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Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2017
461 Gnutzmann Küster Schramm
Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Themenschwerpunkt: FLuL Claus Gnutzmann, Frank G. Königs, Lutz Küster und Karen Schramm Sprachenpolitik koordiniert von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz 46. Jahrgang (2017) · 1 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgeber: Claus Gnutzmann (Braunschweig) · Frank G. Königs (Marburg) · Lutz Küster (Berlin) Karen Schramm (Wien) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Claus Gnutzmann, TU Braunschweig, Englisches Seminar, Abteilung Englische Sprache und ihre Didaktik, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, E-Mail: c.gnutzmann@tu-bs.de Prof. Dr. Frank G. Königs, Philipps-Universität Marburg, Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Hans-Meerwein-Straße, D-35032 Marburg/ Lahn, E-Mail: koenigs@staff.uni-marburg.de Prof. Dr. Lutz Küster, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, E-Mail: lutz.kuester@rz.hu-berlin.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, E-Mail: karen.schramm@univie.ac.at Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz-Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Daniela Elsner (Frankfurt) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 62,- (print), € 72,- (print + online), bzw. € 65,- (e only), das Einzelheft € 36,-. Vorzugspreis für private Leser € 46,- (print), € 52,- (print + online), bzw. € 49,- (e only) (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, E-Mail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG (Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: S pr a c h e n p o litik Koordination: Eva B URWITZ -M ELZER und Jürgen Q UETZ E VA B URWITZ -M ELZER , J ÜRGEN Q UETZ Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ....................................................... 3 M ICHAELA P ERLMANN -B ALME Wie viel Deutsch sollen Migranten können ? ..................................................... 11 B EATE L ÜTKE Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium: Entwicklung, Relevanz und curriculare Konzepte ...................................................................... 27 G RIT M EHLHORN Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem ................................................... 43 A LMUT K ÜPPERS , C HRISTOPH S CHROEDER Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist und warum es sinnvoll wäre, Türkisch zu einer modernen Fremdsprache auszubauen. Eine sprachenpolitische Streitschrift .............................................. 56 W ALDEMAR M ARTYNIUK , M AŁGORZATA M ÜLLER Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen ............... 72 M ARCUS B ÄR Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem ..................................................... 86 46. Jahrgang (2017) • Heft 1 Herausgeber: Claus G NUTZMANN (Braunschweig), Frank G. K ÖNIGS (Marburg), Lutz K ÜSTER (Berlin), Karen S CHRAMM (Wien) © 2017 Narr Francke Attempto Verlag www.periodicals.narr.de/ index.php/ flul Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 46 (2017) • Heft 1 H ENNING R OSSA Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards als bildungspolitische Steuerungsinstrumente für die Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch ............................................................................. 100 Nicht-thematischer Teil E NGELBERT T HALER Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 .............. 115 Buchbe s pre chung en • Re ze nsionsartikel Chiara C ERRI , Sabine J ENTGES (Hrsg.): Raumwahrnehmung, interkulturelles Lernen und Fremdsprachenunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015 (L UTZ K ÜSTER ) ......................................................................................................... 132 Bettina D EUTSCH : Mehrsprachigkeit durch bilingualen Unterricht? Analysen der Sichtweisen aus europäischer Bildungspolitik, Fremdsprachendidaktik und Unterrichtspraxis. Frankfurt/ M.: Lang 2016 (M ARCUS B ÄR ) ............................................ 134 Barbara P IZZICONI , Miriam A. L OCHER (eds.): Teaching and Learning (Im)Politeness. Berlin and Boston: de Gruyter Mouton 2015 (R AINER S CHULZE ) ...................................... 137 Claudia S CHLAAK : Fremdsprachendidaktik und Inklusionspädagogik. Herausforderungen im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit. Stuttgart: Ibidem 2015 (A NDREAS R OHDE ) ............................................................................................................. 139 Manuela W IPPERFÜRTH : Professional vision in Lehrernetzwerken. Berufssprache als ein Weg und ein Ziel von Lehrerprofessionalisierung. Münster: Waxmann 2015 (D AVID G ERLACH ) .............................................................................................................. 141 Eva B URWITZ -M ELZER , Grit M EHLHORN , Claudia R IEMER , Karl-Richard B AUSCH , Hans-Jürgen K RUMM (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Auflage. Tübingen: Francke 2016 (C HRISTIANE F ÄCKE ) .................................................................. 144 Info • Vorschau 147 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 46 (2017) • Heft 1 © 2017 Narr Francke Attempto Verlag E VA B URWITZ -M ELZER , J ÜRGEN Q UETZ * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 1. Vorüberlegungen zu diesem Themenheft Wer Fremdsprachen unterrichtet, übt einen Beruf mit politischen und bildungspolitischen Bedingungen und Beschränkungen aus, denn staatliche, nationale oder auch übernationale Regelungen schlagen sich in Gesetzen, Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen nieder, die in die verschiedenen Sphären des Fremdsprachenunterrichts für Kinder, Jugendliche und Erwachsene hineinwirken (vgl. K RUMM 2016: 45f.; I. C HRIST 2016: 57f.). Diese Tatsache ist Fremdsprachenlehrkräften und Fremdsprachenstudierenden oft gar nicht bewusst. Die allermeisten Studierenden und Lehrkräfte sind eher an fachdidaktischen oder pädagogischen Fragen interessiert. In diesem Themenheft von Fremdsprachen Lehren und Lernen wollen wir einigen ausgewählten sprachenpolitischen Aspekten nachgehen, die im deutschen Bildungswesen heute besonders relevant sind. Wir schließen uns dabei der Definition von Herbert C HRIST (1995: 75) an: „Als Sprachenpolitik ist jede öffentliche Beeinflussung des Kommunikationsradius von Sprachen (Sprachförderung, Spracherhaltung, Sprachkonflikt, Sprachenkampf, Sprachdurchsetzung, Sprachimperialismus, Sprachkolonialismus) zu verstehen. Die Beeinflussung des inneren Systems einer Sprache (Normierung, Standardisierung, Verschriftung, Sprachreinigung, Sprachpflege) wird als Sprachpolitik bezeichnet.“ Diese Gegenüberstellung von Sprachenpolitik und Sprachpolitik war in den letzten Jahrzehnten richtungsweisend für die fremdsprachendidaktische Diskussion. Das Cambridge Handbook of Language Policy (S POLSKY 2012) ist das aktuelle Standardwerk über Sprachenpolitik. Es führt auf ca. 750 Seiten eine große Vielzahl an Themen aus, die weltweit diskutiert werden. Dabei geht es vor allem um theoreti- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Eva B URWITZ -M ELZER , Justus-Liebig-Universität Gießen, FB Sprache, Literatur, Kultur, Otto-Behaghel-Straße 10 G, 35394 G IEßEN . E-Mail: eva.burwitz-melzer@anglistik.uni-giessen.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Interkulturelles Lernen, Sprachlehrforschung, Lehrerbildung in der Fachdidaktik Englisch. Prof. i.R. Dr. Jürgen Q UETZ , Goethe-Universität Frankfurt, privat: Jahnstraße 54, 60318 F RANKFURT / M. E-Mail: quetz@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Englischunterricht mit Schwerpunkt Sprachdidaktik. S pra c h e n p o litik Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 4 Eva Burwitz-Melzer, Jürgen Quetz 46 (2017) • Heft 1 sche Positionen und Konzepte sowie um philosophische, historische und soziologische Eingrenzungen des Begriffs language policy. Die einzelnen Kapitel zeigen dann die ganze Spannbreite der Probleme und Konflikte auf, und es ist überraschend, wie viele es davon vor allem in den Beziehungen von Sprachen zueinander geben kann. Überraschend ist vielleicht auch, dass trotz vieler Forschungsdesiderata in diesem Bereich bis auf wenige Ausnahmen groß angelegter Studien empirischen Forschungsergebnisse noch rar sind (vgl. K RUMM 2016: 49). In diesem Themenheft wollen wir erst gar nicht versuchen, die große Vielfalt an sprachenpolitischen Themen aufzugreifen. Wir haben uns vielmehr darauf konzentriert, auf momentan besonders dringliche Probleme und sprachenpolitische Fragen im deutschen Bildungssystem einzugehen. Dabei stehen zwei Themenbereiche im Mittelpunkt der Aufsätze: die Problematik von Migration und Globalisierung und ihre Auswirkungen auf die deutsche Sprachenpolitik und die deutsche Schulsprachenpolitik. Beide müssen stets in Relation gesetzt werden zum Desiderat und politisch formulierten Ziel der Mehrsprachigkeit, insbesondere zum Konzept der Plurilingualität des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (E URO - PARAT 2001). Es ist uns durchaus bewusst, dass wir damit zahlreiche, ebenfalls aktuelle Probleme der Sprachenpolitik in Deutschland und Europa ausblenden, doch erscheint eine Beschränkung auf wenige Bereiche, die dafür aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden, für dieses Themenheft besonders sinnvoll. 2. Zuwanderung, Migration und Mehrsprachigkeit Betrachtet man die Sprachenpolitik im deutschen Sprachraum, so kann man bei allen Unterschieden der Entwicklung in den Jahrzehnten seit dem Ende des zweiten Weltkriegs doch mit K RUMM feststellen, dass sie vor allem „im Zusammenhang mit politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen zu sehen“ sei (K RUMM 2016: 46): „Die gegenwärtige Sprachenlandschaft in Schule und Gesellschaft ist ein Ergebnis der europäischen Nachkriegszeit, der Besatzungsmächte, der Phase des Kalten Krieges und der Wirtschaftsexpansion der Vereinigten Staaten sowie seit den 1970er Jahren der zunehmenden Arbeits- und Flüchtlingsmigration“ (ebd.). Gerade die Globalisierungsprozesse der letzten fünfzehn Jahre und die stürmischen Migrationsbewegungen der letzten fünf Jahre führen dazu, dass sprachenpolitische Entscheidungen über Prüfungen, Zuwanderungsbeschränkungen und Zertifizierungen von Sprachkompetenzen direkt in das Leben von Hunderttausenden von Menschen eingreifen, die in diesem Sprachraum als Arbeitsmigranten oder Flüchtende Fuß fassen wollen. Sie treffen gerade in Deutschland auf ein Bildungssystem, das immer noch durch einen starken „monolingualen Habitus“ geprägt ist (G OGOLIN 1994) und in dem Lehrkräfte nach wie vor recht unzureichend auf die Entwicklung von Mehrsprachigkeit vorbereitet sind, wie sie als europäisches Sprachkonzept im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen und zahlreichen anderen Empfehlungen vorgesehen ist. