44 (2015) • Heft 2 Abb. 2: Schülerband Scambio 1 (B ERNHOFER 2015: 143) 5. Die Präferenz für das Englische Dass ein Ausloten der möglichen Ansatzpunkte für eine Vernetzung des Englisch- und des Italienischunterrichts durchaus begründet ist, zeigen die Ergebnisse einer an einem hessischen Gymnasium durchgeführten empirischen Longitudinalstudie mit Italienischlernenden der Oberstufe (L4 bzw. L5), die alle als L2 und L3 Englisch und Französisch lernten (S CHÖPP in Vorb.). Im Rahmen dieser auf drei Jahre angelegten Untersuchung konnte gezeigt werden, dass trotz der deutlich größeren typologischen Nähe des Französischen zum Italienischen auffallend viele der von den Schülerinnen und Schülern vollzogenen interlingualen Transferleistungen auf der Basis der Brückensprache Englisch erfolgten. Ein interessantes Beispiel für die Präferenz vieler Lernender, statt des Französischen das Englische als Transferbasis für die Beschäftigung mit dem Italienischen heranzuziehen, findet sich in einem Text einer Schülerin der erwähnten 54 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 Gruppe von Italienischlernenden. Gegen Ende des zweiten Jahres ihres Italienischunterrichts erhielten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, die wichtigsten Informationen eines anspruchsvollen italienischen Zeitungsartikels auf Deutsch wiederzugeben und dabei das eigene Vorgehen schriftlich zu dokumentieren. Die Schülerin, für die Italienisch bereits die L5 nach Englisch (L2), Französisch (L3) und Spanisch (L4) darstellte, besuchte zu diesem Zeitpunkt noch den Unterricht einer weiteren Fremdsprache, nämlich den Englischunterricht. Französisch hatte sie am Ende der Jahrgangsstufe 11 nach fünf Unterrichtsjahren, Spanisch bereits am Ende der Jahrgangsstufe 10 nach zwei Unterrichtsjahren abgewählt. In ihrer Reflexion zur Auseinandersetzung mit dem italienischen Zeitungsartikel geht die Schülerin zunächst auf die Parallelen zwischen dem Deutschen und dem Italienischen ein, dank derer sie einige Wörter erschließen konnte, bevor sie schreibt: „Es gab allerdings auch besonders viele Wörter, die ich mir nur aus dem Englischen ableiten konnte. Da wären l’offerta (englisch: offer), abitudine (englisch: habit), promettono (englisch: promise), la pazienza (englisch: Geduld (sic)) und auch un’arma (englisch: arm)“. Bemerkenswert ist an diesen Ausführungen, dass die Schülerin ausnahmslos Lexeme nennt, die in ähnlicher graphischer Realisierung auch im Französischen existieren (l’offre, l’habitude, promettre, la patience, une arme), über die sie jedoch während ihrer Arbeit mit dem italienischen Text nicht zu verfügen scheint. Ein Grund für diese Präferenz des Englischen gegenüber dem Französischen ist in den positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen zu sehen, zu denen der Englischunterricht offenbar viele Lernende führt und die sich in einer stärkeren Leistungsbereitschaft niederschlagen. Zu Beginn des Italienischunterrichts bewerteten 12 von 15 Schülerinnen und Schülern, die über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren an der Untersuchung teilnahmen, ihre Englischkenntnisse insgesamt besser als ihre Französischkenntnisse, eine Schülerin sah keinen Unterschied, und lediglich 2 Lernende schätzten ihre Französischim Vergleich zu ihren Englischkenntnissen als minimal besser ein. Die Ergebnisse der Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler spiegelten sich auch in ihrer Wahl der fremdsprachlichen Grund- und Leistungskursfächer wider. 8 der 15 Probandinnen und Probanden belegten in den Jahrgangsstufen 12 und 13 Englisch als Leistungsfach, die 7 anderen als Grundkursfach. Bis auf eine Ausnahme (eine Schülerin wählte ihr Grundkursfach Englisch nach dem ersten Halbjahr der Jahrgangsstufe 13 ab), besuchten alle Lernenden den Englischunterricht bis an das Ende ihrer Schulzeit weiter. Die Zahlen für Französisch könnten dazu kaum deutlicher kontrastieren. Am Ende der Jahrgangsstufe 11 wählten 9 der 15 Schülerinnen und Schüler Französisch direkt ab. Lediglich 2 Lernende entschieden sich für Französisch als Leistungsfach, 4 weitere belegten es zunächst als Grundkursfach. Von diesen 4 Lernenden wählte eine Schülerin Französisch bereits nach dem 1. Halbjahr der Jahrgangsstufe 12 ab, die 3 anderen folgten ihrem Beispiel am Ende des Schuljahres. Damit besuchten in der Jahrgangsstufe 13 nur noch die beiden Lernenden im Leistungskurs den Französischunterricht. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass in der genannten Befragung zu Beginn des Italienischunterrichts zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler das Englische Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 55 44 (2015) • Heft 2 als ihre Lieblingssprache angaben. Vor dem Hintergrund dieser Begeisterung für das Englische galt es, gezielt nach Möglichkeiten zu suchen, die Englischkenntnisse der Lernenden gewinnbringend für die Beschäftigung mit dem Italienischen zu nutzen. Konkret bedeutete dies, dass z.B. insbesondere in Phasen, in denen die Ausbildung rezeptiver Fertigkeiten im Vordergrund stand, das Englische als wertvolle Ressource für das Italienischlernen genutzt werden sollte, etwa durch die Beschäftigung mit Texten, die eine ausreichende Zahl an Transferbasen für einen positiven Transfer vom Englischen auf das Italienische erlaubten. 6. Unterrichtsbeispiele für den Italienischunterricht Aus Platzgründen kann im Folgenden nur auf die sprachbezogene Vernetzung mittels der Lehr- und Lernmethode der Interkomprehension eingegangen werden. Sie stellt, vor allem im Unterricht dritter und weiterer Fremdsprachen, eine ausgesprochen sinnvolle Ergänzung des handlungs- und prozessorientierten, ganzheitlichen und fächerübergreifenden Lernens dar. Im Interkomprehensionsunterricht wird mit Methoden gearbeitet, die es erlauben, Texte in einer nicht-formal erlernten Sprache aufgrund von Kenntnissen in einer anderen Sprache lesend zu verstehen. Das Konzept des interkomprehensiven Sprach(en)erwerbs basiert auf einem inferentiellen Lernbegriff, also auf der Übertragung von bereits vorhandenem Wissen auf einen neuen Kontext, im Fall des Fremdsprachenunterrichts auf eine neue Sprache (vgl. hierzu M EIßNER / R EINFRIED 1998: 15f.). Dabei wird das neue Sprachmaterial mit bereits Gelerntem abgeglichen. Bestehen zwischen einer Zielsprache und einer (oder mehreren) bereits verfügbaren Sprache(n) - ob Muttersprache(n) oder zuvor bzw. parallel erlernte Fremdsprache(n) - systematische interlinguale Korrespondenzen, kann interkomprehensives Arbeiten erfolgreich verlaufen. Voraussetzung ist natürlich eine sprachliche Kompetenz in der/ den Ausgangssprache(n), die Transferprozesse ermöglicht. Wer engl. to arrive oder important kennt, wird in der Regel kein Problem haben, ital. arrivare oder importante in einem italienischen Text zu verstehen bzw. die beiden Vokabeln in seinen aktiven Wortschatz zu überführen. Bei der Arbeit mit Lautund/ oder Graphementsprechungen geht es darum, zwischensprachliche Regularitäten zu systematisieren und Korrespondenzregeln zu formulieren. Die Schülerinnen und Schüler werden sich im Interkomprehensionsunterricht bestimmter Lautund/ oder Graphementsprechungen bewusst, sie erkennen beispielsweise, dass dem englischen Substantiven flower und plan im Italienischen fiore und piano entsprechen. Aus diesen und weiteren Beispielen werden sie, u.U. durch eine entsprechende Lenkung durch die Lehrkraft, ableiten, dass engl. fl- und plim Italienischen häufig durch fi- und piwiedergegeben werden. Ist diese Regel verinnerlicht, werden it. fiamma und it. piacere leicht für die Schülerinnen und Schüler zu dekodieren sein. Ebenso entdecken sie die englischen Entsprechungen zu ital. università und qualità, nämlich university und quality, sowie die Parallelen zwischen engl. actor und inspector auf der einen und ital. attore und ispettore auf der anderen Seite. Ist den Ler- 56 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 nenden bewusst, dass bestimmte Lautbzw. Graphemfolgen im Englischen bestimmten anderen Lautbzw. Graphemfolgen im Italienischen entsprechen, werden sie zu einem späteren Zeitpunkt auch bei auf den ersten Blick nicht ableitbaren Wörtern die selbst entdeckten Korrespondenzregeln umsetzen können und damit die italienische Lexik „demaskieren“. Neben Aufgaben auf der Einzelwortebene und auf der Ebene der Morphosyntax ist die Arbeit mit authentischen Texten ein fester Bestandteil des interkomprehensiv basierten Sprachenlernens. Die Schülerinnen und Schüler sollten bereits in der Anfangsphase des Zielsprachenunterrichts mit einem von der Lehrkraft sorgfältig auszuwählenden, nicht-lehrintentionalen Text konfrontiert werden, den sie sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene bearbeiten. Wichtig ist, dass sich an die Phase der Ergebnissicherung eine Phase der Reflexion im Plenum anschließt, in der die individuellen Vorgehensweisen der Lernenden vorgestellt und diskutiert werden. Diese gemeinsame Reflexion der Auseinandersetzung mit dem Text ist essentiell für den Ausbau des Sprachlernbewusstseins. Am Beispiel eines Artikels, der dem Internetauftritt der auflagenstärksten Zeitung Italiens, dem Corriere della sera, entnommen ist, soll im Folgenden gezeigt werden, wie die interkomprehensive Textarbeit in einer der ersten Stunden des Italienischunterrichts konkret aussehen kann. L’italiano è la quarta lingua più studiata nel mondo Al primo posto l’inglese, al secondo il francese e al terzo lo spagnolo. Dietro il successo anche la passione per la nostra cucina Il rating è lunghissimo, un elenco di più di seimila nomi, ordinato rigorosamente, come una classifica universale. Sono le lingue più studiate al mondo. Al primo posto, e non è una notizia, c’è l’inglese, al secondo il francese, al terzo lo spagnolo. E, sorpresa, al quarto c’è l’italiano. Sì, proprio l’idioma di Dante, che supera cinese, giapponese, tedesco. Un trionfo, insomma. Il motivo del successo dell’italiano? […] Il primo è certamente la cultura italiana. Non solo Dante, però, anche gli scrittori contemporanei. Piacciono in ugual modo narrativa, poetica, saggistica. Poi influisce molto la musicalità del parlare italiano e ovviamente la lirica nella quale trionfa. Anche il cibo, soprattutto negli ultimi anni, ha spinto tanti stranieri a studiare i nostri vocaboli, magari solo per leggere divine ricette. […] 8 Der Text mit 165 tokens und 107 types enthält zahlreiche Lexeme, die auch ohne Italienischkenntnisse erschlossen werden können. Während einige nicht über das Deutsche, wohl aber über das Englische verstanden werden können, beispielsweise divine, sorpresa oder successo, bieten sich für andere sowohl deutsche als auch englische Transferbasen an, etwa für motivo, musicalità, studiare oder vocaboli. 9 8 Der komplette Text von Marco Gasperetti, erschienen am 16.6.2014, ist im Internet verfügbar unter http: / / www.corriere.it/ scuola/ 14_giugno_16/ dante-pizza-italiano-quarta-lingua-piu-studiata-mondo-4edfb4fef57a-11e3-ac9a-521682d84f63.shtml (2/ 4/ 2015). 9 Potenzielle Transferbasen in anderen Sprachen werden an dieser Stelle bewusst ausgeklammert. Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 57 44 (2015) • Heft 2 Das folgende Arbeitsblatt ist als ein Vorschlag zu verstehen, der den Lernenden am Beginn ihres Italienischunterrichts ergänzend zu den klassischen Begrüßungs- und Vorstellungsformeln zur Ausbildung ihrer produktiven Kompetenzen die Möglichkeit gibt, sich ihres Vorwissens in Bezug auf das Erlernen des Italienischen bewusst zu werden. In der Regel verspüren die Schülerinnen und Schüler einen starken Motivationsschub für die weitere Beschäftigung mit der Zielsprache, wenn sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Sprachlehrgangs realisieren, über welch großes Potenzial für das Erlernen des Italienischen sie verfügen. Fertigt in Kleingruppen eine Tabelle mit drei Spalten an. In die linke Spalte tragt ihr zunächst alle italienischen Wörter aus dem obigen Text ein, die ihr bereits verstehen könnt. In die mittlere Spalte schreibt ihr die englischen Entsprechungen, die euch beim Verstehen der italienischen Wörter geholfen haben. Die dritte Spalte ist für Parallelen zwischen dem Italienischen und anderen euch bekannten Sprachen reserviert. Das können Schulfremdsprachen sein, aber natürlich auch Sprachen, die ihr aus persönlichen Gründen sprecht bzw. versteht. Was ist das Thema des Artikels? Welcher Umstand wird als „trionfo“ bezeichnet? Was ist damit gemeint? Welche drei Faktoren werden als Gründe für den beschriebenen Sachverhalt angeführt? Welche Formen des bestimmten Artikels erkennt ihr in dem Text? Könnt ihr euch vorstellen, worum es sich bei nel (in „nel mondo“) und del (in „del successo“) handelt? Findet ihr Strukturen, die euch aus dem Englischen bekannt vorkommen? Weiterführender Arbeitsauftrag: Informiert euch im Internet über Dante Alighieri und legt in wenigen Sätzen seine Bedeutung für die italienische Sprache dar. 58 Frank Schöpp 44 (2015) • Heft 2 7. Ausblick Empirische Untersuchungen belegen eine grundsätzlich positive Einstellung von Lehrkräften gegenüber dem Nutzen bewusstmachender Sprachenvergleiche (vgl. z.B. N E - VELING 2012). Es ist anzunehmen, dass die Ergebnisse der Untersuchung von N EVE - LING , die mit Spanisch- und Russischlehrenden bzw. -lernenden durchgeführt wurde, auch auf den Italienischunterricht übertragen werden können. Wenn also allgemein akzeptiert wird, dass eine stärkere Berücksichtigung des Englischen im Italienischunterricht einen wertvollen Beitrag zur Optimierung des schulischen Italienischlernens leisten kann und davon auszugehen ist, dass alle Italienischlehrkräfte über Englischkenntnisse verfügen, kann sich die Fachdidaktik auf die folgenden Fragestellungen konzentrieren: Wo, d.h. in welchen Bereichen, bietet sich im Italienischunterricht eine bewusste Einbeziehung des Englischen aus lernökonomischen Gründen an und wie kann diese konkret realisiert werden? Wie sollen Aufgaben aussehen, die entsprechende Transferprozesse fördern? Und wo kann die Vernetzung der beiden Sprachen einen Beitrag zur Entwicklung textuell-ästhetischer Kompetenzen, wo zum Ausbau interkultureller und transkultureller Kompetenzen leisten? Der Beantwortung dieser Fragen kommt mit Blick auf die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern des Italienischen und die damit einhergehende Gestaltung des Italienischunterrichts ein zentraler Stellenwert zu. Literatur B ERNHOFER , Verena (Hrsg.) (2015): Scambio. Unterrichtswerk für Italienisch. Schülerband. Bamberg: C.C. Buchners Verlag. B ERNS , Margie (2007): „The presence of English. Sociocultural, acquisitional, and media dimensions“. In: B ERNS , Margie / DE B OT , Kees / H ASEBRINK , Uwe (Hrsg.): In the Presence of English: Media and European Youth. New York: Springer, 1-14. B ERTRAND , Yves / C HRIST , Herbert (1990): „Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht“. In: Neusprachliche Mitteilungen 43, 208-212. B OGDANSKI , Gudrun / R EIMANN , Daniel (2004): „Vom Mauerblümchen zur Orchidee: Zur Entwicklung des schulischen Italienischunterrichts in Deutschland“. In: B ECKER , Norbert / L ÜDERSSEN , Caroline (Hrsg.): Wandlungen des Italienischunterrichts. Bamberg: C.C. Buchners Verlag, 7-35. B RUNNER , Marie-Louise B. / A NKERSTEIN , Carrie (2013): „German pupils’ awareness of English- French cognates and false friends: an investigation of L2 to L3 transfer“. In: Saarland Working Papers in Linguistics 4, 9-19. G RÜNEWALD , Andreas / S ASS , Annina (2014): „Same, same but different? Sprachenübergreifende Vernetzung des Englisch- und Spanischunterrichts zur Förderung von Mehrsprachigkeit“. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19/ 1, 25-42. http: / / zif.spz.tu-darmstadt.de/ jg-19-1/ beitrag/ Gruenewald_Sass.pdf (2/ 4/ 2015). G RZEGA , Joachim (2005): „The role of English in learning and teaching European intercomprehension skills“. In: Journal for EuroLinguistiX 2, 1-17. H ALLET , Wolfgang (2011): Lernen fördern: Englisch. Kompetenzorientierter Unterricht in der Sekundarstufe I. Seelze: Klett Kallmeyer. Überlegungen zur unterrichtspraktischen Gestaltung einer engeren Vernetzung … 59 44 (2015) • Heft 2 H ASEBRINK , Uwe / B ERNS , Margie / DE K EES , Bot (2007): „In the presence of English: a resume after step one of an international study“. In: B ERNS , Margie / DE B OT , Kees / H ASEBRINK , Uwe (Hrsg.): In the Presence of English: Media and European Youth. New York: Springer, 111-119. H EMMING , Erik / K LEIN , Horst G. / R EISSNER , Christina (2011): English - the Bridge to the Romance Languages. Aachen: Shaker (Editiones EuroCom vol. 33). H UFEISEN , Britta (2010): „Theoretische Fundierung multiplen Sprachenlernens - Faktorenmodell 2.0“. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 36, 200-208. K LEIN , Horst G. (2006): „EuroCom: Leseverstehen im Bereich der romanischen Sprachen“. In: Babylonia 3/ 06, 57-61. K LEIN , Horst G. / R EISSNER , Christina (2006): Basismodul Englisch. Englisch als Brückensprache in der romanischen Interkomprehension. Aachen: Shaker (Editiones EuroCom vol. 26). L EISI , Ernst / M AIR , Christian (1999): Das heutige Englisch: Wesenszüge und Probleme. Heidelberg: Winter. L EITZKE -U NGERER , Eva / B LELL , Gabriele / V ENCES , Ursula (Hrsg.) (2012): English - Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem. M EIßNER , Franz-Joseph / R EINFRIED , Marcus (1998): „Mehrsprachigkeit als Aufgabe des Unterrichts romanischer Sprachen“. In: Dies. (Hrsg.): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen, Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen. Tübingen: Narr, 9-22. M INISTERIUM FÜR B ILDUNG , W ISSENSCHAFT , J UGEND UND K ULTUR R HEINLAND -P FALZ (Hrsg.) 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After giving a brief outline of what is presently known about heritage languages in the context of multilingualism, it presents findings from two case studies that point to important factors responsible for the successful language acquisition of heritage learners. The interviews conducted offer some useful insights into the perspectives of the heritage learners, their parents as well as their teachers of Polish with respect to their individual learning biographies, styles of language education at home, and the use of the multilingual knowledge of the heritage speakers in different school contexts. Finally, the perception of the situation of heritage learners will be identified and aspects that deserve explicit institutional encouragement will be outlined. 1. Herkunftssprachen im Kontext von Mehrsprachigkeit Polen ist eines der Hauptherkunftsländer bei der gegenwärtigen Zuwanderung. Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland sind heute Polen, sprechen Polnisch oder stammen aus Polen. Polinnen und Polen werden in Deutschland oft nicht als solche wahrgenommen und gelten als „unsichtbare“ Minderheit (vgl. L OEW 2014). Ihre Kinder wachsen oft zweisprachig auf und verfügen über unterschiedliche Kompetenzgrade in der Herkunftssprache Polnisch - von lediglich rezeptiven Fertigkeiten im Polnischen bis hin zu ausbalancierter Zweisprachigkeit. Das typische Profil eines Herkunftssprechers (heritage speaker) ist nach P OLINSKY (2015) das eines Kindes, das außerhalb des Heimatlandes der Eltern geboren wurde oder dieses Land im Kindesalter verlassen hat. Mindestens eine Person in der Familie kommuniziert mit dem Kind in der Herkunftssprache. Außerhalb der Familie verwendet das Kind meist die Umgebungssprache - in unserem Fall Deutsch. Der Einfluss des Deutschen nimmt zu, wenn das Kind in die Schule kommt. Der Input in der Herkunftssprache ist begrenzt, da das Polnische nur in bestimmten Kontexten in der Familie und nur mit wenigen Kontaktpersonen gesprochen wird. Hinzu können Phänomene wie unvollständiger Spracherwerb (z.B. im Bereich der Lexik und der schriftsprachlichen Kompetenzen), Sprachabbau bzw. Sprach- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Grit M EHLHORN , Universität Leipzig, Institut für Slavistik, Beethovenstr. 15, 04107 L EIPZIG . E-Mail: mehlhorn@rz.uni-leipzig.de Arbeitsbereiche: Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung, insbesondere slawische Sprachen und Deutsch als Fremdsprache, Mehrsprachigkeit, Erwerb von Herkunftssprachen. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 61 44 (2015) • Heft 2 verlust (vgl. ebd.) kommen. Im Kontext von Mehrsprachigkeit in der Schule wird seit Jahren der Erhalt und die Förderung der Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gefordert (vgl. u.a. H U 2003; D IRIM 2007), da sichere Kenntnisse in der Herkunftssprache für das Erlernen aller weiteren Sprachen einschließlich des Deutschen von Bedeutung seien (vgl. K NIFFKA / S IEBERT -O TT 2007). Die herkunftssprachlichen Kenntnisse werden in der Bildungspolitik als „ein wichtiger Faktor der Berufsqualifizierung und als eine Sprungschanze zum erfolgreichen Erwerb weiterer Sprachen“ gesehen (L ÜTTENBERG 2010: 302). Im Fokus dieses Beitrags stehen bilingual aufwachsende polnischsprachige Schülerinnen und Schüler (im Folgenden SuS) der zweiten Migrantengeneration, die sich im 1. Lernjahr ihrer 2. Fremdsprache befinden (Klasse 7). Neben Deutsch und Polnisch gehört für die Jugendlichen Englisch als 1. Fremdsprache (seit Klasse 3) zu ihrer Sprachenbiographie. Die 2. Fremdsprache ‒ z.B. Französisch, Spanisch oder eben auch Polnisch, das in Berlin als reguläre Schulfremdsprache angeboten wird ‒ lernen sie seit einigen Monaten. Eine Besonderheit des Polnisch-als-Fremdsprache-Unterrichts besteht darin, dass er häufig auch von SuS besucht wird, die diese Sprachen im familiären Umfeld sprechen und daher Vorkenntnisse und Kompetenzen v.a. im mündlichen Bereich in den Fremdsprachenunterricht mitbringen. Außerdem gibt es für polnischsprachige Kinder und Jugendliche in Berlin die Möglichkeit, am Herkunftssprachenunterricht Polnisch teilzunehmen, der u.a. vom polnischen Schulverein Oświata (poln. „Bildung“) angeboten wird. Herkunftssprachenunterricht findet zusätzlich und auf freiwilliger Basis an verschiedenen Schulen in der Regel am Nachmittag oder Abend - außerhalb der üblichen Unterrichtszeit - statt. Im Artikel soll herausgearbeitet werden, welche Faktoren zur Wahrnehmung des Potenzials der Herkunftssprache aus Sicht der Jugendlichen, ihrer Eltern und Lehrkräfte beitragen und in welchen Bereichen noch Potenzial brachliegt. 2. Forschungskontext und -design Die hier vorgestellten Daten aus polnischsprachigen Familien in Berlin wurden im Rahmen des Projekts „Russische und polnische Herkunftssprache als Ressource im Schulunterricht - eine Bestandsaufnahme zur Rolle des familiären und schulischen Kontexts für die Nutzung von Herkunftssprachen durch Schüler/ -innen mit Migrationshintergrund“ durchgeführt. 1 Mithilfe qualitativer Interviews in den Familien wurden die Jugendlichen und ihre Eltern zu ihren Einstellungen in Bezug auf Vor- und Nachteile ihrer Herkunftssprache, Spracherziehungsstile, ihre Sicht auf die Mehrsprachigkeit in der Familie und das Aufgreifen der Herkunftssprachen im schulischen Kontext 1 Dieses Verbundprojekt der Universitäten Greifswald (Projektleiter: Bernhard Brehmer) und Leipzig (Projektleiterin: Grit Mehlhorn) wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Kennzeichen 01JM1302B gefördert. Die hier vorgestellten Interviewdaten wurden von Joanna Burkhardt und Joanna Ziemba erhoben und von Anne Mühlich und Marta Wyspiańska transkribiert. 62 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 befragt. Darüber hinaus fanden Befragungen der Lehrkräfte statt, die diese Jugendlichen in Polnisch - als Fremd- oder Herkunftssprache - unterrichten. Gefragt wurde u.a. nach Bezugnahmen auf die Herkunftssprache und die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der SuS, nach Sprachvergleichen und Differenzierungsmaßnahmen. Durch die Einbeziehung der Eltern und Lehrkräfte der SuS soll versucht werden, das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und ein komplexeres Bild von der Mehrsprachigkeit und den Bedingungen des Polnischerwerbs zu erhalten. Neben den Befragungen werden in den Familien umfangreiche Sprachstandserhebungen im Deutschen und Polnischen durchgeführt. Die erstellten Sprachenprofile der einzelnen SuS können Auskunft über gruppentypische, aber auch individuelle Ausprägungen geben. Studien zur Herkunftssprache Polnisch sind bisher rar gesät (vgl. jedoch L AGNER 2013 zum herkunftssprachlichen Unterricht Polnisch in Hamburg sowie A NSTATT 2013 zu linguistischen Analysen des Polnischen von Herkunftssprechern). J AŃCZAK (2013) untersucht die sprachlichen und familiären Verhältnisse in deutsch-polnischen Familien in Deutschland und in Polen durch Befragung bilingualer Ehepartner und bildet damit die Sichtweise erwachsener Migranten ab. Unser Projekt beruht auf der theoretischen Vorannahme, dass Mehrsprachigkeit aufgrund der Komplexität der verschiedenen miteinander interagierenden sprachlichen, kognitiven, emotionalen und sprachspezifischen Faktoren nur durch eine holistische Betrachtung adäquat erfasst werden kann. Da die multilinguale Sprachbeherrschung ständigen Veränderungen unterliegt, wird dem Projekt das Dynamische Modell des Multilingualismus (vgl. H ERDINA / J ESSNER 2002) zugrunde gelegt. Durch die Betonung der individuellen Faktoren und der chronologischen Komponente eignet es sich gut für Einzelfallanalysen wie im hier vorgestellten Projekt. Im Folgenden werden zwei ausgewählte Fälle - Ania und Kamila - vorgestellt, wobei neben den Sichtweisen der Schülerinnen auf ihre Mehrsprachigkeit auch die ihrer Mütter sowie der Polnischlehrerinnen einbezogen werden. Gemeinsamkeiten dieser Fälle bestehen darin, dass • Polnisch für beide Mädchen die dominierende Familiensprache ist, • beide Jugendliche während der Ferien viel Zeit in Polen verbringen, • sie u.a. durch polnischsprachiges Fernsehen, das Begehen von polnischen Feiertagen und ihre Kontakte zum Herkunftsland über landeskundliches und kulturelles Wissen zu Polen verfügen, • beide Mädchen im Vergleich zu anderen Probanden unserer Studie sehr gute Polnischkompetenzen aufweisen, die sie in einem institutionellen Kontext weiter vertiefen. Die beiden Mädchen unterscheiden sich in ihren Sprachenlernbiographien und einer Reihe individueller Faktoren. Während Ania Herkunftssprachenunterricht besucht, lernt Kamila Polnisch als zweite Schulfremdsprache. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 63 44 (2015) • Heft 2 3. Der Fall Ania Ania ist zum Zeitpunkt der Befragung 12 Jahre alt und besucht die 7. Klasse eines Berliner Gymnasiums. Ihre Eltern - beide Polen - sind vor 25 bzw. 15 Jahren nach Deutschland gekommen. Ania wurde - wie auch ihr jüngerer Bruder - in Berlin geboren. Seit sieben Jahren besucht Ania einmal pro Woche den herkunftssprachlichen Polnischunterricht, den sie „polnische Schule“ nennt. Dazu fährt sie nach einem langen Schultag mit dem Bus in eine andere Schule. In der „deutschen“ Schule lernt Ania ihre 2. Fremdsprache Französisch. Ania sagt im Interview, dass sie Sprachen mag. Sie sieht sich beim Sprachenlernen ihren monolingual aufwachsenden Mitschülern gegenüber im Vorteil, weil sie ihrer Meinung nach Sprachen leichter lernt. 3.1 Anias Sicht Ania steht ihrer Zweisprachigkeit sehr positiv gegenüber. Sie empfindet es als Vorteil, dass sie eine Sprache mehr beherrscht als andere und erklärt, dass ihr das beim Fremdsprachenlernen hilft. Im Unterricht versteht sie manchmal auch Fremdwörter oder deutsche Archaismen in anderen Fächern, die sie aus dem Polnischen wiedererkennt, während ihre Mitschüler nichts damit anfangen können. Als Beispiel nennt sie szpital (Spital) aus dem Geschichtsunterricht und Internationalismen aus dem Französischunterricht. Außerdem erzählt Ania, dass sie oft etwas versteht, wenn sich Russen in der S-Bahn unterhalten. Das ginge nur durch ihr Polnisch; andere Kinder würden das nicht verstehen. Sie ist stolz darauf, dass sie inzwischen vier Sprachen lernt und möchte später noch Italienisch hinzunehmen. In ihrer Klasse ist Ania die einzige Schülerin mit polnischen Wurzeln. Ihre Lehrer wissen das und nehmen manchmal darauf Bezug. So konnte sie sich bei den internationalen Projekttagen in der „deutschen“ Schule einbringen, als türkisch, afrikanisch und polnisch gekocht wurde. Ihre Sprachkompetenzen schätzt Ania in allen Bereichen als sehr gut ein - sowohl im Deutschen als auch im Polnischen, wobei sie einschränkt, dass ihr Deutsch besser ist. Während des Interviews benennt sie konkrete Schwierigkeiten mit der polnischen Grammatik und Orthographie. Die Eltern und ihre Großmutter korrigieren sie manchmal. Insgesamt geht Ania sehr unbefangen mit ihren Fehlern um und betrachtet sie als normal und unvermeidlich. Sie stellt fest, dass sich ihr Polnisch durch die „polnische Schule“ verbessert hat und ist optimistisch, dass sie weiterhin Lernfortschritte machen und Polnisch und Deutsch bald gleich gut beherrschen wird. Ania berichtet, dass sie trotz der zusätzlichen Hausaufgaben und der ungünstigen Zeit am Nachmittag gern in die „polnische Schule“ geht. Während des Interviews zeigt sie stolz ihren dicken Ordner mit einer Fülle an Unterrichtsmaterialien. Ania erzählt begeistert von regelmäßig stattfindenden Polnischolympiaden mit Diktaten und einem Lyrikwettbewerb, für den sie selbst schon ein Gedicht auf Polnisch geschrieben hat. Durch den Polnischunterricht sind Ania bestimmte Regeln in der Orthographie bewusst geworden, die sie vorher nicht kannte. Sie merkt, dass sich ihr Wortschatz durch den Polnischunterricht vergrößert und dass sie die neuen Wörter auch im Alltag anwenden kann. Von sich aus liest 64 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 Ania normalerweise keine Bücher auf Polnisch, aber im Polnischunterricht werden manchmal Geschichten und Auszüge aus Lektüren behandelt, die sie zu Hause zu Ende liest. Ania wird häufig von anderen Menschen in eine bestimmte Schublade gesteckt. Sie sagt: „Also in Polen sagen die alle, ich komme aus Deutschland und hier sagen sie, ich komme aus Polen“. Offensichtlich hat sie bereits eine Strategie entwickelt damit umzugehen: „Ich sag dann immer, ich bin zweisprachig“. Ania macht deutlich, dass sie sich sowohl in Deutschland als auch in Polen wohlfühlt. Ihre Zweisprachigkeit sieht sie als Bereicherung. Durch ihre Polnischkenntnisse kann sie jederzeit nach Polen fahren, und durch ihre Deutschkenntnisse kommt sie auch in Deutschland klar. Sie ist Klassenbeste, möchte später Medizin studieren und Ärztin werden; sie glaubt, dass ihre Sprachkenntnisse dafür nützlich sein werden. 3.2 Die Sicht von Anias Mutter Anias Mutter ist stolz auf die Zweisprachigkeit ihrer Tochter und vergleicht sie im Interview mit anderen Kindern, deren polnische Eltern weniger Wert auf den Polnischerwerb gelegt haben und die deshalb Verständigungsschwierigkeiten in der Familie haben. Zudem hebt sie den Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit ihrer Tochter beim Lernen hervor. Wenn Ania in Polen mit anderen Kindern zusammen ist, würde ihr etwas „naives“ Polnisch auffallen, da sie die Sprache v.a. aus der Familie kennt, weniger jedoch die Umgangssprache Gleichaltriger aus Polen. Gleichzeitig freut sich die Mutter darüber, wie gut sich Ania mit den polnischen Verwandten verständigen kann. Die Mutter betont Anias Bemühungen in der Schule und versucht, die Tochter regelmäßig zum Polnischunterricht zu schicken, sieht aber auch, wie schwer es Ania nach dem langen Schultag fällt, noch drei Stunden Polnisch zu lernen. In Anbetracht des von Ania empfundenen Drucks aus der „deutschen“ Schule, gute Noten zu erhalten, scheint der Besuch des zusätzlichen Polnischunterrichts öfter große Überwindung zu kosten. Mit den Polnischkenntnissen ihrer Tochter ist die Mutter sehr zufrieden. Ania würde zwar einfache Sätze bilden und einen begrenzten Wortschatz haben, könne sich aber gut auf Polnisch verständigen. In Bezug auf das Deutsche hat die Mutter Verbesserungen festgestellt, kann Anias Niveau aber nicht genau einschätzen. Daher orientiert sie sich an den guten Schulnoten. Da ihr Deutsch wesentlich schlechter ist als das ihrer Tochter, ist sie unsicher, ob Ania Deutsch mit polnischem Akzent spricht. Für beide Sprachen wäre es wünschenswert, wenn Ania mehr lesen würde. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Sicht von Anias Lehrern, die die Mutter wiedergibt. In den Sprachstandstests zeigt sich, dass Ania Deutsch und Polnisch akzentfrei spricht, allerdings zuweilen morphosyntaktische Abweichungen im Deutschen produziert, die sich auf Interferenzen mit dem Polnischen zurückführen lassen. Die im Polnischen produzierten grammatischen Abweichungen stören im Gespräch wenig, da sie sehr flüssig und mit natürlicher polnischer Intonation spricht. Ihr polnischer Wortschatz ist im Vergleich zu anderen Probanden unserer Studie recht groß; die Aufgaben im Rahmen der Sprachstandserhebung löst sie souverän. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 65 44 (2015) • Heft 2 Die Mutter ist sehr zufrieden mit dem Unterricht, lobt das Engagement der Lehrkräfte und die vielen kulturellen Aktivitäten des polnischen Schulvereins, an der ihre Kinder offensichtlich gern teilnehmen. Sie selbst geht zu den Elternabenden, hat guten Kontakt zur Polnischlehrerin und versucht, andere Familien der Polonia zum Besuch der Veranstaltungen zu motivieren. Aus Sicht der Mutter sind die Polnischlehrerinnen sensibel, versuchen eine angenehme Unterrichtsatmosphäre zu gestalten und die SuS nach dem langen Schultag nicht zu überfordern. Daher gehen ihre Kinder gern zum Unterricht. Eine große Chance sieht die Mutter darin, dass Ania bei Oświata mit 16 Jahren eine Polnischprüfung ablegen kann, mit der ihr dann ein Studium in Polen offen steht. 3.3 Die Sicht von Anias Polnischlehrerin Frau A. ist ausgebildete Polonistin und unterrichtet seit vielen Jahren bei Oświata Polnisch für Kinder und Jugendliche der Polonia. Im Interview wird deutlich, dass sie ihre Arbeit als Mission ansieht und versucht, den Kindern ein positives Polenbild zu vermitteln und sowohl durch ihren Unterricht als auch durch zusätzliche Aktivitäten wie Sprachwettbewerbe und Bildungsfahrten nach Polen das Schöne an der polnischen Sprache und an Polen zu zeigen. Damit möchte sie die Wurzeln der Kinder der Polonia und deren Selbstwertgefühl stärken und ihnen Unterstützung für ihr späteres Leben geben. Sie sieht ihre SuS als künftige Botschafter und Mittler zwischen der polnischen und deutschen Kultur. Die erschwerten Bedingungen ihrer Tätigkeit - Arbeit auf Honorarbasis, kein eigenes Klassen- und Lehrerzimmer, große Fluktuation der Kolleginnen aufgrund der schlechten Bezahlung und die extrem heterogenen Lerngruppen - erwähnt sie am Rande, allerdings nicht klagend, sondern eher als Hintergrundinformation für ihren Umgang mit den SuS. Ihre derzeitige Lerngruppe, zu der auch Ania gehört, besteht aus 12 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 16 Jahren. Diese SuS unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf ihr Alter, sondern auch in ihren sprachlichen Kompetenzen und ihrer Motivation zum Polnischlernen. Frau A. engagiert sich sehr für den Schulverein. Sie verwendet aktivierende Methoden im Unterricht, sucht interessante Übungen, Texte und Lektüren aus den unterschiedlichsten Lehrwerken und im Internet, bringt zu jedem Unterricht Wörterbücher, Kopien sowie einen CD-Player oder Beamer mit, überlegt sich kreative Übungen, um die SuS zum Schreiben zu bringen und bildet sich u.a. durch mehrtägige Fortbildungen an polnischen Universitäten in didaktisch-methodischer Hinsicht ständig weiter. Frau A. bringt ihren SuS viel Empathie entgegen und versteht, dass der Polnischunterricht am späten Nachmittag mit teilweise langem Anfahrtsweg eine zusätzliche Anstrengung darstellt. Ihr ist bewusst, wie schwer den Jugendlichen die Arbeit an ihren sprachlichen Defiziten oft fällt und dass sie zuweilen andere Prioritäten haben. Als Beispiel für die Nutzung von Kenntnissen der „Polonia-Kinder“ erwähnt Frau A., dass eine ihrer Schülerinnen auf einem Ausflug nach Krakau u.a. auch das Konzentrationslager in Auschwitz besichtigt hat und ihrem Geschichtslehrer tief erschüttert 66 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 davon erzählt hat, woraufhin dieser sie bat, eine Präsentation über das KZ für den Geschichtsunterricht vorzubereiten. Frau A. betont die wichtige Rolle der Eltern für die Lernerfolge der Kinder. Dafür müsse zu Hause gezielt Polnisch gesprochen werden. Die Lehrerin versucht, einen kommunikativen Unterricht zu gestalten und grammatische Regeln dort zu thematisieren, wo es für die Anwendung durch die SuS notwendig ist. Sie verwendet fast ausschließlich Polnisch im Unterricht. Sprachvergleiche mit dem Deutschen werden bei der Behandlung von Phraseologismen angestellt. Frau A. kennt Ania seit drei Jahren aus ihrem Unterricht und lobt sie als sehr aktive, lebendige und begeisterungsfähige Schülerin. Ania habe keine Hemmungen im Unterricht zu sprechen und nachzufragen, wenn sie etwas nicht versteht. Manchmal sei sie etwas unkonzentriert, denke beim Sprechen schon an den nächsten Satz und würde dadurch Äußerungen nicht immer beenden oder nach Worten suchen. Wie die meisten Mitschüler schreibe Ania ungern auf Polnisch. Eine Zeitlang sei sie nur unregelmäßig zum Unterricht gekommen; inzwischen habe sie sich aber wieder gefangen. Ania sei stolz auf ihre Polnischkenntnisse und würde sie gern anwenden. Dabei sei der ständige Kontakt mit den Großeltern und Verwandten in Polen und das soziale Engagement der Mutter, die in Berlin viele Kontakte zu polnischsprachigen Menschen pflegt, eine große Hilfe. Im Vergleich zu anderen Lernenden aus der Gruppe verfüge Ania über sehr gute Polnischkenntnisse. 4. Der Fall Kamila Die zum Interviewzeitpunkt 13 Jahre alte Kamila ist in Polen geboren, wo sie auch den Kindergarten besucht hat. Erst im Alter von fünf Jahren ist sie mit ihrer Mutter nach Berlin gezogen und hat noch ein Jahr lang eine deutsche Kindertagesstätte besucht. In der Grundschule hatte sie zu Beginn noch einige Probleme, doch mit der Zeit hat sich ihr Deutsch immer mehr verbessert. Polnisch ist ihre Erstsprache, die sie durch die täglichen Gespräche mit der Mutter und den regelmäßigen Kontakt zu ihren Großeltern und Verwandten in Polen stetig weiterentwickelt. Ihr Vater ist ebenfalls Pole, aber die Mutter ist alleinerziehend, und Kamila hat keine Geschwister. Mutter und Tochter leben recht zurückgezogen und haben wenig Kontakt zu anderen Polnischsprachigen in Berlin. Schon vor der Einschulung konnte Kamila lesen, was sie mithilfe einer polnischen Fibel von ihrer Großmutter gelernt hat. Als 2. Schulfremdsprache hat Kamila Polnisch gewählt, so dass sie seit der 7. Klasse ihre Polnischkenntnisse systematisch ausbauen und vertiefen kann. Ihre 1. Fremdsprache ist Englisch. Kamilas Sprachenwahl ist orts- und personengebunden: In der Schule spricht sie in der Regel Deutsch, zumal es dort ein Verbot gibt, in den Pausen Polnisch zu sprechen, und zu Hause meistens Polnisch. Sie glaubt, beide Sprachen etwa gleich häufig zu verwenden. Kamila korrigiert ihre Mutter, wenn diese beim Sprechen auf Deutsch Fehler macht, und wird wiederum von ihr beim Schreiben im Polnischen korrigiert. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 67 44 (2015) • Heft 2 4.1 Kamilas Sicht Kamila ist der Meinung, Polnisch etwas besser als Deutsch zu beherrschen, macht dies allerdings an ihren Schulnoten in den beiden Fächern fest. Sie nennt wenige Aspekte der polnischen Rechtschreibung, die ihr schwerfallen. Allgemein ist sie im Polnischen mündlich etwas besser als schriftlich, wohingegen sie ihre Fertigkeiten im Deutschen als gleich gut einschätzt. Ihrer Meinung nach weiß sie mehr über Polen als über Deutschland, z.B. kennt sie mehr polnische Städte oder auch Schauspieler. Deutsch und Polnisch sind Kamila gleichermaßen wichtig, da sie in Deutschland lebt und ihre Familie nur Polnisch spricht. Sie findet es gut, dass sie zweisprachig ist und schließt nicht aus, später vielleicht einmal nach Polen zu ziehen. Aufgrund ihrer polnischen Wurzeln sieht sie sich als Polin, zugleich fühlt sie sich wohl in Berlin. Polnisch lernt Kamila seit etwa einem dreiviertel Jahr am Gymnasium, vier Stunden pro Woche im Fortgeschrittenenkurs. Den Polnischunterricht findet sie „cool“ und meint, v.a. in den Bereichen Aussprache, Rechtschreibung und kulturelles Wissen über Polen dazuzulernen. Sie erwähnt, dass sie gerade mit einer Freundin einen Vortrag über eine polnische Band auf Polnisch vorbereitet. Während Kamila im Polnischunterricht sehr oft ihre Vorkenntnisse aus der Erstsprache einbringen kann, fallen ihr für andere Fächer keine Beispiele ein. Bis auf die vage Vorstellung, später vielleicht einmal in Polen zu leben, hat sie über die Vorteile ihrer Zweisprachigkeit noch nicht nachgedacht. 4.2 Die Sicht von Kamilas Mutter Kamilas Mutter lag viel daran, dass ihre Tochter auf ein bestimmtes Gymnasium mit Polnischunterricht geht, zumal sie von ihren polnischen Bekannten gute Meinungen über die Schule gehört hat. Kamila kann mit einer Freundin aus der Grundschule, die ebenfalls polnischer Herkunft ist, dorthin gehen und wollte auch deshalb gern diese Schule besuchen, weil sie wusste, dass ihr das Polnischlernen leicht fallen würde. Die Mutter fühlt sich als Polin wohl in Berlin, auch wenn die polnische Sprache ihrer Meinung nach nur ein geringes Prestige in Deutschland habe. Sie persönlich sieht Zwei- und Mehrsprachigkeit als etwas Positives und Bewundernswertes. Kamilas Polnischkenntnisse schätzt die Mutter mit Verweis auf deren Schulnoten als gut ein. Sie ist der Meinung, dass Kamila durch die häufigen Polenaufenthalte und das polnische Fernsehen auch über kulturelles Wissen in Bezug auf Polen verfügt. Mit den Sprachkenntnissen ihrer Tochter in beiden Sprachen zeigt sie sich sehr zufrieden und betont, dass Kamila sowohl Polnisch als auch Deutsch akzentfrei spricht. Sie sieht nur Vorteile in der Zweisprachigkeit ihres Kindes: von der Möglichkeit, sich auch in Polen gut zurechtzufinden, über die Chance, später einmal in einer deutsch-polnischen Firma zu arbeiten, bis hin zu allgemeinen Vorteilen beim Denken und Lernen. Kamila ist ihrer Mutter zufolge nicht besonders ehrgeizig und könne nicht lange über Büchern sitzen. Da ihr das selbst als Kind auch schwergefallen ist, hat die Mutter dafür Verständnis. Dennoch motiviert sie Kamila zum Lernen, indem sie ihr erklärt, dass sie es einmal umso leichter haben wird, je besser ihr Abschluss sein wird. 68 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 4.3 Die Sicht von Kamilas Polnischlehrerin Frau K. ist seit 20 Jahren als Polnischlehrerin tätig, zunächst in Polen, seit etwa zehn Jahren an einem Berliner Gymnasium, an dem sie den Polnischfachbereich mit aufgebaut hat. Inzwischen hat sie einen unbefristeten Vertrag und unterrichtet 14 Stunden Polnisch pro Woche von Klasse 7 bis 12, davon vier Stunden in der Klasse von Kamila. Am Unterricht des Polnischen als 2. Fremdsprache nehmen sowohl SuS ohne Vorkenntnisse als auch solche aus polnischsprachigen Familien teil. Sind genügend SuS vorhanden, wird die Klasse in eine Anfänger- und Fortgeschrittenengruppe geteilt, aber nicht in allen Klassenstufen ist das möglich. Kamila lernt Polnisch in der Fortgeschrittenengruppe. Aber auch hier gibt es große Unterschiede in den Sprachkompetenzen der SuS, von denen mehrere bereits Polnischunterricht in der Grundschule hatten, zum Teil sogar noch in Polen, andere hingegen nicht. Einige SuS würden zusätzlich zum Fremdsprachenunterricht noch Polnisch in der Botschaftsschule lernen. Als großes Manko in ihrer Arbeit beklagt Frau K. das Fehlen von geeigneten Unterrichtsmaterialien für die unterschiedlichen Niveaustufen ihrer SuS, was für sie mit einem immensen Vorbereitungsaufwand verbunden ist. Im Interview wird deutlich, dass sie zudem unter dem niedrigen Prestige des Polnischen leidet. Von den Kolleginnen anderer Fächer wird der Polnischunterricht z.B. im Vergleich zum Französischunterricht als weniger wichtig angesehen ‒ offensichtlich auch deswegen, weil man die SuS mit polnischsprachigen Wurzeln nicht als echte Lernende ansieht und glaubt, sie würden sich mit der Wahl des Polnischen um das Erlernen einer „richtigen“ Fremdsprache drücken. In diesem Zusammenhang wird auch das Verbot, an der Schule in den Pausen Polnisch zu sprechen, erwähnt. Die Anstrengungen ihrer SuS, ihre Herkunftssprache zu erhalten und auszubauen, würden auch aufgrund des geringen Ansehens des Polnischen nicht wertgeschätzt, so dass die Lernenden selbst im Vergleich zu den SuS, die in der 7. Klasse mit Polnisch begonnen haben, kaum Lernfortschritte bei sich wahrnehmen würden, was zuweilen negative Auswirkungen auf ihre Motivation zum Weiterlernen habe. Das gute Abschneiden einiger SuS bei den Polnischolympiaden in Warschau werde in der eigenen Schule nicht hinreichend geschätzt. Die große Heterogenität ihrer Lerngruppen ist für Frau K. trotz ihrer Lehrerfahrung eine ständige Herausforderung. Sie berichtet von verschiedenen Differenzierungsmaßnahmen, angefangen von abwechselnden Sozialformen und der bewussten Zusammensetzung der SuS für die Partner- und Gruppenarbeit, über die Verwendung verschiedener Texte für unterschiedliche Sprachniveaus bis hin zu individuellen Aufgabenstellungen. Dennoch habe sie in bestimmten Unterrichtsphasen immer das Gefühl, einige SuS zu über- und andere zu unterfordern. Befragt nach Sprachvergleichen im Polnischunterricht, erwähnt die Lehrerin Interferenzen der SuS und dass sie sie darauf aufmerksam mache, wenn diese etwas fehlerhaft aus dem Deutschen ins Polnische übertrügen. Theoretisch sieht sie die Möglichkeit, dass die SuS ihre Polnischkenntnisse und ihr Wissen über Polen in anderen Fächern einbringen könnten, kann jedoch nicht einschätzen, inwiefern das in der Unterrichtspraxis tatsächlich eine Rolle spielt. Allerdings erwähnt sie, dass einige polnischsprachige SuS für ihre Eltern, die nicht so gut Deutsch könn- Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 69 44 (2015) • Heft 2 ten, bei Elterngesprächen im schulischen Kontext die Rolle des Sprachmittlers übernähmen. Während die SuS in Kamilas Alter ihrer Meinung nach noch keine klaren Zukunftspläne haben und daher auch wenig Vorstellungen davon, inwieweit ihre Polnischkenntnisse ihnen später einmal nützen könnten, berichtet sie von ihrer 12. Klasse, dass es einige SuS gebe, die nach dem Abitur einen einjährigen Aufenthalt in Polen planten, in Polen studieren oder sogar ganz nach Polen ziehen wollen. Frau K. organisiert einen Schüleraustausch mit einem Gymnasium in Polen. Bei den Begegnungen werden die Berliner SuS oft damit konfrontiert, dass die polnischen SuS sie als Deutsche bezeichnen, während sie in Berlin wiederum als Polen wahrgenommen würden. Die Lehrerin versucht, ihren SuS die Sichtweise zu vermitteln, dass ihre Polnischkenntnisse etwas Besonderes sind, jede weitere Sprache ein Vorteil für sie ist und dass es nicht darum gehe, Polin oder Deutscher zu sein, sondern dass man sich auch als Europäer/ in fühlen könne. Kamila wird von Frau K. als Schülerin mit sehr guten Polnischkenntnissen in allen Fertigkeiten und einer akzentfreien Aussprache eingeschätzt, die lediglich vereinzelte orthographische und grammatische Fehler beim Schreiben mache, welche jedoch das Verständnis in keiner Weise beeinträchtigten. Am Beispiel von Kamila erläutert sie das Dilemma, in dem sie sich bei der Notengebung befindet: Der Polnischlehrplan orientiert sich an Lernenden der 2. Fremdsprache, allerdings könne sie nicht allen Herkunftssprechern Einsen geben. So stehe Kamila in Polnisch auf Zwei, was sie motivieren solle, sich weiterhin zu verbessern. Gleichzeitig hat die Lehrerin Zweifel, ob diese Notengebung tatsächlich als Ansporn wahrgenommen wird. 5. Zusammenfassung In den Gesprächen mit den befragten SuS wurde deutlich, dass sie ihre Mehrsprachigkeit und das Aufwachsen mit mindestens zwei Sprachen als etwas Wichtiges, gleichzeitig aber auch als Normalität und Selbstverständlichkeit erleben. Die Jugendlichen machen widersprüchliche Erfahrungen mit ihrer Mehrsprachigkeit. In bestimmten Kontexten erfahren sie sich als sprachlich kompetent und überlegen, z.B. im Vergleich zu ihren Eltern mit geringeren Deutschkenntnissen oder wenn sie für die polnischsprachigen Großeltern im deutschen Alltag dolmetschen. Im Polnischunterricht werden sie dagegen oft mit ihren sprachlichen Defiziten konfrontiert; auch bei Aufenthalten in Polen fühlen sie zuweilen eine sprachliche Unterlegenheit. Motivationsschwierigkeiten bestehen v.a. in Bezug auf die schriftsprachlichen Kompetenzen, die im deutschen Alltag eine geringere Rolle spielen: das Lesen und Schreiben auf Polnisch. Oft übernehmen die Kinder die Einstellungen der Eltern zu ihrer Zweisprachigkeit, wobei sich diese Einstellungen v.a. im Jugendalter auch ändern können. Eine starke Verbundenheit der Eltern mit Polen trägt dazu bei, dass die Herkunftssprache eine große Rolle im Leben der Familie spielt. Der Polnischunterricht ermöglicht eine Systematisierung der Polnischkenntnisse, die Vermittlung von Bildungssprache und des Lesens und Schreibens in einer Weise, 70 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 wie sie von den Eltern in der Regel nicht geleistet werden kann. Die Wahrnehmung von Lernfortschritten und Selbstwirksamkeit im Polnischunterricht sowie engagierte und verständnisvolle Lehrkräfte, denen es gelingt, trotz der oft ungünstigen Rahmenbedingungen und der heterogenen Zusammensetzung der Lerngruppe einen motivierenden Unterricht zu gestalten, sind Faktoren, die sich fördernd auf den Erhalt und Ausbau der Herkunftssprache auswirken. In Anias und Kamilas Fall kommt erleichternd hinzu, dass sie die gelernten Dinge im Alltag und in Polen anwenden können und den Polnischunterricht somit als für sich persönlich relevant wahrnehmen. Das ist nicht bei allen Probanden unserer Studie so. Auch die positive Einstellung und Zufriedenheit der Eltern mit dem Polnischunterricht tragen vermutlich zu dieser Konstellation bei. Die untersuchten SuS sehen den persönlichen Wert ihrer Polnischkenntnisse v.a. für ihr unmittelbares familiäres Umfeld. Eventuelle Vorteile für ihre berufliche Zukunft werden v.a. von den Eltern und Lehrkräften angesprochen. Die im Beitrag erwähnten positiven Beispiele, wie im Fremdsprachenunterricht und in anderen Fächern an kulturelles und sprachliches Wissen über Polen und das Polnische einzelner Befragter angeknüpft wird, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es insgesamt doch eher Ausnahmen sind und dass einige SuS überhaupt keine Beispiele diesbezüglich nennen, ja sogar der Meinung sind, dass die Mehrheit ihrer Lehrenden nicht weiß, dass sie zu Hause noch eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Aus den Äußerungen der Befragten zum Polnischunterricht geht hervor, dass sie überzeugt sind, durch diesen Unterricht bewusster ihre Herkunftssprache zu lernen und gezielt „Problemstellen“ bearbeiten zu können. Dass sich durch den Unterricht das metasprachliche Bewusstsein der SuS in Bezug auf das Polnische erhöht, lässt sich daran ablesen, wie diese Lernenden sprachliche Schwierigkeiten beschreiben - im Vergleich zu Befragten, die keinen Polnischunterricht besuchen. Auffällig ist, dass sowohl die Jugendlichen als auch ihre Eltern sich bei der Einschätzung ihrer Kompetenzen im Polnischen stark an den Schulnoten orientieren; hinzu kommt der Vergleich mit anderen zweisprachig aufwachsenden Mitschülern. In den Interviews wurde sehr deutlich, dass viele Eltern versuchen, ihren Kindern möglichst viel Kontakt mit der polnischen Sprache und Anwendungsmöglichkeiten zu verschaffen und sie gezielt zur Beschäftigung mit der Herkunftssprache zu motivieren. Bei Alleinerziehenden und in Familien, in denen nur ein Elternteil Polnisch spricht, erfordert dies ungleich mehr Anstrengung. Die befragten Lehrerinnen unterrichten Polnisch als einziges Fach. Deshalb haben sie möglicherweise nur wenig Einblick, wie in anderen Schulfächern an die Polnischkenntnisse der SuS angeknüpft werden kann. Sie machen sich viele Gedanken über ihren Unterricht und sind beständig auf der Suche nach geeigneten Lehrmaterialien und -methoden. Im Interview nennen sie wenig konkrete Beispiele für Sprachvergleiche aus ihrem eigenen Unterricht und betonen ihr Bemühen um die - aus ihrer Sicht nachvollziehbare - Einsprachigkeit des Polnischunterrichts. Bei den Polnischlehrkräften handelt es sich um ausgebildete Polonistinnen, die nicht fachfremd unterrichten, wie das zum Teil im Unterricht für andere Herkunftssprachen der Fall ist. Zudem nutzen sie gezielt die zur Verfügung stehenden Fortbildungsangebote für Polnisch. Die Herkunftssprache Polnisch aus der Sicht von Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrenden 71 44 (2015) • Heft 2 6. Ausblick Die dargestellten Fälle von Ania und Kamila verdeutlichen, dass die zweisprachigen Ressourcen sowohl von Seiten der Jugendlichen und ihrer Eltern als auch der Polnischlehrkräfte als solche gesehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten genutzt werden. Ein anderes Bild zeigt der größere schulische Kontext; hier scheint die Mehrsprachigkeit der SuS trotz einiger weniger positiver Beispiele insgesamt nur eine geringe Rolle zu spielen, und selbst an aufgeschlossenen Schulen kommt es ‒ wenn auch sicher unbewusst ‒ zur Geringschätzung einzelner Sprachen und Stigmatisierung von Herkunftssprechern. Solange die durchaus vorhandenen schülerseitigen Potenziale kaum als wertvoll anerkannt werden und engagierte Lehrkräfte Einzelkämpferinnen sind, wird es wohl bei eher zufälligen Elementen fächerübergreifenden Lernens und Ansätzen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik bleiben, von einem Gesamtsprachencurriculum im Sinne von H UFEISEN (2011) ganz zu schweigen. Hier bleibt also noch viel zu tun. Ein Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Sprachen und Fächer könnte Einblicke in Anknüpfungsmöglichkeiten an die Kenntnisse der Polnisch lernenden SuS geben und es erleichtern, selbst Ideen für solche Bezugnahmen anzuregen. Die Arbeit mit dem Sprachenportfolio im Polnischunterricht wäre eine Gelegenheit, den SuS ihre individuellen Lernfortschritte zu verdeutlichen; Portfolios könnten ein sichtbarer Beweis für das sprachenübergreifende Lernen sein, wenn dabei Kenntnisse und Lernerfahrungen aus allen Sprachen Gegenstand der Reflexion wären. Bei sprachen- und fächerübergreifenden Projekten im schulischen Kontext könnte das Wissen von Herkunftssprechern gezielt genutzt werden. Voraussetzung dafür ist ein höheres Maß an Sensibilität im kommunikativen Umgang miteinander, was eine Wertschätzung der SuS und ihrer mitgebrachten Sprachen einschließt. Literatur A NSTATT , Tanja (2013): „Polnisch als Herkunftssprache: Sprachspezifische grammatische Kategorien bei bilingualen Jugendlichen“. In: K EMPGEN , Sebastian / W INGENDER , Monika / F RANZ , Norbert / J AKIŠA , Miranda (Hrsg.): Deutsche Beiträge zum 15. Internationalen Slavistenkongress, Minsk 2013. München: Otto Sagner, 15-25. D IRIM , Inci (2007): „Zur Notwendigkeit einer Sensibilisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Hinblick auf die Nutzung und Entwicklung von Mehrsprachigen im schulischen Bereich“. In: H UG , Michael / S IEBERT -O TT , Gesa (Hrsg.): Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 144-157. H ERDINA , Philip / J ESSNER , Ulrike (2002): A Dynamic Model of Multilingualism. Perspectives of Change in Psycholinguistics. Clevedon: Multilingual Matters. H U , Adelheid (2003): Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Tübingen: Narr. H UFEISEN , Britta (2011): „Gesamtsprachencurriculum: Überlegungen zu einem prototypischen Modell“. In: B AUR , Rupprecht S. / H UFEISEN , Britta (Hrsg.): „Vieles ist sehr ähnlich“ - Individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als bildungspolitische Aufgabe. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 265-282. 72 Grit Mehlhorn 44 (2015) • Heft 2 J AŃCZAK , Barbara (2013): Deutsch-polnische Familien: Ihre Sprachen und Familienkulturen in Deutschland und in Polen. Frankfurt/ M.: Lang. K NIFFKA , Gabriele / S IEBERT -O TT , Gesa (2007): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und Lernen. Paderborn: Schöningh. L AGNER , Patrycja (2013): Anspruch und Wirklichkeit: Herkunftssprachlicher Unterricht am Beispiel des Polnischen in Hamburg. Magisterarbeit. Universität Hamburg. L OEW , Peter Oliver (2014): Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland. München: C.H. Beck. L ÜTTENBERG , Dina (2010): „Mehrsprachigkeit, Familiensprache, Herkunftssprache“. In: Wirkendes Wort 60/ 2, 299-315. P OLINSKY , Maria (2015): „Heritage languages and their speakers: state of the field, challenges, perspectives for future work, and methodologies“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 26.1, 7-29. 44 (2015) • Heft 2 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag E LISABETH L ANGER * Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive Abstract. This paper gives an assessment of the role of language and literacy in content based subjects in Austrian schools. While the significance of integrating content and language in education has been widely acknowledged, both on the administrative level and in pre-serviceand in-service-teacher training, the implementation of language awareness in content based subjects and classes in schools is currently, at best, rudimental. The different approaches to complex topics on the one hand and their linguistic representation on the other, in language versus content subjects, are discussed; strategies to combine the didactics of both areas are proposed. The importance of bilingual instruction via Content and Language Integrated Learning (CLIL) as a means to bridge the gap between language and content instruction is emphasized and the special linguistic features of factual texts are outlined in order to show that appropriate training for all teachers is necessary. 1. Einleitung Das Lernen und Lehren an Schule und Hochschule erfolgt überwiegend durch das Medium der Sprache und die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten werden, zumindest soweit deklaratives Wissen betroffen ist, weitgehend mit sprachlichen Mitteln im Gedächtnis gespeichert. Der Zusammenhang zwischen Gehirn, Geist und Sprache ist aktuell ein wichtiger Forschungsgegenstand der Neuropsychologie. Dabei wurden in jüngster Vergangenheit einige Thesen, die das Sprachenlernen betrafen, widerlegt. Für die vorliegende Arbeit ist vor allem von Interesse, dass im Gegensatz zu früheren Theorien gezeigt werden konnte, dass Sprachenlernen und Sprachhandeln als solches im Gehirn nicht streng lokalisiert sind, sondern viele Regionen involvieren und diese miteinander vernetzen (B ÖCKMANN 2008 und dort zitierte Literatur). Darüber hinaus deuten die Forschungsergebnisse darauf hin, dass kompetente Mehrsprachige mentale Vorteile haben, die darauf zurückgeführt werden, dass bewusstes „Code Switching“ zwischen den Sprachen Konzentration erfordert und diese somit auch trainiert (B IALYSTOCK 2001). Daraus lässt sich ableiten, dass sprachliches und fachliches Lernen aus neurowissenschaftlicher Sicht in enger Verflechtung erfolgen, und dass eine * Korrespondenzadresse: Mag. Dr. Elisabeth L ANGER , Universität Wien, Fakultät für Chemie, Steingasse 5/ 10, 1030 W IEN . E-Mail: elisabeth.l.langer@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Chemiedidaktik, DaZ im Fachunterricht, Wissenschaftliches Schreiben. 74 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 Berücksichtigung des sprachlichen Repertoires der Schüler/ -innen bei der Erarbeitung fachinhaltsbezogener Konzepte das Lernen unterstützen kann. Der vorliegende Beitrag möchte einerseits skizzieren, in welcher Weise die zentrale Rolle der Sprache(n) für den Erwerb fachlicher Kompetenz in Sachfächern prinzipiell berücksichtigt und genutzt werden sollte und wie die erforderliche Sprach- und Textkompetenz im Unterricht aufgebaut werden kann. Dies soll mithilfe der einschlägigen Literatur aufgezeigt und anhand typischer Unterrichtssituationen und Aufgabenstellungen illustriert werden. Andererseits soll umrissen werden, welche positiven Ansätze es (in Österreich) bereits gibt, Sprachaufmerksamkeit und Mehrsprachigkeit in den Unterricht nicht-sprachlicher Fächer zu integrieren. Solche Initiativen sind auf der Ebene der Lehrer/ -innenaus- und -fortbildung an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen durchaus vorhanden, das Angebot ist jedoch nicht flächendeckend und nicht verbindlich. Einzelne Konzepte, die teilweise ergänzend Literatur und Materialien auf Webplattformen anbieten, sollen beispielgebend vorgestellt werden. Neben Fortbildungsveranstaltungen gibt es für praktizierende Lehrkräfte die Möglichkeit, im Rahmen von Aktionsforschungsprojekten die Unterstützung von Expert(inn)en in Anspruch zu nehmen, um die eigene Professionalität hinsichtlich eines sprachaufmerksamen Fachunterrichts zu steigern. 1 Schließlich bleibt noch zu fragen, in welcher Weise Mehrsprachigkeit im Unterricht nicht-sprachlicher Fächer berücksichtigt werden könnte bzw. sollte und welcher Umgang mit Mehrsprachigkeit im Sachfachunterricht (SFU) an Österreichs Schulen gepflegt wird. 2. Sprachliches und fachliches Lernen in der Schule - Problemaufriss Der (Fremd-)Sprachenunterricht ist nicht Gegenstand dieser Arbeit, aber seine Umsetzung im österreichischen Schulwesen wird überblicksartig skizziert, um einen Vergleich mit dem SFU zu ermöglichen und Ansätze einer Kooperation zwischen diesen unterschiedlichen Fachgruppen darstellen zu können. In der schulischen Praxis kommt dem Sprachunterricht - nicht nur in Österreich - eine besondere Bedeutung zu: Sowohl über die gesamte Sekundarstufe summiert als auch auf jeder beliebigen Schulstufe ist die Menge jener Unterrichtsstunden, in denen die Landessprache oder eine Fremdsprache gelehrt wird, normalerweise größer als die Anzahl der Stunden jeder anderen Fachgruppe. 2 Auch werden an allen Schultypen ein- oder mehrstündige schriftliche Prüfungsarbeiten („Schularbeiten“) zur Leistungsbeur- 1 Eine organisatorische Maßnahme, die einen Rahmen bietet, um einen sprachaufmerksamen Fachunterricht an einzelnen Standorten und/ oder in einzelnen Regionen zu implementieren, liefert eine Qualitätssicherungs- und Schulentwicklungsinitiative des österreichischen Bildungsministeriums: SQA - Schulqualität Allgemeinbildung; http: / / www.sqa.at/ (28/ 02/ 2015). 2 Die vom Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF) im Verordnungsweg veröffentlichten Lehrpläne enthalten Stundentafeln, die Mindeststundenzahlen festlegen: https: / / www.bmbf.gv.at/ schulen/ unterricht/ lp/ lp_abs.html (28/ 02/ 2015). Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive 75 44 (2015) • Heft 2 teilung herangezogen, was als weiteres Indiz für den hohen Stellenwert der Sprachfächer gesehen werden kann. Diese Rolle des Sprachunterrichts ist wohl auf die Bedeutung der Sprache für menschliche Kommunikation auf allen Ebenen zurückzuführen, könnte aber auch damit begründet werden, dass Lernen und Lehren allgemein überwiegend durch das Medium der Sprache erfolgt, und dass Information aus allen Fachbereichen über sprachliche Medien gespeichert wird und von dort abgerufen werden kann. Dabei ist festzuhalten, dass kognitiver Anspruch und Komplexität der verwendeten Sprache mit dem inhaltlichen Niveau des vermittelten Fachwissens steigen, sodass ein Zuwachs an Sprachkompetenz zusammen mit fachinhaltsbezogener Kompetenz vermittelt werden muss - eine Aufgabe, die vor allem der Sachfachunterricht selbst zu leisten hat (vgl. L EISEN 2004). Hier soll nicht einer Reduktion von Unterrichtszeit im einen Bereich zugunsten des anderen das Wort geredet werden, wohl aber möchte ich aufzeigen, wo und wie Sprachunterricht und SFU besser kooperieren könnten und sollten bzw. wie ein Paradigmenwechsel in Richtung einer Berücksichtigung der in den Klassen vorhandenen Sprachenvielfalt in beiden Fachbereichen zu mehr Chancengleichheit und einer verbesserten Nutzung des Bildungspotenzials der mehrsprachigen Jugendlichen in deutschsprachigen Ländern führen könnte. Welche Parallelen und/ oder Gegensätze tun sich bei einem Vergleich der Unterrichtspraxis im Sprachbzw. Sachfachunterricht auf? Es ist bereits betont worden, dass Fachinhalte über das Medium der „Bildungssprache“ (G OGOLIN / L ANGE 2011) gelehrt und daher auch gelernt werden müssen. Auf der anderen Seite werden Sprache(n) über teilweise deutlich fachbezogene Themen bzw. Inhalte vermittelt. Aufgabenorientierung (Task-based language learning, TBLL) und der Ansatz Focus on Form (FoF) (N UNAN 2004; S HEEN 2002) sind Beispiele didaktischer Konzepte, die darauf abzielen, den Lernenden (meta)sprachliche Mittel im Wege ausgewählter Themen und Kommunikationssituationen an die Hand zu geben. Die Absicht, auf diese Weise authentisches Sprachhandeln zu initiieren und durch die Bereitstellung und den Gebrauch der sprachlichen Werkzeuge die dafür nötigen Kompetenzen aufzubauen, kann freilich nur gelingen, wenn es sich bei den Aufgabenstellungen nicht um mit attraktiven Titeln versehene Sprachübungen handelt. Die ausführliche Analyse dessen, was im Sinne des TBLL unter „Aufgaben“ zu verstehen sei, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Es bleibt jedoch anzumerken, dass im Wesentlichen (schriftliches oder mündliches) Sprachhandeln in wechselnden Kommunikationskontexten erprobt und erlernt werden soll und dass die fachliche Verankerung und Tiefe von Themen und Texten nicht im Vordergrund stehen kann. Eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit oft sehr komplexen Themen (z.B. Globalisierung, Klimawandel, Gentechnologie …) kann jedoch aus fachlicher Perspektive das Entstehen von ‚Scheinbildung‘ und falschen Vorstellungen fördern. Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, inwieweit dieser handlungsorientierte Ansatz tatsächlich Eingang in die Schulpraxis gefunden hat. Eine breit angelegte empirische Studie dazu liegt nicht vor, doch deuten Diplomarbeiten an Instituten für Fremdsprachendidaktik an österreichischen Universitäten darauf hin, dass im Fremdsprachenunterricht eine hohe Bereitschaft der Lehrpersonen besteht, 76 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 diese zeitgemäßen Unterrichtsformen auch umzusetzen (vgl. z.B. F RIEDL 2012; N IE - DERMAYR 2014), was zweifellos auch durch die Implementierung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER 2001), die Bildungsstandards E8 (ÖSZ 2009) und die neuen österreichischen Reifeprüfungsvorschriften (BMBF 2015) motiviert ist. Auf der anderen Seite stellt die sprachliche Komplexität von Sach- und Fachtexten im SFU vielfach eine Schwierigkeit beim Erwerb von Fachkompetenz durch die Schüler/ -innen dar. Dies gilt insbesondere für Zweitsprachenlernende. Ein hinreichendes Bewusstsein für die Rolle der Sprache im Fachunterricht fehlt den Sachfachlehrkräften jedoch noch weitgehend (S CHMÖLZER -E IBINGER et al. in Vorbereitung). 3 Dem Sprachunterricht mangelt es somit häufig an einer vertieften Auseinandersetzung mit den fachlichen Aspekten der behandelten Themen, während im SFU fachbezogene Sprachkompetenz zwar (zumindest in der Sekundarstufe II) eingefordert, jedoch kaum im Unterricht gefördert wird. Eine engere Kooperation von Fach- und Sprachunterricht birgt demnach die Chance, beiden Problemen adäquat zu begegnen. Fächerübergreifender Unterricht scheitert jedoch leider häufig an den Gegebenheiten des Schulalltags (z.B. rigide Stundenpläne), und Teamteaching wird nur sehr eingeschränkt finanziert. Hier könnte schon eine verbesserte Kommunikation der Lehrkräfte hilfreich sein, indem von Sachfachlehrkräften ausgewählte Texte auch im Sprachunterricht bearbeitet würden. Vor allem aber könnte und sollte Schulentwicklung in diesem Punkt ansetzen, um die strenge Trennung der Fächer dort aufzulösen, wo dies auf Seiten der Schüler/ -innen einem Kompetenzerwerb in fachlicher und sprachlicher Hinsicht im Wege steht. Sowohl im Sprachunterricht als auch im SFU ist eine Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, die im Alltag der Schüler/ -innen gelebte Praxis ist, eher die Ausnahme denn die Regel. Es liegt in der Natur der Sache, dass Ansätze dazu freilich sehr viel eher im Sprachunterricht zu verzeichnen sind. Vor allem wird im additiven Förderunterricht „Deutsch als Zweitsprache“ auf die unterschiedlichen Herkunftssprachen Bezug genommen. 4 Im SFU muss eine Umsetzung der weiter unten dargestellten Möglichkeiten, die sprachliche Vielfalt in den Klassen für das fachliche Lernen zu nutzen, erst erfolgen. 3. Sprache im SFU Im Folgenden wird nun auf Unterrichtskonzepte eingegangen, die sprachliches und fachliches Lernen verbinden, und im Anschluss deren praktische Umsetzung an österreichischen Schulen diskutiert. 3 Auf sprachaufmerksamen Sachfachunterricht wird weiter unten eingegangen (vgl. Abschnitt 3.2). 4 Eine umfangreiche Sammlung von Methoden, Materialien und Medien dafür bietet das Bildungsministerium: http: / / www.schule-mehrsprachig.at/ (28/ 02/ 2015). Auf dieser Website wurden auch seit 2006/ 07 Schulprojekte zum Thema „Interkulturalität und Mehrsprachigkeit“ dokumentiert. Im Laufe von acht Schuljahren wurden aus ganz Österreich und von allen Schultypen - jedoch überwiegend von der Grundschule - 577 Projekte registriert, wobei Mehrsprachigkeit als solche nur ein Thema unter mehreren darstellt. Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive 77 44 (2015) • Heft 2 3.1 Bilingualer SFU Content and Language Integrated Learning (CLIL) ist ein nicht nur in Österreich und im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitetes und beliebtes Konzept, das sich überwiegend auf die Fremdsprache Englisch bezieht und vor allem in Biologie, Geografie und Geschichte zum Einsatz kommt (vgl. D OFF 2010). Die Frage, inwieweit ein solcher Unterricht sprachliche bzw. fachliche Kompetenzentwicklung fördert, gilt in Hinsicht auf die Sprache als wissenschaftlich bejaht, wird hingegen in Bezug auf das fachliche Lernen kontrovers diskutiert (vgl. z.B. V OLLMER 2008). Neuere Arbeiten (B ONNET 2007; H AAGEN -S CHÜTZENHÖFER et al. 2011; L ANGER / N EUMANN 2012; R IT - TERSBACHER 2009) belegen freilich, dass CLIL auch in Fächern wie Physik und Chemie so eingesetzt werden kann, dass sowohl ein sprachlicher als auch ein fachbezogener Kompetenzzuwachs erfolgt. Im Rahmen der Schulpraxis wird am bilingualen Unterricht jedoch von beiden Seiten Kritik geübt 5 : Während Sachfachlehrkräfte häufig meinen, bilingualer Unterricht gehe auf Kosten der Fachinhalte, befürchten Sprachlehrer/ -innen, nicht hinreichend sprachkompetente Unterrichtende in den Sachfächern könnten ein Einüben insbesondere von Transferfehlern verursachen. Gegen CLIL in multilingualen Klassen wird der Einwand vorgebracht, dass Zweitsprachenlernende teilweise schon durch die Unterrichtssprache überfordert seien, man möge ihnen also nicht SFU in einer Fremdsprache zumuten. 6 L ANGER / N EUMANN (ebd.: 94) argumentieren dagegen, dass gerade Lerner/ -innen mit einer anderen Herkunftssprache von CLIL profitieren können: „Second language learners (SLLs) are especially disadvantaged in science lessons since their proficiency in the schools’ first language is often limited to BICS 7 . This drawback ceases to exist if a language that is foreign to all students is the medium of instruction. Moreover, SLLs are used to switching languages easily helping them to cope with the bilingual approach.“ Vor allem betonen L ANGER / N EUMANN (ebd.: 93f.), dass der Einsatz einer Fremdsprache im SFU bei Unterrichtenden und Unterrichteten das Bewusstsein dafür schafft, dass der sprachlichen Formulierung der Fachkonzepte Beachtung geschenkt werden müsse. CLIL bildet somit eine Brücke zu Sprachaufmerksamkeit im SFU unabhängig von der Sprache, in der der Unterricht erfolgt. Darüber hinaus wird an dieser Stelle (ebd.: 95) darauf hingewiesen, dass der CLIL-Unterricht durch Einbeziehung der verschiedenen in der Klasse vertretenen Erstsprachen bereichert werden kann. Unter- 5 Aussagen über Einschätzungen der österreichischen Lehrkräfte wie diese gründen hauptsächlich auf persönlichen Erfahrungen als Lehrerin bzw. Schulleiterin und meinen Einsatz in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen an Pädagogischen Hochschulen in mehreren Bundesländern. Diese Einschätzungen sind also nicht durch Befragungen statistisch belegt, werden aber hier im Zusammenhang mit Untersuchungsergebnissen wiedergegeben, weil sie die Situation im schulischen Alltag illustrieren und zum Verständnis der Untersuchungen beitragen. 6 Dieser Vorbehalt wurde sowohl im Rahmen meiner Unterrichtspraxis als auch während von mir gestalteter Fortbildungen wiederholt geäußert. 7 BICS steht für Basic Interpersonal Communication Skills - im Gegensatz zu CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) (C UMMINS 1979). Die für die vorliegende Arbeit nicht relevanten Literaturangaben im direkten Zitat sind weggelassen. 78 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 richtskonzepte und -materialien für den bilingualen Naturwissenschaftsunterricht finden sich auf der Website einer Comenius-Schulpartnerschaft 8 , auf die die Arbeit von L ANGER / N EUMANN verweist. Bilinguale Programme im SFU werden an zahlreichen Schulen Österreichs angeboten. Bilingual unterrichtende Schulen in Wien werden vom Stadtschulrat unterstützt. 9 3.2 Sprachaufmerksamer SFU Die Begriffe „Sprachsensibilität“, „Sprachbewusstsein“ und „Sprachaufmerksamkeit“ werden mehr oder weniger synonym eingesetzt. In dieser Arbeit wird im Einklang mit S CHMÖLZER -E IBINGER et al. (2013) der Terminus „Sprachaufmerksamkeit“ verwendet. „Jeder Unterricht ist Sprachunterricht! “ ist eine mittlerweile vielzitierte Binsenweisheit, und doch ist die Erkenntnis dieses Umstands im österreichischen Schulwesen noch recht jung. Für Schüler/ -innen mit von der Unterrichtssprache verschiedenen Herkunftssprachen und/ oder Schüler/ -innen aus bildungsfernen Bevölkerungsschichten bildet das im schulischen Fachunterricht der Sekundarstufe zum Tragen kommende bildungssprachliche Register (vgl. G OGOLIN / L ANGE 2011) eine Hürde, die oftmals ein Verfehlen des Schulerfolgs nach sich zieht. Wie kann diesem Problem begegnet werden, und was wird tatsächlich getan, um fachbezogene Sprachkompetenz im SFU aufzubauen? Um sich mit dieser Frage auseinandersetzen zu können, müssen die sprachlichen Anforderungen des SFU näher beleuchtet werden. Dazu sei zunächst ein kurzer Textausschnitt aus einem Schulbuch für den Unterrichtsgegenstand „Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung“ für die 8. Schulstufe herangezogen: Im November 1918 ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Am 3. November 1918 unterzeichnete Österreich-Ungarn den Waffenstillstandsvertrag mit den Siegermächten, am 11. November 1918 folgte das Deutsche Reich. Im Jänner 1919 begannen in mehreren Vororten von Paris die Friedensverhandlungen (= Pariser Vororteverträge), an denen nur die Siegermächte teilnahmen: Die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien führten die Verhandlungen an. Die Siegermächte beschlossen die Friedensbedingungen ohne Beisein der Verliererstaaten (= die Mittelmächte: Bulgarien, das Osmanische Reich, das Deutsche Reich, Österreich, Ungarn). Diese waren von den Verhandlungen ausgeschlossen und durften zu den Friedensbedingungen nur schriftlich Stellung nehmen. Sie mussten - laut Friedensverträgen - die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg übernehmen und für Kriegsschäden aufkommen (= Reparationszahlungen). H OFER , Jutta / P AIREDER , Bettina (2012): Netzwerk Geschichte @politik 4, Linz: Veritas, S. 6. Dieser Text wirkt auf den ersten Blick einfach, und tatsächlich werden einige übliche Kennzeichen von Sachtexten, wie z.B. lange und komplexe Sätze, unpersönliche For- 8 http: / / sciencemaths-clil.eu/ (28/ 02/ 2015) 9 http: / / www.stadtschulrat.at/ bilingualitaet/ catid18/ (28/ 02/ 2015) Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive 79 44 (2015) • Heft 2 mulierungen oder Nominalphrasen, weitgehend vermieden. Nicht vermieden werden Fachbegriffe und - teils auch mehrgliedrige - Komposita (Waffenstillstandsvertrag). Vor allem aber ist diese kurze Passage auf der Textebene herausfordernd, einerseits durch die Herstellung von Kohärenz („unterzeichnete Österreich-Ungarn …, … folgte das Deutsche Reich.“), in erster Linie aber durch eine inhaltliche Verdichtung, die sich unter anderem in den Klammerausdrücken manifestiert. Diese verlangen ein vertieftes Textverständnis und die Fähigkeit zur Textinterpretation (Verhandlungen >> Verträge; für Kriegsschäden aufkommen >> Reparationszahlungen). Das gewählte Beispiel soll nicht nur einige Kennzeichen von im SFU üblichen Sachtexten aufzeigen, sondern auch deutlich machen, dass eine Beurteilung der Angemessenheit eines Textes einer genauen Analyse bedarf, die von den Fachlehrkräften häufig nicht geleistet werden kann. Viele Sachfachlehrer/ -innen pflegen in der eigenen Sprachverwendung ein hohes Niveau, die metasprachlichen Fähigkeiten zur Weitergabe fachbezogener Sprachkompetenz fehlen ihnen aber, sodass Schüler/ -innen - besonders solche mit anderen Erstsprachen - teilweise sprachlich überfordert sind. Dies sei an einem Unterrichtstranskript 10 illustriert: 1. L: Wie die Auftrennung funktioniert; 2. Wissen wir, 3. Dann gelangt die mobile Phase; 4. Mit den einzelnen Komponenten in den Detektor; 5. U: nd Detektoren gibt es auf verschiedene Art. (-) 6. Aber; (-) 7. Die Detektion beruht darauf; 8. Dass sich die Eigenschaft der mobilen Phase in irgendeiner Weise ändert. 9. Meistens ist es entweder die Leitfähigkeit; 10. Die elektrische Leitfähigkeit 11. Oder die Wärmeleitfähigkeit; 12. Oder auch die Dichte. 13. Da: s wird gemessen 14. Und diese Änderung wird aufgezeichnet 15. Und macht sich dann als Peak bemerkbar. Chemie, 11. Schulstufe, Schultyp: Realgymnasium; L: Lehrkraft Andere Lehrpersonen setzen bewusst eine einfache Sprache ein, um eine solche Überforderung zu vermeiden, lassen dabei aber unbeachtet, dass Fachkompetenz fachbezogene Sprachkompetenz einschließt. Auch hierzu ein Beispiel aus dem Chemie-Unterricht: 10 Die Unterrichtstranskripte stammen von Unterrichtsvideos, die im Rahmen des vom Bildungsministerium finanzierten Forschungsprojekts „Didaktisches Coaching für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen“ (2010-2012) aufgenommen wurden (S CHMÖLZER -E IBINGER et. al. 2013). Die Transkription erfolgte nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT 2 (S ELTING et al. 2009). Der Projektbericht ist als Download verfügbar: https: / / www.bmbf.gv.at/ schulen/ unterricht/ ba/ dic_bericht_lang_24484.pdf? 4dz gm2 (28/ 02/ 2015). 80 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 1. L: Nur (.) der Kompressor funktioniert so: (.) 2. dass er die Luft rAUSzieht (3 sec) 3. so 4. dass ist eine Waa: ge (.) 5. die ziemlich genau (-) 6. ah: 7. Sw: [Frau Professor] 8. L: isT Ja: 9. Und (.) des is so wie eine moderne Küchenwaage 10. I kann was drauflegen 11. so wie´n ä Kuli jetzt vom (.) Sergio 12. und wenn ich da wieder drauf drücke 13. dann (.) sagt er wieder Null an gä: 14. Sm: [null: ] 15. L: ok 16. jetzt zeigt er wieder Null an 17. zeigt sie wieder Null an Chemie, 9. Schulstufe, Schultyp: Handelsakademie; L: Lehrkraft; Sm: Schüler; Sw: Schülerin Tatsächlich sollten die Lehrkräfte eine „konzeptionell schriftliche Sprachverwendung“ (K OCH / O ESTERREICHER 1994) auf angemessenem Niveau pflegen und die Schüler/ -innen durch die Wahl der Unterrichtsmethoden zu fachbezogener Textkompetenz hinführen, weil die rezeptive und produktive Arbeit mit und an Sachtexten im SFU von zentraler Bedeutung ist. Aus dem didaktischen Fokus auf Kompetenzorientierung auch bei den Aufgabenstellungen der neuen österreichischen Reifeprüfung ergibt sich ein deutlich gestiegener Anspruch an die Textkompetenz der Schüler/ -innen. Textkompetenz wird als Fähigkeit verstanden, „Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen“ (P ORTMANN -T SELIKAS 2002: 14; vgl. auch S CHMÖLZER -E IBINGER / L ANGER (in Vorbereitung)). Textkompetenz entspricht dem anglophonen „Literacy“ (K ERN 2000), doch fokussiert der Begriff Textkompetenz stärker auf das Lesen und Schreiben von Texten, während „Literacy“ heute vor allem in Form verschiedener Unterbegriffe (Academic Literacy, Scientific Literacy, Media Literacy) gebraucht wird und in weiterem Sinne die Fähigkeit zur Partizipation an schriftsprachlich geprägter Kommunikation bedeutet. Forschungsbasierte Konzepte und Modelle für einen sprachaufmerksamen SFU im Einzelnen darzulegen, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Wie die Hinführung zu einer fachbezogenen und fächerübergreifenden Textkompetenz gelingen kann, wird beispielgebend durch das 3-Phasen-Modell von S CHMÖLZER -E IBINGER (2008/ 2011) aufgezeigt. Dazu sind auch zahlreiche Unterrichtsmaterialien zu Geschichte und natur- Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive 81 44 (2015) • Heft 2 wissenschaftlichen Fächern verfügbar (vgl. ebda.; L ANGER / S CHMÖLZER -E IBINGER 2009; L ANGER 2010; H ELTEN -P ACHER 2012; S CHMÖLZER -E IBINGER et al. 2013). Weitere Konzepte und Modelle werden bei S CHMÖLZER -E IBINGER et al. (2013: 53-92) eingehend beschrieben. Welche Initiativen gibt es nun, um die Umsetzung eines sprachaufmerksamen SFU zu fördern? Im Bereich der Forschung und Lehre an österreichischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen sind in jüngerer Vergangenheit mehrfach Untersuchungen und Projekte durchgeführt worden, die sich mit der Rolle der Sprache im SFU auseinandersetzen. Ergebnisse des bereits erwähnten Projekts „Didaktisches Coaching für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen“ sind „Sieben Leitlinien für den Sprachaufmerksamen Unterricht“ (S CHMÖLZER -E IBINGER et. al. 2014: 22-52), Analyseinstrumente für den Sprachgebrauch von Lehrkräften sowohl in der Selbstreflexion (ebd.: 106-119) als auch in der Unterrichtsbeobachtung (ebd.: 124-146) und ein Curriculum für die Ausbildung zum Sprachfördercoach für den SFU. Diese Ausbildung wurde bislang nicht finanziert, wohl aber wurden wiederholt Seminareinheiten aus dem Curriculum in der Lehrer/ -innenfortbildung angeboten. In der didaktischen Aus- und Fortbildung gibt es zahlreiche Initiativen, Lehrpersonen das methodische Rüstzeug für einen sprachaufmerksamen SFU an die Hand zu geben. Lehrveranstaltungen, die sich gezielt an Sachfachlehrkräfte wenden, werden vor allem in der schulinternen Lehrer/ -innenfortbildung angeboten, beschränken sich jedoch meist auf Einzelveranstaltungen. Der Lehrgang „Deutsch als Zweitsprache“, den die Pädagogische Hochschule Wien anbietet, ist offen für Lehrkräfte aller Fächer und Schultypen der Sekundarstufe und wird in steigendem Ausmaß auch von Sachfachlehrkräften absolviert. In diesem dreisemestrigen Lehrgang nehmen Themen wie „Literale Kompetenz“, „Sprachaufmerksamer Unterricht in allen Fächern“ und fachunabhängige Konzepte und Methoden, wie die durchgängige sprachliche Bildung (G OGOLIN / L ANGE 2011) oder das scaffolding (G IBBONS 2002) einen breiten Raum ein. Besonders hervorzuheben ist die Initiative des Österreichischen Sprachenkompetenzzentrums (ÖSZ), das eine eigene Arbeitsgruppe für den sprachaufmerksamen Fachunterricht eingerichtet hat. Im Rahmen des Projekts „CHAWID - Chancengerechte Wissensvermittlung in Deutsch“ wurde eine beeindruckende Menge an Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I und zahlreiche Fächer erstellt. Die Materialien sind sehr übersichtlich gestaltet und stellen eine tabellarische Information zu allen für den Einsatz im Unterricht relevanten Aspekten voran. Insbesondere werden die durch die Aufgabe geförderten, fachbezogenen sprachlichen Kompetenzen präzisiert. So heißt es z.B. in einer Mathematik-Aufgabe für die 8. Schulstufe: „Einem anspruchsvollen Sachtext die wesentlichen Inhalte zur Lösung einer Aufgabenstellung entnehmen können. Zusammengesetzte Nomen (=Komposita).“ 11 Die Unterrichtsbeispiele sind in einem Webportal 12 des ÖSZ gesammelt, das dar- 11 http: / / www.oesz.at/ sprachsensiblerunterricht/ materialienliste_02.php? kat=%25 (28/ 02/ 2015); Aufgabenbeispiel: Mathematik - Geothermale Energie. 12 http: / / www.oesz.at/ sprachsensiblerunterricht/ main_02.php (28/ 02/ 2015) 82 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 über hinaus didaktische Werkzeuge, Informationen zu Lehrveranstaltungen und eine Liste relevanter Literatur anbietet. Beginnend mit dem Schuljahr 2014/ 15 führt das ÖSZ einen zweisemestrigen Lehrgang „Sprachsensibler Fachunterricht“ für Sachfachlehrkräfte durch. Erwähnt werden soll ferner der österreichische Projektverbund IMST („Innovationen Machen Schulen Top“ - eine Initiative des BMBF zur Weiterentwicklung und Unterstützung des österreichischen Schulunterrichts), die an der Universität Klagenfurt verortet ist. Im Rahmen von IMST existieren vier Themenprogramme, deren Auftrag es ist, von Lehrkräften durchgeführte Aktionsforschungsprojekte auf Schulebene zu unterstützen. Diese Projekte sind jeweils auf ein Schuljahr angelegt und werden seitens der Projektnehmer/ -innen mit einem Projektbericht abgeschlossen. Die Berichte werden in einem Webportal 13 gesammelt. Eines der Themenprogramme fokussiert auf Lesen und Schreiben: „Schreiben, Lesen, Literatur - differenziert, kompetenzorientiert, fächerübergreifend“. Aber auch im Themenprogramm „Kompetenzen im mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“ ist die Förderung fachbezogener Sprachkompetenz ein wichtiges Ziel. Dies gilt insbesondere für Sachunterrichtsprojekte in der Grundstufe (vgl. z.B. R AINER 2014). 3.3 Mehrsprachigkeit als Ressource im SFU Sprachaufmerksamer Fachunterricht zielt - wie weiter oben dargestellt - einerseits darauf ab, fachbezogene Sprachkompetenz in der Landes- und Unterrichtssprache aufzubauen. Andererseits nützt er die Mehrsprachigkeit vieler Lernender als Ressource. Ein Unterricht, der beiden Forderungen umfassend gerecht wird, muss jedoch als Utopie bezeichnet werden, und auch eine nur weitgehende Realisierung der genannten Prinzipien erfolgt in österreichischen Schulen der Sekundarstufe derzeit nur in Einzelfällen. Gleichzeitig nimmt die Menge der Schüler/ -innen mit von der Unterrichtssprache verschiedenen Herkunftssprachen selbst in der Sekundarstufe II zu, was zu sprachlichen Verständnisproblemen im Unterricht führt, aber zugleich auch ein steigendes Problembewusstsein auf allen Ebenen des Schulwesens bewirkt. Der „monolinguale Habitus der multilingualen Schule“, den G OGOLIN (1994/ 2008) für Deutschland konstatiert hat, wird von G OMBOS (2008) für Österreich bestätigt. Dennoch ist in den letzten Jahren der mehrsprachigen Gesellschaft besonders im Bereich der Schule vermehrt Beachtung geschenkt worden: Institutionen wie das ÖSZ und das European Centre for Modern Languages (ECML) in Graz nehmen sich der Thematik Sprachaufmerksamkeit und Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit im Unterricht aller Fächer verstärkt an. So lautet etwa der Titel des aktuellen Arbeitsprogramms des ECML „Languages at the Heart of Learning/ Les langues au cœur des apprentissages“. Synergien zwischen sprachlichem und fachinhaltsbezogenem Lernen stehen 13 https: / / www.imst.ac.at/ imst-wiki/ index.php/ Hauptseite (28/ 02/ 2015) Sprache(n) im Fachunterricht - die österreichische Perspektive 83 44 (2015) • Heft 2 ausdrücklich im Fokus dieses Programms. Einer der thematischen Bereiche für Projekteinreichungen ist „Inclusive, plurilingual and intercultural education in practice“ 14 . Eine umfassende Betrachtung der Rolle der Mehrsprachigkeit im Unterricht bietet das „Curriculum Mehrsprachigkeit“ (K RUMM / R EICH 2011; R EICH / K RUMM 2013) das auf dem österreichischen LEPP-Prozess (Language Education Policy Profiling) 15 beruht. Dieses Curriculum definiert für alle Schulstufen von der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe II fächerübergreifende Lernziele, die die Entwicklung einer Mehrsprachigkeitskompetenz unterstützen. Die Förderung einer Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit auch im SFU ist ausdrückliches Ziel des Curriculums. Die darin vorgeschlagenen konkreten Unterrichtsmethoden eignen sich freilich überwiegend für den Einsatz im Sprachunterricht. Das ÖSZ hat im Auftrag des Bildungsministeriums ein Rahmenmodell „Basiskompetenzen Sprachliche Bildung für alle Lehrenden“ 16 für Lehramtsstudierende aller Fächer erstellt. Dessen praktische Umsetzung wurde jedoch bislang nicht finanziert. Möglichkeiten, Mehrsprachigkeit im SFU einzusetzen, skizziert L ANGER (2014). Methoden und Konzepte aus dem Sprachunterricht, dem CLIL-Unterricht und dem Deutschsprachigen Fachunterricht (DFU) werden auf ihre Eignung zur Anwendung im SFU geprüft. Zu den ausgewählten Möglichkeiten gehören das Auflegen von Lehrbüchern in den Herkunftssprachen der Schüler/ -innen, mehrsprachige Fachwortlisten, Tabellen und Diagramme und mehrsprachige Textproduktion (ebd.: 50). Diese Aktivitäten gelangen vereinzelt auch zum Einsatz im SFU. Darüber hinaus wird angeregt, Schüler/ -innen zur Recherche in mehreren Sprachen zu ermutigen, Sprachreflexion und Sprachvergleiche zu fördern und zur Überarbeitung und Optimierung multilingualer Arbeiten der Lernenden sprachhomogene Peergruppen einzurichten (ebd.: 51-53). Die Autorin weist darauf hin, dass die Förderung einer derartigen Mehrsprachigkeitskultur Gegenstand von Schulentwicklungsvorhaben sein könnte. 4. Desiderata für Forschung und Lehre Aus dieser Betrachtung der Rolle der Sprache im SFU ergeben sich mehrere Desiderata für die didaktische Forschung. Einerseits sollten die existierenden Konzepte und Modelle für sprachaufmerksamen SFU (G OGOLIN / L ANGE 2011; S CHMÖLZER -E IBINGER et al. 2013: 53-92) ergänzt und erweitert werden, andererseits müsste dort, wo diese zum Einsatz kommen, eine Evaluation ihrer Wirksamkeit und Effizienz erfolgen. Vor allem aber sollte sich die Lehrer/ -innenaus- und -fortbildung verstärkt des Themas annehmen, und die Umsetzung eines sprachaufmerksamen SFU in den Schulen müsste gefördert werden. Hier wäre zu fordern, dass sowohl das Rahmenmodell „Basiskompetenzen 14 http: / / call.ecml.at/ Call201619/ Themesforopenprojectproposals/ tabid/ 3799/ language/ en-GB/ Default. Aspx#1 (28/ 02/ 2015) 15 http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ Linguistic/ Source/ Austria_CountryReport_final_DE.pdf (28/ 02/ 2015) 16 http: / / www.oesz.at/ download/ Rahmenmodell_Basiskompetenzen_21_1_2014.pdf (28/ 02/ 2015) 84 Elisabeth Langer 44 (2015) • Heft 2 Sprachliche Bildung für alle Lehrenden“ 13 implementiert wird als auch das forschungsbasiert ausgearbeitete Konzept der Sprachfördercoaches (S CHMÖLZER -E IBINGER et al. 2013, 2014) in den Schulen zum Einsatz kommt. Literatur B IALYSTOK , Ellen (2001): Bilingualism in Development. Language, Literacy, and Cognition. Cambridge: Cambridge University Press. 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In the Benelux countries multilingualism is the norm rather than the exception. After some information on the sociolinguistic situation in Belgium, the Netherlands and Luxemburg the concept of multilingual education is discussed. It is suggested that Content and Language Integrated Learning (CLIL) has several advantages compared with traditional foreign language teaching: namely, the development or fostering of plurilingualism, pluriculturalism, content knowledge and social inclusion. With these goals in mind, the situation of multilingual education in the three countries is examined, showing similarities, differences and future perspectives. 1. Einführung Auch in den Beneluxländern wird der Umgang mit Mehrsprachigkeit heutzutage großenteils von der Sprachenpolitik in der Europäischen Union mitbestimmt. So wurde schon 1995 die Bedeutung der (individuellen) Mehrsprachigkeit der europäischen Bevölkerung im Weißbuch der Europäischen Kommission Teaching and Learning: Towards the Learning Society (1995) hervorgehoben. Konkret wurde empfohlen, dass jeder Einwohner der EU in der Lage sein solle, (neben der L1) in zumindest zwei Fremdsprachen kommunizieren und ‚funktionieren‘ zu können. Dabei wurde zwischen produktiven und rezeptiven Kenntnissen unterschieden. Eine der zwei Fremdsprachen soll sowohl produktiv wie rezeptiv beherrscht werden und die zweite nur rezeptiv. 1 Sprachenpolitik hängt inhaltlich allerdings unmittelbar mit einer Mehrsprachigkeitsdidaktik im Bildungswesen zusammen, die zu einer mehrsprachigen Erziehung im Sinne der Europäischen Union beitragen soll. Mit dieser Zielsetzung wurde auch der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR) entwickelt (E UROPARAT 2001). Der GeR beschreibt das Lernen und Unterrichten von Sprachen und macht das Beurteilen von Sprachkompetenzen nach gemeinsamen Kriterien vergleichbar. Neben produktiven und rezeptiven Fertigkeiten werden auch soziolinguistische bzw. soziopragmatische Sprachkompetenzen berücksichtigt, die eine interkulturelle Kommunikation fördern sollen. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern versucht diesen Ansprüchen gerecht zu werden. * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Katja L OCHTMAN , Vrije Universiteit Brussel, Taalen Letterkunde, Pleinlaan 2, B-1050 B RÜSSEL . E-Mail: katja.lochtman@vub.ac.be Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik, Mehrsprachigkeit, Deutsch als Fremdsprache. 