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 46 (2017) • Heft 1 Eine Muttersprache plus zwei Fremdsprachen zu fördern ist ein Postulat, das bereits bei der wichtigen Frage überdacht werden muss, welche Muttersprache denn wohl vom GeR gemeint ist, wenn sich die Lernenden mit anderen Muttersprachen als Deutsch im deutschen Bildungssystem wiederfinden. Oft ist ja nicht einmal ein Förderunterricht in diesen Mutter- und Familiensprachen vorgesehen. Das Potenzial der mitgebrachten Sprachen, das für Fremdsprachendidaktiker eigentlich von unschätzbarem Wert für die interkulturelle Entwicklung und die Mehrsprachigkeitsentwicklung der Lernenden ist, verpufft, wenn das Bildungssystem nur an der Muttersprache Deutsch orientiert ist. Dieser Frage sollen die ersten Kapitel des Hefts gewidmet sein, denn für die Bundesrepublik Deutschland stellt die zunehmende Anzahl von Menschen, deren L1 nicht Deutsch ist, eine aktuell besonders brisante sprachenpolitische Herausforderung dar. Wie viel Deutsch sollten Zuwanderer können, um ihr Leben in Deutschland so zu gestalten, wie es ihren Bedürfnissen entspricht? Viele Asylsuchende werden in ihr Heimatland zurückkehren wollen, wenn die Lebensbedingungen dort sich wieder normalisiert haben. Für Servicekontakte reicht normalerweise Englisch, das die meisten Zuwanderer auf funktionaler Ebene durchaus beherrschen. Andere wollen aber dauerhaft in Deutschland bleiben und müssen daher umfangreichere deutsche Sprachkenntnisse erwerben oder nachweisen, die eine Integration möglich machen. Wie überprüft man unter Berücksichtigung der Lernerbiographie, ob dies tatsächlich der Fall ist? M ICHAELA P ERLMANN -B ALME (Goethe-Institut München), die an der Entwicklung des Zuwanderertests im Auftrag des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) beteiligt war, hat einen Beitrag verfasst, der genau auf diese Problematik fokussiert. Die Entscheidung, welche Deutschkenntnisse in welchem Zusammenhang erforderlich sind, ist eine sprachenpolitische, bei der vielfältige Weichen gestellt werden. Welche Mindestanforderungen kann man für verschiedene Gruppen von Personen stellen, deren Bildungsvoraussetzungen und Erwartungen äußerst heterogen sind? Im beruflichen Sektor z. B. liegen die Anforderungen an einen Ingenieur höher, um sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können, als die an einen Bauarbeiter, der manchmal sogar Analphabet ist. Beide aber müssen abends beim Einkaufen über funktionale Sprachkenntnisse in Servicesituationen verfügen sowie über weitere berufsunabhängige Kompetenzen, um am öffentlichen Leben teilhaben zu können. Für Kurse und Prüfungen bedeutet das einen Spagat, auf den hauptberuflich Lehrende in der Erwachsenenbildung oft ebenso wenig vorbereitet sind wie nebenberuflich und ehrenamtlich tätige Lehrende in Integrationskursen. Fortbildung für Kursleiterinnen und -leiter werden mittlerweile von vielen Institutionen angeboten, die in der Regel vom BAMF akkreditiert sein sollten. Das Bild der Eingangsqualifikationen für solche Lehrkräfte ist aber wiederum buntscheckig: Ein Studium der Germanistik bzw. ein Lehramtsstudium für das Fach Deutsch umfasst vielfältige Teilkompetenzen und eventuell auch eine Qualifikation in DaF (Deutsch als Fremdsprache), bestenfalls sogar in DaZ (Deutsch als Zweitsprache). Aber welche Bundesländer oder Hochschulen sind da schon modellhaft aktiv? Die Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 6 Eva Burwitz-Melzer, Jürgen Quetz 46 (2017) • Heft 1 Zuwanderungsproblematik stellt die Aus-und Fortbildung der Fremdsprachenlehrkräfte vor neue Herausforderungen. Mit welchen Konzepten soll ein Förderunterricht in verschiedenen Muttersprachen durchgeführt werden? Wie werden die Fremdsprachenlehrkräfte dafür ausgebildet? Welche Förderprogramme integrieren statt zu segregieren? In einem zweiten Beitrag zu diesem Heft geht B EATE L ÜTKE (Humboldt-Universität Berlin) deshalb der Frage nach, welche Ausbildungsmöglichkeiten es an deutschen Universitäten im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ für angehende Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen gibt. Viele Universitäten, die ein breites Angebot an Lehramtsstudiengängen bereithalten, diskutieren im Moment die Frage, ob ein Studienelement in DaZ tatsächlich für jede angehende Lehrkraft zur Ausbildung gehören sollte. In NRW sollen im Rahmen der Lehrerausbildung neuerdings alle Lehramtsstudierenden Leistungen in „Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte für alle Lehrämter“ erbringen (vgl. L ÜTKE in diesem Heft). L ÜTKE s Beitrag setzt sich damit auseinander, welche Konzepte dabei zugrunde liegen und welche Erfahrungen man bereits damit gemacht hat. Ganz unumstritten ist dieses Feld der Ausbildung nicht. Dass z.B. Mathematik ein weitgehend sprachlich vermitteltes Schulfach ist, ist evident, aber welcher Student der Mathematik, welcher Mathematik-Dozent wird das einräumen, wenn ein DaZ- Modul wertvolle Ausbildungszeit in seinem eigenen Fach kostet? 3. Herkunftssprachen, Nachbarsprachen und Schulwirklichkeit Ein weiterer wichtiger Aspekt der Zuwanderungsproblematik ergibt sich bei einem Blick auf die zugewanderten Lernenden mit verschiedenen Herkunftsbzw. Nachbarsprachen: Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (E UROPARAT 1998) und der GeR betonen den Wert aller Sprachen und propagieren den Schutz von weniger häufig gesprochenen Sprachen. Diese politisch vernünftige Verlautbarung wird aber im Alltag in den bildungspolitischen Einrichtungen oft ignoriert. Denn in Deutschland, im deutschsprachigen und europäischen Raum wird Englisch als Weltsprache in den Bildungssystemen bevorzugt behandelt; es gilt als prestigeträchtige Sprache der Wirtschaft und Wissenschaft und damit unbestritten als erste und auf jeden Fall als wichtigste Fremdsprache. Wenn nationalsprachliche Grenzen verwischen, wenn die digitalen Medien diese Tendenz zunehmend unterstützen, ist Englisch eine perfekte lingua franca, die in den Bildungssystemen in aller Welt und auch in Deutschland besonders gefördert wird (vgl. G NUTZMANN 1999; S EIDLHOFER 2005; Q UETZ 2010). Erst mit Abstand folgen Französisch und Spanisch, während andere Sprachen, wie die osteuropäischen oder arabischen, bei der Standardorientierung sowie in den Curricula der Länder vernachlässigt werden. Hier liegt ein Konfliktpotential politischer Art, denn eine Ablehnung ganzer Sprachengruppen schafft Identitätsprobleme bei denen, die diese Sprachen mit sich bringen und sie auch weiter sprechen möchten. Auch erscheint eine solche Sicht auf Herkunfts- und Nachbarsprachen wenig Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 46 (2017) • Heft 1 vereinbar mit aktuellen fremdsprachendidaktischen Theorien (vgl. G IBBONS 2002; B ENHOLZ / M AVRUK 2016: 217-221 sowie H UFEISEN 2016: 167-172). Es ist also zu prüfen, ob es in Deutschland tatsächlich Bestrebungen gibt, die auf plurilinguale Kompetenz zielende sprachenpolitische Formel 1+2 umzusetzen, oder ob das wenigstens angestrebt wird? Das Thema Rolle der Herkunftssprachen im deutschen Schulwesen behandelt G RIT M EHLHORN (Universität Leipzig) für Russisch und Polnisch. Zu Türkisch haben C HRISTOPH S CHROEDER (Universität Potsdam) und A LMUT K ÜPPERS (Sabanc ı University Istanbul/ Goethe Universität Frankfurt am Main) eine Art ‚Streitschrift‘ verfasst, die pointiert den sogenannten muttersprachlichen Unterricht kritisiert, da er kaum zur Integration türkischstämmiger Kinder beitrage. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Deutschland sei es wichtig zu überlegen, inwiefern Türkisch als eine der Sprachen von Einwanderern im deutschen Bildungswesen adäquat berücksichtigt wurde und welche Fehler möglichst vermieden werden sollten, um auch andere Zuwanderungssprachen als Bildungsressource zu nutzen. Ihre Forderung, Türkisch statt im muttersprachlichen Unterricht als reguläre Fremdsprache in den Kanon der Schulsprachen aufzunehmen, ist provokant und durchaus bedenkenswert. In diesem Zusammenhang muss man auch die Rolle der Nachbarsprachen im deutschen Schulsystem betrachten. Obwohl sich die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (E UROPARAT 1998) für deren Förderung einsetzt, spielen sie im öffentlichen Schulwesen der Bundesrepublik eine noch geringere Rolle als Herkunftssprachen, mit Ausnahme des Französischen. Warum gibt es in Schulen kaum Unterricht für Polnisch, Tschechisch, Dänisch, Niederländisch? Zu diesem Thema äußern sich exemplarisch W ALDEMAR M ARTYNIUK (Jagiellonen-Universität Krakau und European Centre for Modern Languages of the Council of Europe Graz) und M AŁGORZATA M ÜLLER (VHS Eschweiler) für Polnisch. Während Deutsch in Polen nach der Wende im polnischen Bildungswesen zu den häufig gelehrten und gelernten Fremdsprachen geworden ist, ist Polnisch als international weniger häufig gesprochene slavische Sprache in Deutschland klar benachteiligt. Aber darin spiegelt sich auch eine Art „Sprachimperialismus“, wie er dem Englischen immer wieder vorgehalten wird (vgl. P HILLIPSON 1992 Linguistic Imperialism). In Regionen Deutschlands, in denen die Nachbarsprache Polnisch häufiger gesprochen wird, ist sie auch in den Lehrplänen des öffentlichen Schulwesens zu finden. Das gilt aber nicht für alle Bundesländer, obgleich ja seit der ersten Migrationswelle im frühen 20. Jahrhundert (vor allem von Bergleuten in das Ruhrgebiet) zahlreiche „polnischstämmige“ Deutsche mit „Migrationsgeschichte“ leben. 4. Englisch, Französisch und andere traditionelle Schulsprachen Betrachtet man die schwache Position der Herkunfts- und Nachbarsprachen an deutschen Schulen, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auch so Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 8 Eva Burwitz-Melzer, Jürgen Quetz 46 (2017) • Heft 1 wenig Beachtung in der Sprachenfolge finden, weil es zwei prominente „fortgeführte Fremdsprachen“ (KMK 2012) gibt (Englisch und Französisch), die als einzige Sprachen in die Kompetenz- und Standardorientierung einbezogen wurden und deshalb stets im Mittelpunkt des Interesses der Kultusministerien und damit auch der Lehrkräfte stehen. Ein spezieller Fall sind die romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch im deutschen Schulwesen. Historisch war Französisch als Sprache des Hofes und der sog. „gebildeten Stände“ wichtiger und weiter verbreitet als Englisch, das erst mit der Einrichtung von „Realgymnasien“ im 19. Jahrhundert den Weg ins Schulwesen fand. Seit 1963 hatte es in den „Verträgen über Partnersprachen“ zwischen Frankreich und Deutschland eine starke Förderung des Französischunterrichts an deutschen Schulen gegeben, gestützt durch Austauschprogramme des Deutschfranzösischen Jugendwerks. Der Erfolg war aber gering, denn seit 1963 ist die Zahl der Französischlernenden in Deutschland (und umgekehrt) ständig gesunken. Amerikanisches und Britisches Englisch entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur internationalen Verkehrssprache, zur lingua franca wie früher Latein. Französisch verlor folglich auch im deutschen Schulsystem immer weiter an Boden, trotz der Sonderstellung, die dieser Sprache nach wie vor bildungspolitisch eingeräumt wurde. Die „Bildungsstandards“ wurden zwar für Englisch und Französisch von Klasse 5 bis 13 verbindlich formuliert (KMK 2004, 2005, 2012), aber das änderte nichts daran, dass Französisch kontinuierlich an Boden verliert. Die aktuelle Statistik des Statistischen Bundesamts zeigt zwar keinen Längsschnitt, macht aber die Gewichtung alle Sprachen gegenüber Englisch deutlich. Allgemeinbildende Schulen Sprachen Schuljahr 2013/ 14 2014/ 15 absolut absolut Veränderung zum Vorjahr in % Englisch 7 307 948 7 274 027 - 0,5 Französisch 1 556 275 1 535 600 - 1,3 Latein 709 407 688 625 - 2,9 Spanisch 391 552 404 183 3,2 Italienisch 52 666 51 012 - 3,1 Russisch 107 132 108 922 1,7 Türkisch 12 549 12 182 - 2,9 Quelle: www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/ BildungForschungKultur/ Schulen/ Tabellen/ AllgemeinBildendeBeruflicheSchulenFremdsprachUnterricht.html Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 46 (2017) • Heft 1 Die Schwankungen in der Gesamtschülerzahl sind dabei zu berücksichtigen, aber der aktuelle Trend umfasst auch alle letzten Jahrzehnte. M ARCUS B ÄR (Wuppertal) diskutiert, welche Faktoren dazu beitragen, dass der Status des Französischunterrichts, der sich bildungs- und sprachenpolitisch von mehreren Seiten unter Druck sieht, so stark verändert. Die Konkurrenz der Weltsprache Spanisch, aber auch die unklare Politik der Bundesländer in Bezug auf die Verkürzung der gesamten Schulzeit und die oben dargestellte Berücksichtigung von DaZ und Herkunftssprachen spielen dabei auch eine Rolle. Angesichts der Tatsache, dass Englisch für seine Rolle als lingua franca einen hohen Preis bezahlt, indem Pidginisierungstendenzen immer stärker werden, muss man weltweit nach Standards suchen, um dieser Tendenz gegenzusteuern. Seit seinem Erscheinen 2001 hat der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen: lehren, lernen, beurteilen (E UROPARAT 2001) die Rolle als Standardisierungsinstrument übernommen. In seinem Gefolge wurden in Deutschland Bildungsstandards geschaffen und Vergleichsarbeiten und zentrale Abschlussprüfungen begonnen. Für das Fach Englisch diskutiert in diesem Heft H ENNING R OSSA (Universität Trier), welche bildungs- und sprachenpolitischen Faktoren den Weg zu Bildungsstandards in den Ländern bzw. zum Zentralabitur beeinflussen und wie erfolgreich sie bislang umgesetzt wurden. Er hatte schon in der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (2016: 99-122) die Frage aufgegriffen, wie Bildungsstandards und zentrale Abschlussprüfungen den Englischunterricht beeinflussen und wie man diesen Einfluss überprüfen kann. In diesem Beitrag geht er jetzt der Frage nach, wie es zur Standardorientierung kam und ob sie die Unterrichtswirklichkeit schon nachweislich verändert hat. Die Koordinatoren dieses Themenhefts hoffen, dass es in vielen Kontexten des Bildungssystems viele Anregungen zum weiteren Nachdenken über die zahlreichen sprachenpolitischen Baustellen gibt. Literatur B URWITZ -M ELZER , Eva / M EHLHORN , Grit / R IEMER , Claudia / B AUSCH , Karl-Richard / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) ( 6 2016): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: A. Francke. B ENHOLZ , Claudia / M AVRUK , Gül ş ah (2016): „Sprachförderung in der Unterrichtssprache“. In: B URWITZ -M ELZER et al. (Hrsg.), 217-221. C HRIST , Herbert ( 3 1995): „Sprachenpolitische Perspektiven“. In: B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: A. Francke, 75-81. C HRIST , Ingeborg (2016): „Staatliche Regelungen für den Fremdsprachenunterricht: Curricula, Richtlinien, Lehrpläne“. In: B URWITZ -M ELZER et al. (Hrsg.), 56-60. E UROPARAT (Hrsg.) 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Tübingen: Stauffenburg G OGOLIN , Ingrid (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. H UFEISEN , Britta (2016): „Gesamtsprachencurriculum“. In: B URWITZ -M ELZER et al. (Hrsg.), 167- 172. KMK (= Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2004, 2005, 2012). Bildungsstandards. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2003/ 2003_12_04-BS-erste- Fremdsprache.pdf (22.11.2016). K RUMM , Hans-Jürgen (2016): „Sprachenpolitik und das Lehren und Lernen von Sprachen“. In: B URWITZ -M ELZER et al. (Hrsg.), 45-51. P HILLIPSON , Robert (1992): Linguistic Imperialism. Oxford: OUP. Q UETZ , Jürgen (2010): „Auf dem Weg zur fremdsprachlichen Monokultur? Fremdsprachen an den Schulen der Bundesrepublik Deutschland“. In: Sociolinguistica 24, 170-186. R OSSA , Henning (2016): „Wie verändern Bildungsstandards und zentrale Prüfungen den Fremdsprachenunterricht? “ In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 27.1, 99-122. S EIDLHOFER , Barbara (2005): „English as a lingua franca.“ In: ELT Journal 59.4, 339-341. S POLSKY , Bernard (Hrsg.) (2012): The Cambridge Handbook of Language Policy. Cambridge: CUP. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 46 (2017) • Heft 1 © 2017 Narr Francke Attempto Verlag M ICHAELA P ERLMANN -B ALME * Wie viel Deutsch sollen Migranten können? Abstract. This article starts from the political debate about the language needs of refugees that arrived in Europe in 2015 in unexpected numbers. In the first chapters, it points out the rather high expectations for the desired language competence of these newcomers with varied educational backgrounds and summarizes the development of migration to Germany from the mid fifties with respect to language demands and provisions by the state. It looks closely at the required language levels according to the Common European Framework of Reference (CEFR) of the Council of Europe. Chapter 4 looks beyond the question “how much German migrants need” to “what kind of German language” do they have to learn and how are these requirements taught and tested. Chapter 5 and 6 present results of empirical research and data. The project FEI looks at views articulated by employers and employes in three European countries concerning language requirements at the workplace. Finally, the ALTE booklet on language and migration provides recent information on legal requirements for entry, residence and citizenship in a wider European perspective. 1. Die aktuelle Debatte Das Jahr 2015 wurde in Deutschland und ganz Europa nachhaltig geprägt von einer sog. Flüchtlingskrise. Als Folge von Krieg, politischen Unruhen und langfristigen Strukturproblemen in verschiedenen Teilen der Welt kam es zu einer Zuwanderung von über einer Million Asylsuchenden und Flüchtlingen. In diesem Kontext wurde eine Diskussion wieder aufgenommen, die in Deutschland bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders begonnen hatte: Ob und wenn ja, aus welchen Gründen soll die deutsche Gesellschaft neue, aus anderen Staaten zugezogene Einwohner willkommen heißen? Herbert B RÜCKER , Marcel F RATZSCHER und Jakob W EIZSÄCKER (2016: 26) argumentieren in einer Tageszeitung, Deutschland benötige Arbeitskräfte, denn es herrsche Fachkräftemangel, und es fehlten Einzahler in die Sozialkassen. Es brauche aber auch klare, ambitionierte und realistische Ziele für die Asylsuchenden, denn von deren erfolgreicher Integration in den Arbeitsmarkt hänge der Wohlstand der deutschen Gesellschaft ab. In ihrer sechs Punkte umfassenden generellen Zukunftsvision nennen die Autoren die Forderung, Sprachkompetenz schneller und nachhal- * Korrespondenzadresse: Dr. Michaela P ERLMANN -B ALME , Goethe-Institut e.V., Abteilung Sprache, Dachauer Straße 122, 80637 M ÜNCHEN . E-Mail: michaela.perlmann-balme@goethe.de Arbeitsbereiche: Entwicklung von Deutschprüfungen und anderen Instrumenten der Leistungsmessung für Erwachsene, Jugendliche, Migranten. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 12 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 tiger zu entwickeln und präzisieren: „Ein Jahr nach dem Zuzug sollten 50 Prozent der Flüchtlinge, drei Jahre danach alle Flüchtlinge über deutsche Sprachkenntnisse verfügen, mit denen man sich im Alltag verständigen kann. Das allein wird für die Arbeitsmarktintegration aber nicht reichen. Hierfür sind gute deutsche Sprachkenntnisse notwendig (Niveau B2). Dieses Niveau sollten ein Jahr nach dem Zuzug 40 Prozent der Flüchtlinge, drei Jahre nach dem Zuzug 80 Prozent der Flüchtlinge erreicht haben“ (B RÜCKER et al. 2016: 26). Die hier verwendete Terminologie - B2 - dürfte für viele Zeitungsleser aufgrund fehlenden Fachwissens nicht ganz nachvollziehbar sein. Unklar bleibt für den Zeitungsleser, was die Asylsuchenden denn auf der Stufe B2 können müssten. Auch die allgemeinsprachliche Umschreibung „gute“ deutsche Sprachkenntnisse enthält keine eindeutigere Information. Das scheint bedenklich, geht es den Autoren doch um eine weitreichende Verschärfung der bisherigen Praxis. Würde der Gesetzgeber die Forderung nach Sprachkenntnissen auf der Stufe B2 in die Praxis umsetzen, würde das erhebliche Investitionen im Bereich der Sprachkurse nach sich ziehen. Die in Deutschland derzeit angebotenen Integrationskurse führen bislang nur bis zum Sprachniveau B1 und bleiben damit unter der im Essay geforderten Stufe. Nicht unerwähnt bleibe, dass es bereits berufsbezogene Sprachförderung gibt, die über B1 hinausgeht. 1 Der folgende Aufsatz widmet sich der Frage, wie viel Deutsch Migranten können sollen und was genau sie auf Deutsch können sollen. 