1 http: / / europa.eu/ documents/ comm/ white_papers/ pdf/ com95_590_en.pdf: 13, 47-48 (07/ 03/ 2015) 88 Katja Lochtman 44 (2015) • Heft 2 2. Begriffsbestimmung: Was ist Mehrsprachigkeitsdidaktik? In den Beneluxländern herrscht immer noch der traditionelle Fremdsprachenunterricht (FSU) vor. Dies bedeutet, dass die Fremdsprache sowohl die Zielsprache als auch der Fachinhalt des Unterrichts ist. Typisch dabei ist zudem der Mangel an authentischer (d.h. inhalts- oder mitteilungsbezogener) Interaktion in der Fremdsprache. Möglichkeiten zur Bedeutungsaushandlung, in deren Verlauf der Gesprächsinhalt durch die Gesprächspartner verständlich gemacht wird, indem sie sich gegenseitig ergänzen und korrigieren, gibt es kaum. Nach den interaktionistischen Fremdsprachenerwerbstheorien sind es aber gerade solche Möglichkeiten zur Bedeutungsaushandlung, die lernfördernd wären. Stattdessen werden oft noch Grammatikregeln erklärt und eingeübt, es wird nicht in der Fremdsprache, sondern über die Fremdsprache diskutiert. Eine moderne Mehrsprachigkeitsdidaktik soll aber auf die authentische Interaktion in der Fremdsprache ausgerichtet sein, was bedeuten würde, dass die Fremdsprache nicht Inhalt, sondern Medium im Unterricht ist ( DE G RAAFF 2013). Das implizite Fremdsprachenlernen steht dabei im Vordergrund. D E B OT und M ALJERS (2009) sehen auf diesem Gebiet eine gelungene Erneuerung: beim bilingualen Sachfachunterricht in der Sekundarstufe und beim sehr frühen Kontakt zur Fremdsprache in der Schule. Daneben soll auch die sprachlich eher heterogene als homogene Ausgangslage der heutigen Schulpopulation thematisiert werden. Unterrichtsmodelle, die von sprachlich homogenen Lerngruppen (etwa mit nur Niederländisch- oder Französischsprachigen) ausgehen, spiegeln nicht mehr die heterogene und mehrsprachige Gestaltung der heutigen Schulklassen und der gegenwärtigen Gesellschaft wider (B LACKLEDGE / C REESE 2014). Vielmehr sind Minderheitensprachen und Sprachen von Kindern mit Migrationshintergrund im Unterricht omnipräsent, was aber oft die Einschulung dieser Kinder in den Landessprachen erschwert (ebd.). Im Mainstream-Unterricht, etwa in einem submersiven und monolingualen Schulsystem, bei dem der Unterricht in der Mehrheitssprache organisiert wird, werden die Minderheitensprachen nicht berücksichtigt. Die Schüler mit Migrationshintergrund sind so dem „Sink-or-swim-Prinzip“ ausgesetzt (C UMMINS 2009: 162). Eine solche „Einsprachigkeitsdidaktik“, in der nur eine Sprache dominiert, würde ebenfalls die soziokulturelle Identität der Schüler verleugnen (I GOUDIN 2012). Bildungsprojekte für anderssprachige Kinder von Immigranten, bei denen die Kinder teilweise in der Muttersprache unterrichtet werden, sind schon durch die Sprachenvielfalt oft schwer zu realisieren, auch weil diese Sprachen gesellschaftlich nicht offiziell anerkannt und somit oft weniger prestigeträchtig sind (Y AGMUR / E XTRA 2011). Darüber hinaus sind qualifizierte zweisprachige Lehrkräfte und Unterrichtsmaterialien für diese Sprachen nicht leicht zu finden. Manche solcher Sprachen sind sogar nur mündlich überliefert (B LACKLEDGE / C REESE 2014). Die Heterogenität der Schulpopulation im Mainstream-Unterricht hat zur Folge, dass alle Lehrer Sprachenlehrer werden, indem alle Fächer eine kommunikative und sprachsensibilisierende Funktion bekommen. In dieser Hinsicht rückt heutzutage auch die vom Europarat empfohlene CLIL-Didaktik in den Vordergrund. CLIL ist das Akronym für Content and Language Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern 89 44 (2015) • Heft 2 Integrated Learning (dt. auch „bilingualer Sachfachunterricht”) und bedeutet, dass gewisse, grundständig nicht-sprachliche Fächer wie Geschichte, Erdkunde, Mathematik, Sport usw. in einer Fremdsprache unterrichtet werden. Aus dieser Perspektive sind auch alle Lehrer Sprachenlehrer und zerfällt der Unterschied Erstsprache - Fremdsprache - Zweitsprache. Oder: In CLIL ist die Unterrichtssprache für alle Kinder gleich eine Fremdsprache (D ALTON -P UFFER 2008: 2). CLIL würde somit die soziale Inklusion fördern, indem die Heterogenität positiv zur Geltung gebracht wird. So könnte die Mehrsprachigkeitsdidaktik „als ein Weg zur Verbesserung der Chancengleichheit gesehen werden“ (R EICH / K RUMM 2013: 91). Alle Sprachen der Lernenden werden im Unterricht als gleichwertig erachtet und als Kommunikationsmittel wahrgenommen. Es wird davon ausgegangen, dass CLIL einen wesentlichen Beitrag zur Mehrsprachigkeitsdidaktik leisten kann (R EICH / K RUMM 2013: 86). Mehrsprachige Unterrichtsprinzipien wie Heteroglossia (B LACKLEDGE / C REESE 2014) und Translanguaging (G ARCIA 2009; G ARCIA / W EI 2014) (siehe unten) spielen eine wichtige Rolle. Der CLIL-Unterricht ist aber durch Sprachbewusstheit oder language awareness zu ergänzen (R EICH / K RUMM 2013). Forschung im Immersionsunterricht in Kanada hat nämlich gezeigt, dass bestimmte sprachliche Formen expliziter gelehrt oder korrigiert werden sollten, weil die Lernenden sie implizit nicht wahrgenommen haben (L YSTER / S AITO 2010). Aber wenn CLIL in diesem Sinne richtig eingesetzt wird, könnte die Lerneffizienz sowohl beim Inhalt des Sachfaches als auch in der Form der Fremdsprache gesteigert werden (A BENDROTH -T IMMER 2007: 71f.; D ALTON -P UFFER 2008: 2f.; DE B OT / M ALJERS 2009: 137f.). Wenn ein Thema in der Fremdsprache beschrieben und diskutiert wird, steigt die Relevanz der Fremdsprache (und somit die Authentizität), wodurch große Vorteile entstehen können, was den Wortschatzerwerb, die allgemeine Sprachkompetenz und auch die Lerngeschwindigkeit angeht ( DE G RAAFF 2013: 14). Schließlich würden sogar implizit interkulturelle Kompetenzen erworben (C OYLE et al. 2010: 41). Es wird auf ganz natürliche Weise eine „Kultur der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität“ (H U 2003: 300) geschaffen. Die sprachlichen und eventuellen kognitiven Vorteile der CLIL-Didaktik sind auch im mehrsprachigen Beneluxgebiet Thema der schulischen Fremdsprachenerwerbsforschung. Zusammengefasst gibt es vier große Zielsetzungen einer gelungenen, aber anspruchsvollen Mehrsprachigkeitsdidaktik. Zu nennen sind die individuelle Mehrsprachigkeit, die Mehrkulturalität, die Aneignung von Sachfachkenntnissen und die soziale Inklusion. Als mehrsprachige Unterrichtsstrategien, die diese Zielsetzungen bewirken könnten, wurden oben schon Heteroglossia (B LACKLEDGE / C REESE 2014) und Translanguaging (G ARCIA 2009; G ARCIA / W EI 2014) erwähnt. Diese Begriffe werden oft mit Code-Switching in Verbindung gesetzt, sind aber zu erweitern. B LACKLEDGE und C REESE (2014: 1) führen die Bezeichnung der Heteroglossie ein „[as] a means to expand theoretical orientations to, and understandings of, linguistic diversity“. Dabei ist Mehrsprachigkeit die Norm und „the notions of separate languages as bounded systems of specific linguistic features may be insufficient for analysis of language in use and in action“ (ebd.). Sprachen werden als soziale Konstrukte gesehen, die zum Aufbau von Wissen und Identität eingesetzt werden. Daraus ergibt sich ein mehrsprachiges 90 Katja Lochtman 44 (2015) • Heft 2 Code-Switching im Unterricht, was nicht nur den Spracherwerb fördern würde, sondern auch die Entwicklung von sonstigen kognitiven Fähigkeiten und von Wissen im Allgemeinen. Sehr damit verwandt ist das Konzept des Translanguaging. Während Code- Switching auf ein eher unabsichtliches Verfahren hinweist, bei dem zwischen Erst- und Fremdsprache gewechselt wird, bezieht sich Translanguaging auf eine Unterrichtsstrategie, wobei dieses Abwechseln als ein intentionelles Verfahren (sowohl der Lehrenden als der Lernenden) gesehen wird. Darüber hinaus soll Translanguaging einen sozialen Raum für mehrsprachige Sprecher schaffen „by bringing together different dimensions of their personal history, experience and environment, their attitudes, beliefs and performance“ (W EI 2011: 1223). Die Sprachen werden also flexibel und strategisch eingesetzt, so dass Lernende die Sprache wählen können, ohne dass sie aus soziolinguistischer Sicht stigmatisiert würden (G ARCIA 2009). Zudem können Code- Switching-Aktivitäten sowohl die Sprachbewusstheit (C UMMINS 2009: 175f.) als auch das Sachfachlernen (C ANAGARAJAH 2011: 401) fördern. Zusammen mit V AN DER W ALT / M ABULE / D E B EER (2001) ist aus der Translanguaging-Perspektive festzuhalten, dass der Unterricht überwiegend in der Zielsprache stattfinden und dass Code-Switching nicht beliebig sein soll. Eine weitere mehrsprachige Unterrichtsstrategie wäre das Übersetzen, weil dadurch auch die Sprachbewusstheit gefördert werden kann. M ALAKOFF und H AKUTA (1991) zeigen, wie sich Übersetzungsfertigkeiten auf natürliche Weise bei Migrantenkindern im Grundschulalter entwickeln, wenn diese zwischen Schule und Eltern vermitteln müssen. Der Einsatz von zweisprachigen Wörterbüchern im Unterricht ist sehr hilfreich; überdies ermöglichen es Verfahren des Übersetzens und des Code-Switching, auch die schwachen Schüler am Unterrichtsgespräch teilnehmen zu lassen (M ANYAK 2004). Übersetzen würde auch zu mehr Erfolgserlebnissen und somit zu einer größeren Selbstsicherheit führen. Dies alles würde zudem motivierend wirken. Im Folgenden wird die Gestaltung der Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern erörtert. Dabei wird auf einige relevante Forschungsergebnisse eingegangen. Auch die Rolle der Mehrsprachigkeitsdidaktik in der Lehrerausbildung wird jeweils kurz thematisiert. 3. Benelux: Mehrsprachigkeit per se Benelux ist die Bezeichnung für eine Institution, die vor allem wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg fördert. Die sprachliche Situation im mehrsprachigen Beneluxgebiet ist komplex. Die Standardsprache in den Niederlanden ist Niederländisch. Die Niederlande sind staatlich gesehen monolingual. Belgien und Luxemburg sind multilingual. Dazu kommen in den Beneluxländern noch die Migrantensprachen und die vielen Dialekte. Die drei Nachbarländer bilden somit eine relativ kleine, jedoch sprachlich komplexe Region, in der Mehrsprachigkeit eher die Norm als die Ausnahme ist. Fremdsprachen sind im kleinen Beneluxgebiet unentbehrlich. Internationalisierung und Globalisierung bestimmen auch Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern 91 44 (2015) • Heft 2 die gesellschaftlichen Entwicklungen, wobei das Englische für die Wirtschaft und die Bildung im Hochschulwesen immer wichtiger wird. Obwohl im europäischen Vergleich die Mehrsprachigkeit in den Beneluxländern gut entwickelt ist, nimmt der schulische Unterricht im Beneluxgebiet darauf wenig Bezug: Noch allzu oft ist er auf homogene Lerngruppen ausgerichtet, was die Einschulung von Migrantenkindern in den Landessprachen erschwert. PISA-Ergebnisse aus Belgien zeigen etwa, dass der Sprachhintergrund einer der wichtigsten Faktoren für das Vorhersagen akademischen Erfolgs ist, wobei Kinder mit Migrationshintergrund ein signifikant niedrigeres Testergebnis erzielten als die einsprachigen Kinder, die eine der Landessprachen als Erstsprache hatten (OECD, 2011 2 ). Deswegen gewinnen mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze wie CLIL auch im Beneluxgebiet immer mehr an Popularität. Im Folgenden wird die Gestaltung der Mehrsprachigkeitsdidaktik für die drei Länder getrennt behandelt, weil jedes Land eine eigene Sprachenpolitik sowie ein eigenes Bildungssystem hat. 3.1 Belgien Die belgische Sprachenpolitik ist sehr komplex. Das Land ist offiziell dreisprachig (Niederländisch, Französisch und Deutsch), wobei Niederländisch und Französisch die Hauptsprachen sind. Im Bundesstaat gibt es drei einsprachige Gebiete und ein zweisprachiges Gebiet. Die einsprachigen Gebiete sind das niederländischsprachige Flandern, das französischsprachige Wallonien und ein kleines deutschsprachiges Gebiet im Osten Belgiens. Die Hauptstadt ist zweisprachig, wobei Französisch und Niederländisch offiziell den gleichen Status haben. Brüssel ist allerdings auch eine internationale und mehrsprachige Stadt, wo viele Institutionen der Europäischen Union angesiedelt sind. Auf politisch-kultureller Ebene besteht der Bundesstaat aus drei autonomen Gemeinschaften (der Flämischen, der Französischen und der Deutschsprachigen Gemeinschaft), die über Eigenständigkeit verfügen, was die Angelegenheiten im Bildungswesen und Fragen in Bezug auf Sprache und Kultur angeht (L OCHTMAN 2009: 126 f.). Der Föderalisierungsprozess begann in Belgien ab Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, was einige große Staatsreformen zur Folge hatte. Schon 1962/ 1963 wurden auf Bundesebene Sprachgesetze für den Unterricht erlassen, die bestimmen, dass der Unterricht nur in der für die jeweilige Gemeinschaft offiziellen Sprache organisiert werden darf. Nur im traditionellen Fremdsprachenunterricht dürfen andere Sprachen eingesetzt werden (L OCHTMAN 2010: 291). Seit Mitte der 1990er Jahre wächst aber die Unzufriedenheit mit den Fremdsprachenkenntnissen der Schüler in der Grundschule wie auch in der Sekundarstufe. Im traditionellen FSU in Flandern gehen die Französischkenntnisse zurück (V AN DE C RAEN et al. 2007), und auch die Englischkenntnisse könnten verbessert werden (ebd.). Demzufolge wurde 1998 (nur) in der Französischen Gemeinschaft ein Dekret erlassen, das 2 http: / / www.oecd-ilibrary.org/ education/ pisa-2009-results-overcoming-social-background_ 9789264091504-en (07/ 03/ 2015) 92 Katja Lochtman 44 (2015) • Heft 2 es Schulen ermöglicht, einen CLIL-ähnlichen mehrsprachigen Unterricht (auch Immersion genannt) anzubieten. Allerdings ändert sich auch im flämischen Unterricht langsam die Lage. Aufgrund eines Erlasses vom April 2004 durften einige flämische Grund- und Sekundarschulen mit CLIL experimentieren. Die Ergebnisse dieser Pilotstudie wurden 2011 von S TROBBE und S ERCU in einem Bericht für das flämische Bildungsministerium zusammengefasst. Seit 2014 können flämische Sekundarschulen die Genehmigung für CLIL beantragen. Dabei sollen die CLIL-Fächer nicht mehr als 20 % der Unterrichtsstunden eines Unterrichtsprogramms betragen (die traditionellen Fremdsprachen nicht mitgezählt). 2013 wurde vom flämischen Bildungsministerium ein „Qualitätsstandard für den Antrag zur Genehmigung eines CLIL-Plans“ 3 veröffentlicht. Es ist ein Dokument, in dem die Qualitätskriterien und Bedingungen für die Organisation einer CLIL-Abteilung aufgelistet sind. Dabei handelt es sich etwa um das Niveau der Sprachkenntnisse der Lehrenden (C1 nach dem GeR) sowie der Lernenden (Beherrschung des Niederländischen) und die Qualitätskontrolle. Mögliche CLIL-Sprachen in Belgien sind Englisch, Französisch bzw. Niederländisch und Deutsch. In Brüssel besteht eine Art ungesteuerter Immersion. Die niederländischsprachigen Schulen haben einen besseren Ruf als die französischsprachigen, wodurch zu Hause Französisch sprechende Kinder oft eine Mehrheit in den niederländischsprachigen Klassen bilden. Auch Eltern mit Migrationshintergrund schicken ihre Kinder in den niederländischsprachigen Unterricht, weil erwartet wird, dass er den sozialen Aufstieg fördert. Migrantenkinder in Brüssel wachsen oft dreisprachig auf: Heimsprache, Französisch auf der Straße und Niederländisch in der Schule, wo sie - wie auch die Französischsprachigen - dem oben erwähnten ‚Sink-or-swim‘-Prinzip ausgesetzt sind. Somit ist Brüssel ein prototypisches Beispiel für eine heterogene Unterrichtssituation mit einem submersiven und monolingualen Schulsystem. Seit dem Schuljahr 2014/ 2015 hat nur eine Schule in Brüssel (Meertalig Atheneum Woluwe 4 ) ein CLIL-Programm beantragt. Da die Einschulung von Kindern mit Migrationshintergrund in Brüssel schon länger als problematisch erfahren wird, wurde Anfang der 80er Jahre im niederländischsprachigen Unterricht mit Projekten für italienisch-, spanisch- und türkischsprachige Migrantenkinder angefangen. Dabei handelt es sich um die sogenannten OETC-Projekte. OETC heiβt Onderwijs in Eigen Taal en Cultuur (Unterricht in der eigenen Sprache und Kultur). Kinder aus Einwandererfamilien erhalten im Kindergarten sowie in der Grundschule (d.h. im Alter von 3 bis 12) neben dem niederländischsprachigen Unterricht (zusammen mit den niederländischsprachigen Kindern) auch Sachfachunterricht in der Muttersprache (L UTJEHARMS / L OCHTMAN 2011). Seit 2007 besteht in Wallonien das LCO-Programm (cours de Langue et Culture d’Origine), wobei Grund- und Sekundarschulen die Möglichkeit geboten wird, auch Sprachunterricht für Spanisch, 3 http: / / www.ond.vlaanderen.be/ clil/ aanvraag/ BVR-kwaliteitsstandaard.pdf (07/ 03/ 2015) 4 http: / / www.atheneumwoluwe.be/ (07/ 03/ 2015) Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern 93 44 (2015) • Heft 2 Griechisch, Italienisch, Arabisch, Türkisch, Portugiesisch oder Rumänisch einzurichten 5 (ebd.). In Flandern werden keine solchen Programme angeboten. In der belgischen Lehrerausbildung ist leider noch kein CLIL-Programm vorhanden, das mit einem Lehrerdiplom abgeschlossen werden kann. Lehrer sind entweder Sachfachlehrer oder Sprachlehrer. CLIL-Lehrkräfte in Flandern müssen nach dem Qualitätsstandard diplomierte Sachfachlehrkräfte mit einem C1-Niveau in der Zielsprache sein. In Wallonien ist man vom Sprachniveau her weniger streng, weil ein offizieller Qualitätsstandard fehlt. Somit gibt es bei belgischen CLIL-Lehrenden einen großen Bedarf an methodisch-didaktischer Unterstützung und an Fortbildungsinitiativen. Vor allem die Materialerstellung scheint den Lehrenden Schwierigkeiten zu bereiten. Eine erste flämische Fortbildungsinitiative seit 2014 ist „Klaar voor CLIL“ (Fertig für CLIL 6 ), wobei Sekundarschulen auf den CLIL-Antrag (siehe oben) vorbereitet werden. 3.2 Niederlande In den Niederlanden hat die Mehrsprachigkeitsdidaktik eine 25-jährige Tradition (K OS - TER / VAN P UTTEN 2014). Schon 1989 fing man mit dem „zweisprachigen Unterricht” (Tweetalig Onderwijs, TTO) an. Der Grundgedanke war, dass die Internationalisierung unvermeidlich und notwendig war, wobei Englisch als lingua franca im Unterricht eine wichtige Rolle zu spielen hatte (O ONK 2009). Dies gehört auch zum Prinzip des EIO (Europese en Internationale Oriëntatie, „Europäische und internationale Orientierung”) als einer der Grundlagen des zweisprachigen Unterrichts. Auffällig dabei ist, dass nur Englisch als Zielsprache gewählt wurde. Es gab und gibt immer mehr Unzufriedenheit mit den Englischkenntnissen der niederländischen Schüler aus dem traditionellen FSU. Dies wurde in der PISA-Studie von 2009 bestätigt (K OSTER / VAN P UTTEN 2014: 114). Die Niederländer wollen, dass „mehr, besser und früher Englisch“ (ebd.: 20) gelernt wird. Für die Internationalisierung des Sekundarunterrichts wurde Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts die „Europäische Plattform für das niederländische Bildungswesen“ (Europees Platform voor het Nederlandse Onderwijs), ein Schulnetzwerk für TTO-Schulen, gegründet, und seit 2002 gibt es einen Qualitätsstandard mit Qualitätskontrolle und Schulaufsicht (K OSTER / VAN P UTTEN 2014: 51). Heutzutage ist neben TTO auch CLIL zu hören, Akronyme, die in den Niederlanden synonym verwendet werden. Im Jahre 2014 boten 128 Schulen CLIL an, und erfassten damit etwa 30000 Schüler. Dies bedeutet, dass auch in den Niederlanden die Mehrheit der Schüler noch traditionelle Schulen besucht. Die Forschung hat aber ausgewiesen, dass beim Sachfachunterricht im Englischen erheblich bessere Ergebnisse für die Englischkompetenz erzielt werden als beim traditionellen Unterricht (V ERSPOOR et al. 2010). Dabei würden die Sachfachkenntnisse nicht beeinträchtigt und die Schüler seien motivierter und internationaler orientiert ( DE G RAAFF / T UIN 2009; DE G RAAFF 2013), was auch die 5 http: / / www.enseignement.be/ index.php? page=24435&navi=411 (07/ 03/ 2015) 6 http: / / www.ond.vlaanderen.be/ nascholing/ doc/ oproep14-15/ 14.0103.01_VUB.pdf (07/ 03/ 2015) 94 Katja Lochtman 44 (2015) • Heft 2 interkulturelle Kommunikation fördere. Dennoch kann noch nicht genau bestätigt werden, ob die besseren Englischkenntnisse dem CLIL-Format zuzuschreiben sind oder ob die Schüler höhere Englischkompetenzen haben, weil sie im CLIL-Programm eben mehr Stunden Englisch hatten. Niederländische Schulen mit CLIL führen 50 % der Unterrichtsstunden auf Englisch durch. Die CLIL-Programme in den Niederlanden werden vor allem im allgemeinbildenden und auf die Universität vorbereitenden Sekundarunterricht angeboten. Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit dabei möglicherweise von Elitenschulen die Rede ist, was die Schulergebnisse beeinflussen könnte. Auch wird in den Abiturklassen des Sekundarunterrichts weniger auf Englisch unterrichtet als in den ersten Jahren, weil die Schüler auf Niederländisch Abitur machen. Zu viel CLIL in den Abiturklassen könnte - so die Vermutung - die Schulergebnisse bei der Staatsprüfung negativ beeinflussen, weil die Prüfung auf Niederländisch ist, während die Sachfächer auf Englisch gelernt werden (K OSTER / VAN P UTTEN 2014; DE G RAAFF 2013). Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen ist mehr Forschung notwendig, wie auch DE G RAAFF meint, der seit 2012 an der Universität Utrecht den einzigen Lehrstuhl für TTO in den Niederlanden (und in den Beneluxländern) besetzt. Traditionell wird in der CLIL-Didaktik in den Niederlanden von homogenen, überwiegend niederländischsprachigen Lerngruppen ausgegangen. In den Niederlanden sprechen aber 30 % der Schüler zu Hause eine andere Sprache anstelle des oder neben dem Niederländischen. Nur kurzfristig (1998-2004) wurden die Erstsprachen von Kindern mit Migrationshintergrund gefördert. Seit 2006 können diese Sprachen (Arabisch, Italienisch, Russisch, Spanisch, Türkisch) später im Studium eventuell noch gewählt werden (B ROEDER / VAN W IJK 2009; L UTJEHARMS / L OCHTMAN 2011). Auch in Schulen mit vielen Migrantenkindern wird jetzt mit Sachfachunterricht im Englischen angefangen ( DE G RAAFF 2013). CLIL-Unterricht auf Englisch ist im Prinzip immer möglich, schon in der Grundschule oder sogar im Kindergarten. In der niederländischen Grundschule wird relativ spät (im europäischen Vergleich) mit Englisch angefangen (mit 10bis 12-Jährigen). Dieser Unterricht ist traditionell gestaltet und wenig erfolgreich. Problematisch sind dabei vor allem die geringe Sprachkompetenz und die fehlende Ausbildung der Lehrkräfte ( DE B OT / M ALJERS 2009: 137f.). Heute gibt es Stimmen, die mehr andere Sprachen als nur Englisch in einem CLIL- Programm anbieten möchten, wie Deutsch, Französisch oder sogar Chinesisch (K OSTER / VAN P UTTEN 2014). Der zweisprachige Unterricht mit Deutsch oder Französisch kommt nur vereinzelt in den Grenzgebieten (zu Deutschland und Wallonien) vor. Auch soll CLIL stärker in Gesamt- und Berufsschulen gefördert werden ( DE G RAAFF 2013: 29f.). Die CLIL-Didaktik findet ihren Ort in der Lehrerausbildung heutzutage am ehesten in Fortbildungsprogrammen mit einem Zertifikat als Abschluss; einige Universitäten bieten CLIL-Workshops an, wie etwa die Universität Utrecht. Auch auf dem Gebiet der Lehrerbildung gibt es in den Niederlanden einen Bedarf an methodischdidaktischer Unterstützung und Fortbildungsinitiativen für CLIL-Lehrende. Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern 95 44 (2015) • Heft 2 3.3 Luxemburg Luxemburg ist ein multilinguales Land mit plurilingualen Einwohnern. Die offiziellen Landessprachen sind Luxemburgisch (erst seit 1984 gesetzlich festgelegt) sowie Französisch (Sprache der Gesetzgebung) und Deutsch. Die Verwaltung in den Gemeinden ist dreisprachig, mit überwiegend Deutsch oder Französisch als Zweitsprache, je nach der Nähe zur deutschen oder französischen (bzw. belgischen) Grenze. Man kann aber alle offiziellen Formulare in den drei Sprachen anfordern. Die Rolle des Luxemburgischen als Nationalsprache hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Sprache weiter standardisiert oder in der Schule mehr verwendet würde (W AGNER 2010: 119). In Luxemburg ist die Mehrsprachigkeit im Schulsystem verankert: Alle drei Landessprachen werden eingesetzt. Luxemburgisch spielt als Schriftsprache in der Schule zwar nur eine sehr untergeordnete Rolle, wird in den neuen Medien jedoch häufig verwendet (W AGNER 2010). Man könnte in Luxemburg von einer ganz besonderen Form der Mehrsprachigkeitsdidaktik sprechen. Im Kindergarten wird Luxemburgisch gesprochen. In der Grundschule wird pro Woche dann nur noch eine Stunde Luxemburgisch-Unterricht gegeben, und zwar in Form von traditionellem FSU (ebd.: 119f.). Deutsch ist Einschulungssprache und im 2. Schuljahr kommt Französischunterricht hinzu. Im Gymnasium wächst die Präsenz des Französischen mit fortschreitenden Schuljahren, es werden immer mehr Fächer in dieser Sprache unterrichtet. Wenn man davon ausgeht, dass die Erstsprache der Schüler Luxemburgisch ist, werden die Kinder somit in einer für sie Fremdbzw. Zweitsprache eingeschult. Allerdings wird die Nähe der Muttersprache zum Deutschen als groß erfahren. Der traditionell gestaltete Englischunterricht setzt erst in der Sekundarstufe ein. So ist CLIL in Luxemburg nur mit Deutsch und Französisch zu finden. Es ließe sich untersuchen, ob Englisch als CLIL- Sprache auch hier - wie in den Niederlanden - unter Einfluss des Internationalisierungsgedankens in die Bildungspolitik Eingang findet. Im Gegensatz zu Belgien und den Niederlanden wird im luxemburgischen Bildungswesen nicht von homogenen, überwiegend Luxemburgisch sprechenden Lerngruppen ausgegangen. Das Konzept der Muttersprache in Luxemburg ist eher problematisch. Luxemburg ist eines der Länder Europas mit den höchsten Einwanderungsquoten (E HRHART 2009: 29). So schlagen B ERG et al. (2013: 12) vor, als Muttersprache der Luxemburger „die Mehrsprachigkeit“ zu betrachten. Wie in Brüssel kommen viele Einwanderersprachen hinzu, wobei Portugiesisch am stärksten vertreten ist. Dies ist für die luxemburgischen Schulen eine große Herausforderung. Alle Sprachen in Luxemburg sind durch Statusparadoxe gekennzeichnet (B ERG et al. 2013: 21f.). Luxemburgisch ist die geschätzte Nationalsprache, die mit einer ursprünglichen luxemburgischen Identität verbunden ist und im Alltag bevorzugt wird, jedoch als Amtssprache kein Sozialprestige hat. Portugiesisch ist die „am Herzen liegende Herkunftssprache“ (ebd.), wird allerdings hauptsächlich als Einwandererbzw. Gastarbeitersprache betrachtet und hat somit weniger Sozialprestige. Deutsch ist die Bildungs- und Literatursprache, aber auch die Sprache des früheren Besatzers und deswegen immer noch eher negativ konnotiert (ebd.). Französisch ist Amtssprache mit 96 Katja Lochtman 44 (2015) • Heft 2 höherem Sozialprestige, wird aber häufig auch vereinfacht als eine Art foreigner talk mit Einwanderern benutzt (ebd.: 22). B ERG et al. (ebd.) fassen zusammen: „Aus alledem ergibt sich eine Landschaft mit konkurrierenden Kodes mit einem hohen Grad an reguliertem und spontanem Code-Switching, mit Zwischen- und Mischsystemen und variablen Kompetenzprofilen“. Code-Switching, Translanguaging oder ein „hybrides, kommunikatives Handeln“ (ebd.) sind gang und gäbe. So ergibt sich eine selbstverständliche Mehrsprachigkeit im Unterricht. Die Forschungsschwerpunkte an der Universität Luxemburg liegen demzufolge im Bereich der Ethnolinguistik und der Sprachökologie in mehrsprachigen Unterrichtskontexten (L E N EVEZ / H ÉLOT / E HRHART 2010). Anders als in der niederländischen und belgischen Lehrerbildung werden die künftigen Lehrkräfte in den Bachelor- und Masterstudiengängen an der Universität Luxemburg auf das Mehr- oder Anderssprachigsein ihrer künftigen Schüler sowie auf ein komplexes und multikulturelles Umfeld am Arbeitsplatz vorbereitet. Wenn sie das Studium antreten, müssen Studierende Luxemburgisch, Deutsch, Französisch und Englisch beherrschen. So ist auf der Webseite der Lehrerausbildung zu lesen: „Ein multilingualer Ansatz ist maßgebend für die Arbeit einer angehenden Lehrkraft in Luxemburg. Der Unterricht ist mehrsprachig: die Arbeits- und Unterrichtssprachen werden von den einzelnen Lehrkräften festgelegt“ 7 . Einen spezifischen CLIL-Studiengang gibt es allerdings noch nicht. 4. Schlusswort Sprachlich ist das Beneluxgebiet eine komplexe Region, in der Mehrsprachigkeit die Norm ist. Internationalisierung und Globalisierung bestimmen die gesellschaftlichen Entwicklungen, wobei Fremdsprachen unentbehrlich sind. Dabei rückt die Rolle des Englischen, das als lingua franca für die Wirtschaft und die Bildung immer wichtiger wird, in den Vordergrund. Im europäischen Vergleich ist der Plurilingualismus in den Beneluxländern aber gut entwickelt. Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze wie CLIL könnten einen wesentlichen Beitrag zu einer mehrsprachigen und plurikulturellen Erziehung im Bildungswesen leisten. Als die vier großen Zielsetzungen einer gelungenen Mehrsprachigkeitsdidaktik sind zu nennen: 1) der Plurilingualismus, (in Anlehnung daran) 2) der Plurikulturalismus, 3) die Aneignung von Sachfachkenntnissen bzw. die Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten und 4) die soziale Inklusion. In den drei Nachbarländern sind dabei unterschiedliche Schwerpunkte festzustellen. In Belgien wird der Plurilingualismus betont, die Niederlande setzen auf Internationalisierung, und in Luxemburg steht die soziale Inklusion im Mittelpunkt. In den drei Ländern stellt die Heterogenität in den Schulklassen bzw. Lerngruppen wohl die größte Herausforderung dar. Die Lehrerbildung hat in dieser Hinsicht eine immer wichtigere Rolle zu spielen, 7 http: / / wwwde.uni.lu/ studiengaenge/ flshase/ bachelor_in_erziehungswissenschaften (07/ 03/ 2015) Mehrsprachigkeitsdidaktik in den Beneluxländern 97 44 (2015) • Heft 2 denn im Allgemeinen ist bei CLIL-Lehrkräften ein großer Bedarf an methodischdidaktischer Unterstützung spürbar. Literatur A BENDROTH -T IMMER , Dagmar (2007): Akzeptanz und Motivation: Empirische Ansätze zur Erforschung des unterrichtlichen Einsatzes von bilingualen und mehrsprachigen Modulen. Frankfurt/ M.: Lang. 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For this, a socio-constructivist perspective on intercomprehension is theoretically relevant and will be exemplified in terms of the empirical analysis. Since in multilingual interaction in Romance Languages the focus of the speakers is not always to juxtapose several linguistic codes, but instead the co-construction of meaning resorting to all semiotic resources mobilized and shared, the concept of translanguaging will also be called upon: a) to illustrate how the bounded nature of linguistic codes is irrelevant to the speakers during multilingual interaction and b) to avoid a “linguistic bias” in the analysis of multilingual interaction. 1. Introduction Much of the research about intercomprehension between Romance Languages (RL) carried out so far could be said to study receptive multilingualism, understood as the ability to understand multiple languages on the basis of their interlinguistic transparency or/ and previous knowledge of languages of the same linguistic family (D OYÉ / M EISSNER 2010; M EISSNER et al. 2012). From this perspective, intercomprehension is usually seen as a cognitive and individual accomplishment in the treatment of unknown or partially known linguistic material, resorting to reading or listening strategies, contextual evidence, and linguistic, non-linguistic and para-linguistic cues. This contribution, however, deals with intercomprehension between RL from an interactional perspective, based on the analysis of on-line multilingual interaction (M ELO -P FEIFER 2011; M ELO -P FEIFER / A RAÚJO E S Á 2010). As the main concern of this perspective is the observation and description of the co-construction of meaning between social actors in situated settings, heuristic tools such as “translanguaging” (G ARCÍA 2014; G ARCÍA / W EI 2014), “multimodality” (B LOCK 2014) and “plurisemioticity” (G ARCÍA / W EI 2014), as representatives of the actual “multilingual turn” (M AY 2014) in applied linguistics and language education are mobilized to describe the com- * Address for correspondence: Prof. Dr. Sílvia M ELO -P FEIFER , Universität Hamburg, Didaktik der romanischen Sprachen, Von-Melle-Park 8, 20146 H AMBURG . E-Mail: silvia.melo-pfeifer@uni-hamburg.de Research areas: Intercomprehension, heritage language education, on-line communication. An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 101 44 (2015) • Heft 2 plex, situated and collaborative accomplishment of meaning in multilingual chats, where all RL share the communicative floor and are treated as equal (status, hierarchy, roles, …). A socio-constructive perspective is thus more suitable and will be adopted in this article. In the scope of this contribution, translanguaging communicative episodes from a Galanet session (www.galanet.eu) will be analyzed, in order to show how multilingual participants: i) negotiate languages and meanings on equal terms; ii) focus mainly on practices and meanings and not exclusively on forms; and, iii) collaboratively expand their semiotic repertoires, building up a collective plurilingual competence. Furthermore, as none of the languages is specifically seen as a “target-language” to be learnt and the focus is on communicative achievements through collective multilingual performance (B ONO / M ELO -P FEIFER 2012), we will reflect upon the utility of such an approach in the contemporary foreign language education landscape, currently facing a multilingual turn, but still biased by monolingual and monoglossic viewpoints of teaching and learning (namely in the practice of intercomprehension in the classroom). 