2. Deutschkenntnisse in der Entwicklung der Migration nach Deutschland Während in der aktuellen politischen Debatte Sprachkenntnisse eine zentrale Rolle als Schlüsselqualifikation spielen, war das im Verlauf der Entwicklung der Migration nach Deutschland keineswegs immer der Fall. Seit Mitte der 50er Jahre, als der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach in einen Arbeitskräftemangel mündete, reagierte die Bundesregierung mit staatlich gesteuerter Anwerbung von sog. Gastarbeitern aus den Ländern Südeuropas, der Türkei und anderen. Da man von einer Rückkehr der überwiegend männlichen Zuwanderer ausging, wurde von staatlicher Seite wenig darin investiert, dass die Gastarbeiter Deutsch lernten. Während der Energiekrise 1973 und den damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verhängte die Regierung einen Anwerbestopp und eine Einschränkung der Wiedereinreise. Als Folge entschlossen sich viele, die schon da waren, nicht mehr auszureisen, sondern stattdessen ihre Familien nachzuholen (vgl. P LUTZAR 2010: 108). Fachlich betreut wurde diese vergleichsweise geringe Anzahl von Deutschkursen vom 1974 gegründeten Sprachverband für ausländische Arbeitnehmer e.V. 1 http: / / www.bamf.de/ DE/ Willkommen/ DeutschLernen/ DeutschBeruf/ Bundesprogramm-45a/ bundesprogramm-45a.html? nn=7900400 (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 13 46 (2017) • Heft 1 Ein deutsches Sonderphänomen war die Zuwanderung der sog. Spätaussiedler in den 80er und 90er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion sowie Ländern des ehemaligen Ostblocks. Bei dieser Zielgruppe wurden staatlich finanzierte Sprachkurse wichtig. Anders als die Gastarbeiter erhielten Spätaussiedler, da sie als Deutsche betrachtet wurden, bei der Ankunft einen deutschen Pass und damit die deutsche Staatsangehörigkeit, unabhängig von (noch) vorhandenen Deutschkenntnissen. Als Deutsche standen ihnen Sozialleistungen zu, zudem monatelange staatlich finanzierte intensive Sprachkurse. Anbieter wie die Volkshochschulen oder die Goethe- Institute in Deutschland und andere stellten ihre regulären Kurse zur Verfügung. Nachdem die Unternehmensberatung Social Consult (1998, 1999) die Effektivität solcher mit staatlichen Mitteln geförderter Sprachkurse untersucht hatte, fiel das Urteil kritisch aus, insofern als Aufwand und Erfolg in keinem befriedigenden Verhältnis standen. Viele Kursteilnehmende erreichten keine nennenswerten Fortschritte trotz langer Kursdauer. Die Ergebnisse dieser Evaluation trugen dazu bei, die Sprachkurse für Aussiedler und für ausländische Arbeitnehmende neu zu ordnen. Nach der Jahrtausendwende setzte eine intensive politische Beschäftigung mit den Sprachkenntnissen der Zuwandernden ein. Diese manifestierte sich in der Verabschiedung eines neuen Aufenthaltsgesetzes, in dem der erfolgreiche Erwerb der Landessprache durch Migrantinnen und Migranten eine zentrale Rolle spielte. Sprachkenntnisse wurden zum Dreh- und Angelpunkt der Integration erklärt. 2005 übernahm das neu geschaffene Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Behörde des Bundesinnenministeriums die Aufgaben des Sprachverbandes. Dem Bundesamt zur Seite gestellt wurde eine Bewertungskommission. Das BAMF verwaltet die 2005 neu eingeführten flächendeckenden Deutschkurse, genannt Integrationskurse. Nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ wurde die Niederlassungserlaubnis, also der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland und ggf. der Bezug von Sozialleistungen, an den erfolgreichen Besuch eines Sprach- und Orientierungskurses gebunden. Letzterer vermittelt Basiskenntnisse zur deutschen Rechtsordnung, Geschichte und Kultur sowie Werte, die in Deutschland wichtig sind, zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung. Neuzugewanderte aus Ländern außerhalb der EU wurden - mit wenigen Ausnahmen - zum Besuch dieser Kurse verpflichtet, Altzuwanderer, die teilweise Jahrzehnte ohne nennenswerte Deutschkenntnisse in Deutschland gelebt hatten, wurden ebenfalls zum Kursbesuch verpflichtet. EU-Ausländer sowie Zuwanderer aus bestimmten außereuropäischen Ländern wie zum Beispiel Japan wurden von der Pflicht, für den dauerhaften Aufenthalt das den Integrationskurs abschließende Sprachniveau nachzuweisen, befreit. 3. Mindestanforderungen beim Sprachniveau Das Sprachniveau, das eine Gesellschaft von Zugewanderten erwartet, sollte mindestens folgenden Ansprüchen gerecht werden: Das Niveau sollte klar definiert und transparent sein; seine Auslegung sollte zuverlässig dieselben Ergebnisse ergeben Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 14 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 und es sollte den Möglichkeiten der Zielgruppe angepasst sein, d.h. es sollte fair sein. Um die Frage zu beantworten, wie viel Deutsch Migrantinnen und Migranten brauchen, benötigt man als Grundlage eine Maßeinheit, die alle nachvollziehen können. Dass mit dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) seit 2001 ein für alle europäischen Sprachen gültiges Referenzwerk zur Verfügung steht, ist im Hinblick auf Transparenz ein enormer Vorteil. Es gibt mit dem GeR ein Instrument, das Aussagen über sprachliches Können nachvollziehbar macht. Mit den darin definierten Niveaustufen wurde ein Maßstab geschaffen, der in Europa und einigen Ländern darüber hinaus weitgehend verstanden wird. Ziel der Arbeitsgruppe, die hinter der Definition dieser Sprachniveaus stand, war es, durch das gemeinsame Bezugssystem eine bessere Vergleichbarkeit von Leistungen, Teilnahmebescheinigungen und schließlich Zertifikaten und ihrer Aussage zu erlangen. Wie die gemeinsame Währung, der Euro, mit dem der GeR fast zeitgleich im Jahr 2001 veröffentlicht wurde, stellte der Referenzrahmen den Europäern eine gemeinsame Maßeinheit und eine gemeinsame Auffassung von sprachlicher Kompetenz bereit. Es liegt ein positiver Ansatz vor, nämlich zu definieren, was Lernende einer Fremdsprache im realen Leben alles können bzw. können sollen. Dieser Ansatz passt zur Philosophie des Multilingualismus in Europa, wonach jeder Bürger der EU laut den Beschlüssen von Barcelona 2002 außer seiner Muttersprache möglichst zwei Fremdsprachen verwenden können soll. Der positive Ansatz passt außerdem zu der Beobachtung, dass ein Mensch nicht alle erlernten Fremdsprachen bis zum obersten Niveau beherrscht. Für die Definition der sprachlichen Anforderungen von Flüchtlingen eignet sich der GeR damit grundsätzlich. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass der GeR in erster Linie Kompetenzen einer Zielgruppe erwachsener Europäer beschreibt. Damit ist er nicht ohne weiteres auf Menschen aus außereuropäischen Ländern anwendbar, wenn es beispielweise um die Faktoren Berufsbildung und Schulbildung geht. Somit ergibt sich für die Konzeption von Sprachkursen und Prüfungen die Aufgabe, die Beschreibungen des GeR mit Blick auf die Zielgruppe auszuwählen und die Realisierung in Kurs und Prüfung daraufhin anzupassen. Der am häufigsten rezipierte Teil des GeR ist die globale Beschreibung der Niveaustufen. Die grundlegenden Stufen, A: Elementare Sprachverwendung, B: Selbstständige Sprachverwendung und C: Kompetente Sprachverwendung, sind nochmals in sechs (A1, A2, B1, B2, C1, C2) bzw., wenn man die Plusstufen (A2+, B1+, B2+) einbezieht, in neun Stufen unterteilt. In Deutschland spielte bei der Festlegung der geforderten Sprachkenntnisse von Zugewanderten besonders die Charakterisierung „selbständige Sprachverwendung“ eine Rolle: „B1 Kann die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht. Kann die meisten Situationen bewältigen, denen man auf Reisen im Sprachgebiet begegnet. Kann sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete äußern. Kann über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 15 46 (2017) • Heft 1 B2 Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne größere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläutern und die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben“ (GeR 2001: 35). Damit es in der Auslegung dieser Texte zuverlässig zu denselben Ergebnissen kommt, müssen mehrere Faktoren gegeben sein, denn Adjektive wie „komplex“, „abstrakt“, „fließend“ sind interpretationsbedürftig. Sie müssen in ein Gesamtverständnis des Systems eingebettet werden. Die Autoren des GeR machen im sog. Manual, Relating Language examinations to the Common European Framework (Europarat 2009) dazu klar, dass nur Fachleute, die sich mit dem GeR systematisch vertraut gemacht haben, in der Lage sind, das Niveau einer sprachlichen Leistung, zuverlässig zu bestimmen. Inakzeptabel ist es daher, wenn Angestellte bei Behörden wie etwa den Einwohnermeldeämtern oder bei Auslandsvertretungen, beauftragt werden, durch Schaltergespräche Sprachkenntnisse zu ermitteln oder zu überprüfen. In der politischen Debatte vor der Einführung der Integrationskurse in Deutschland verband sich die Festlegung des geforderten sprachlichen Niveaus mit der Finanzierbarkeit der dafür notwendigen Sprachkurse. Das Sprachniveau, das erreicht werden soll, hing und hängt immer noch von den zur Verfügung stehenden Mitteln ab, um die notwendigen Unterrichtseinheiten zu finanzieren. Da die Zuwandernden in der Regel nicht über ausreichende eigene Mittel verfügen, werden in Deutschland die Sprachkurse weitestgehend vom Staat finanziert. Die Zuwanderer und Zuwanderinnen bezahlen einen geringen Eigenbeitrag von ursprünglich 1 Euro, der inzwischen auf 1,95 Euro angehoben wurde. 2 Kostenfreiheit ist nicht in allen europäischen Staaten der Fall. Für Vertreter des Bundes und der Länder, die jeweils fünfzig Prozent der Kosten für die Kurse übernehmen, war es wichtig zu wissen, wie lange Lernende in der Regel brauchen, um die deutsche Sprache selbständig zu verwenden und die Stufe B1 zu erreichen. Teilnehmende sollten durch die Deutschkurse in die Lage versetzt werden, sich in der bundesrepublikanischen Realität ohne fremde Hilfe durch Übersetzer zurechtzufinden. Dass sie dabei eine für Erwachsene mit geringer Schulbildung hohe Kompetenz erlangen, war zwar gewünscht, aber nicht in jedem Fall realistisch. Das zeigt sich bei dem in der Einleitung erwähnten Zeitungsartikel mit der Forderung nach der Stufe B2. Bei der Kalkulation des Lernpensums muss berücksichtigt werden, welche Lernmotivation die Lernenden mitbringen. Auch biographische Daten wie Alter und Schulbildung spielen eine entscheidende Rolle für Lernfortschritt und -erfolg. Umso überraschender ist die Forderung, für die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt das Niveau B2 zu verlangen, das sich europaweit als Einstiegsniveau für ein Hochschulstudium zurzeit durchsetzt. Das Niveau B2 verlangt intellektuelle Fähig- 2 http: / / www.bamf.de/ DE/ Willkommen/ DeutschLernen/ Integrationskurse/ TeilnahmeKosten/ teilnahmekosten-node.html (01.02017); Trägerrundschreiben 12/ 16 des BAMF. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 16 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 keiten, die bei Personen mit nur sechsjähriger Schulbildung, wie sie sich tendenziell unter den älteren Frauen aus den Krisenregionen finden, eher selten aufweisen. Einen Ausweg aus einer zu eindimensionalen Festlegung auf ein einziges Sprachniveau in einer knapp bemessenen Kurszeit findet sich im deutschen System in zwei Maßnahmen: Zum einen wird die Zahl der Unterrichtseinheiten für diejenigen, die die Anforderungen in sechshundert Unterrichtseinheiten nicht erfüllen, bis zu hundert Prozent erhöht, zum anderen erlaubt der Einsatz einer skalierten Sprachprüfung es, auch Ergebnisse (in den schriftlichen Prüfungsteilen) unterhalb von B1 als Lernerfolg zu definieren. Die Teilnehmenden am Integrationskurs sollen das Niveau B1 erreichen. Das Zeugnis, das ausgestellt wird, bestätigt B1 aber auch, wenn in einem schriftlichen Prüfungsteil nur das Niveau A2 erreicht wurde (vgl. P ERLMANN -B ALME / P LASSMANN / Z EIDLER 2009: 83) Zu dieser Regelung fand das Projektteam zur Entwicklung des Deutsch-Tests für Zuwanderer in der Diskussion mit den Auftraggebern, dem Bundesinnenministerium und dem BAMF. Das skalierte Format ermöglicht eine relativ hohe Bestehensquote. Dazu die offizielle Pressemitteilung des BAMF: „Im Jahr 2012 erreichten 55,9 Prozent der Testteilnehmer das höchstmögliche Sprachniveau B1 (Vorjahr: 53,8 Prozent). Ein gutes weiteres Drittel, nämlich 35,4 Prozent, erreichte immerhin das Sprachniveau A2. Dies bedeutet, dass insgesamt 91,3 Prozent aller Prüfungsteilnehmer ein Sprachzertifikat erhielten, mit dem sie ihre Lernerfolge nachweisen können. Auch im Orientierungskurstest wurde 2012 ein neuer Rekord erzielt: 93,3 Prozent der Teilnehmer bestanden diesen bundesweit einheitlichen Test. Das bereits hohe Bestehensniveau stieg damit nochmals um 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an. 3 Im Jahre 2015 stieg die Quote für den Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) auf 60,5 % und damit auf die höchste Quote seit Einführung des DTZ dar“. So optimistisch diese Mitteilungen klingen so klar wird darin, wie anspruchsvoll speziell der Sprachtest für die Teilnehmer ist. Das Niveau B1 ist eine Herausforderung für die Zielgruppe, die eingangs zitierte Forderung nach einer Erhöhung auf B2 muss, sofern sie als Maßnahme für alle Teilnehmenden gedacht ist, daher skeptisch betrachtet werden. 4. Kurs und Prüfung: Rahmencurriculum und Deutsch-Test für Zuwanderer Die 2005 auf eine neue Basis gestellten bundesweiten Integrationskurse sollten mit einem verbindlichen einheitlichen Abschluss versehen werden. Anders als die Aussiedlersprachkurse der 1990er Jahre sollten die neuen Sprachkurse nicht im „Ungewissen“ enden. Der geforderte Abschlusstest sollte aber auch nicht einen erheblichen Teil von Teilnehmenden frustriert zurücklassen, die das ambitioniert auf B1 3 http: / / www.bamf.de/ SharedDocs/ Meldungen/ DE/ 2013/ 20130418-inge-statistik-2012.html (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 17 46 (2017) • Heft 1 festgelegte Sprachniveau nicht erreichten. Um diesen unerwünschten Effekt zu vermeiden, wurde das Konzept eines über zwei Niveaustufen skalierten Abschlusstests umgesetzt, bei dem außer B1 auch das darunterliegende Niveau A2 ausgewiesen werden kann. Diese skalierte Sprachprüfung wurde im Auftrag des Bundesinnenministeriums und unter Begleitung des BAMF in einem zweieinhalbjährigen Projekt vom Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit der telc GmbH, Frankfurt, entwickelt. Der Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) ist in vier Fertigkeiten eingeteilt: Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen. Hier trafen die Testentwickler eine Entscheidung gegen einen zusätzlichen separaten Testteil zum sprachlichen Wissen in Grammatik und Wortschatz und für den rein handlungsorientierten Ansatz. Ein Diskussionspunkt bei der Festlegung des Testaufbaus war die Frage, ob und im welchem Umfang Prüfungsteilnehmende in der Realität die Fertigkeit Schreiben benötigen. Während Kursleiter bei ihren qualitativen Rückmeldungen eher ablehnend reagierten, sahen Migrationsforscher eine Relevanz von Schriftsprachlichkeit für die Integration in die Aufnahmegesellschaft (vgl. M AAS / M EHLEM 2003). Bei ihnen herrschte die Auffassung, dass die Vorbereitung auf die deutsche Gesellschaft in der Schriftlichkeit eine entscheidende Rolle spielt, das Einüben einiger grundlegender Regeln derselben zentrales Kursziel und damit auch Prüfungsziel sein sollte. Alle Testaufgaben orientieren sich an Aktivitäten der realen Welt, z.B. eine Nachricht auf einem Anrufbeantworter abhören, einen Termin vereinbaren, eine Anfrage formulieren, etwas im Alltagsgespräch aushandeln usw. Hier ein Beispiel zur Überprüfung des Leseverstehens (vgl. P ERLMANN -B ALME / P LASSMANN / Z EIDLER 2009: 54) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 18 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Abb. 1: Deutsch-Test für Zuwanderer, Modelltest, Aufgabe Lesen (P ERLMANN -B ALME et al. 2009) Die Handlungsbzw. Realitätsorientierung der Aufgaben wurde in der Testentwicklung überdies bei der Wahl der Textsorten umgesetzt. Prüfungsteilnehmende sollen nachweisen, dass sie auch mit authentischen Texten wie beispielsweise einem Inhaltsverzeichnis oder Register (siehe Beispiel) umgehen können. Sie sollen Texte bewältigen und gezielt Informationen entnehmen, die eine Fülle von unbekannten Wörtern enthalten, wie das in der Alltagswirklichkeit auch der Fall ist. Beispiele sind Branchenverzeichnisse, Stellenanzeigen oder Beipackzettel von Medikamenten. Das Besondere waren damit die als relevant ausgewählten Textquellen und Inhalte. Entscheidendes Qualitätsmerkmal dieses Kursabschlusstestes ist das Vorhandensein eines Rahmencurriculums für die Deutschkurse. Dieses gibt einerseits den Kursen einen inhaltlichen Rahmen, es setzt und determiniert aber auch gleichzeitig den Prüfungsstoff. Das Hauptziel des Rahmencurriculums lag in der Definition der Bedürfnisse und Lebensbereiche, die für eine Teilhabe an der Gesellschaft wesentlich sind. Bei der Definition dieser Bedürfnisse hat das Rahmencurriculum für die Integrationskurse Grundlagenarbeit geleistet (vgl. B UHLMANN et al. 2009). Während der Referenzrahmen erwachsene Fremdsprachenlerner generell, nicht aber Zuwandernde im Auge hatte, stellt das Rahmencurriculum Aktivitäten für zwölf Handlungsfelder von Migrantinnen und Migranten zusammen. Eine von der Universität München Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 19 46 (2017) • Heft 1 durchgeführte Bedarfsrecherche 4 aus dem Jahr 2007 ermöglichte eine Hierarchisierung der Bedürfnisse von Teilnehmenden hinsichtlich wichtiger Themenbereiche. Dazu zählen die Betreuung und Ausbildung der Kinder sowie der Gesundheitsbereich. Zusammen mit dem Bereich Arbeitssuche wurden sie von einer Mehrheit der Befragten als relevant benannt. Diese Priorisierung schlug sich auch in der Berücksichtigung bei den Prüfungsthemen nieder. Für die Prüfungskonzeption ist wichtig, dass die Migrantinnen und Migranten keine einheitliche Gruppe bilden. Außer hinsichtlich ihrer Herkunftsländer unterscheiden sie sich auch hinsichtlich der Länge des Aufenthalts in Deutschland sowie hinsichtlich persönlicher Gründe für die Migration. Diese Unterschiede wurden bei der Prüfungskonstruktion berücksichtigt. Für die Testentwicklung relevant war die Definition von drei Teilzielgruppen, die das Rahmencurriculum vornahm (E HLICH 2007): „Gruppe A: verfügt über Lernerfahrungen, Schul- und Bildungsabschlüsse sowie Fremdsprachenkenntnisse und hat daher dezidierte Bildungs- und Berufswünsche. Gruppe B: verfügt über ein niedrigeres Bildungs- und Qualifizierungsniveau, weist daher oft Defizite beim Umgang mit der Schriftlichkeit bzw. Schreibgewohntheit auf und ist eher auf eine Zukunft im Kreis der Familie mit Kindern ausgerichtet. Gruppe C: verfügt ebenfalls über ein niedrigeres Bildungs- und Qualifizierungsniveau und weist im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen den höchsten Altersdurchschnitt sowie die längste Aufenthaltsdauer auf. Zukunftserwartungen orientieren sich an einer Wiedereingliederung in die Arbeitswelt auf relativ niedrigem Qualifizierungsniveau bzw. dem Erhalt der Beschäftigung“. Die im Rahmencurriculum beschriebenen Handlungsfelder und Kommunikationsbereiche differieren nach ihrer Relevanz für jede dieser drei Zielgruppen. In der Prüfung wird ein curricularer Kernbereich thematisiert, der in allen Kursarten unterrichtet wird. Verlangt werden somit nur solche Aktivitäten bzw. Kompetenzen, die im Rahmencurriculum für alle drei Teilzielgruppen als relevant aufgeführt sind, oder die - wie zum Beispiel einfache Stellenanzeigen - für alle drei Zielgruppen als Vorbereitung auf die bundesdeutsche Realität interessant sind. Unter den Akteuren im Integrationskursbereich bestand gleichermaßen eine Skepsis gegenüber einem neuen Abschlusstest, der leichter sein könnte als die bis dahin maßgebliche Prüfung Zertifikat Deutsch, wie auch gegen einen Test, der die Anforderungen möglicherweise noch weiter anheben würde. Auf der Basis der statistischen Ergebnisse von Teilnehmenden, die beide Tests abgelegt haben, ließ sich nachweisen, dass die des Deutsch-Tests für Zuwanderer hinsichtlich ihres Schwierigkeitsgrades breiter streuen als die des Zertifikats Deutsch, d.h. der Zuwandertest weist bei den erprobten Versionen mehrere Aufgaben von geringerem Schwierigkeitsgrad auf als das Zertifikat Deutsch. Dies entspricht der Logik, dass die Prüfung auch Aufgaben unterhalb der Stufe B1 anbietet. 4 http: / / www.goethe.de/ lhr/ prj/ daz/ pro/ InDaZ_Recherche.pdf (22.11.2016) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 20 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Zu den internationalen Qualitätsanforderungen von Sprachprüfungen gehört die Eichung auf den Referenzrahmen: Wie bereits zu Beginn beschrieben, ist das externe Referenzsystem bei allen wichtigen Sprachprüfungsprodukten seit Mitte der 2000er Jahre der GeR. Es geht also nicht um die Frage, ob der Referenzrahmen der Bezugspunkt ist, sondern wie nachvollziehbar das Verhältnis ist, da immer noch manche Prüfungsanbieter der Vorstellung anhängen, es reiche aus, eine Zuordnung der Niveaustufe zur Prüfung nach Augenschein vorzunehmen. Wichtig bei der Definitionsphase des Deutsch-Tests für Zuwanderer war, dass die Konzeption detailliert Auskunft darüber gibt, welche Deskriptoren des GeR herangezogen wurden, um die Prüfungsziele zu definieren. Da der GeR jedoch keine detaillierten Deskriptoren für die Zielgruppe der Zuwanderer bereitstellt, hat die für das Rahmencurriculum zuständige Arbeitsgruppe es unternommen, diese Lücke zu schließen. 