2. Intercomprehension between Romance Languages from an interactional perspective Intercomprehension has gained a stable place in the academia, defying theoretical and empirical standpoints in language education and disturbing some of the “well founded” principles of foreign language learning and teaching (M ELO -P FEIFER / A RAÚJO E S Á / S ANTOS 2011). Among some of these fundaments, and related to the main topic of this contribution - multilingual interaction - we may refer to the assumption that successful communication can only occur when interlocutors rely on a common language. This shared language is expected to assure the comprehension between interlocutors, whether they have the same relationship to this language or not. From this “monolingual orientation” (C ANAGARAJAH 2013: 1), communication is expected to occur between interlocutors: • within a same mother language (monolingual and endolingual interaction), • sharing a same foreign language (monolingual and exolingual interaction), • having different relationships to a same language, i.e., between interlocutors to whom a language is a mother tongue and a foreign language (monolingual and exolingual interaction). Indeed, most traditional perspectives on interaction have not engaged with plurilingual and exolingual interaction. This type of interaction develops when communication occurs in several languages, to which interlocutors resort in order to make sense of it and to engage with each other, even if they have very uneven linguistic competencies (an example of exolingual plurilingual interaction, according to L ÜDI / P Y 2003). In such a situation, so-called “native-speakers” of the languages being used may or may not be present. At the same time, even if a communicative encounter is expected to produce a 102 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 plurilingual-exolingual communicative situation, it does not automatically entail it, as some studies have described situations where individual agency surpasses the importance of the communicative and linguistic contract, helping to continuously redefine context, contract and communicative goals (B ONO / M ELO -P FEIFER 2011 and 2012). As C ANAGARAJAH puts it, such complex and dynamic communicative situations “violate our assumption that a text [or a discourse] should be constructed in only one language at a time and that meaning should be transparent. This expectation is partly motivated by a broader assumption we hold about all communication. We believe that for communication to be efficient and successful we should employ a common language with shared norms. These norms typically come from the native speaker’s use of the language. We also believe that languages have their own unique system and should be kept free of mixing with other languages for meaningful communication” (2013: 1). Intercomprehension from an interactional perspective and in the field of a same linguistic family, understood as a communicative process where each interlocutor speaks one language and understands the language(s) of the other(s), is a very powerful practice capable of challenging a monolingual orientation to communication. Indeed, interactional intercomprehension in RL posits the following principles: • languages belonging to this family are part of a linguistic continuum, without clear borders, that are afterwards generated and reified through legislation; • this linguistic continuum allows interlocutors to engage in conversations where they share different compounds of the linguistic richness available (also known as “languages”), with relative little occasions of repair, repetition and problem solving; • in multilingual communication, interlocutors implement creative and supplementary strategies to engage with each other, to negotiate intelligibility, and to collaboratively achieve meaning; • performing multilingual communication actively engages interlocutors in the coconstruction of context, of community solidarity and linguistic well-being, that could also be labeled as “cooperative disposition” (C ANAGARAJAH 2014: 90); • the so-called productive and receptive skills can be deployed in several languages at the same time (and even this dual division between receptive and productive abilities can be challenged, as the production must be oriented to the reception and vice-versa, in an interdependence that becomes difficult to isolate); • intercomprehension relies on much more than words and should not be biased by a linguistic hegemony: it involves and depends on context and scenario, and on several semiotic resources, such as gestures, gazes, paces, signs, … As we can observe, such a treatment of intercomprehension asks for a socio-constructivist stance, as meaning making is a social practice that engages holistically with ecological and contextual affordances (C ANAGARAJAH 2013: 12). This approach to intercomprehension also challenges traditional perspectives on code-switching (G ARCÍA / W EI 2014), as the focus of attention is shifted from the linguistic codes (coming from An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 103 44 (2015) • Heft 2 distinct and isolated linguistic ensembles) to the subjects and their joint cooperation and active doing through languages and languaging. Even if the focus of applied linguistics, sociolinguistics and language education has not traditionally been multilingual interaction, some recent concepts have emerged as potentially useful to refer to and to describe the complexity of interaction that resorts to different languages in different contexts: “polyglot dialog” (P OSNER 1991), “metrolinguistics” (P ENNYCOOK 2010), “poly-languaging” (J ØRGENSEN 2008), “translanguaging” (G ARCIA / W EI 2014) and “intercomprehension”, among others (see C ANAGARAJAH 2013 and G ARCÍA / W EI 2014 for a distinction between these and other concepts). C ANAGARAJAH proposes the use of “translingual practice” (2013) as an umbrella term that encompasses all sort of multilingual interactions. Although intercomprehension has also been recently seen as occurring outside the scope of a same linguistic family (D EGACHE / M ELO 2008), we consider that this concept is the one that better describes the interaction going on in a same linguistic family. Such is the case of the communicative situation we will be dealing with in the empirical section of this work. However, because intercomprehension has traditionally been defined in quasi-linguistic terms (“to speak one’s language and to understand the one of the other”, as we could simply put it; see M ELO -P FEIFER 2011 for a recent critique on this assumption), we admit that the concept of translanguaging should be called upon to complete the description of what is going on in multimodal and transsemiotic plurilingual communication. As G ARCÍA / W EI observe: “Translanguaging (…) liberates language from structuralist-only or mentalist-only or even social-only definitions. Instead, it signals a trans-semiotic system with many meaning-making signs, primarily linguistic ones that combine to make up a person’s semiotic repertoire. Languages then are not autonomous and closed linguistic and semiotic systems” (2014: 42). 3. Methodological design 3.1 The Galanet project: aims and participants Galanet (www.galanet.eu) is an on-line platform developed to create multilingual learning conditions among individuals who master one or more RL. It includes synchronic (chat) and a-synchronic communicational settings (discussion forum and e-mail) designed to arrange for intercomprehension situations (previously referred to as “exolingual plurilingual” communicative situations). The aim of this platform is the development of collaborative projects between teams of university students from different RL countries, consisting in the production of a “press dossier” on an intercultural theme previously negotiated between the participants. The Galanet session develops in 4 interdependent and sequential phases (A RAÚJO E S Á / D E C ARLO / M ELO -P FEIFER 2010) [Table 1, page 104]: 104 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 Phase Activities breaking the ice and choice of a theme − Participants define their profile, get to know other students’ profiles and exchange ideas about the project and their expectations and motivations. − They propose different themes as topics of discussion, leading them to express their opinions and to choose one of the themes for ensuing reflection. brainstorming − Participants identify sub-themes in order to prepare a “press dossier” and define its editorial guidelines. collecting documents and debate − Participants look for, present and discuss documents and web references to illustrate each sub-theme. elaborating and publishing the press dossier − Each team prepares a written synthesis of each debate and establishes the press dossier, integrating the diverse contributions to the discussion. Table 1: The chronological development of a session 1 During the “Canosession” (the second intercomprehension session in the Galanet platform, between February and May 2004), 13 teams from different countries participated in the session (students and tutors are counted together). Table 2 clarifies the constitution and characteristics of each team. Teams Countries Number of participants Languages of reference 2 “Target” languages 3 Lusomaníacos Portugal 17 PT, FR FR, ES, IT Os Quinas Portugal 17 PT, FR FR, ES, IT Les Canuts de Lyon France 9 FR, IT, ES FR, ES, PT Che, Rio Cuarto. Argentine 14 ES, FR FR, IT Le rane di Grenoble France 19 FR, IT, ES FR, IT, ES Gli spagnoli di economia Italy 15 IT, FR FR, ES forum2004BCN Spain 34 ES, FR FR, ES RA & C° Lyon 2 France 16 FR, PT, ES PT, ES, FR “Les Dahuts” di Monica France 18 FR, IT IT, ES, FR Madrid Spain 36 ES, FR FR, IT, PT Cassino-Martine Italy 19 IT, FR FR, IT Le Dino-saure, unicas2 Italy 14 IT, FR, ES FR, ES, IT Les Montois Belgium 8 FR ES, IT, PT Table 2: Profile of participant teams in Canosession 1 See A RAÚJO E S Á / D E C ARLO / M ELO -P FEIFER 2010. 2 These languages are indicated by the participants, while filling out their team profile. 3 These languages are indicated by the participants, while filling out their team profile. An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 105 44 (2015) • Heft 2 As we can observe, almost all participant teams share at least a bilingual background (see languages of reference) and all of them have a multilingual goal (see target languages). All the participants, both students and tutors, have declared some degree of proficiency in different “linguistic mobile resources” (B LOMMAERT 2010), acquired at school or in other contexts. We can thus characterise the communicative situations shaping this project (and being elicited by it) as “multi-plurilingual” situations (see E HRHART 2010), as we observe the co-existence of plurilingual individual repertoires (pluri) in a multilingual virtual social space (multi). As French, Portuguese and Spanish are “pluricentric languages”, we notice the co-presence of different varieties of some of these languages. Furthermore, there was a RL that was not declared initially by the participants but which was still mobilised and thematised: Catalan. From this perspective, the multilingual chats we will deal with could be seen as complex “contact zones”, i.e., as spaces where diverse social groups with different backgrounds interact, even if this complexity is, in our case, framed by a learning and interaction communicative contract that reduces much of the asymmetry, power relations and clashes potentially emerging during communication in such complex “contact zones”. The chosen theme in the analysed session was “Ridiamo per le stesse cose? ... Y a-til un humour romanophone? ” / “Do we laugh at the same things? … Is there a Romance Language humour? ”, and the examples discussed in this contribution originate from discussions around this intercultural theme. 3.2 Selection of sequences of multilingual chat conversations: a rationale The selection of chat excerpts was made keeping in mind the goals of this contribution, i.e., the illustration of how intercomprehension in RL is collaboratively achieved in the hic et nunc of the communicative process. We selected illustrative examples of this achievement where the focus of the communication is, according to the categories announced in the introductory section: i) the negotiation of languages and meaning on equal terms; ii) the focus on practice and on meanings, and iii) the collaborative expansion of the semiotic repertoires (both verbal and non-verbal repertoires). As we will later see, these three categories are highly interdependent, as they reflect interlocutors’ dispositions and stances towards intercomprehension and its concerted accomplishment in an on-line environment. All chosen sequences illustrate the mobilization of several sense-makers and sensecontainers (or semiotic resources), demonstrating the multimodality attached to multilingual interaction in chat rooms. This multimodality will allow us, in turn, to avoid a “linguistic bias” on the analysis of multilingual interaction, understood as “the tendency to conceive of communicative practices exclusively in terms of the linguistic (morphology, syntax, phonology, lexis)” (B LOCK 2014: 56). Even if this “linguistic bias” can be easily justified through the overwhelmingly impact of linguistic diversity in the communicative process, the chosen excerpts will highlight how semiotic resources merge in a shared and dynamic communicative repertoire (B ONO / M ELO - P FEIFER 2012) to accomplish meaning. In other words, the selected episodes will 106 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 exemplify how interlocutors “translanguage” (i.e., move between and across semiotic resources) in multilingual chat rooms. 4. Multilingual conversation analysis: translanguaging in chat rooms 4.1 The negotiation of languages and meanings on equal terms In our chats interlocutors “are co-constructing meaning by adopting reciprocal and adaptive negotiation strategies in their interaction” (C ANAGARAJAH 2013: 26), focusing on languages and on meaning, both perceived as being intertwined. This means that, even if RL have a fluid linguistic border, these borders are thematised, if a problem (usually related to lexical opacity) emerges and must be solved in order to develop interaction and to come back to the theme of conversation. Example 1 4 illustrates how opacity emerges in the multilingual interaction and how it is collaboratively solved, with and without reference to the languages being used: [laura] he oido a la televisiòn que ahier en Alicante en un banco ha estado una rapina, que ha ocurrido? [PauV] rapina? ? ? ? [laura] si ladri, come si dice in spagnolo? [PauV] un robo [PauV] ladri= ladron [PauV] en catalan= lladre [laura] ha, que ha ocurrido? In this excerpt, between an Italian (Laura) and a Spanish (PauV) interlocutor from Catalonia, the Italian interlocutor is trying to communicate resorting to the language of her interlocutor. During the producing phase, some syntactic shortcuts related to the Spanish norm are made, but the only problem thematised by PauV is the lexical opacity of a keyword that Laura introduces in the sentence: “rapina”. This problem is communicated both by resorting to the repetition of the unknown lexical item and by using expressive punctuation to signal lack of comprehension. This strategy is also common in other incomprehension situations, namely in “exolingual” interaction (when interlocutors possess different repertoires in the language being used as a communicative tool), the repeated punctuation being used here to substitute the intonation related to “ask for help” or communicating a problem (“rapina? ? ? ? ”) in face to face interaction. The signalization of the lexical problem brings Laura back to the communicative contract (communicate in the “reference language”): she provides a synonym (“ladri”) of the unknown word, integrating it in an Italian sentence, and uses the hic et nunc of the 4 All the examples are reproduced in their original form and format, without any additional correction in terms of syntax or orthography. An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 107 44 (2015) • Heft 2 communicative situation to learn the Spanish word she was looking for (“come si dice in spagnolo? ” / “How do you say it in Spanish? ”). PauV provides the direct translation of “ladri” in Spanish (“ladron”) and in Catalan (“lladre”), resorting to a mathematic symbol meaning “equal to” (=), clearly distinguishing languages and displaying an understanding of languages as autonomous and discrete entities, but providing an opportunity for plurilingual learning. In this episode, both interlocutors exhibit cooperative dispositions towards multilingual interaction, displaying marks of individual repertoires and of multi-semiotic strategies aiming at the co-construction of meaning. Laura and PauV orient themselves towards the communicative partner and their difficulties, and as long as the lexical problem is solved, they return to the thematic path they were engaged in (“ha, que ha ocurrido? ”) before the problem had popped up. Through this “lateral sequence”, it is possible to observe that the choice of the language of communication is quite flexible, despite the communicative contract, depending on the events that emerge during the conversation. Furthermore, even if that contract establishes that the co-constructing of meaning is the goal of the communication, it does not prevent interlocutors from orienting themselves towards learning: as we saw, Laura is producing in a “target” language, being confident of the “just-in-timelearning” offered by this particular situation. PauV does not seem disturbed by this teaching role ascribed to him and assumes a bilingual identity, by providing both the Spanish and the Catalan “equivalents” of the desired lexical item. As soon as the problem is solved and the multilingual dictionary is achieved (“ladri”, “ladron”, “lladre”), Laura returns to her learner role. This excerpt thus exemplifies the tangled imbrication of language management, language use, and language learning in this multilingual setting, according to personal communicative goals, to collaborative dispositions, and to the shared used of semiotic resources (languages and other semiotic conventions in chat conversations). 4.2 Focus on practices and on meanings Even if sometimes interlocutors acknowledge the individual nature of each language in other multilingual moments, interlocutors manage to put some distance between themselves and a monolingual and monoglossic norm, as they merge different and dynamic semiotic repertoires. Translanguaging thus turns out to be “a creative process that is the property of the agent’s way of acting in interactions, rather than belonging to the language system itself” (G ARCÍA / W EI 2014: 25). Indeed, in some moments, communicative features taken for granted, such as “who is speaking which language to whom”, do not seem to have a particular significance, as practice and focus on meaning clearly overwhelm linguistic boundaries and linguistic contracts. 108 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 [lusitana] c sympa les blagues de blonde [lusitana] ; 9 [lusitana] ; ) [AntonioR] ¿Que son blagues? [guidiguidi] hi hi hi hi hi hi hi [esmeralda] blagas sao piadas, anedotas [SilviaM] Blagues son anedotas.... piadas! [Chegade] PROPOSITION : chat jaune: LES BLAGUES [colombia] blagues=bromas [glory] As vezes é rir para n-o chorar! [lusitana] blagues sao historias que fazem rir [guidiguidi] hi hi hi hi [mokab] E está provado k rir faz bem à saúde... [guidiguidi] eh eh eh eh [qalbu] Quem conta uma? ? [xander] depende [SilviaM] Blagues sobre o quê? ? ? ? ? Sobre mi misma? ? ? ? ? [CristinaV] tambien pueden ser chistes [xander] se se estao a rir de ti [xander] õu tu deles [esmeralda] Blagas sobre cada nacionalidade [mokab] Sobre cada nacionalidade! ! ! BOA [tita] rir é o melhor remédio! ; ) This episode illustrates how linguistic boundaries are surpassed (or deemed irrelevant) by the willingness to communicate. Several instances of translanguaging are observed in this episode, within or across utterances. Lusitana, a Portuguese student, produces different utterances resorting to different verbal and non-verbal resources. Guidiguidi, another Portuguese participant, seems to take her place in the interaction by providing non-verbal cues only (“hi hi hi hi”, “eh eh eh eh”). SilviaM clearly moves in the continuum of the RL in her repertoire, as in the following interventions: “Blagues son anedotas.... piadas! ” and “Blagues sobre o quê? ? ? ? ? Sobre mi misma? ? ? ? ? ”. Bits of languages (that we could identify as belonging to Spanish, French and Portuguese) are integrated in sentences, regardless of the communicative and linguistic contract or of any other rules limiting the creative composition of the message. Another interesting translanguaging behavior is observed in Esmeralda’s verbal production: this Portuguese student adapts “blagues” to her Portuguese repertoire (“Blagas”), adjusting her communicative resources to what she feels is appropriate to this communicative situation, as such an adaptation may hinder lexical opacity and facilitate intercomprehension. So, interlocutors explicitly adopt a multilingual modus while communicating, preventing misunderstandings and clashes. It does not seem to be important to the “native” if the “just-in-time” created new word exists or not in the norm of her “mother tongue”, provided it accomplishes a communicative goal: a theme An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 109 44 (2015) • Heft 2 proposition. As we can observe here, the theme is accepted by the interactional partners on the basis of the neologism created. The visualization of this episode also clarifies the interconnection between verbal and non-verbal elements. Alongside with linguistic codes, non-linguistic features like smileys, (laughter) interjections, capitalization and effusive punctuation are used to improve the sense of the verbal cues. Indeed, like in face to face communication, the accomplishment of intercomprehension in chat rooms is made through the interpenetration of linguistic and non-linguistic codes, the last ones helping to select meaning among possible significances and communicative intentions, and providing a friendly translanguaging atmosphere (humor, play, complicity, and membership). 4.3 The collaborative expansion of semiotic repertoires As we will observe through the analysis of one more excerpt, in plurilingual RL interaction individuals tailor their language use reciprocally, by selecting more transparent words, by borrowing from diverse languages and symbol systems, and by reducing the opacity of the sentences (even if they do not always succeed in this goal). All of these features could be said to belong to a communicative code typical of chat conversations, as the pragmatic opacity can lessen comprehension and produce additional difficulties. However, in these multilingual chat conversations such strategies attain a much higher visibility, being the theme, the support and the means by which communication proceeds in a linguistic well-being environment. In unknown RL new words and expressions gain referentiality through use and are integrated in the individual and collective repertoires. This is valid both for linguistic and non-linguistic resources. The following example provides evidence on the collaborative expansion of linguistic repertoires (see also the excerpt discussed in section 4.1, on “rapina”, and in section 4.2, on “blagues”): [Chegade] C'est qui Menda? [AnnaïkG] Christian on discute de moi et de menda! ! [SaulL] Menda es una palabra típica del español [bogdana] palabra = ? [colombia] mot = palabra [SaulL] word [AnnaïkG] =parole [bogdana] merci [Chegade] ah oui [colombia] conocen la canción "palabras palabras palabras"? [SaulL] Mmm [bogdana] si ! ! ! [SaulL] De quien es? [romautos] parolé... parolé... parolé 110 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 In this excerpt, “palabra” is the lexical item that prompts a lateral sequence focused on the collaborative solving of a communicative problem. Through the sequence, the unknown Spanish word, elicited by Bogdana, a French participant, is continuously translated into French, English and Italian, until the problem is confirmed as being solved (“Merci”), and a new communication theme emerges (“conocen la canción "palabras palabras palabras? ”). The sign that the collaborative expansion of linguistic repertoires took place is the fact that even the new communicative theme is multilingually developed without the need to refer to the languages employed, as this information would appear to be misplaced. 5. Synthesis and perspectives: Plurilingual interaction in the contemporary foreign language education landscape The analysis we carried out points out to two main conclusions regarding the achievement of multilingual interaction in RL. The first is that “difference is the norm on which communicative success is built” (C ANAGARAJAH 2013: 17). The second is that “sharedness is achieved and not given” (idem: 17). Regarding the first assumption, we noticed that a great effort concerning the management of diversity is made and that this diversity is valued and perceived as positive, and as having a positive impact on communication. An argument that supports this finding is that languages not covered by the communicative contract are introduced in the interaction. Furthermore, the multilingual subjects do not abide by the monoglossic contract (“speaking one language”) and orient themselves towards a heteroglossic norm, where the languages are not kept in isolation. As regards the second statement, we have illustrated how interlocutors orient themselves towards each other, facilitating understanding and communication and thus the co-construction of intercomprehension. Besides, in this multilingual situation, meaning is achieved resorting to a variety of semiotic codes, which are solicited, mobilized and mutualized in specific moments depending on what is “happening”. Thus, intercomprehension depends not only on individual agency and on individual semiotic repertoires, but also on the collective dispositions, knowledge and know-how. A socio-constructivist approach to intercomprehension is therefore important to understand this interactional alignment and development of semiotic repertoires, attitudes, motivations and goals. From this perspective, intercomprehension between RL (seen through an interactional lens) is not the result of the juxtaposition of several linguistic “solitudes” in a void (to recall C UMMINS 2008), but the flexible ongoing process of sharing and crisscrossing multi-semiotic resources through specific and situated multilingual communicative strategies. Such a perspective recognizes that the co-construction of meaning in multilingual interaction depends on “the interdependence of skills and knowledge across languages” (C REESE / B LACKLEDGE 2010: 103), in an interindividual level. It further acknowledges the agency, voice, and creativity of participants in the cross-con- An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 111 44 (2015) • Heft 2 tamination of all semiotic resources available. Within our particular multilingual situation, this accomplishment of intercomprehension questions the validity of the linguistic boundaries around languages ascribed in the communicative contract and also the distinction between “reference language” and “target languages”. It further justifies the mobilization of a heuristic concept such as “translanguaging” to describe the coordinated mobilization of multi-semiotic resources in the co-construction of meaning. Finally, from a teaching and learning perspective in formal settings, the communicative excerpts analyzed clearly destabilize the notions of “linguistic norm”, “communicative norm” and desacralize some principles of communication each of us has internalized as being appropriate. Some of the issues named by K RAMSCH (2014) can be applied here, as being deconstructed and reconstructed in multilingual communication: • the existence of standardized languages with their stable grammars and dictionaries; • the clear boundaries between native and foreign languages and among foreign languages; • the codified norms of correct language usage and proper language use that language learners have to abide by for fear of not being understood or not being accepted by native speakers. These communicative situations can thus help teachers and students to discuss and problematize concepts such as power, face, comprehension, error, native-speaker and monolingual norm, useful to understand what is at stake in foreign language learning and teaching behind the curtains of linguistic codes and linguistic borders. As K RAMSCH declares, new linguistic practices in the era of globalization “seriously put into question the notion of the foreign in FL [Foreign Language] teaching” (2014: 297), dismantling well-established constructs such as “native speaker” and “native speaker like”, anchored in double/ triple monolingualism perspectives about plurilingual repertoires. She also argues that, under certain circumstances, such kind of communicative performance could be included in the classroom routines, as a sign of authentic communicative use and of adaptive practices, as they frame the real linguistic world outside the classroom. This integration could provide opportunities to: i) foster metalinguistic, metapragmatic and metacommunicative awareness, metaphoric imagination and symbolic competence in language education; and ii) multiply the possibilities of meaningmaking and meaning interpretation by expanding the semiotic horizons of communication. We argue, following K RAMSCH ’s perspective, that “The purpose is not to abandon all standard pedagogic norms of language use as the goal of instruction. It is, rather, to strive to make our students into multilingual individuals, sensitive to linguistic, cultural, and above all, semiotic diversity, and willing to engage with difference, that is, to grapple with differences in social, cultural, political, and religious worldviews” (2014: 305). 112 Sílvia Melo-Pfeifer 44 (2015) • Heft 2 References A RAÚJO E S Á , Helena / D E C ARLO , Maddalena / M ELO -P FEIFER , Sílvia (2010): “‘O que diriam sobre os portugueses? ? ? ? ? ’ [What would you say about Portuguese people? ]: intercultural curiosity in multilingual chat-rooms”. In: Language and Intercultural Communication 10.4, 277-298. B LOCK , David (2014): “Moving beyond ‘lingualism’: Multilingual embodiment and multimodality in SLA”. In: M AY (ed.), 54-77. B LOMMAERT , Jan (2010): The Sociolinguistics of Globalization. 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(2011): Intercomprehension: Learning, Teaching, Research / Apprentissage, Enseignement, Recherche / Lernen, Lehren, Forschung. Tübingen: Narr. An interactional perspective on intercomprehension between Romance Languages 113 44 (2015) • Heft 2 M ELO -P FEIFER , Sílvia (2011): “De la dissociation à l’articulation de compétences: apports théoriques au concept d’Intercompréhension”. In: M EISSNER et al., 219-242. M ELO -P FEIFER , Sílvia (2014) “Intercomprehension between Romance Languages and the role of English: a study of multilingual chat-rooms”. In: International Journal of Multilingualism, 11.1, 120- 137. M ELO -P FEIFER , Sílvia / A RAUJO E S Á , Maria Helena (2010) : “La construction de l’intercompréhension dans l’interaction: images des langues et conscience plurilingue dans des clavardages romanophones”. In: D OYÉ / M EISSNER (eds.), 267-280. 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Angesichts der hohen Wertschätzung, die - nicht nur - wir dem verstorbenen Kollegen und seiner langjährigen, die deutsche Fremdsprachendidaktik nachhaltig prägenden Arbeit entgegen bringen, nehmen wir diese Möglichkeit zur Veröffentlichung des Textes sehr gerne wahr. Dabei handelt es sich um ein nur unwesentlich bearbeitetes Fragment eines Publikationsvorhabens, an dem der Autor bis zum Schluss gearbeitet hat. Wir drucken es im Folgenden in einer Form ab, die von den üblichen Formaten der Beiträge dieser Zeitschrift leicht abweicht. D IE H ERAUSGEBER Herbert C HRIST ist am 26. Februar 2011 verstorben. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem größeren Manuskript, an dem er während seiner Krankheit arbeitete, das er aber nicht mehr fertig zu stellen vermochte. Teile des Manuskripts sind vollständig ausgearbeitet, andere bestehen aus Fragmenten. Die hier zusammengefügte Version hat Herr Professor Dr. Franz-Joseph M EIßNER (FJM) von der Universität Gießen gegengelesen, dem ich hierfür sehr dankbar bin. Er hat mir auch einige inhaltliche Hinweise übermittelt, insbesondere zum Zusammenhang von Identität und Sprache und zu (Fremd-)Verstehen sowie bibliographische Ergänzungen genannt (vgl. Fußnoten 1, 3, 5 und 7). Wenn Herbert C HRIST in einem Vortrag aus Zeitgründen kürzen musste, sagte er mit verschmitztem Lächeln: „Das Schönste bekommen Sie natürlich jetzt leider nicht mit.“ Ich wünschte mir allerdings, die zentralen Gedankengänge bei der Zusammenstellung erfasst und auch den Tenor seiner Schreibweise bewahrt zu haben. Ingeborg Christ N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 44 (2015) • Heft 2 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag H ERBERT C HRIST * Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - eine Perspektive für europäische Bürgerinnen und Bürger 1. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in personaler und gesellschaftlicher Perspektive Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind seit etwa 20 Jahren viel erörterte Themen im politischen und im bildungspolitischen Raum. Das ist nicht nur in Europa der Fall, aber gerade auch in Europa. Beide Begriffe sind allerdings umstritten, nicht nur, weil man sich über ihre Definition nicht verständigen kann, sondern mehr noch, weil sie als Forderungen vorgetragen werden, wie dies z.B. von Seiten der Europäischen Kommission (1995) geschehen ist, die das Erlernen von (mindestens) zwei Sprachen neben der Muttersprache für unabdingbar hält, um in einer Welt, deren Bewohner immer mobiler * Prof. Dr. phil. Herbert C HRIST , geboren am 13. September 1929 in Berresheim (Mayen), verstorben am 26. Februar 2011 in Düsseldorf. Verheiratet seit 1962 mit Ingeborg geb. L ENNARTZ (Dr. phil.) - Studium der Fächer romanische Philologie, Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie und Pädagogik in Bonn und Brüssel. 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, Referendariat, Promotion, von 1956 an Lehrer an Gymnasien in Essen und Duisburg, Lehrerausbilder (Fachleiter) am Studienseminar Duisburg. 1974 Professur für „Didaktik der romanischen Sprachen und Kulturen“ an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Emeritiert 1995. Zahlreiche Publikationen zum Lehren und Lernen fremder Sprachen, zur Literaturdidaktik, zur Sprachenpolitik, zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in Europa, zum Fremdverstehen und zum interkulturellen Lernen sowie zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern und zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts. Einige bestimmende Werke: Fremdsprachenunterricht für das Jahr 2000. Sprachenpolitische Betrachtungen zum Lehren und Lernen fremder Sprachen. Tübingen: Gunter Narr 1991; Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen, 7 Bände, hrsg. zusammen mit Hans-Joachim R ANG , Tübingen: Gunter Narr Verlag 1985; Handbuch Fremdsprachenunterricht, hrsg. zusammen mit Karl-Richard B AUSCH und Hans-Jürgen K RUMM , Tübingen. Francke 1989 (5. Auflage 2007); zusammen mit Albert G LAAP Herausgeber der Zeitschrift „Der fremdsprachliche Unterricht“ (1980 bis 1988). Mitbegründer und Mitherausgeber der „Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik“. Engagement für die Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens von Sprachen in allen Bildungseinrichtungen im Rahmen der einschlägigen Fachverbände und für die Weiterentwicklung der universitären Fremdsprachendidaktik u.a. durch Mitbegründung der „Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts“ und (zusammen mit Lothar B REDELLA ) eines „Graduiertenkollegs zum Fremdverstehen“ an der Universität Gießen; Co-Präsident der „Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue Etrangère et Seconde / SIHFLES). Träger des Ordens „Commandeur dans l’Ordre des Palmes académiques“ der Französischen Regierung. Nach seiner Emeritierung Gründung (zusammen mit seiner Ehefrau) der „Herbert und Ingeborg Christ- Stiftung Lehren und Lernen fremder Sprachen“ zur Förderung junger Forscher im Bereich der Didaktik der romanischen Sprachen. 116 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 werden, tüchtig sein und in verschiedenen Kulturen leben und arbeiten zu können. Sie sind auch umstritten, sobald die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung erörtert werden. Unter welchen Bedingungen können Menschen mehrsprachig und mehrkulturell werden? 1 Ist dies allen möglich oder nur wenigen? Was kostet sie dies und was müssen sie dabei aufgeben? Was kostet es die Gesellschaft und welchen Gefahren wird sie dabei ausgesetzt? Auch die Wissenschaften haben sich dieser Themen angenommen, die Philosophie und die Psychologie, die Kultur- und die Sozialwissenschaften, die interkulturelle Pädagogik und nicht zuletzt auch die Fremdsprachendidaktik, die einen neuen Forschungsbereich eröffnet hat bei dem die Didaktik der Mehrsprachigkeit und Erziehung zur Offenheit gegenüber fremdem Kulturen im Zentrum stehen. Bei beiden geht es um personale Fähigkeiten (oder wie manche heute vorziehen: Kompetenzen). Ich frage daher zunächst nach der Sprachlichkeit und der Kulturalität der Person, nach deren Möglichkeiten und deren Wachstum. Von diesen ausgehend kann man erkennen, was geschehen muss, damit sich mehrsprachige und mehrkulturelle Personen entwickeln können, die mit anderen eine mehrkulturelle und mehrsprachige Gesellschaft aufzubauen in der Lage sind. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Fähigkeiten manifestieren sich als soziale Praxen: Sie entwickeln sich in Interaktion mit Anderen. Kein Mensch lernt allein. Sie entwickeln sich an verschiedenen Orten: z.B. Familie, Schule und Beruf 2 und entfalten sich auch in unterschiedlichen Rollen und Situationen, die im Verlauf des Lebens wechseln. Sie sind schließlich von den Interessen und den (nicht nur kommunikativen) Absichten der Interagierenden abhängig. Sie werden mit unterschiedlichen Erwartungen derjenigen konfrontiert, die soziale Normen ins Feld führen (Was ist sprachlich und kulturell „legitim“? ). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind ein Teil der Biographie der handelnden Personen. Sie stellen sich in „Entwicklungslinien und Brüchen“ in den Lebensläufen dar. Die didaktische Theorie wie die Politik müssen sich daher, so ist meine These, der Person als Ganzer zuwenden - der lernenden, sprachhandelnden, verstehenden, sprachbewussten, an Kulturen teilhabenden, kulturbewussten, sich lebenszeitlich entwickelnden und wachsenden, der politisch, ökonomisch und gesellschaftlich handelnden, der ökologisch verantwortlichen Person - wenn sie den Bereich der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität erfassen und darin wirksam werden wollen. Die Person muss für ihre gesamte Lebenszeit betrachtet werden, als kindliche Person, als heranwachsende und als erwachsene. Es gilt zu erkennen, wie ihre Fähigkeiten wachsen und sich entwickeln. Sie muss als Partner wahrgenommen und behandelt wer- 1 Zu den Begriffen „mehrkulturell“ und „Mehrkulturalität“ siehe unten, Kapitel 2. Wie diese Forderung für den Fremdsprachenunterricht zu verstehen ist und welche praktischen Wege beschritten werden sollten, ist in einem gemeinsam von Vertretern deutscher und französischer Lehrerverbände erarbeiteten Text niedergelegt (B ERTRAND / C HRIST 1990) (Hinweis FJM). 2 Die Aufzählung der Orte kann differenziert und erweitert werden. Ich nenne einen Ort an der Wende des zweiten Weltkriegs: Deutsche Kriegsgefangene sprechen sich frei. Das ist ein anschauliches und zugleich berührendes Kapitel deutsch-amerikanischer und deutsch-britischer Praxis auf dem Wege vom Krieg zu Frieden. Vgl. hierzu L INNARTZ (1989). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 117 44 (2015) • Heft 2 den, angesichts „mannigfacher Erwartungen“ verschiedener „Umfelder“ an ihre sprachlichen und kulturellen „Kompetenzen“. Hier halte ich fest: Der Ausgangspunkt der didaktischen Theorie in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität ist ein personaler. Die Zielvorstellungen sind sozialer Natur. Beide Sichtweisen sind auf das Engste miteinander verbunden. Die Person lernt ihr Leben lang. Sie ist, wie es der Murcianer Linguist Manuel M UÑOZ C ORTÉS in einem schönen Bild ausdrückte, « un eterno aprendiz » - ein immerwährender Lehrling. Sie lernt nämlich nicht nur in der Schule, sondern zuvor schon in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz - sie lernt überall, und wo dies in Dialog und Kommunikation geschieht, wirkt sie auch auf andere, und ist, indem sie lernt, zugleich eine sich mitteilende und damit auch eine lehrende Person. Aber sie ist nicht nur eine lernende und lehrende, sondern im weiteren Sinn eine handelnde Person: sie handelt sprachlich, indem sie Sprachen zu den ihren macht, sie handelt kulturell, indem sie an Kultur(en) teilhat und diese verändert, sie handelt aber ferner politisch, ökonomisch und ökologisch, sie handelt eingebunden in die Gesellschaft. Die Person auf dem Weg zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität braucht einen langen Atem. Sie hat nämlich einen lebensbegleitenden Lernprozess vor sich - lifelong learning, apprentissage tout au long de la vie, formazione lungo l’arco de la vita - wie die E UROPÄISCHE K OMMISSION (1995) in ihrem Bericht „Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“ formulierte. Die Kommission sagte damit nichts Neues, sondern beschrieb, was seit eh und je in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Fall ist: Niemand lernt ein für allemal. Ein jeder, eine jede vergisst. Jedermann und jede Frau müssen immer wieder Neues und von neuem lernen. 3 Dem Aufruf zum lebensbegleitenden Lernen ist meines Wissens von keiner Seite ernsthaft widersprochen worden. 4 Wenn er jedoch in die Tat umgesetzt werden soll, dann muss sich nicht nur im Bereich des Lernens und Lehrens fremder Sprachen und Kulturen sehr viel verändern. Nicht nur die Gewichte der lehrenden Institutionen sind neu auszutarieren, auch das Bewusstsein der Lernenden und Lehrenden muss sich verändern, z. B. in Bezug auf ihr Zusammenwirken. Der Lernprozess ist Teil der Entwicklung einer sich verändernden Gesellschaft. Deshalb ist der Weg nicht selbstverständlich und ist Risiken ausgesetzt. Es reicht nicht aus, Möglichkeiten des Lernens anzubieten. Den Lernenden muss erklärt werden, warum und zu welchen Zwecke sie lernen sollen. Dies hat auch eine kulturelle Dimen- 3 Der Grad der Identifizierung mit der Europäischen Union, ihren Werten und ihren Institutionen in der öffentlichen Meinung lässt sich in dem Eurobarometer ablesen, den das Europäische Parlament regelmäßig durchführen lässt, aber es lässt sich darin auch erkennen, dass der Weg zu einer „europäischen Identität“ weit ist. Für M EIßNER (2014: 199) „deutet sich mittelfristig eine Verschiebung zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als identitätsstiftendes Element an. Ein Mehr an individueller, auch zum Teil rezeptiver Mehrsprachigkeit bedeutet ein Mehr an common grounds bzw. europäischer I. (= Identität).“ (Ergänzung von I. C.) 4 Die Notwendigkeit war - obwohl eigentlich selbstverständlich - aus gut nachvollziehbaren Gründen „in Vergessenheit geraten“: Wer ein Diplom hatte, besaß eine Berechtigung, und er hatte kein Interesse daran, dass Andere deren Wert in Frage stellten. Wer eine Berechtigung zu vergeben legitimiert war, bestand darauf, dass es dabei blieb. Er hatte kein Interesse daran, dass Anderen (Personen oder Institutionen) diese Legitimation zugesprochen würde. 118 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 sion, sie betrifft die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Kulturen und Menschen unterschiedlicher Kulturen umzugehen. Dieser Prozess bedeutet immer auch - wie die Didaktik des Fremdverstehens herausgearbeitet hat - eine Veränderung der eigenen Kultur, in der die Auseinandersetzung mit heterokulturellen Themen geschieht (B REDELLA / C HRIST 1995) 5 . Darüber muss mit ihnen diskutiert werden. Es gehört zu den Aufgaben der Bildungspolitik und der Didaktik der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität, den Bürgern und Bürgerinnen Europas die Perspektiven einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft zu erklären. Sie müssen mit ihnen Wege zu ihrer Realisierung erörtern, das Interesse erkennbar machen, das jede einzelne Person an der Realisierung für sich hat. Es versteht sich von selbst, dass den Lehrenden bei dieser Vermittlung eine zentrale Rolle zukommt. 2. Ausgangspunkt - die mehrsprachige und mehrkulturelle Person Ausgangspunkt und Mittelpunkt meiner Darlegungen ist die mehrsprachige und die mehrkulturelle Person. Ich gehe davon aus, dass alle Menschen virtuell mehrsprachig sind und tatsächlich an verschiedenen Kulturen teilhaben. Viele Personen entwickeln sich im Verlauf ihres Lebens zu aktuell mehrsprachigen und bewusst mehrkulturellen Personen. Diese Entwicklung von der Virtualität oder Potentialität zur Aktualität wird uns beschäftigen. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität werden hier bewusst und ausdrücklich gemeinsam 6 behandelt, denn die beiden Fähigkeiten stehen in engem Zusammenhang, und ich betrachte sie als ein einheitliches und nicht teilbares Bildungsziel. Sie gehören nach meinem Verständnis des Lehrens und Lernens fremder Sprachen und Kulturen zusammen. 7 Ich behandele sie, wie einleitend schon gesagt, ausgehend von der Sprachlichkeit und Kulturalität der (lernenden) Person. Alle weiteren Fragen und Problemstellungen werden an diesen anthropologischen Ausgangspunkt angeschlossen. Von der Basis des mit Sprachlichkeit und Kulturalität ausgestatteten menschlichen 5 „Wir haben auf die weit verbreitete Auffassung hingewiesen, daß wir andere Kulturen gar nicht verstehen können. Wenn Verstehen immer nur auf dem Hintergrund des Eigenen gelingt, ist es dann nicht, wie die Kritiker sagen, wesentlich durch das Eigene bestimmt und daher Vereinnahmung und Reduzierung des Fremden auf das Eigene? Dem ist entgegenzuhalten, daß im Verstehen des Fremden auch das Eigene verändert wird, wenn wir lernen, die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Insofern sind wir auf das Fremde angewiesen, um den Dogmatismus, der in jeder Kultur liegt, zu relativieren“ (B REDELLA / C HRIST 1995: 18). (Ergänzung FJM) 6 Mit dieser Haltung stehe ich nicht allein. Der 18. Kongress für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) hatte das Motto „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität“ (A GUADO / H U 2000). C OSTE / M OORE / Z ARATE (1997) behandelten Compétence plurilingue et pluriculturelle. Das Europarats-Projekt CARAP hatte ein Framework of reference for pluralistic approaches to languages and cultures zum Gegenstand (C ANDELIER 2007), und Z ARATE / L EVY / K RAMSCH (2008) gaben einem Gemeinschaftswerk europäischer und nordamerikanischer Wissenschaftler den Titel Précis du plurilinguisme et du pluriculturalisme. Die parallele und gleichzeitige Betrachtung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität ist nicht mehr ungewöhnlich. Gleichwohl ist sie nicht unumstritten. 7 Die Komplexität und Dynamik beim Kulturtransfer ist in L ÜSEBRINK / R EICHARDT (1997) am Beispiel der gegenseitigen Beeinflussung des Deutschen und Französischen dargestellt. (Hinweis FJM) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 119 44 (2015) • Heft 2 Wesens und seines Handelns aus ist alles Weitere zu erörtern: wie Personen zu mehrsprachigen und mehrkulturellen Wesen werden, wie sie sich als mehrsprachige und mehrkulturelle Individuen erfahren, wie sie sich als solche erkennen und akzeptieren, welche Konsequenzen sie aus dieser Erkenntnis ziehen und wie sie danach in der Gesellschaft handeln und wie sie die Politik bestimmen. Ich beginne also nicht mit der Betrachtung von Sprachen und Kulturen oder von Sprachgemeinschaften und Kulturgemeinschaften, sondern frage zuerst nach dem, was Personen im Kontakt mit anderen Personen kommunikativ tun. Wie leben und handeln sie in ihren Sprachen und Kulturen? Wie wachsen sie in ihre Sprachen und Kulturen hinein? Wie verhalten sie sich als Sprecher und als Nutzer von Sprachen, als Teilhaber an Sprachgemeinschaften, als kulturell Handelnde und Teilhaber an Kulturen? Dieser anthropologische Ausgangspunkt ist ein genuin fremdsprachendidaktischer. Von diesem anthropologischen Ausgangspunkt aus sind auch die Einstellungen der Personen zu ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität und zur Vielsprachigkeit und Multikulturalität im gesellschaftlichen Verstande zu untersuchen. Zu betrachten sind die Entwicklung und die allmähliche Entfaltung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in der Person. In Rechnung zu stellen sind auch die Anforderungen, die an sie gestellt werden, darunter z. B. die Erwartungen an das Lernen von der (frühen) Kindheit bis ins (hohe) Alter. Ebenso sind die gesellschaftlichen Bedingungen (Zwänge, Impulse, Hilfestellungen, Belohnungen, Sanktionen) kritisch zu betrachten: Wie werden personale Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität von den Gemeinschaften und der Gesellschaft, denen die Person angehört, beurteilt, bewertet, entwickelt, behindert, gefördert, genutzt, bestraft? Die zentrale Frage wird also sein, wie sich menschliche Wesen zu mehrsprachigen und mehrkulturellen Personen (im Sinne des Teilhabens an fremden Kulturen) entwickeln, wie ihre Bildung und Entwicklung zur Mehrsprachigkeit und zur Mehrkulturalität verlaufen, wie diese Bildung gelingen oder scheitern kann, wie und warum sie behindert oder gefördert wird, wie die Menschen - im Fall des erfolgreichen Erwerbs - Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität leben. Zu sprechen ist daher ferner - ausgehend von den einzelnen Personen - auch von den Familien, von Freunden und Altersgenossen (also den „Anderen“), ferner vom Bildungswesen, von der Arbeitswelt und vom Beruf, von der Gesellschaft und der Politik, kurz vom sozialen Rahmen der personalen Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Denn es ist zu untersuchen, ob und inwieweit dieser soziale Rahmen - das Umfeld - hilfreich ist für die Beförderung der Lernziele Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität Auch wenn die Personen im Zentrum des Interesses bleiben, so muss doch der Blick über sie hinausgehen und die Gesellschaft (in allen ihren Gruppen und Gemeinschaften) und die Politik und die Staaten mit einbeziehen. 120 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 2.1 Die Sprachlichkeit der Person Die Person ist von ihrem Anbeginn an mit Sprache begabt. Wilhelm VON H UMBOLDT (1979 [1820]: 11) beschreibt das Verhältnis des Menschen zur Sprache folgendermaßen: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“. Er oder sie ist ein Wesen, das sich durch Sprache ausdrückt, durch sie darstellt und sich durch sie zur Person im vollen Sinn entwickelt. Mit der Sprache erhält die ihrem Wesen nach flüchtige, von einem Gegenstand zu einem anderen in rascher Abfolge wechselnde „intellectuelle Thätigkeit“ - die Welt der Gedanken - einen sinnlich wahrnehmbaren und durch Laut und Schrift und Gebärde materiell fixierbaren Ausdruck, einen Anker- oder Speicherplatz im Leben der Person und der Gesellschaft. Mit ihr können Gedanken geäußert und festgehalten werden, werden sie anderen vermittelt. Sprache ist, wie H UMBOLDT im September 1800 an S CHILLER schreibt, „das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet.“ Auch moderne Sprachtheoretiker sehen eine enge Verbindung von Sprache und Denken. Allerdings, so stellt der Berliner Linguist Holden H ÄRTL (2009: 75) fest, kommt es darauf an, genauer hinzuschauen und die Schnittstellen von Sprache und Denken einzelsprachlich zu „adjustieren“. Das bedeutet, dass sich die Debatte von der Frage nach dem generellen Verhältnis von Sprache und Denken zu einer speziellen Betrachtung des Denkens in einzelnen Sprachen verlagert hat. Jürgen T RABANT (2010: 9) folgert daraus: „Das Denken hängt durchaus mit der Sprache zusammen, und das heißt allemal mit einer jeweils ganz bestimmten Sprache, weil Sprache sich nun einmal in der Verschiedenheit der vielen menschlichen Sprachen auf der Erde manifestiert. Die Welt wird den Menschen zunächst in einer bestimmten Sprache gegeben, die Menschen „denken“ die Welt in einer bestimmten Sprache. Wenn sie in eine andere Sprache übergehen, merken sie, dass dort die Welt anders gegeben ist.“ Die Menschen - als Menschheit betrachtet - haben Sprachen und sprechen sie auch. Diese Pluralität ist wesentlich. Sie sprechen in ihrer Mehrheit anders als ihresgleichen, ja bei genauerer Betrachtung wird man sagen: jeder spricht anders als seinesgleichen. Jede Person spricht ihre Sprache(n) auf ihre Art. 8 Die Menschen verfügen nicht über eine allen gemeinsame Sprache; es gibt nicht einmal eine Sprache, die von der Mehrheit der Menschen - aller Sprecher - gesprochen würde. Dies ist ein sprachenstatistischer Befund, der aber über die Statistik hinaus tiefere Bedeutung hat. Sie müssen sich nämlich angesichts ihrer ursprünglichen Bindung an eine Sprache um die Kommunikation mit den Sprechern anderer Sprachen bemühen. Darum gehen sie z. B. gelegentlich „in eine andere Sprache (oder in andere Sprachen) über“, wie T RABANT vermerkt: hörend, redend, lesend, schreibend, übersetzend, dolmetschend. Sie sind zur Mehrsprachigkeit gezwungen. Schon mit ihrer persönlichen Sprachlichkeit - ihren Sprachen - haben die Menschen von Anbeginn an ein gewichtiges Kommunikationsproblem. Ihre 8 Die Linguistik spricht vom „Idiolekt“ als der persönlichen Sprachform. „Der Idiolekt […] umfaßt sowohl das sprachliche System und übrige Kenntnisse, die dem Individuum sprachliche Äußerungen ermöglichen, als auch diese Äußerungen selbst“ (H AMMARSTRÖM 1980: 428). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 121 44 (2015) • Heft 2 eigenen Sprachen - ihre erste oder ihre ersten und die nachkommenden - müssen in eine konventionelle Form gebracht, sie müssen „normalisiert“, den sprachlichen Normen entsprechend entwickelt werden, damit sie von anderen Sprechern verstanden werden können. Von der Normalisierung der ersten Sprache können alle Eltern berichten. Sind doch die ersten Einwort- oder Zweiwortsätze der Kinder keineswegs allgemeinverständlich. Sie müssen für andere „übersetzt“ werden, und das tun Mütter und Väter unermüdlich, um ihren Kindern mit der Normalform zu einem Ausdruck zu verhelfen, der sie selbst kommunikationsfähig macht, so dass sie für sich selbst sprechen können. Diese Normalisierung der ersten Sprache (oder der ersten Sprachen) beginnt in der frühen Kindheit und wird durch die Umgebung des Kindes (Eltern, Vertraute, Freunde, Erzieher) gesteuert. Später steuert die weitere Umgebung, steuern Schulen und andere Bildungseinrichtungen, aber auch Bücher, Tonträger, Rundfunk, Fernsehen usw. die Normalisierung. Da die Person im Verlauf ihres Lebens mehr als nur eine Sprache lernen muss, um ihren Anteil an der Kommunikation unter den Menschen zu leisten, steht sie immer wieder unter dem Zwang, ihre Sprachlichkeit zu normalisieren 9 und den Gebrauch ihrer Sprachen zu aktualisieren, damit die Kommunikation mit Anderen möglich wird. 10 Die Menschen leisten das, indem sie lernen, „zwischen den Sprachen zu sprechen“ - das ist eine der Grundannahmen der Theorie der Mehrsprachigkeit. Allerdings wird die Existenz der vielen Sprachen nicht von allen widerspruchslos hingenommen. Dieses Faktum ist vielmehr ein Streitfall und es ist „[…] in der Welt […] ein Ärgernis. Es ärgern sich täglich am Skandal der Sprachenvielfalt die zahllosen Sprachschüler […], es ärgern sich die Philosophen, die gern die kognitive Vernunft mit der Sprachvernunft zur Deckung bringen möchten. Und es ärgern sich am Ende auch manche Linguisten, wenn sie lieber Sprach-Wissenschaftler als Sprachen-Wissenschaftler sein wollen“ (W EINRICH 2001: 9). Aber auch Politiker und Ökonomen, die in dem Nebeneinander der vielen Sprachen vor allem einen Kostenfaktor sehen, ärgern sich. Sie vergessen jedoch, dass diese vielen Sprachen mehr als Ausdrucksmittel, mehr als austauschbare Zeichensysteme sind. Sie sind nämlich zugleich Speicher unterschiedlicher Erfahrungen, Denkformen, Gefühle, die sie dem, der sie zu lernen gewillt ist, öffnen und zugänglich machen können. So ist das Ärgernis der Sprachenvielfalt „… gleichzeitig ein Glücksfall für die Menschheit. Denn wie hätten wir sonst in Erfahrung bringen können, dass dieses große Hindernis […] gleichwohl überwindbar ist. Denn Fremdsprachen sind ja erlernbar. Das kostet einige Mühe und erfordert beträchtlichen Aufwand, doch ist die prinzipielle Erlernbarkeit jeder Sprache ein Axiom der Linguistik. So kann auch Fremdes vertraut gemacht werden. Im Medium einer erlernten Sprache erfahren wir nämlich: 9 Der Weg in eine andere, eine fremde Sprache führt über die so genannten „Zwischensprachen“. Vgl. dazu S ELINKER (1972). 10 Der im Lernen vieler Sprachen erfahrene österreichische Linguist Mario W ANDRUSZKA weiß „wie schwer es uns manchmal fällt, mit unseren eigenen phonetischen, morphologischen, lexikalischen, syntaktischen, idiomatischen Abweichungen von der idealen Norm zur Hochsprache fertig zu werden.“ Ähnliche Schwierigkeiten stellen sich beim Lernen anderer Sprachen ein (W ANDRUSZKA 1979: 18). 122 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 Andere sehen, fühlen, denken anders, aber in Worte gefasst, ist ihr Anderssein nicht notwendig gleichbedeutend mit Fremdheit“ (W EINRICH 2001: 9). Sprachen sind Speicher des kulturellen Gedächtnisses 11 . Sie sind Orte kultureller Begegnung und kulturellen Verstehens, sie weisen Wege, wie man Fremde und Fremdes verstehen, mit Fremdheit umgehen kann. Sie sind aber auch und vor allem Orte der Identität. Das gilt für die Muttersprache, gilt aber auch für anderer Sprachen, sobald sie „meine“ geworden sind (C HRIST / H U 2008). „Wir können unsere Sprache, unsere Erst- und Muttersprache, nicht bloß als ein emotional neutrales Mittel der Verständigung betrachten, sondern müssen sie auch - es geht nicht anders - als Mittel der Identifizierung mit einer, mit unserer Gemeinschaft sehen: Eine Sprache ist auch Heimat“ (G AUGER 2008). 2.2 Zur Kulturalität der Person Der Sprachenvielfalt entspricht die Vielfalt der Kulturen. Sprachräume und Kulturräume sind zwar nicht deckungsgleich, aber sie korrespondieren miteinander. Denn Kulturen sind nicht sprachlos und Sprachen nicht kulturlos zu denken. Alle Kulturen können in allen Sprachen geäußert und verhandelt werden. Daher kann keine Kultur auf eine bestimmte Sprache eingeschränkt und keine Sprache einer wie auch immer gearteten Kultur ausschließlich zugeordnet werden. Wie wir aus der Kulturanthropologie wissen, ist die Person ursprünglich, das heißt von Anfang an, auf das Hineinwachsen in eine Kultur, auf deren Erwerb angelegt, so wie sie mit Sprache (mit Sprachfähigkeit) ausgestattet ist. Denn Personen leben in Kulturen und kommunizieren in Kulturen; sie kommunizieren zwischen den Kulturen. „Cultures do not talk to each other, individuals do” (S COLLON / W ONG -S COLLON 1995: 125). Personen sind es, die Kulturen gedanklich, sprachlich und materiell vermitteln und als Mittler zwischen den Kulturen fungieren. „Die Kulturanthropologie hat wiederholt betont, dass es kein ursprüngliches Naturwesen Mensch gibt, das sich dann noch die Kultur schafft. Der Mensch ist immer schon Kulturwesen. […] Es kommt hinzu, dass der Mensch nicht einfach in der Kultur schlechthin lebt, sondern in einer jeweils eigenen, besonderen Kultur. Es gibt die Kultur nur als abstrakte Begriffsbildung, nicht jedoch als Lebenswirklichkeit“ (C ESANA 2000: 439). Die „jeweils eigene besondere Kultur“ ist eine sehr persönliche. Sie ist nicht das bloße Abbild einer bestimmten historisch gewachsenen Kultur, sondern entwickelt sich lebenszeitlich im Kontakt mit sehr vielen Erscheinungsformen der Kultur, ist also insofern Spiegelbild einer Biographie. Die Feststellungen zur Kulturalität der Person wiederholen in gewisser Hinsicht, was zur Sprachlichkeit der Person gesagt wurde. Die Person ist Kulturwesen von Anfang an. Sie lebt aber nicht in der Kultur (die eine Abstraktion, aber keine Lebensform ist), sondern in einer jeweils eigenen, einer persönli- 11 Zu den Begriffen „kollektives Gedächtnis“, „kulturelles Gedächtnis“ , „kulturelle Identität“ vgl. auch A SSMANN (1988). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 123 44 (2015) • Heft 2 chen, die sich lebenszeitlich plural entwickelt und die ihr aus den Gemeinschaften zuwächst, denen sie angehört. So wie die Person lernt, sich (in der Regel zunächst) in einer Sprache zu äußern, die dann als die ihre angesehen wird und die sie selbst als die ihre verstehen lernt, so lebt sie sich in ihre persönliche Kultur ein, die „die sozial vermittelte Kultur prinzipiell, wenn auch zumeist minimal transzendiert“ (H ITZLER 1988: 74). Von dieser persönlichen Kultur aus - die über die sozial vermittelte, kollektive Kultur prinzipiell, wenn auch nur minimal hinausgeht - sucht und findet die Person im Verlauf ihres Lebens oder ihres Wachstums Zugänge zu anderen Kulturen, regelmäßig vermittelt durch Sprache. Diese persönliche Kultur erweist sich auch dann wieder als ein soziales Ereignis. Denn „[…] language is the principal means whereby we conduct our social lives. When it is used in contexts of communication, it is bound up with culture in multiple and complex ways“ (K RAMSCH 1998: 3). Jegliche Teilhabe an Kulturen ist sozial und kommunikativ - und das heißt auch und gerade durch Sprachen - vermittelt. 3. Zur Vielsprachigkeit und Multikulturalität von Gemeinschaften, Gesellschaften und Staaten Bisher war von der Sprachlichkeit und der Kulturalität der Person und ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität die Rede. Die Person lebt jedoch in Gemeinschaften und in Gesellschaften, in Staaten und Staatenverbünden, und diese bestimmen ihre Sprachlichkeit und Kulturalität mit. Es ist zu untersuchen, wie die Gesellschaften und Staaten mit den vielen Sprachen umgehen, die die Menschheit hervorgebracht hat. Weiter muss man wissen, wie sie auf die vielen Kulturen eingehen, die da sind, sich entwickeln und einander begegnen, durchdringen, bekämpfen, und auf die, die entstehen und untergehen. Sprachen und Kulturen begegnen einander in der Ökumene - mit diesem Wort bezeichnen Kulturanthropologen die von Menschen bewohnte Erde. Sie beanspruchen ihren Raum. Sie siedeln miteinander, untereinander. Wie ordnen Gemeinschaften, Gesellschaften, Staaten und Staatengemeinschaften diese Kohabitation, wie nutzen und fördern sie sie, wann, wie und warum bekämpfen sie sie, wie regeln sie Konflikte zwischen den Sprachgemeinschaften und den Kulturen? Es sind also oberhalb der personalen Ebene zwei Ebenen zu betrachten: die gesellschaftliche Ebene, wenn Sprachkontakte und -konflikte sowie Kulturkontakte und -konflikte in Gemeinschaften und in der Gesellschaft zu betrachten sind, sowie die politische Ebene, wenn Sprachenpolitik und Ökonomie der Sprachen sowie Kulturpolitik und Ökologie der Sprachen in Rede stehen. Handelnde wie auch Grundlage und Ziel des Handelns sind auch auf diesen Ebenen die Personen; denn sie sind es, die die Basis der Gemeinschaften, Gesellschaften und Staaten darstellen. Sie sind es, die Sprachen erwerben, lernen und gebrauchen, die Kultur haben und Kultur entwickeln und im Laufe ihres Lebens Kulturen kennen lernen und in andere Kulturen hineinwachsen. 124 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 Die Personen sind von ihren Sprachen, ihren Kulturen sowie den Gemeinschaften und Gesellschaften und Staaten, in denen sie leben, „geprägt“. Barbara S CHMENK (2008: 351) benutzt im Rahmen ihrer Betrachtung zur Autonomie der Person die Begriffe „Prägung“ und „Sozialisierung“, die unweigerlich durch Kultur geschieht, und sie setzt sich mit der Dialektik des Verhältnisses von Person und Kollektiv auseinander: Personen werden durch Kollektive, denen sie sich angeschlossen haben oder in die sie hineingeboren oder hineingewachsen sind (ob Gemeinschaften, Gesellschaften oder Staaten oder Kulturen), gebunden. Das bedeutet, dass sie sich diesen gegenüber nicht als autonom betrachten können. Sie bestimmen sich nicht uneingeschränkt selbst, sondern sie werden im Gegenteil von den Kollektiven heteronom (mit-)bestimmt. Was S CHMENK von der kulturellen Prägung und ihren Konsequenzen für die Freiheit der Person sagt, gilt auch für unsere Prägung durch Sprache(n). Auch die Sprachen gewähren uns nicht grenzenlose Freiheit. Ließen wir uns nicht auf ihre (von der Sprechergemeinschaft gesetzten) Normen ein, dann wäre Kommunikation mit anderen unmöglich. Selbst der bewusste Bruch der Normen z. B. in poetischer oder rhetorischer Absicht entlässt uns nicht aus ihrer Struktur. Nun bedeutet Prägung nicht Determinierung: wir sind weder Gefangene der Kultur(en) noch Gefangene der Sprache(n). Aber wir sind in ihnen verortet. Diese Verortung ist der Rahmen unserer sprachlichen und kulturellen Tätigkeiten. Ohne unsere Mitwirkung sind weder Gemeinschaft noch Gesellschaft noch Staat denkbar; ohne uns in unserer Verschiedenheit gäbe es aber auch nicht die vielen Sprachen und die vielen Kulturen, mit denen die Menschheit sich ausgestattet hat. Ohne uns würden sich die Sprachen und Kulturen nicht weiter entwickeln. Dazu leistet jeder Mensch einen (mehr oder weniger) bescheidenen Beitrag. Umgekehrt gilt aber auch, dass ohne historisch gewachsene Sprachen, ohne Kulturen, Gesellschaften, Staaten keine Personen denkbar sind. Ein (menschliches) Leben „jenseits kultureller Einflüsse“ und jenseits sprachlicher Form und außerhalb gesellschaftlicher und politischer Strukturen ist nicht denkbar. Hier greift die Dialektik von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Für den Einzelnen geht es folglich in der Realität um Mitbestimmung und Mitgestaltung, durch welche allerdings gleichzeitig die Selbstbestimmung eingeschränkt wird. In diesem Spannungsverhältnis von Personen und Institutionen entstehen unzählige Auseinandersetzungen und Konflikte, Auseinandersetzungen von Personen untereinander, einzelner Personen oder Gruppen mit ihren Gemeinschaften, der Gesellschaft und dem Staat und Konflikte zwischen den Kollektivitäten. Wenn von personaler Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität bzw. von Vielsprachigkeit und Multikulturalität im öffentlichen Raum die Rede ist, dann muss auch von diesen Konflikten gesprochen werden. Neben den Konflikten dürfen aber Konfliktlösung, Friedensstiftung und Ausgleich nicht vergessen werden. Tatsächlich können im öffentlichen Leben Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität erlebt und gelebt werden. Sie werden in Europa heutzutage mindestens toleriert, wenn gelegentlich auch eingeschränkt. 12 Staaten und überstaatliche Einrichtungen schützen 12 Historische und aktuelle Beispiele aus allen Gesellschaften und Staaten anzuführen wäre ein Leichtes. Jeder Leser, jede Leserin verfügt über eine eigene Sammlung. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 125 44 (2015) • Heft 2 Sprachen und Kulturen, auch solche von kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Gesellschaften fördern den kulturellen Austausch, öffentliche Hände organisieren Fremdsprachenunterricht. Mit öffentlichen Geldern werden Forschungen zu Sprachen und Kulturen unterstützt, auch solche zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Allerdings werden Förderung und Unterstützung häufig auch verweigert. 3.1 Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit und die ‚sprachenteilige Gesellschaft‘ Mario W ANDRUSZKA (1979: 13) hat das Dilemma der Vielsprachigkeit der Menschheit dargestellt: Die heutige Menschheit hat keine gemeinsame einheitliche Sprache (sie hat nie über eine solche verfügt), sondern sie äußert sich tatsächlich in „dreibis viertausend“ verschiedenen Sprachen, dazu in „zahllosen“ Mundarten, Gruppen- und Sondersprachen. Dies nennt W ANDRUSZKA die „ungeheure, ungeheuerliche Vielsprachigkeit“ der Menschheit, über die bekanntlich schon der Mythos von der Sprachverwirrung in Babylon berichtet. Diese Sprachverwirrung wurde als Fluch ausgelegt. Sie hat die Phantasie der Menschen immer wieder angeregt (hierzu B ORST 1957-1963). Das nüchterne Faktum ist, dass heute auf einige Milliarden Menschen einige tausend Sprachen kommen, große und kleine, dazu Dialekte, Gruppen- und Sondersprachen, solche mit wenigen hundert Sprechern und Großsprachen mit mehr als 100 Millionen Sprechern, aber es gibt keine „uns allen gemeinsame einheitliche Sprache“. Mario Wandruszka sieht die Lösung des erwähnten „Dilemmas“ der Vielsprachigkeit in der Mehrsprachigkeit des einzelnen Menschen. „Dieser ungeheuren, ungeheuerlichen Vielsprachigkeit entspricht zutiefst die Mehrsprachigkeit des einzelnen Menschen. Jeder von uns besitzt die Kraft, das Vermögen, verschiedene Sprachen zu verstehen und zu gebrauchen, immer neu zu lernen und auch wieder zu vergessen“ (Wandruszka 1979: 13). Die mehrsprachigen Menschen in ihrer Gesamtheit sind in der Lage, das scheinbar unverbundene Nebeneinander der Sprachen (das bekanntlich von der Vergleichenden Sprachwissenschaft in Frage gestellt wird) zu organisieren, haben sie doch das Talent, verschiedene Sprachen zu verstehen und zu sprechen und - wo nötig - weitere zu lernen. Sie sind auch in der Lage, Übergänge von der einen Sprache in die andere zu entdecken. Mehrsprachigkeit überwindet nämlich die Grenzen, die von der unverbundenen Vielsprachigkeit errichtet werden. Mit ihrer Hilfe kann aus der unverbundenen Vielsprachigkeit der Menschheit eine „sprachenteilige“ menschliche Gesellschaft werden, die zwar unvollkommen, aber durchaus effizient funktioniert (W EINRICH 1980). Wo viele Sprachen sind, braucht man viele Sprachmittler, also Sprachkundige 13 , die zwei oder mehr Sprachen verstehen und sprechen und den Menschen, die über keine gemeinsame Sprache verfügen, als Vermittler dienen können. Dabei ist nicht nur an 13 Dieser Begriff wurde in der DDR für Personen verwandt, die in der gesellschaftlichen Arbeit sprachmittelnd tätig wurden, unterhalb der Ebene von professionellen Übersetzern und Dolmetschern (C HRIST / DE C ILLIA 2007: 616). 126 Herbert Christ 44 (2015) • Heft 2 professionelle Übersetzer oder Dolmetscher zu denken, an Sprachenlehrer und Sprachwissenschaftler, die natürlich auch gebraucht werden, sondern an Sprachhelfer anderer Qualifikation, z.B. Fachleute auf den jeweils gefragten Gebieten, Sprecher verwandter Sprachen und Sprecher dritter Sprachen, die als Brückensprachensprecher dienen können, Personen, die interkomprehensiv 14 zu agieren verstehen usw. W ANDRUSZKA nennt die Vielsprachigkeit „ungeheuerlich“. Sie stellt in der Tat der Menschheit (nicht nur der Sprachwissenschaft! ) eine ungeheuere Aufgabe. Sie ist daher vielen Menschen „nicht geheuer“. Sie kann Angst wecken, unfreundliche und feindliche Reaktionen hervorrufen. Sie ist immer wieder eine neue Herausforderung und birgt Risiken. Es bedarf daher nicht nur vieler mehrsprachiger Menschen, um damit fertig zu werden, sondern auch der Einsicht aller, damit die Vielsprachigkeit nicht als Ausdruck der Boshaftigkeit und Starrköpfigkeit Einzelner, als zu überwindendes historisches Relikt, sondern als Konsequenz und Auswirkung der geschichtlichen Entwicklung Aller verstanden wird. 3.2 Mehrkulturalität und Multikulturalität Analog zur Vielsprachigkeit kann man von der Vielkulturalität oder (wie es sich eingebürgert hat) der Multikulturalität der Menschheit sprechen und damit das Faktum bezeichnen, dass die Menschen keine einheitliche, weltumspannende Kultur haben. Die Menschheit lebt vielmehr in tausenden verschiedenen Kulturen, größeren und kleineren, traditionellen und fortgeschrittenen (modernen, postmodernen), die wiederum in zahllose Subkulturen aufgegliedert sind. Niemand kennt sie alle, aber viele Menschen sind mit mehreren (vielen? ) vertraut - horizontal im Hinblick auf die Nachbarkulturen und die Ökumene, vertikal mit Blick auf die Subkulturen. Wie bei den Sprachen ist es überflüssig, mit dem Zählen der Kulturen zu beginnen. Ihre Zahl war zu allen Zeiten unstabil, ihre Abgrenzung ist umstritten. Sie entstehen und gehen unter, wie auch Sprachen geboren werden und sterben. Eines ist jedoch sicher: die Teilhaber der einzelnen Kulturen, großer wie kleiner, hängen ihnen an, identifizieren sich mit ihnen, sind unter Umständen bereit, sie zu verteidigen, ja sogar - wenn sie es ihrer Ansicht nach verlangen - für sie in den Tod zu gehen. Das hängt damit zusammen, dass sie von ihrer Kultur oder ihren Kulturen „geprägt“ sind und dass „ihre“ Kultur(en) für sie nicht einfach Kulturen neben anderen sind. Die Menschen sind, ob sie es wollen oder nicht, an die Kulturen gebunden, in denen sie leben und die sie geprägt haben. „Jedem Kulturalismus, der die eigene und die fremde Kultur schlichtweg als eine unter anderen betrachten würde, (ist) ein Riegel vorgeschoben“ (W ALDENFELS 2000: 245). Die eigene und die fremde(n) Kultur(en) werden als je besondere, als differente wahrgenommen und erlebt. Die Idee einer Weltkultur ist eine Illusion oder aber eine Täuschung, wenn sich nämlich dahinter die Absicht verbirgt, an ihrer Stelle eine bestimmte Kultur, z. B. die so genannte westliche Kultur, zu installieren. 14 Zur Interkomprehension vgl. D OYÉ (2005), D OYÉ / M EIßNER (2010). Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 127 44 (2015) • Heft 2 Die Unhintergehbarkeit der Kulturen schließt natürlich nicht aus, dass manch einer im Verlauf seines Lebens von einer Kultur zu einer anderen übergeht, z. B. auf Grund von Wanderung (Migration), Vertreibung, Konversion, Sprachwechsel, Heirat, politischem Protest. Dabei handelt es sich um eine persönliche Entscheidung. Andere wiederum - und das sind die meisten - leben dauerhaft in zwei oder mehr oder zwischen zwei oder mehreren Kulturen. Es ist wie im Fall der Vielfalt der Sprachen auch im Fall der Vielfalt der Kulturen durchaus angebracht, von einer „ungeheuerlichen“ Multikulturalität zu sprechen, denn sie verlangt von den Menschen einiges. Sie müssen sie verstehen, d.h. die historischen Bedingungen ihrer Entstehung und ihre Bedeutung nachvollziehen, sie müssen entweder die Verständigung suchen oder aber Konflikte austragen. Das „Ungeheuerliche“ kann zu Beunruhigungen und zu Auseinandersetzungen führen. Im Streitfall wird Schlichtung erforderlich. Wenn aber die Bedeutung der Existenz der verschiedenen Kulturen verstanden ist, dann wird man im Angehörigen einer anderen Kultur nicht von vorneherein eine verstockte Person, in einer anderen Kultur nicht sogleich eine zu missionierende Gemeinschaft sehen. Wer sich in der Multikulturalität zurechtfindet, wer sie verstehen, wer Streit schlichten, wer Brücken bauen kann, das ist der mehrkulturelle Mensch. Das sind Menschen, die gelernt haben, über den Tellerrand ihrer eigenen Kultur hinauszuschauen, sich über andere zu informieren, die eigene Position kritisch in die Betrachtung einzubeziehen und zu versuchen, Fremdes und Fremde zu verstehen. Literatur A GUADO , Karin / H U , Adelheid (Hrsg.) (2000): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Dokumentation des 18. Kongresses für Fremdsprachendidaktik. Dortmund 1999. Berlin: Pädagogischer Zeitschriftenverlag. 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Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität 129 44 (2015) • Heft 2 S ELINKER , Larry (1972): „Interlanguage“. In: International Review of Applied Linguistics X, 209-231. T RABANT , Jürgen (2010): „Ein Plädoyer für die Vielsprachigkeit“. In Frankfurter Allgemeine Zeitung 1. April 2010 (Nr. 77), 9. W ALDENFELS , Bernhard (2000): „Zwischen den Kulturen“. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26, 245-261. W ANDRUZSKA , Mario (1979): Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München: Piper. W EINRICH , Harald (1980): „Fremdsprachen in einer sprachenteiligen Gesellschaft“. In: Die Neueren Sprachen 79.3, 315-319. W EINRICH , Harald (1985): „Sprache und Wissenschaft“. In: D ERS .: Wege der Sprachkultur. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 42-60. Z ARATE , Geneviève / L EVY , Danielle / K RAMSCH , Claire (Hrsg.) (2008): Précis du plurilinguisme et du pluriculturalisme. Paris: Editions des archives contemporaines. 44 (2015) • Heft 2 M e h r S c h ri f tli c h k e i t b i tt e ! Implizit stellt die hier zu diskutierende Forderung eine unnötige Opposition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf. Mir wäre es daher fast lieber, diese zu verwerfen und mehr „Registersensibilität“ im Fremdsprachenunterricht zu fordern - schließlich wissen wir aus der Sprachwissenschaft seit geraumer Zeit, dass in Wirklichkeit ein Kontinuum zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit besteht, das sich mit Begriffen wie „Nähe“ vs. „Distanz“, „Ungeplantheit“ vs. „Geplantheit“ usw. erfassen lässt. Dann würde deutlich, dass niemand ernsthaft einen Fremdsprachenunterricht fordern könnte, in dem nur dialogische, nähesprachliche und ungeplante sprachliche Handlungen vollzogen werden - ganz abgesehen davon, dass das Erlernen des nähesprachlichen Gesprächs und seiner Primärgrammatik unterrichtlich fast unmöglich ist und auch hinsichtlich späterer Sprachnutzungssituationen kein sinnvolles Ziel darstellt. Umgekehrt heißt dies, dass Lerner nur durch die mit konzeptionell-schriftsprachlichen Sekundärgenres verbundenen Planungs- und Reflexionsprozesse vom inneren Sprechen zu komplexem und abstraktem Denken geführt werden können und einen bewussten Zugriff auf die Eigenschaften der Zielsprache erhalten; nur in Schreibaufgaben kann der Schüler mit diesen experimentieren und der Lehrer gezielt korrigieren. Ein solcher bewusster sprachlicher Zugriff in eher distanzsprachlichen Aktivitäten wiederum zeitigt positive Effekte auf die Komplexität der mündlichen Ausdrucksfähigkeit. Wer in formellen mündlichen Kontexten kommunizieren will, benötigt eine solche schriftsprachliche „Vorprägung“. Auch in der Frühphase des Fremdsprachenlernens wirkt sich die Praxis des Schreibens positiv auf den Lernerfolg aus. Lexiko-grammatische Konstruktionen prägen sich schon in den Anfangsjahren besser ein, wenn sie auch schriftlich festgehalten werden. Beim Erwerb anderer Schriftsysteme (z.B. Russisch) führt eine beständige Interaktion zwischen Lesen und Schreiben zu einem schnelleren und korrekteren Erwerb der Lesefähigkeit. Hinzu kommt, dass vor allem im Rahmen von Schreibaufgaben neuer Wortschatz nachgeschlagen und dauerhaft behalten wird. Es kann also nicht darum gehen, Schriftlichkeit und Mündlichkeit gegeneinander auszuspielen oder deren jeweilige Unterrichtsanteile streng zu bemessen; vielmehr sollten sich verschiedenste Ausprägungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb komplexer Aufgabenformen gegenseitig befruchten. Verständigen sich Schüler und Lehrer mündlich über eine Aufgabe und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel und erarbeiten gemeinsam Modelltexte, so ist es die Schreibaufgabe, die einen Raum für die sonst arg zu kurz kommende „echte“ Mündlichkeit schafft! Auch hinsichtlich der späteren Nutzungskontexte gilt: nie wurde so viel geschrieben wie heute, und wer schreibt, bietet mehr Information in kürzerer Zeit. Fazit: Schreiben ist eine unverzichtbare Lernhilfe, ein hohes Bildungsgut und der Schlüssel zur Teilhabe an der Weltgesellschaft. Osnabrück D IRK S IEPMANN Pro und Contra 131 44 (2015) • Heft 2 Mehr Schriftlichkeit bitte! Wieso eigentlich? Macht diese Forderung Sinn? Was ist denn mit Schriftlichkeit genau gemeint und wer äußert diese Forderung eigentlich? Sind es vielleicht dieselben, die im Zuge sich massiv medial verändernder Schreib- und Leseprozesse, z.B. in Form von häufig als verkümmert wahrgenommenen Formen der schriftlichen (konzeptionell eher mündlichen) Kommunikation à la WhatsApp den Untergang der Schriftkultur befürchten? Ist es eine Forderung von denjenigen, die einen allgemeinen Sprachverfall wahrzunehmen glauben und als Konsequenz die Schule für die Ausbildung einer kultivierten Schriftlichkeit in die Pflicht nehmen? Vielleicht sind es auch Verlustängste bezüglich der Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die hier zu einer Überreaktion führen, da der Computer durch Rechtschreibprüfung, Spracherkennung und Autovervollständigung von Wortanfängen den Verfasser stärker aus der Verantwortung nimmt? Fest steht, unsere Schreib- und Leseroutinen verändern sich massiv, und in jedem Fall bedarf es einer differenzierten Betrachtung, wie Schriftlichkeit (als Metapher für einen Kompetenzkomplex des Verarbeitens und Produzierens von schriftlichen Texten) eigentlich gefördert wird, welche Ziele damit erreicht werden sollen und welcher Stellenwert ihr insgesamt zugemessen wird. Beteuern wir nicht immer wieder, dass wir eine Fremdsprache heutzutage vor allem kommunikations- und fähigkeitsorientiert unterrichten und dass die verschiedenen Fertigkeitsbereiche gleichberechtigt und integrativ gefördert werden? Leistet der moderne Fremdsprachenunterricht das etwa nicht? Muss hier eine Schriftlichkeitsoffensive her? Bereiten wir unsere Lernenden nicht auf eine Vielfalt von Textsorten, Textrezeptions- und -produktionsformen vor? Die Antwort ist ein klares Nein. Fakt ist doch, dass mit zeitgemäßen Lehrwerken orientiert an den can do-Deskriptoren der Bildungsstandards die Lernenden Bezug nehmend auf vielfältige Textsorten und Schreibanlässe - von einfachen Personenbeschreibungen über Berichte zu Ferienerlebnissen (häufig als Alibi-Aufgabe, um das simple past zu üben), dem Schreiben von Reimen, Emails, Internetartikeln, Bewerbungsschreiben, Interpretationen oder Filmkritiken - auf vielfältige Weise darin unterstützt werden, ihre Fähigkeiten im Kompetenzbereich Schreiben zu entwickeln. Zweifelsfrei muss hier kritisch hinterfragt werden, wie bedarfsgerecht Unterricht auf das vorbereiten kann, was im Leben an Schreibkompetenz in der Fremdsprache tatsächlich gebraucht wird. Hier wäre ein Authentizitätscheck vieler Aufgaben und Textsorten nötig. Vor allem die Frage der pragmatischen Angemessenheit der schriftlichen Kommunikation kommt bisher zu kurz. Wenn Lernende im Abitur eine zehnseitige Textanalyse anfertigen können, aber beim Verfassen einer Beschwerde-Email an das Kundencenter des Online-Shops an ihre Grenzen kommen, herrscht Optimierungsbedarf. Die Forderung nach mehr Schriftlichkeit ist hier aber falsch. Nicht die Quantität, sondern die Qualität macht den Unterschied. Lüneburg T ORBEN S CHMIDT © 2015 Narr Francke Attempto Verlag 44 (2015) • Heft 2 B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Daniel R EIMANN : Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen: Theorie und Praxis des neokommunikativen und kulturell bildenden Französisch-, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts. Stuttgart: Ibidem 2014 (Romanische Sprachen und ihre Didaktik; Band 50), 783 Seiten [79,90 €] Daniel R EIMANN verfolgt in seinem Werk ein doppeltes Anliegen. In erster Linie (vgl. S. 55) möchte er einen akademischen Beitrag zur theoretischen Reflexion über das Konzept der Transkulturalität leisten, das seiner Einschätzung nach besonders in der romanistischen Fremdsprachendidaktik bislang zu wenig berücksichtigt wurde. Er macht dagegen den Vorschlag, es nunmehr als „zentrale Denkfigur des Fremdsprachenunterrichts“ (S. 46) und „als das ideale Ziel eines jeden Fremdsprachenlernens“ (S. 65) zu begreifen. Da in der akademischen Diskussion immer wieder die konzeptionellen Schwächen der - in allen Leitdokumenten fest verankerten - Interkulturalität kritisiert werden, sind Versuche, diese zu überwinden, ohne Zweifel zu begrüßen.Das zweite Anliegen des Autors besteht darin, der oft beklagten inhaltlichen Verflachung des kompetenzorientierten Fremdsprachenunterrichts entgegenzuwirken. Hierfür stellt er eine Fülle unterrichtspraktischer Vorschläge bereit, die sich auf das Französische, Spanische, Italienische und Portugiesische beziehen und für den beeindruckenden Umfang des Bandes sorgen. Dieser besteht aus insgesamt 27 Kapiteln, die in fünf Hauptteile untergliedert sind. Im ersten, ca. 75 Textseiten umfassenden Teil (Kap. 1) entwickelt R EIMANN „Das Modell der transkulturellen kommunikativen Kompetenz“. Im zweiten Teil (Kap. 2-9) geht es um „Sprachdidaktische Grundlagen inter- und transkultureller kommunikativer Kompetenz“. Der dritte Teil (Kap. 10- 14) steht unter dem Titel „Soziokulturelles Orientierungswissen als Grundlage inter- und transkultureller Kompetenz“. Der vierte Teil (Kap. 11-21) besteht aus Beiträgen zum Thema „Inter- und transkulturelles Lernen durch Literatur und kulturkundlichen Unterricht“. Schließlich werden im fünften Teil (Kap. 22-27) „Anwendungsfelder und Fallbeispiele“ für transkulturelle kommunikative Kompetenz entfaltet. Bei der Mehrzahl der Kapitel handelt es sich um — teils leicht überarbeitete — Wiederabdrucke früherer Publikationen. Lediglich das einleitende Theoriekapitel sowie drei weitere Kapitel (8, 20 und 24) erscheinen im vorliegenden Band erstmalig. Zu den prominentesten Kritikern des Konzeptes der Interkulturalität gehört seit Mitte der 1990er Jahre der Philosoph Wolfgang W ELSCH . 1 Er bemängelt, dass es auf dem Herderschen Kulturverständnis basiere, in dem Kulturen als nach innen homogene und nach außen abgegrenzte ‚Kugeln‘ modelliert werden. Für plurale Gesellschaften in einer globalisierten Welt sei dieses Kulturverständnis aber nicht mehr sinnvoll, denn kulturelle Phänomene seien heutzutage stets von gegenseitigen Überlappungen und Durchdringungen gekennzeichnet. Genau dies soll die neue Vorsilbe transzum Ausdruck bringen. Der vorliegende Band ist daher im Licht der Frage zu beurteilen, inwiefern es dem Autor gelingt, die häufig zu Recht als solche benannten Defizite der Interkulturalität durch das von W ELSCH maßgeblich geprägte Konzept der Transkulturalität zu lösen. 1 Zusammenfassend vgl. Wolfgang W ELSCH : „Was ist eigentlich Transkulturalität? “ In: D AROWSKA , Lucyna / L ÜTTENBERG , Thomas / M ACHOLD , Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: Transcript 2010, 39-66. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 133 44 (2015) • Heft 2 R EIMANN versteht seinen Vorschlag als Fortführung bestehender Konzepte zum kulturellen Lernen. Diese vereint er in einem gestuften Modell (vgl. S. 67), das ein „Kontinuum von Landeskunde, Inter- und Transkulturalität“ (S. 66) darstellt. Die Progression soll an zwei Dimensionen entlang erfolgen: Zum einen durch einen steigenden Grad der Vertiefung der Inhalte, zum anderen in Abstimmung mit dem zunehmendem Alter der Lerner und mit ihrem Lernfortschritt in der Fremdsprache. Hierdurch sollen Grenzen zwischen Sprach- und Kulturräumen überwunden und Kulturen vernetzt werden (vgl. S. 67). Interkulturalität und Transkulturalität unterscheiden sich für den Autor dabei vor allem in dreierlei Hinsicht: Interkulturalität sieht er als hermeneutisches, Transkulturalität als konstruktivistisches Konzept; bei der Interkulturalität stehe das Verstehen im Mittelpunkt, bei der Transkulturalität die Verständigung; Interkulturalität sei historisch in den beiden Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende zu verorten, Transkulturalität dagegen in der Zeit seit der Jahrtausendwende (vgl. S. 52). Bei diesem Abgrenzungsversuch sind die ersten beiden Kriterien von einigem Interesse. Bekanntlich wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt angestrebt, ein hermeneutisches durch ein konstruktivistisches Verständnis kulturellen Lernens zu ersetzen. Da dies nur in Ansätzen gelang, ist ein neuer Anlauf ohne Zweifel zu begrüßen. In geringerem Maße überzeugt jedoch die Abgrenzung auf Grundlage der Begriffe ‚Verstehen‘ vs. ‚Verständigung‘. Dies wurde bereits in den Arbeiten des Gießener Kollegs versucht. Inwiefern der Band hier konzeptionell Neues bietet, wird nicht deutlich. Ungelöst bleibt auch das Problem, wie ‚Kulturen‘ voneinander abgegrenzt werden können. Und selbst wenn dies gelingen sollte, stellt sich die Frage, ob das Ziel lautet, die Grenzen zu überwinden, oder doch, an ihnen festzuhalten? R EIMANN s Position ist hier nicht frei von Widersprüchen: Während er an mehreren Stellen betont, dass das Konzept der Transkulturalität auf die Überwindung von Grenzen angelegt sei (vgl. S. 49, 67, 68), hebt er doch auch mit Verweis auf Karl-Heinz F LECHSIG 2 nachdrücklich hervor, dass Transkulturalität „immer auch auf die Weiterführung von Einzelkulturen gerichtet“ sein solle (S. 42). Insgesamt wird die Abgrenzungsproblematik im vorliegenden Band nicht in der gebotenen Ausführlichkeit diskutiert. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich die Grenzen zwischen Einzelkulturen sowohl mit den Grenzen zwischen Nationalstaaten als auch mit jenen zwischen Einzelsprachen decken. Damit wird in recht deutlicher Weise erneut die vielfach kritisierte Gleichsetzung von Kultur, Nation und Sprache vollzogen („Kompetenz zur internationalen Verständigung”, S. 69), zu deren Überwindung das Konzept der Transkulturalität eigentlich dienen soll.Inwiefern wird nun die Abgrenzung von interkultureller und transkultureller Kompetenz in den Kapiteln 22 bis 27 deutlich, die als „Fallbeispiele zur Transkulturellen kommunikativen Kompetenz“ (S. 73) angeführt werden? (Ich beschränke mich hier auf die Besprechung dieses fünften Teils, da nur die in ihm versammelten Beiträge explizit auf das im Band vertretene theoretische Konzept hin ausgerichtet sind.) In Kapitel 23 finden sich verschiedene Sprachmittlungsaufgaben zu Texten und Bildern, die mit der Kontrastierung der ‚deutschen‘ und ‚französischen‘ Kultur arbeiten, teils in humoristischer Zuspitzung. Die Arbeit mit nationalen Stereotypen (vgl. S. 671, 673, 674-689) ist bereits aus zahlreichen Materialien zum interkulturellen Lernen bekannt. Inwiefern durch die Unterrichtsvorschläge dieses Kapitels der Übergang zum transkulturellen Lernen angebahnt werden 2 Karl-Heinz F LECHSIG : „Transkulturelles Lernen“. Internes Arbeitspapier 2/ 2000. Göttingen: Institut für Interkulturelle Didaktik. http: / / wwwuser.gwdg.de/ ~kflechs/ iikdiaps2-00.htm (abgerufen am 31.3.2015). R EI - MANN führt eine andere Internetquelle an, die jedoch nicht mehr verfügbar war, als die Rezension verfasst wurde. 134 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 44 (2015) • Heft 2 kann, ist nicht nachvollziehbar. In Kapitel 24, ebenfalls zum Thema Sprachmittlung, fehlt der explizite Bezug zu Transkultureller kommunikativer Kompetenz sogar vollständig. Die in den Kapiteln 26 und 27 behandelten Themen sind fachdidaktisch durchaus interessant: In Kapitel 26 werden acht spanisch/ deutsche Wörterbücher in kontrastiv-pragmatischer Perspektive analysiert; in Kapitel 27 geht es um Strategien für den Umgang mit zweisprachigen Wörterbüchern, ebenfalls bezogen auf den Spanischunterricht. Kapitel 26 ist jedoch auf kulturkundliche Aspekte beschränkt; Kapitel 27 stellt den Bezug zum Thema des Bandes lediglich durch die Aussage her, dass durch die Arbeit mit kulturkundlichen Info-Boxen in Wörterbüchern eine „interbzw. transkulturell pragmatische Kompetenz“ (S. 754) gefördert werden könne. Der Erkenntnisgewinn zur Transkulturellen kommunikativen Kompetenz ist somit in beiden Kapiteln wiederum äußerst gering. Am deutlichsten scheitert R EIMANN jedoch in Kapitel 25 am Anspruch des Bandes. Dort werden Kommunikationsstile der Werbung in Frankreich und Deutschland verglichen. Nach der Analyse verschiedener Beispiele werden die jeweils typischen Merkmale in einem Vorschlag für ein Tafelbild gegenübergestellt. Der französische Stil sei u.a. „ludique, indirect, implicite, synthétique“, der deutsche hingegen „informatif, direct, explicite, analytique“ (S. 716), und dies habe die Forschung herausgefunden (ohne Beleg). Hier zeigt sich die Denkweise der so genannten ‚Kulturstandards‘, mit denen die von Alexander T HOMAS 3 geprägte interkulturelle Psychologie arbeitet. Die ‚Kulturstandards‘ wurden jedoch bereits als Grundlage für interkulturelles Lernen scharf kritisiert; für transkulturelles Lernen mit dem Ziel der Überwindung kultureller Grenzen dürften sie geradezu kontraproduktiv sein. Eine erfreuliche Ausnahme im fünften Teil des Bandes stellt Kapitel 22 dar, in dem der Autor vier verschiedene Lehrwerksreihen im Hinblick auf die Berücksichtigung der diatopischen Varietäten des Französischen analysiert. Wenn das Ziel Transkulturalität lautet, so das überzeugende Argument, dann muss in didaktischen Materialien und im Französischunterricht allgemein stärker als bisher die sprachliche Heterogenität der Frankophonie berücksichtigt werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass R EIMANN s theoretische Überlegungen zu einer Transkulturellen kommunikativen Kompetenz die konzeptionellen Schwächen der Interkulturalität nicht zu lösen vermögen. Die im vorliegenden Band zur Illustration dieser Überlegungen versammelten unterrichtsbezogenen Beiträge bleiben in weiten Teilen ebenfalls deutlich hinter den Zielen zurück, die sich der Autor gesteckt hat. Berlin J OCHEN P LIKAT Anka B ERGMANN (Hrsg.): Fachdidaktik Russisch. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2014 (Narr Studienbücher), 352 Seiten [29,99 €] Die Fachdidaktik Russisch schließt eine große Lücke in der Fachliteratur, indem sie - zumindest im deutschsprachigen Raum - die erste Einführung in die aktuelle Russischdidaktik darstellt. Es handelt sich damit um das zukünftige Grundlagenwerk für den Russischunterricht und die Lehrerausbildung sowie die Lehrerfort- und -weiterbildung und um eine Basis für weitere russischdidaktische Forschung. 3 Alexander T HOMAS : „Kultur und Kulturstandards“. In: T HOMAS , Alexander / K INAST , Eva-Ulrike / S CHROLL -M ACHL , Sylvia (Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band I: Grundlagen und Praxisfelder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 19-31. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 135 44 (2015) • Heft 2 Der Band vereint Beiträge von Anka Bergmann, Ursula Behr, Klaus Hartenstein, Christine Heyer, Grit Mehlhorn, Astrid Seidel, Wolfgang Stadler und Heike Wapenhans. Er führt mit diesen Autorinnen und Autoren Expertisen aus der russischdidaktischen Forschung sowie aus der Praxis der Lehrerbildung zusammen. Dieses Werk leistet zudem einen wichtigen Beitrag für die Fremdsprachendidaktik insgesamt, da es sprachenübergreifend geltende Konzepte beleuchtet und ergänzende, insbesondere mehrsprachigkeitsdidaktische, Perspektiven auf den aktuellen Fremdsprachenunterricht wirft. Der Band ist in die folgenden vier Hauptkapitel gegliedert: „I Bedingungen des Russischlernens in Geschichte und Gegenwart“, „II Grundlagen und Bezüge der Fachdidaktik Russisch“, „III Handlungsfelder des Russischunterrichts“ und „IV Evaluation im Russischunterricht“. Bei großer inhaltlicher Kohärenz des Gesamtaufbaus lassen sich die einzelnen Unterkapitel durchaus separat sehr gut nachvollziehen; sie zeichnen sich jeweils durch eine Breite und Tiefe der Betrachtung einzelner Fragestellungen der Russischdidaktik aus. Insgesamt sind die Autorinnen und Autoren einem pluralen Ansatz verpflichtet, der Sprache sowie Sprachenlernen und -lehren als komplexe Konstrukte fasst. Demgemäß werden mehrsprachigkeitsdidaktische Aspekte immer wieder aufgegriffen und wird aufgabenorientiertes Lernen ins Zentrum gerückt. Das durchgehend ausgedrückte Sprachverständnis beruht auf der Vorstellung integrierter Kompetenzen im Diskurs, die in Lernaufgaben entwickelt werden können. Sprache wird als mehrdimensionales Kommunikationsmittel und nicht als Sprachsystem verstanden. Hieraus resultiert eine hohe Bedeutung von allgemeinen Textkompetenzen und daraus abgeleiteten Kompetenzen der Lehrenden. Das Lernerbild ist jenes eines/ einer selbsttätigen Schülers/ in. Sowohl Lernende als auch Lehrende werden immer wieder im Hinblick auf den Grad ihrer Mehrsprachigkeit erfasst. Dies ist bei einem hohen muttersprachlichen Anteil der Lehrenden und Lernenden als Spezifikum des Russischunterrichts wichtig zu berücksichtigen. Einen besonderen Blick auf die Spezifika des Russischunterrichts liefert das Kapitel I mit einem detaillierten Einblick in dessen politisch geprägte Entwicklung vor 1945, nach 1945 und nach 1990 in Deutschland. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Umsetzungen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie die neuen Bedingungen des Russischunterrichts nach der Wiedervereinigung werden sehr genau aufgearbeitet. In Kapitel II werden grundlegende Begriffe der Spracherwerbsforschung theoretisch fundiert und mit Beispielen aus dem Russischen sehr gut nachvollziehbar illustriert. Hier geht es um Lernersprache, Lernervariablen, Sprachlerntheorien, Sprachbegriffe und Strategien. Dies führt weiter zur Betrachtung von Kompetenzorientierung und bildungspolitischen Steuerungsinstrumenten der Standardisierung wie z.B. Referenzrahmen, Bildungsstandards, Portfolios etc. Einen großen Gewinn stellen in diesem Feld die Vergleiche zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz dar. Den Hauptteil des Bandes stellt mit fast 200 Seiten das Kapitel III dar. Dessen Basis bildet die theoretische Fundierung des Begriffs der Textkompetenz „als Voraussetzung für den Zugang zu Informationen zur eigenen Wissenserweiterung, zur Teilhabe an der fremdsprachigen Gesellschaft“ (ebd.: 86). Nach der Schilderung des Konzeptes von Lernaufgaben behandeln einzelne Unterkapitel sehr detailliert verschiedene Kompetenzen. Dies beginnt mit den pragmatisch-funktionalen Sprachkompetenzen (Hörverstehen / Hör-Sehverstehen, Leseverstehen, Sprechen, Schreiben und Sprachmittlung) und wird mit einem Unterkapitel zu sprachlichen Mitteln ergänzt. Hier werden die Besonderheiten des Schriftspracherwerbs verbunden mit der kyrillischen Schrift ebenso thematisiert wie Spezifika russischer Sprachstrukturen und besondere Schwierigkeiten der Grammatik und der Aussprache für Lernende mit der Ausgangssprache Deutsch. Es folgen Ausführungen zu interkulturellen Kompetenzen. Nach einer kurzen historischen Skizze der Entwicklung von der Landeskunde hin zu einem „offenen, mehrdimensionalen Kul- 136 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 44 (2015) • Heft 2 turbegriff“ (ebd.: 215) wird die Verbindung von Sprache und Kultur behandelt. Weiterhin werden mögliche kulturelle Themen und didaktische Ansätze (Projektarbeit, Arbeit mit Literatur, interkulturelle Begegnungen etc.) benannt. Das anschließende Unterkapitel führt in das sprachenübergreifende Lernen ein und vertieft den mehrsprachigkeitsdidaktischen Fokus der gesamten Fachdidaktik Russisch. Ein Unterkapitel zu „Sozialformen und Differenzierung“ stellt aktuelle Entwicklungen des Fremdsprachen- und Russischunterrichts dar, wobei auch das noch neue Thema Inklusion ˗ wenn auch nur recht kurz ˗ Eingang findet. Bezüglich der Frage nach Differenzierung spielt insbesondere die Tatsache eine Rolle, dass im Russischunterricht Lernende mit einem ganz unterschiedlichen Grad an muttersprachlichen und fremdsprachlichen Kompetenzen im Russischen gemeinsam lernen. Bei der Differenzierung kann selbstverständlich der Medieneinsatz nützlich sein, wie die nachfolgenden Darstellungen anhand von konkreten Hinweisen auf nützliche Filme, tools etc. zeigen. All diese Unterkapitel zeichnen sich durch eine erfreuliche Detailliertheit und wissenschaftliche Tiefe aus. Immer wieder werden die Konzepte bezüglich ihrer Erfordernisse für Lehrende und Lernende betrachtet. Es werden umfangreiche Übungstypologien und konkrete Beispiele aus dem Russischen geliefert. Auch das vernetzte (Sprachen)Lernen spielt immer wieder eine Rolle. Abgeschlossen wird dieser Hauptteil des Bandes durch ein Unterkapitel „Referenzmaterialien für den Russischlehrer“, das auf zwölf Seiten eine Fülle kommentierter Fachbücher, Grammatiken, Lexika, elektronischer Ressourcen sowie nützlicher Datenkorpora für Lehre und Forschung auflistet. Kapitel IV befasst sich schließlich umfassend mit der Evaluation im Russischunterricht. Es geht zunächst um Grundlagen der Testtheorie, um dann Testformate für einzelne Kompetenzbereiche zu behandeln. Die Fachdidaktik Russisch ist sehr übersichtlich strukturiert. Am Ende der Kapitel werden Aufgaben und weiterführende Literatur zur vertieften Beschäftigung mit den gelieferten Inhalten angeboten. Eine umfassende Literaturliste und ein Sachregister befinden sich am Ende des Buches. Dieses umfasst nur deutsche Suchbegriffe, wohingegen im Text selbst Fachtermini immer wieder, jedoch nicht systematisch, auf Russisch im Klammerzusatz geliefert werden. Ein zweisprachiges Glossar wäre für die Lehrerbildung eine wertvolle Ergänzung. Wie eingangs bereits ausgeführt, liefert die Fachdidaktik Russisch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen fremdsprachendidaktischen Diskussion. Sie ist für Studierende, Fremdsprachenlehrer/ innen, Fachleiter/ innen und Wissenschaftlicher/ innen sprachenspezifisch wie sprachenübergreifend von Relevanz und soll hier mit Nachdruck zur Lektüre empfohlen werden. Siegen D AGMAR A BENDROTH -T IMMER Stephan B REIDBACH , Britta V IEBROCK (Hrsg.): Content and Language Integrated Learning (CLIL) in Europe. Research Perspectives on Policy and Practice. Frankfurt/ M. [etc.]: Peter Lang 2013, 335 Seiten [54,95 €] In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich Content and Language Integrated Learning (CLIL), das Konzept der fremdsprachlichen Vermittlung von nicht-sprachlichen Unterrichtsinhalten, zu einem wirkmächtigen Konzept der europäischen Sprachenpolitik und der schulischen Bildung in Deutschland entwickelt. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des hier zu besprechenden Bandes gibt einen Eindruck davon, dass mit CLIL eine große Vielzahl von Zielen, Erwartungen und Interessen verknüpft ist - mehr, als einem einzelnen Bildungsprojekt normalerweise aufgebürdet werden darf. Es spricht für die Akteur/ innen in diesem Feld ebenso wie Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 137 44 (2015) • Heft 2 für die Herausgeber, dass sie sich dieser pädagogischen, didaktischen und wissenschaftlichen Herausforderung aus konzeptuellen Perspektiven und im Lichte der empirischen Forschung stellen.Bei dieser schwierigen Ausgangslage wird die Konzeptionierung eines Sammelbandes noch erschwert dadurch, dass die hier versammelten Aufsätze auf zwei voneinander unabhängige und in sich wieder breit und divers angelegte Konferenzen zurückgehen. Den Herausgebern ist es jedoch gelungen, aus diesen beiden Kontexten Beiträge so auszuwählen, dass die fünf Kapitelüberschriften, unter denen sie sie eingeordnet haben, erstaunlich passgenau wirken. Die einzelnen Kapitel widmen sich, in dieser Reihenfolge, konzeptuellen Reflexionen, der Lehrerolle und der Lehrerbildung, dem Lernprozess und dem Lernerfolg, Fragen der Motivation sowie kritischen Fragen an die Bildungspolitik - immer mit dem Fokus auf CLIL. In ihrer Einleitung begründen Stephan B REIDBACH und Britta V IEBROCK die grundsätzlich kritische Herangehensweise an den Bilingualen Unterricht, vor allem an die Art und Weise, wie die deutsche Bildungspolitik und die europäische Sprachenpolitik CLIL ‚kommodifizieren‘ (S. 12) und in den Bildungs-mainstream implementieren. Gegen eine unkritische Perpetuierung möchten sie die CLIL-Didaktik und -Pädagogik zurückbinden an empirische Befunde und nicht selten auch an ernüchternde Fakten. Davon erhoffen sie sich eine bessere und präzisere Verortung des CLIL-Diskurses im bildungspolitischen Diskurs als bisher. Peter M EHISTO s Beitrag im ersten Kapitel („Conceptual reflections“) öffnet das Feld sozusagen in seiner gesamten Breite, denn er ist dem Versuch gewidmet, CLIL mit allgemeineren pädagogischen Konzepten und Schulmanagement-Strategien zu koppeln. Einer der mainstream- Diskurse, mit dem auch CLIL begründet wurde, ist das Mehrsprachigkeits-Postulat der europäischen Bildungs- und Sprachenpolitik. Dieses wurde jedoch, wie Bettina D EUTSCH in ihrem Beitrag nachweist, in der ursprünglich fundierten Weise bisher nicht eingelöst. Der Bericht zu einer empirischen Langzeitstudie zwischen 2008 und 2010 an einer Hamburger Grundschule („Zukunftsschule“) von Henriette D AUSEND , Daniela E LSNER und Jörg-U. K EßLER konfrontiert ebenfalls die offizielle Rhetorik der Zielsetzungen mit ernüchternden bis enttäuschenden Befunden zur täglichen Unterrichtspraxis. Die fünf Beiträge des Kapitels II sind der Qualifizierung von CLIL-Lehrkräften in verschiedenen nationalen Kontexten gewidmet. Mit seinem Überblick über die Entwicklung in der türkischen Schul- und Hochschulbildung vermittelt Özlem E TUŞ einen Eindruck davon, dass die Implementierung eines eigentlich auf „Transnationalism in Education“ (so der Titel des Beitrags) gerichteten Programms in einem national orientierten und nationalsprachlich verfassten Bildungssystem auf allen Ebenen - von der Schulbildung bis zur Lehrerausbildung - mit systemischen und ideologischen Widerständen rechnen muss. Drei weitere Beiträge in diesem Kapitel berichten von Projekten der Professions-Forschung, die sich für subjektive Theorien und mindsets von CLIL-Lehrkräften interessieren. Lauretta D’A NGELO hat einen biographischen Ansatz gewählt, um ,Pfade‘ zur CLIL-Profession in zwei italienischen und zwei spanischen Regionen zu rekonstruieren. Die Auswertung von sechs Interviews an Hochschulen, von denen Francesca C OSTA berichtet, hat ergeben, dass die Dozent/ innen sich vor allem als Fachwissenschaftler/ -innen verstehen, die der Sprache selbst so gut wie keine Aufmerksamkeit schenken. Das gegenteilige Konzept einer strukturierten CLIL-Lehrerausbildung stellen Petra B URMEISTER , Michael E WIG , Evelyn F REY und Marisa R IMMELE am Beispiel eines „Teaching Science Seminars“ an der Pädagogischen Hochschule Weingarten vor. In ihrem Beitrag zum „Einfluss subjektiver Sprachlerntheorien auf den Erfolg der Implementierung von CLIL-Programmen“ zeigen Julia H ÜTTNER und Christiane D ALTON -P UFFER auf der Basis von 48 Interviews mit Lehrenden und Lernenden in Österreich, „dass die subjektive Konzeptualisierung von CLIL als aktives 138 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 44 (2015) • Heft 2 Sprachlernen in einem realitätsnahen Kontext“ (S. 141) zu einer generell hohen politischen und sozialen Akzeptanz des CLIL-Programms beiträgt. Im ersten Beitrag des Kapitels III („Learning processes and achievements“) kommt Irina Adriana H AWKER auf der Grundlage einer Studie an britischen Primarschulen zu dem Ergebnis, dass im CLIL-Unterricht der systematischen und angeleiteten Aktivierung von procedural, personal sowie linguistic and discourse knowledge größere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Den fremdsprachlichen Voraussetzungen des CLIL-Unterrichts im engeren Sinne ist eine große Studie in Nordrhein-Westfalen gewidmet. Die Ergebnisse des ersten Teils stellt Dominik R UMLICH vor. In einem Test mit beinahe eintausend Sechstklässlern konnte recht eindeutig festgestellt werden, dass zukünftige CLIL-Schüler/ innen bereits vor dem Eintritt in diese Unterrichtsform signifikant bessere sprachliche Leistungen in Englisch zeigen als Regelschüler/ innen. Damit steht die einfache Gleichung in Frage, dass ein besseres Sprachvermögen ein Ergebnis des Bilingualen Unterrichts ist. Andererseits steht den Zweifeln am fremdsprachlichen ‚Mehrwert’ die Beobachtung sehr CLIL-spezifischer sprachreflexiver Strategien im bilingualen Geschichtsunterricht entgegen, von denen Ulrich W ANNAGAT berichtet. Marie-Anne H ANSEN -P AULY s Beitrag zu Beginn des Kapitels IV („Aspects of motivation“) macht aus Anlass von Unterrichtsbesuchen ähnliche Beobachtungen im Kontext luxemburgischer Schulen mit ihren „multilingual secondary school settings“ (S. 233). Wie in der österreichischen Studie von H ÜTTNER und D ALTON -P UFFER scheint für den Lernerfolg die Überzeugung ausschlaggebend, dass die language of learning auch zu mehr language through learning führt. Dass es ferner auf die CLIL-Sprache selbst ankommen kann, haben Katja L OCHTMANN und Vinciane D EVAUX in ihrem Beitrag zu Deutsch als CLIL-Sprache an einem deutsch-französischen Gymnasium festgestellt. Immerhin hat ihr Versuch vorsichtige Hinweise erbracht, dass die affektive Aufwertung von Deutsch ein positiver Nebeneffekt des CLIL-Unterrichts ist. Dass CLIL an sich schon zu besserer Motivation führt, stellt der Beitrag von Katharina P RÜFER zu CLIL im Mathematikunterricht in Frage. Ihre Untersuchung jedenfalls hat ergeben, dass die Mathematik-Motivation nur bei denen gefördert wurde, die zuvor eher schwach motiviert waren, während bei fachlich gut Motivierten eher ein negativer Effekt abzulesen war. Übergreifende bildungs- und sprachenpolitische Fragen und Reflexionen sind in Kapitel V zusammengefasst. Andreas B ONNET und Christiane D ALTON -P UFFER weisen mit Recht darauf hin, dass die Integration von CLIL in den bildungspolitischen mainstream mit Annahmen und great expectations verbunden ist, die sich empirisch kaum substantiieren lassen. Auch Almut K ÜPPERS und Matthias T RAUTMANN sehen den ‚CLIL-Boom‘ eher kritisch. Sie schreiben die success story den Protagonist/ innen zu, „bright and enthusiastic learners“ (S. 294), nicht einer „sophisticated teaching methodology“ (S. 294) und CLIL-Theorien oder -Modellen. Auf der Grundlage einer empirischen Studie zu CLIL in der Hauptschule weist Götz S CHWAB in seinem Beitrag nach, dass ein solches Denken von den Lernenden her eine entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Implementierung eines CLIL-Moduls ist. Ein wichtiges Verdienst des abschließenden Beitrags von Wolfgang Z YDATIß ist es, noch einmal an die CLIL-spezifische Integration von Sprache und Inhalt im Sinne der Entwicklung kognitiv-diskursiver Fähigkeiten zu erinnern, die als grundlegende Anforderungen in Beruf und Schule und daher als cultural tools gelten können. Natürlich ist die Diversität der Beiträge in diesem Band groß; vieles ist schwer vergleichbar, einfache Generalisierungen sind kaum statthaft. Der Band bildet aber darin auf realistische Weise die große Bandbreite der CLIL-Modelle in den verschiedenen Bildungskontexten in Europa ab, ebenso die zahlreichen, sehr unterschiedlichen Forschungsansätze, von der Unterrichtsbeobachtung bis zu großen quantitativen Sprachkönnens-Studien. Bei allem bewahrt der Band die Kritik des Bestehenden und Erreichten als Reflexionsprinzip und transportiert damit die Aufforderung Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 139 44 (2015) • Heft 2 an die Akteur/ innen im Feld, offen zu sein, um von anderen - außerhalb des eigenen engeren Kontextes - zu lernen. Damit das wirklich allen europäischen und internationalen Leser/ innen wenigstens ansatzweise möglich ist, gehört auf den Wunschzettel für eine evtl. zweite Auflage die Anregung, dass alle den englisch- oder deutschsprachigen Beiträgen vorangestellten Abstracts in der jeweils anderen Sprache verfasst sein sollten. Dieser Band ist allen, die auf dem Feld wissenschaftlich oder in der Lehrerbildung tätig sind, vor allem auch deshalb zu empfehlen, weil er Modelle bereitstellt für eine kritische Fragehaltung und für unvoreingenommenes Forschen, das auch das scheinbar Erfolgreiche und die liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten kritischen Fragen unterwirft. Wenn CLIL sich wirklich weiterentwickeln soll, ist es auf Fragen der Art angewiesen, wie sie in diesem Band aufgeworfen werden. Gießen W OLFGANG H ALLET Michael B ECKER -M ROTZEK , Karen S CHRAMM , Eike T HÜRMANN , Helmut Johannes V OLLMER (Hrsg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster [etc.]: Waxmann 2013 (Fachdidaktische Forschungen, Bd. 3), 406 Seiten [34,90 €] Mit dem vorliegenden Band möchten die Herausgeber ein seitens der Fachdidaktiken bisher vernachlässigtes bildungs- und forschungspolitisches Thema in den fächerübergreifenden Diskurs einführen, nämlich „die Identifizierung und Förderung von sprachlichen Kompetenzen, die für erfolgreiches Lernen in jedem Fach notwendig sind“ (7). Es geht somit im weiteren Sinne um die Frage des Zusammenhangs von (fachlicher) Sprach(handlungs)fähigkeit und der Aneignung von fachlichem Wissen. Ausgehend von der berechtigten Annahme, dass nicht alle Schüler und Schülerinnen aus ihren Familien die für fachliches Lernen notwendigen Sprach- und Denkmuster mitbringen und der Unterricht in den sprachlichen Fächern nur ansatzweise auf die fachspezifischen Anforderungen vorbereitet, wird in der Einleitung des Bandes dafür plädiert, in den einzelnen Fächern die fachbezogenen sprachlichen Voraussetzungen zu schaffen, um erfolgreiches fachliches Lernen zu ermöglichen. Der Aussage, dass Sprache „als eine zentrale Dimension in der Bestimmung von Fachlernen, von Fachkompetenz und von fachlicher Bildung“ verstanden wird, ist sicherlich zuzustimmen. Allerdings sollte man auch im Auge behalten, dass sich die Fächer in ihrer ‚Sprachlichkeit‘ und der Anteile der für sie relevanten Funktionen (kommunikativ, kognitiv) erheblich unterscheiden können. Zusätzlich zur bildungs- und forschungspolitischen Situierung und Genese des Themas enthält die Einleitung des Bandes kurze Zusammenfassungen der insgesamt 21 Beiträge, die fünf thematischen Blöcken zugeordnet werden. Während sich der erste Block mit fachübergreifenden Aspekten befasst, haben die anderen vier bestimmte Fächer bzw. Fächergruppen im Fokus: Deutsch, Mathematik, naturwissenschaftliche Fächer und gesellschaftswissenschaftliche Fächer. Bedenkt man, dass der Band auf einen in Kooperation von Deutsch- und Fremdsprachendidaktikern veranstalteten Kongress zurückgeht, fällt auf, dass es keinen thematischen Block „Fremdsprachen“ gibt. Das ist auch deshalb überraschend, weil die für den Band zentrale Frage des Zusammenwirkens von sprachlichem und fachlichem Lernen schon seit Längerem in den Fremdsprachendidaktiken, im Kontext „Content and Language Learning“ (CLIL) bzw. bilingualer Sachfachunterricht, diskutiert wird. Die vier Beiträge des ersten Blocks behandeln fachübergreifende Aspekte des Themas. Wie bereits B ERNSTEIN 1 in seinen Untersuchungen zum elaborierten und restringierten Code und den 1 Vgl. hierzu aus Bernsteins Oeuvre exemplarisch Basil B ERNSTEIN : Class, Codes and Control. Vol IV: 140 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 44 (2015) • Heft 2 daraus resultierenden Folgerungen für eine kompensatorische Spracherziehung festgestellt hat, wird die Sprache der Schule vor allem durch die Schriftsprache geprägt, die, wie Sabine S CHMÖLZER -E IBINGER in ihrem Aufsatz „Sprache als Medium des Lernens im Fach“ feststellt, sich durch „Komplexität, Abstraktheit, Explizitheit und Kohärenz“ (26) auszeichnet. Da der Schritt vom alltags- und kontextbezogenen Sprechen zur abstrakten Darstellung von Sachverhalten jedoch vielfach ein Problem darstellt, plädiert die Autorin im Hinblick auf den fachlichen Kompetenzerwerb für einen Ausbau schriftsprachlicher Fähigkeiten. Bei entsprechender didaktischer Hilfestellung, so heißt es weiter, werde die Entwicklung dieser Fähigkeiten ebenfalls durch das Fachlernen gefördert. Wie die Sprachbewusstheit wird auch die Sprachaufmerksamkeit als ein wichtiger Faktor angesehen, der nicht nur den Spracherwerb, sondern auch den Wissenserwerb maßgeblich voranbringen kann. In ihrem Beitrag „Sprachbildung und Bildungssprache als Aufgabe aller Fächer in der Regelschule“ behandeln Helmut Johannes V OLLMER und Eike T HÜRMANN einige grundlegende Fragestellungen des Phänomens Bildungssprache und präsentieren ein recht komplexes Modell zur Beschreibung fachübergreifender wie auch fachunterrichtlicher Dimensionen von bildungssprachlichen Kompetenzen im konkreten Fachunterricht. Nach der sehr abstrakten Erörterung verschiedener Prinzipien des bildungssprachlichen Lernens (z.B. „Das komplementäre Verhältnis von authentischen Modellen und gezielter Unterstützung durch temporäre ‚Sprachgerüste‘“, „Einbettung von Sprachwissen in den funktionalen Zusammenhang von kognitiven Operationen und fachunterrichtlichen Inhalten und Methoden“) werden zum Abschluss des Aufsatzes verschiedene Möglichkeiten zur Umsetzung dieser Prinzipien „in den Alltag pädagogischen Handelns“ (54) genannt. Im Zentrum des Beitrags von Wolfgang H ALLET über „Generisches Lernen im Fachunterricht“ steht die Analyse von Genres, die, wie auch Diskursfunktionen (Beschreibung, Argumentation, Erklärung etc.) als „die kleinsten Einheiten diskursiver Kommunikation“ (60), verstanden werden. Nach einer Aufschlüsselung der verschiedenen Zugänge zum Genrekonzept werden Überlegungen zum Erwerb generischer Kompetenzen vorgetragen. Aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für den schulischen Wissenserwerb wie auch im lebensweltlichen Alltag wird „die Implementierung einer generischen Dimension schulischer Bildung“ (73) als vordringlich erachtet. In seinem Beitrag „Sachtexte erschließen mit Hilfe von Frames und Scripts. Eine Interventionsstudie zur Förderung der Lesekompetenz in Klassenstufe 8“ berichtet Florian H ILLER über eine mit über 500 Teilnehmern an einer Hauptschule, Realschule und Gymnasium durchgeführte Untersuchung zur Förderung des Leseverstehens. Es konnte gezeigt werden, dass insbesondere die Hauptschüler von den Methoden profitieren, die mit schemaorientierten Textdarstellungen verbunden sind. Der bei den Gymnasiasten im Vergleich zu den anderen Schularten z.T. erheblich geringere Leistungszuwachs kann auf die höheren Ausgangswerte dieser Gruppe zurückgeführt werden. In der Besprechung der den vier verbleibenden thematischen Blöcken zugehörigen Aufsätze muss ich mich aus Platzgründen auf eine Auswahl beschränken. Dabei konzentriere ich mich auf die jeweils an erster Stelle aufgeführten Artikel. Beate L ÜTKE möchte in ihrem Beitrag „Sprachförderung im Deutschunterricht - fachspezifische und fachübergreifende Schwerpunkte“ darlegen, wie die in den mittleren Bildungsstandards für das Fach Deutsch angesprochene fächerübergreifende Orientierungsfunktion des Deutschunterrichts umgesetzt werden und welcher Stellenwert dem Fach Deutsch in einem gesamtsprachlichen Curriculum zugewiesen werden kann. Bezug nehmend auf Erträge der language awareness-Forschung in der Deutschdidaktik und den The Structuring of Pedagogic Discourse. London: Routledge 1990. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 141 44 (2015) • Heft 2 Fremdsprachendidaktiken spricht die Verfasserin sich dafür aus, diesen Ansatz auch für andere Fächer auszuweiten und die Bewusstmachung fachsprachengrammatischer und lexikalischer Erscheinungen bereits ab dem 3./ 4. Jahrgang zu fördern. Dem Deutschunterricht müsse in diesem Fall die Aufgabe zufallen, das Grundlagenwissen zu spezifischen fachsprachlichen Strukturen wie „z.B. Wissen über Wortbildung und Verfahren zur Entschlüsselung komplexer Wörter oder Strukturen“ zu vermitteln. Allerdings drängt sich angesichts solcher Aufgabenstellungen die Frage auf, inwieweit 9-10jährige Kinder in der Grundschule damit tatsächlich konfrontiert werden sollten. Entgegen der häufig von Eltern und Schülern, aber auch von Lehrern und Bildungspolitikern vertretenen Auffassung, dass Mathematikunterricht zu sprachlastig sei, ist es das Ziel des Beitrags von Helmut L INNEWEBER -L AMMERSKITTEN („Sprachkompetenz als integrativer Bestandteil der mathematical literacy? “) zu zeigen, dass Sprachkompetenz eine integrale Komponente der mathematischen Kompetenz darstellt und darüber hinaus ein kompetenzorientierter Mathematikunterricht zur „Förderung kognitiv-linguistischer und sozial-kommunikativer Kompetenzen“ (151) beitragen kann. Anhand von typischen Mathematikaufgaben aus den PISA-Tests wird verdeutlicht, dass diese beiden Kompetenzen für die Lösung der Aufgaben benötigt werden, und die Titelfrage des Aufsatzes somit positiv beantwortet. Gegenstand des Beitrags von Christoph K ULGEMEYER und Horst S CHECKER („Schülerinnen und Schüler erklären Physik - Modellierung, Diagnostik und Förderung von Kommunikationskompetenz im Physikunterricht“) ist eine „Konzeption zur Modellierung der physikalischen Kommunikationskompetenz von Schülerinnen und Schülern“ (225). Die Fähigkeit, physikalische Sachverhalte erklären zu können, wird als zentral für physikalische Kommunikationskompetenz angesehen. Anhand empirischer Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das Erlernen physikalischer Sachverhalte nicht automatisch dazu führt, dass diese von den Schülern auch kommuniziert werden können. Es wird deshalb vorgeschlagen, parallel hierzu gezielte Fördermaßnahmen der Fachkommunikation durchzuführen. Im Vordergrund des Artikels von Saskia H ANDRO („Sprache und historisches Lernen. Dimensionen eines Schlüsselproblems des Geschichtsunterrichts“) steht die Untersuchung des Zusammenhangs von Fachlichkeit und Sprachlernen am Beispiel des historischen Lernens. Die Aussage, dass historisches Lernen in der Geschichtsdidaktik als „historische Orientierung und Sinnbildung über Sprache“ (320) verstanden wird, lässt darauf schließen, dass die Reflexion des Verhältnisses von fachlichem und sprachlichem Lernen in der Geschichtsdidaktik stärker etabliert ist als in anderen Fachdidaktiken. Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass auch Schüler im Geschichtsunterricht die an sie gestellten fachlichen Erwartungen häufig nicht erfüllen, weil sie nicht über die dafür notwendigen fachbezogenen Sprachkompetenzen verfügen. Eine wichtige Aufgabe zukünftiger Arbeit muss es somit sein, „die sprachliche Fundierung fachspezifischer Denkformen als Strukturen historischen Lernens herauszuarbeiten und die sprachlichen Erwartungen an fachliche Leistungen zu explizieren“ (329). Ausgehend von der allen Beiträgen gemeinsamen Grundauffassung, dass Sprache eine zentrale Kategorie des inhaltlichen Lernens in allen Fächern ausmacht und die Vermittlung fachbezogenener Sprachkompetenzen zur Aufgabe aller Fächer gehört, gibt der sorgfältig edierte Band einen sehr informativen und gut strukturierten Überblick zum Themenkomplex „Sprache im Fach“ in einer Reihe wichtiger Schulfächer. Dabei ist sicherlich positiv hervorzuheben, dass auch die Mathematik und die Naturwissenschaften in der Publikation prominent vertreten sind. Ob dieses Engagement repräsentativ für die angesprochenen Fächer ist oder ob die ‚Sprachlastigkeit‘ eines solchen Unterrichts nicht eher kritisch in den betroffenen Fachdidaktiken gesehen wird, muss sich zeigen. Wie die Beiträge und die in ihnen verarbeitete Literatur dokumentieren, ist das Thema des Bandes auch von internationaler Bedeutung. Insofern ist die Erstellung einer 142 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 44 (2015) • Heft 2 englischen Version der Einleitung der Herausgeber zu begrüßen. Man hätte in diesem Sinne durchaus noch einen Schritt weitergehen und den einzelnen Beiträgen aussagefähige englischsprachige Abstracts voranstellen sollen. Ein zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, Schülern und Schülerinnen in ihrem Fachlernen zu unterstützen, ihnen also die sprachlichen und fachbezogenen Kompetenzen zu vermitteln, die notwendig sind, um ihre Bildungswege erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Von Ausnahmen abgesehen, ist die Mehrzahl der Beiträge allerdings dazu nur bedingt in der Lage, da die konkrete Umsetzung in der schulischen Praxis nicht im Vordergrund steht, was angesichts des gegenwärtigen Diskussionsstandes des Themas und der Ausrichtung des Bandes vielleicht auch nicht beabsichtigt war. Braunschweig C LAUS G NUTZMANN 44 (2015) • Heft 2 I n f o r m a ti o n e n • V o r s c h a u Vorschau auf Jahrgang 45.1 (2016) Der von Gabriele B LELL (Leibniz Universität Hannover) und Carola S URKAMP (Universität Göttingen) koordinierte Themenschwerpunkt trägt den Titel „(Fremd-)Sprachenlernen mit Film“. Das Themenheft verfolgt insbesondere zwei Richtungen, die in der bisherigen Diskussion zu filmdidaktischen Fragestellungen noch nicht hinreichend beantwortet wurden: Es sollen erstens Überlegungen angestellt werden, wie ein sprachenübergreifendes kompetenzorientiertes Filmcurriculum aussehen könnte, welche Ziele angestrebt werden und durch welche Kompetenzfelder sich eine (fremd-)sprachlich orientierten Filmbildung auszeichnen sollte. U.a. sollen hier Überlegungen der Göttinger Tagung „Film in den Fächern der sprachlichen Bildung“ (2014) weitergeführt werden (Publikation in Vorbereitung). Die fachspezifische und fächerübergreifende Entwicklung von Filmbildung erfordert zweitens auch die Konzeption von komplexen Lernaufgaben. Kompetenzaufgaben lösen idealerweise aufgrund möglichst authentischer Lerninhalte komplexe Interaktions- und Aushandlungsprozesse aus, die, weil sie in der Fremdsprache zu bewältigen sind, gleichzeitig die fremdsprachlichen kommunikativen Kompetenzen der Lerner schulen. Ziel ist es, die Expertise der verschiedenen fremdsprachendidaktischen Fächer zu diesen Fragestellungen zusammenzuführen. Zu diesem Zweck sollen sowohl unterschiedliche Sprachfächer (insbesondere Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch als Fremdsprache), Zielgruppen (Schüler und Schülerinnen der Grundschule sowie der Sekundarstufe I und II), Forschungskontexte (neben Deutschland exemplarisch weitere europäische Länder und die USA) sowie Filmgenres (z.B. Animationsfilm, Spielfilm oder Dokumentarfilm) in den Blick genommen werden. Im Heft sollen Lernarrangements und Aufgaben für unterschiedliche Sprachfächer vorgestellt werden, die (Teilkompetenzen von) Filmkompetenz, i.w.S. fremdsprachige Handlungskompetenz, entwickeln und fördern sollen. Die Beiträge in diesem Heft verorten sich dabei u.a. in vier, auf Film bezogenen didaktisch relevanten Handlungsfeldern: • Filmbezogen sprachlich handeln • Film analysieren • Film kontextualisieren (jeweils sprach- und kulturspezifisch) und • Film gestalten. Diese sind genuine Kompetenzbereiche der sprachlichen Filmbildung und verdeutlichen, dass nicht ausschließlich der Film per se im Mittelpunkt steht, sondern das gesamte kulturelle Handlungsfeld und die dafür anhand der Rezeption und Produktion von Filmen zu erwerbenden Kompetenzen. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor (Arbeitstitel): Gabriele B LELL (Universität Hannover), Carola S URKAMP (Universität Göttingen): Zur Einführung in den Themenschwerpunkt - (Fremd-)Sprachenlernen mit Film und komplexe Lernaufgaben. Carmen B ECKER (TU Braunschweig), Jana R OOS (Universität Paderborn): Der Film „The Gruffalo“ im Englischunterricht der Grundschule - Lernszenarien gestalten und Lernpotenziale erschließen. 144 Informationen • Vorschau 44 (2015) • Heft 2 Janina Vernal S CHMIDT (Universität Bremen): Komplexe Filmaufgaben zur Anbahnung und Vertiefung Interkulturell Kommunikativer Kompetenzen bei Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II. Andreas G RÜNEWALD , Meike H ETHEY (Universität Bremen): Die Behandlung von Kurzfilmen im fortgeschrittenen Französischunterricht der Sekundarstufe I am Beispiel von La Fugue (2014) und Lettres de femmes (2014). Nancy G RIMM , Edwina W EIDLING (Universität Jena): Medienkompetenzen im Englischunterricht schulen: Der Dokumentarfilm Inside Facebook. Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK (Adam-Mickiwicz-Universität Poznań): Film gestalten im L3-Unterricht? Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 45.2 (2016) L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koordiniert von Claudia R IEMER und Kathrin W ILD )