5. Anforderungen am Arbeitsmarkt Soll die bevorstehende Integration von neu angekommenen Flüchtlingen gelingen, müssen die Vorstellungen, welche Art von Sprachkenntnissen überprüfbar sind, an den realen Bedürfnissen orientiert sein. Ein Mittel dafür ist die sorgfältige Erstellung von Bedarfs- und Bedürfnisanalysen. Befragungen der beteiligten Akteure sind dabei unverzichtbar. In diesem letzten Abschnitt des Aufsatzes sollen die Ergebnisse einer solchen länderübergreifenden Befragung erläutert werden. Dabei wurden nicht, wie bei der Studie zum Rahmencurriculum, Kursleitende und Sprachexperten befragt, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Durch den Europäischen Integrationsfond wurde 2012 unter Aktion 8 ein Projekt zum Austausch von „Good practices“ finanziert. 5 Experten aus drei Ländern führten 2014 in Deutschland, Italien und Portugal eine Umfrage durch, um gute Beispiele aufzuspüren, mit welchen Maßnahmen Integration am Arbeitsplatz gelingen kann. Die Ergebnisse sollen politischen Entscheidungsträgern zur Verfügung gestellt werden. Bei den befragten Migrant(inn)en handelte es sich um Bürger aus Nicht-EU-Staaten. Mit Hilfe von parallelen Fragebogen in den drei Sprachen wurden vier Sektoren untersucht: • Produzierendes Gewerbe, • Bau, z.B. Lastwagenfahrer, • Gastronomie, z.B. Küchenhilfen • Dienstleistungen, z.B. Reinigungspersonal. Teilgenommen haben in Deutschland Firmen wie Zapf und Lacon Electronic aus dem Baugewerbe, GeoData+ aus dem Dienstleistungsbereich oder Nordsee aus der Gastronomie. 5 Ref. Public Notice of the Ministry of Interior - Department for civil liberties and immigration, Decree Prot. No. 3004 of 7 May 2013; ALTE (2014) http: / / www.alte.org/ projects/ project_fei (13.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 21 46 (2017) • Heft 1 Ausgangspunkt war die Hypothese, dass Sprachkenntnisse neben dem Ausbildungsstand für die erfolgreiche Arbeitsplatzsuche und die Integration in den Arbeitsmarkt von fundamentaler Bedeutung sind. Diese Hypothese wurde von beiden Befragtengruppen bestätigt. Die mit Abstand wichtigsten Ratschläge, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Arbeitssuchenden geben, sind, Kenntnis der Landessprache zu erwerben, gefolgt von der Respektierung der Gesetze sowie das Vermeiden von Isolation. Beinahe die Hälfte der befragten Arbeitnehmer in Deutschland fanden ihren Arbeitsplatz nicht über die offiziellen Kanäle wie zum Beispiel Anzeigen oder Jobagenturen, sondern durch Mund-zu-Mund-Propaganda unter Freunden, in Italien waren das sogar bis zu 87 Prozent der Fälle. Eine Überprüfung der Strategien der Bundesagentur für Arbeit oder eine Neukonzeption der Arbeitssuche für die Migranten scheint somit ein möglicher Ansatzpunkt zu sein. Befragt danach, wie die Firmen bei einer Einstellung die Sprachkenntnisse der Bewerber überprüfen, wurde das Bewerbungsgespräch als wichtigstes Instrument genannt. Arbeitgeber verlassen sich bei der Einstellung von nicht-muttersprachlichen Mitarbeitern kaum auf zertifizierte Sprachkenntnisse, weil sie mit den fremden Ausbildungssystemen in der Regel nicht vertraut sind. Hier sind also die Anbieter von international bekannten Sprachzertifikaten gefragt, ihre Kommunikation zu verbessern. Es sollte mehr Informationsmaterial zum GeR speziell für Arbeitgeber bereitgestellt werden. Für Arbeitgeber müssen Leitfäden ausgearbeitet werden, die Aspekte der Sprachbeherrschung in den Mittelpunkt stellen. Eine Analyse der Sprachverwendungssituationen erbrachte eine ganze Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten zwischen den Sektoren. In allen wurde das Sprechen als wichtig angesehen, insbesondere mündliche Interaktion zu verstehen, mit Kollegen und Vorgesetzten zu sprechen. Die befragten Arbeitnehmer bekräftigten, dass das Verständnis von schriftlichen und mündlichen Instruktionen sowie von schriftlichen Warnhinweisen und Schildern eminent wichtig sei. Schreiben wurde dagegen als weniger wichtig eingestuft. Während eines normalen Arbeitstages mussten einige „nie“ und die größte Gruppe „gelegentlich“ am Arbeitsplatz etwas schreiben. Im Bereich Wortschatz werden Fachausdrücke von einem hohen Anteil der Arbeitnehmer als besonders relevant eingestuft. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis: Zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herrscht eine Diskrepanz hinsichtlich der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Deutschkenntnisse. Die Mehrheit der Arbeitnehmer hält seine/ ihre Sprachkenntnisse für gut oder sogar sehr gut. Die Arbeitgeber dagegen bezeichneten diese Kenntnisse eher nur als „ausreichend“. Die Arbeitnehmer beurteilen ihre Sprachkenntnisse also deutlich positiver als die Arbeitgeber. Damit unterschätzen Arbeitnehmer unter Umständen die negative Wirkung von geringer Sprachkompetenz. In Deutschland gaben zwei Drittel der befragten Arbeitgeber an, dass sie Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, allerdings haben Arbeitgeber teilweise unrealistische Vorstellungen darüber, in welcher Zeit Fortschritte bei den Sprachkenntnissen erzielt werden können. Mit fünfzig Stunden Sprachunterricht kommt man bei Teilnehmenden auf der Stufe Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 22 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 A1 nicht sehr weit, d.h. es sind in so kurzer Zeit nur kleinere Fortschritte im Sprechen zu erzielen. Abb. 2: Weiterbildung am Arbeitsplatz Von ihren Arbeitnehmern werden die Fortbildungsangebote nur dann gern und regelmäßig wahrgenommen, wenn sie während der Arbeitszeit durchgeführt werden. Ausländische Arbeitnehmer, die eine Arbeitsstelle haben, sind offenbar schwer zu motivieren, sich in der Freizeit fortzubilden. Einen besonderen Platz in der Debatte über die Deutschkenntnisse von Zuwandernden nimmt die Berufsgruppe der Mediziner ein, d.h. der bereits ausgebildeten Ärzte, Medizinstudenten vor Antritt der Facharztausbildung sowie des Pflegepersonals. Dabei spielt die Einschätzung, wie wichtig der fachsprachliche Anteil bei der Feststellung der sprachlichen Kompetenz ist, eine wichtige Rolle. Unter dem Titel „Darm oder Daumen? “ berichtete die Süddeutsche Zeitung am 11.03.2013 (H ARDENBERG 2013) über einen Fall mangelnder Deutschkenntnisse mit gefährlichen Konsequenzen. Da es keine bundeseinheitliche Regelung bei der Festlegung sprachlicher Voraussetzung der Ärzte gibt, wie im Falle der Niederlassungserlaubnis oder Staatsbürgerschaft, dauert in diesem Bereich die lebhafte politische Diskussion an, welches das richtige Sprachniveau ist und ob allgemeinsprachliche oder fachsprachliche Anforderungen nachgewiesen werden sollen. Eine bundeseinheitliche Aktion wie im Falle des Deutsch-Tests für Zuwanderer könnte hier Transparenz und mehr Sicherheit für die Beteiligten bringen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 23 46 (2017) • Heft 1 6. Anforderungen bei Einreise, Aufenthalt, Staatsbürgerschaft Das Beispiel des Deutsch-Test für Zuwanderer zeigte eine relativ sorgfältige Vorgehensweise, bei der zunächst das neue Integrationsgesetz die Grundlage legte für ein bundesweit angelegtes Netz von Sprachkursen, das Zuwandernden kostengünstige Lernmöglichkeiten anbietet und am Ende die Zielerreichung durch einen Kursabschlusstest überprüft. Experten führten das zweieinhalbjährige Projekt durch, die Bewertungskommission begleitet die Implementierung und beschloss Anpassungen, wo diese notwendig waren. Mit so viel Plan und Hinwendung wird nicht immer gearbeitet, wenn Sprachtests zum Einsatz kommen, um Migranten für den Zugang zum eigenen Staat auszuwählen. Zum Teil müssen die politischen Entscheidungen als schwer nachvollziehbar und die Tests als unzweckmäßig qualifiziert werden. Die Anzahl von Staaten, die Sprachanforderungen an Migranten stellen, hat sich in den Jahren 2009 bis 2013 um 20 Prozent gesteigert. Inzwischen müssen Migranten in 78 Prozent aller 47 Staaten des Europarates eine Sprachbarriere überwinden. Die folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse einer Umfrage bei den Mitgliedern der Association of Language Testers in Europe (ALTE), die erstmals 2009 und das zweite Mal 2013 durchgeführt wurde (ALTE 2016: 9ff.). Gefragt wurde nicht nur nach Sprachtests, sondern auch nach Wissenstests, die unter dem Begriff „Knowlege of Society“ zusammenfasst sind. Die Unterschiede in den verlangten Niveaustufen, aber auch in Bezug auf verlangte Fertigkeiten sind auffällig. Während Deutschland wie die Schweiz höhere Anforderungen im Sprechen stellen, verlangt Luxemburg für die Staatsbürgerschaft im Hörverstehen eine höhere Kompetenz als im Sprechen. Österreich hat den skalierten Deutsch-Test für Zuwanderer aus Deutschland für den dauerhaften Aufenthalt eingeführt. Land Einreise; Familien- / Ehegattennachzug Niederlassungserlaubnis Staatsbürgerschaft Andorra A1/ A2 mündlich Belgien A2 Dänemark A1 A2 schriftlich B1 mündlich B1 (B1+ mündlich) Deutschland A1 alle vier Fertigkeiten Sprachkurs, B1; Schriftlich teilweise A2; Sprechen B1 B1 Estland B1 B1 Finnland B1 Frankreich Kurs, 40 Stunden A1-A2 B1 mündlich Griechenland A2 A2 Italien A2 mündlich A2 Lettland A2 B1 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 24 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Land Einreise; Familien- / Ehegattennachzug Niederlassungserlaubnis Staatsbürgerschaft Liechtenstein A1 A2 B1 Litauen A2 B1 Luxemburg A2 Sprechen B1 Hören Moldawien A1-A2 A1-A2 Niederlande A1 A2 A2 ohne Sprechen Norwegen A2 mündlich Österreich A2-B1 B1 Portugal A1 A2 Slowenien A2 schriftlich, B1 mündlich Schweiz A2, B1 mündlich Tschechien A1 B1 Vereinigtes Königreich A1 mündlich B1 B1 Zypern A1-A2 Abb. 3: Sprachliche Mindestanforderungen mit GeR Niveaus 2014 (ALTE 2016: 11) Inzwischen hegen nicht nur Mitglieder des Europarats aus der Arbeitsgruppe LIAM (Language for Integration of Adult Migrants) Bedenken gegen den wachsenden Einsatz von Sprachtests, geht es dem Europarat doch um das Durchsetzen von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in seinen 47 Mitgliedsstaaten. Die ALTE vertritt über 30 europäische Institutionen, die Sprachprüfungen in 26 Sprachen entwickeln und vertreiben. ALTE setzt sich unter anderem für länderübergreifende Anerkennung von Zeugnissen und für gemeinsame Qualitätsstandards ein. Deren Arbeitsgruppe LAMI (Language for Migration and Integration) befasst sich mit dem Einsatz von Sprach- und Wissenstests in politischen Kontexten (vgl. S AVILLE 2009). Gerade weil ihre Mitglieder selber Sprachprüfungen entwickeln und verbreiten, achten sie darauf, dass minimale Qualitätsanforderungen nicht unterlaufen werden. Aufgrund ihrer fachlichen Expertise verhindern sie, dass Sprachtests mit unrealistisch hohen Anforderungen eine Anerkennung erhalten. Beide Organisationen beobachten, sammeln und systematisieren die Entwicklungen auf europäischer Ebene in Bezug auf die gesetzlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zu sprachlichen Anforderungen für Familiennachzug, dauerhaften Aufenthalt, Integration in den Arbeitsmarkt sowie den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Sie weisen hin auf Testfairness als besonders wichtiges Qualitätskriterium. „Unfaire Tests können zur Folge haben, dass Migrantinnen und Migranten Bürgerrechte und Menschrechte verweigert werden“ (ALTE 2009: 4). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Wie viel Deutsch sollen Migranten können? 25 46 (2017) • Heft 1 Der deutsche Sprachtest Start Deutsch 1 wurde als formelle Anforderung 2006 als Reaktion auf eine hohe Zahl von nachziehenden Ehegatten aus Ländern wie der Türkei, Thailand, China und anderen eingeführt. Er testet Deutschkenntnis auf dem untersten Niveau, A1, in allen vier Fertigkeiten, also Lesen, Hören, Schreiben und Sprechen. Die Einführung dieser Prüfung führte seither zu zahlreichen Gerichtsverfahren, erregter politischer Diskussion und zahlreichen Anfragen im Bundestag. Problemfälle bei diesem Test sind Teilnehmende mit sehr geringer Schulbildung und Analphabeten, die mit schriftlichen Tests nicht geprüft werden können. In den letzten Jahren hat sich die Lage aber durch Einführung von sog. „Härtefall-“ und Ausnahmeregelungen etwas beruhigt. Für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland wird nach Absolvieren eines 600 Unterrichtseinheiten umfassenden Sprachkurses ein Kursabschlusstest, der oben beschriebene Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) auf dem Niveau A2 bis B1, sowie der sog. Orientierungskurstest nach derzeit 60 Stunden Unterricht eingesetzt. Zurzeit erwägt der Gesetzgeber für den Kurs über gesellschaftliche Werte eine Aufstockung auf 100 Unterrichtseinheiten. Die Teilnehmenden bezahlen keine Prüfungsgebühr. Der Test wird von allen verpflichteten Ausländern verlangt und nur innerhalb Deutschlands abgelegt; die flächendeckend verteilten Testzentren werden vom BAMF lizensiert. Ein Vergleich der Angaben der o.g. Länder zeigt die große Heterogenität. Die Anforderungen für die Niederlassungserlaubnis sind europaweit von A1 bis B1 weit gefächert. Deutschland liegt im oberen Feld. Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Erwerb der Staatbürgerschaft. Hier ist die Gruppe der Staaten, die B1 verlangen, am größten. 7. Ausblick Mit der Flüchtlingskrise 2015 hat die aktuelle, vierte Phase der Migrationspolitik begonnen. Im Jahr 2016 wurde ein neues Integrationsgesetz verabschiedet. Durch den Druck, über eine Million Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integrieren zu müssen, werden nicht bloß organisatorische Abläufe kritisch hinterfragt, sondern auch das inhaltliche Konzept sowie die Zugangsbedingungen zu den Sprachkursen. Die schnelle Aufnahme einer Berufstätigkeit wird nun stärker als bislang in den Vordergrund gerückt. Ziel des Sprachkurses soll die Vorbereitung einer schnellen und nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt sein. Die Folge ist, dass arbeitsweltliche Handlungsfelder mehr Gewicht bekommen werden. Angesichts der intensiv geführten Diskussion über gesellschaftliche Werte soll deren Vermittlung verstärkt werden, und zwar nicht nur im Orientierungskurs, sondern auch im Sprachkurs. Bei der Umsetzung des Mottos „Fördern und Fordern“ sollte aber das Augenmaß beibehalten werden, um die Lernfähigkeit der heterogenen Zielgruppe richtig einzuschätzen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 26 Michaela Perlmann-Balme 46 (2017) • Heft 1 Literatur ALTE (2009): Sprachtests für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Staatsbürgerschaft. Ein Leitfaden für Entscheidungsträger. Deutsche Fassung: Goethe-Institut. https: / / www.goethe.de/ mmo/ priv/ 5279579-STANDARD.pdf (13.06.2016). 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München: Goethe-Institut. E HLICH , Konrad (2007): Recherche und Dokumentation hinsichtlich der Sprachbedarfe von Teilnehmenden an Integrationskursen (InDaZ). München. http: / / www. goethe.de/ lhr/ prj/ daz/ pro/ InDaZ_Recherche.pdf (13.06.2016). C OUNCIL OF E UROPE (2009): Relating language examinations to the Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment (CEFR). A Manual. Strasbourg. https: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ Source/ ManualRevision-proofread-FINAL_en.pdf (13.06.2016). E UROPARAT / C OUNCIL FOR C ULTURAL C O - OPERATION / G OETHE -I NSTITUT I NTER N ATIONES u.a. (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin, München: Langenscheidt. H ARDENBERG , Nina von (2013): „Darm oder Daumen. Sprachprobleme zugewanderter Ärzte führen zu Irrtümern“. In: Süddeutsche Zeitung, 11.03.2013, 1. 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Chapter three presents the European core curriculum EUCIM-TE (cf. ROTH et al. 2012) and the DaZKom-competence model (cf. KÖKER et al. 2015) as two theoretical frameworks which illustrate curricular and empirical aspects of GSLteacher training. With the new Berlin GSL-modules, the North Rhine-Westphalian DSSZ (= Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte) module‚ and the possibility to chose DaZ/ DaF (GSL/ German as a foreign language) as a third teaching subject in Thuringia three different, recently introduced study programs are compared. The article ends with a summary of important perspectives for GSL in German university teacher training. 1. Problemumriss Migrationsbewegungen und soziale Disparitäten haben zu einer großen Diversität und sprachlichen Heterogenität in deutschen Klassenzimmern geführt. Daran anknüpfend verweisen bildungspolitische Empfehlungen auf die Notwendigkeit eines sehr differenzierten „Sprachförderangebot[s] der Schulen und gut ausgebildete[r] Lehrkräfte“ (B EAUFTRAGTE FÜR M IGRATION , F LÜCHTLINGE UND I NTEGRATION 2012: 118). Zur Vorbereitung auf den Umgang mit sprachlicher Heterogenität sollten „Lehrkräfte aller Fachrichtungen, Schulformen und Schulstufen“ ein verpflichtendes „Modul sprachliche Bildung“ absolvieren, „das in die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache“ einführe und „interkulturelle Kompetenzen sowie solche für den Umgang mit Mehrsprachigkeit“ umfasse (BAMF 2010: 49). Gleichzeitig wird kritisiert, dass bisher erst wenige Universitäten Module anböten, die Lehramtsstudierende in dieser Weise qualifizierten und die bisher angebotenen Module * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Beate L ÜTKE , Arbeitsschwerpunkt Sprachdidaktik im Unterricht in multilingualen Lerngruppen, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur und Linguistik / Sprachdidaktik, Deutsch als Zweitsprache, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN (Sitz: Dorotheenstraße 24). E-Mail: beate.luetke@staff.hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik der deutschen Sprache / Deutsch als Zweitsprache; Arbeitsgebiet: Sprachdidaktische Ausbildung von Deutschlehrkräften für die Sekundarstufen, Ausbildung von Lehramtsstudierenden aller Fächer im Bereich Sprachbildung / Deutsch als Zweitsprache. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 28 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 zudem in „Quantität als auch in der Qualität“ einen „Weiterentwicklungsbedarf“ aufwiesen (P RESSE - UND I NFORMATIONSAMT DER B UNDESREGIERUNG 2011: 228). Bereits 2006 berichtet die Kultusministerkonferenz, dass „fast alle Länder Module zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Lehrerfort- und -weiterbildung“ eingeführt hätten (KMK 2006: 17). „Im Zuge der Neustrukturierung der Lehrerausbildung“ seien „in fast allen Ländern bereits entsprechende Module in der Erstausbildung verankert worden“ oder befänden sich „in Planung“ (ebd.). In der Rückschau kann zehn Jahre später zwar konstatiert werden, dass sich die universitäre Lehrkräfteausbildung teilweise der KMK-Angabe angenähert hat (so z.B. in Berlin und NRW, wo mittlerweile verpflichtende Module Lehramtsstudierende aller Fächer auf den Umgang mit einer sprachlich und kulturell heterogenen Schülerschaft vorbereiten). Im Hinblick auf die gesamte Bundesrepublik stellt sich das Ausbildungsangebot jedoch immer noch sehr heterogen dar, sodass von einer flächendeckenden strukturellen Verankerung der Studienanteile ‚Sprachbildung und -förderung‘ 1 und ‚Deutsch als Zweitsprache‘ im Sinne der im Jahr 2006 formulierten Angabe der KMK sicherlich noch nicht gesprochen werden kann. Dies verwundert nicht unbedingt, stellt doch die Umsetzung der diesbezüglichen Empfehlungen die Universitäten vor große Herausforderungen, etwa hinsichtlich dafür benötigter personeller Kapazitäten und der erforderlichen interdisziplinären Qualifikationen linguistischer, sprach- und fachdidaktischer Art, die das Lehrpersonal benötigt. Außerdem liegen didaktische Konzepte für eine fachintegrierte und durchgängige Sprachbildung und -förderung, die Grundlage einer „Basisqualifikation für alle“ und einer „Profilbildung für einige“ Lehramtsstudierende sein könnten (B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK 2014: 8), erst ansatzweise vor. Als Reaktion auf diese Sachlage hat sich eine theoretische und empirische Auseinandersetzung in fachdidaktischen und linguistischen Publikationen entwickelt (vgl. u.a. A HRENHOLZ 2010; B ECKER -M ROTZEK / S CHRAMM / T HÜRMANN / V OLLMER 2012; R ÖHNER / H ÖVEL - BRINKS 2013). Weiterhin zeigt sich ein verstärktes Interesse seitens der empirischen Bildungsforschung hinsichtlich assoziierter Themen wie z.B. der Modellierung von DaZ-Kompetenz im Fachunterricht (vgl. u.a. K ÖKER et al. 2015) oder zur Rolle von Bildungssprache (vgl. z.B. B ERENDES et al. 2013). Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklung des Studienanteils ‚Deutsch als Zweitsprache‘ (DaZ), seine theoretischen Rahmenkonzepte, bundeslandspezifische Studienmodelle (strukturell, curricular) und diesbezügliche empirische Perspektiven. In Kapitel eins wird eine empirisch orientierte Relevanz- 1 Sprachbildung und Sprachförderung unterscheiden sich im Definitionsversuch der BISS-Studie (Projekt ‚Bildung durch Sprache und Schrift‘) (vgl. S CHNEIDER et al. 2013: 23) u.a. in dem Sinne, dass Sprachbildung alle Schülerinnen und Schüler in allen Fächern „gezielt“ und „systematisch“ in ihren Sprachentwicklungsprozessen unterstütze, wofür ein darauf ausgerichteter Fachunterricht zu konzipieren sei (ebd.); Sprachförderung solle dagegen „unterrichtsintegriert oder additiv“ dem diagnostisch ermittelten Förderbedarf bestimmter Adressatengruppen begegnen; dazu könnten z.B. „Kinder mit Deutsch als Zweitsprache“ gehören (ebd.). Als weitere Zielgruppe impliziert der Definitionsversuch auch Kinder und Jugendliche mit deutscher Erstsprache und Sprachförderbedarf. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 29 46 (2017) • Heft 1 bestimmung vorgenommen. Ein bundeslandvergleichender Überblick über das Studienangebot folgt in Kapitel zwei. Mit dem europäischen Kerncurriculum EUCIM- TE 2 (vgl. Roth et al. 2012) und dem DaZKom-Kompetenzmodell (vgl. Köker et al. 2015) werden im dritten Kapitel theoretische Rahmenkonzepte beschrieben, die sowohl curricular als auch empirisch die neue kompetenzorientierte Lehrkräfteausbildung in diesem Studienanteil veranschaulichen. Am Beispiel der seit 2015/ 16 in Kraft getretenen neuen Berliner DaZ-/ Sprachbildungs-Module, des Nordrhein-Westfälischen Moduls ‚Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte‘ (DSSZ-Modul) und des Studienangebots DaZ/ DaF als Erweiterungsfach im Thüringer Lehramtsstudium werden im vierten Kapitel drei unterschiedliche exemplarische Studienmodelle beschrieben und einander gegenübergestellt. Mit einem Kondensat der neueren Entwicklungen und einem empirisch und curricular bezogenen Ausblick endet der Beitrag in Kapitel fünf. 2. Die Entwicklung des Studienanteils ‚Deutsch als Zweitsprache (DaZ)‘ Die Forderung, DaZ als Angebot in die universitäre Lehrkräfteausbildung aufzunehmen, ist bereits in den 1980er-Jahren von Ulrich S TEINMÜLLER , damals Professor für deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Technischen Universität Berlin, geäußert worden. S TEINMÜLLER betonte seinerzeit in verschiedenen Publikationen die Notwendigkeit, ein Studienangebot für Lehrkräfte, die mehrsprachige Kinder und Jugendliche unterrichten, mit Wissen über den Zweitspracherwerb und über die sprachlichen Anforderungen schulischer Lehrmaterialien auszustatten: „Das bedeutet für den deutschen Lehrer dieser Kinder, daß er sich ein Bild von ihren Sprachkenntnissen machen muß, bevor er überhaupt einen sinnvollen Zweitsprachenunterricht beginnen kann: er muß die Lernvoraussetzungen in diesem Bereich klären, indem er den Sprachzustand und die Kommunikationsfähigkeit seiner Schüler analysiert und so die individuelle Übergangsvarietät jedes einzelnen Schülers erkennt. Der Lehrer muß daher über ausreichende Kenntnisse im Umgang mit linguistischen Analyse- und Beschreibungsverfahren verfügen, und er muß - neben Sprach- und Kommunikationstheorie - im Bereich des Spracherwerbs fundiert ausgebildet sein, sowohl für den Erstals auch für den Zweitspracherwerb. Diese Forderung enthält sowohl eine Aufforderung zur Gestaltung des Lehrangebots für Lehrerstudenten als auch eine Forderung nach Verbesserung der Lehrerfortbildung in diesem Bereich“ (S TEINMÜLLER 1982: 13). S TEINMÜLLER führt in diesem Zitat bereits curriculare Inhalte an, die sich in gegenwärtigen DaZ-Modulbeschreibungen verschiedener Bundesländern wiederfinden, wie z.B. Wissen über den Zweitspracherwerb und im Bereich der sprachbezogenen Diagnostik (vgl. z.B. P RÄSIDENT DER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT ZU BERLIN 2015a: 2 Das Akronym EUCIM-TE bezeichnet das European Core Curriculum for Mainstreamed Second Language-Teacher Education (vgl. R OTH et al. 2012: 93). EUCIM-TE wird in Kapitel 4.1 beschrieben. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 30 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 12, R UHR -U NIVERSITÄT B OCHUM 2016, 1/ 3). Er formuliert 1987 die mittlerweile vielfach aufgegriffene These (vgl. u.a. A HRENHOLZ 2010; R ÖHNER / H ÖVELBRINKS 2013; B ECKER -M ROTZEK et al. 2013), nicht nur Deutsch-, sondern auch Fachlehrkräfte stünden in der Verantwortung, die für den Unterricht „jeweils erforderlichen sprachlichen Mittel […] explizit und themenbezogen zu vermitteln“ (S TEINMÜLLER 1987: 9). In diesem Sinne seien sie nicht nur Fachlehrer, sondern „zugleich auch Sprachlehrer“ (ebd.). Ungefähr 20 Jahre nach S TEINMÜLLERS Postulat stellen B AUR / K IS (2002) noch vor der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge in einer Studie zur Situation des Faches ‚Deutsch als Zweitsprache‘ fest, dass das Angebot im Bereich ‚Deutsch als Fremdsprache (DaF)‘ an deutschen Universitäten deutlich stärker ausgebaut worden sei und werde als das Angebot für DaZ. So existiere DaF als grundständiges Studium, als Nebenfachstudium oder als Zusatzstudium, während DaZ fast ausschließlich und nur vereinzelt als Zusatzstudium angeboten werde. B AUR / K IS (2002: 147f.) prognostizieren außerdem, dass „Defizite der LehrerInnen auf diesem Gebiet“ nur behoben werden könnten, „wenn in der grundständigen Lehrerausbildung Kernbereiche mit Studienanteilen von DaZ besetzt“ würden: „[s]olche Anteile müssen durch eine inhaltliche Reform in der Lehrerausbildung festgeschrieben werden, sonst wird das Fach DaZ in der Schule weiterhin ohne Wirkung bleiben - eben ein ‚Zusatz‘, aber nichts, was LehrerInnen können müssen“ (ebd.). In den curricularen Richtlinien der Bundesländer zeigt sich in den letzten Jahren immer deutlicher die Relevanz des Themas. So wird u.a. in dem eingangs zitierten Bundesweiten Integrationsprogramm (vgl. BAMF 2010) und auch in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz verschiedentlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass „Heterogenität und Vielfalt als Bedingungen von Schule und Unterricht“ in der Ausbildung Berücksichtigung finden müssten (KMK 2004: 5). Ihre empirische Basis haben diese Empfehlungen in den Ergebnissen verschiedener Schulleistungsstudien und im Deutschen Bildungsbericht (A UTORENGRUPPE B ILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2012). Darin werden u.a. mehrsprachige Schülerinnen und Schüler (mit Migrationshintergrund) identifiziert, die Probleme im Bereich der Lesekompetenz aufweisen (vgl. z.B. K LIEME et al. 2010: 220; B OS et al. 2013: 198f.) sowie insbesondere auch im Wortschatzbereich (vgl. K LIEME et al. 2006: 26). Besonders stark wirkt sich demnach ein niedriger sozio-ökonomischer Status 3 der Familie auf die Schulleistungen aller Schülerinnen und Schüler aus (mehrsprachig oder einsprachig mit deutscher oder anderer Familiensprache aufwachsend). Bei mehrsprachigen Kindern spielt zudem der familiäre Sprachgebrauch eine Rolle, d.h. ob in der Familie neben der anderen Familiensprache auch oder kein Deutsch 3 Der sozio-ökonomische Status einer Familie wird u.a. durch den Bildungsabschluss der Eltern, den Beruf, die Höhe des Einkommens (vgl. A UTORENGRUPPE B ILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2012: 26) sowie durch den Besitz von Kulturgütern (z.B. Buchbesitz) bestimmt (vgl. B OS et al. 2012: 176f.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 31 46 (2017) • Heft 1 gesprochen wird (vgl. B OS et al. 2012: 205). 4 Von einem niedrigen sozio-ökonomischen Status sind nach dem Deutschen Bildungsbericht häufiger Kinder alleinerziehender Eltern und solche aus Familien mit einem Migrationshintergrund betroffen. Der Migrationshintergrund wird im Bildungsbericht aber nicht als Risikolage begriffen, sondern das im Vergleich häufigere Vorkommen von niedrigen Schulabschlüssen der Eltern, Erwerbslosigkeit und Armutsgefährdung der Familien dieser Bevölkerungsgruppe (vgl. A UTORENGRUPPE B ILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2012: 28). Es wird davon ausgegangen, dass in Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status ungünstige und falsche Sprachvorbilder sowie eine generelle Anregungsarmut zu mangelnden Sprachleistungen führen können (vgl. N EUMANN / E ULER 2014: 176). Studienangebote in den Bereichen ‚Deutsch als Zweitsprache‘ und ‚Sprachbildung und -förderung‘ zielen darauf ab, Lehramtsstudierende auf die vorab skizzierte sprachliche Heterogenität im Unterricht vorzubereiten. 3. Überblick über das Lehrangebot im Ländervergleich Diese Studienanteile sind (unter unterschiedlichen Bezeichnungen) in den Landesregelungen von mittlerweile zehn Bundesländern verankert worden (vgl. B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK 2014: 14). In den anderen sechs Bundesländern ist das Studienangebot nicht auf Landesebene, sondern auf Hochschulebene geregelt (vgl. zum Überblick B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK 2014: 20ff.). DaZ-Studienanteil(e) Bundesland Verpflichtende(r ) Studienanteil(e) für alle Lehramtsstudierenden Berlin, Nordrhein-Westfalen (NRW) verpflichtende Angebote für die Lehrämter Grundschule und/ oder Sek. I Baden-Württemberg, NRW fakultative Angebote für die Lehrämter Grundschule und/ oder Sek. I Bayern, Bremen (auch für das Gymnasiallehramt), Hessen, NRW, Thüringen verpflichtende Angebote für Studierende des Faches Deutsch Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Schleswig- Holstein Abb. 1: Vorgaben auf Landesebene (vgl. B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK 2014: 16, ergänzt um Thüringen, BL) 4 Neben den genannten Gruppen haben auch ein- und mehrsprachige Kinder und Jugendliche mit einer Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) und neu zugewanderte Kinder und Jugendliche Sprachförderbedarf. Diese Gruppen stehen jedoch noch nicht bzw. eingeschränkt im Fokus der fachübergreifenden DaZ-Module. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 32 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 Die Übersicht zeigt den uneinheitlichen Umgang mit dem Thema auf. Sechs Bundesländer verankern noch gar keine Vorgaben auf Landesebene. Andere Bundesländer beschränken das verpflichtende Angebot auf Lehramtsstudierende des Faches Deutsch (z.B. Bremen oder Sachsen), des Grundschul- oder Sonderschullehramts (z.B. Baden-Württemberg) oder bieten lediglich ein fakultatives Angebot (z.B. Bayern). Einige Bundesländer bieten zudem die Möglichkeit an, DaZ als Erweiterungsfach zu studieren (z.B. Bayern und Thüringen). Nur in Berlin und NRW ist der Studienanteil obligatorisch für Lehramtsstudierende aller Fächer. Trotz aller regional bedingten und bundeslandspezifischen Ausbildungserfordernisse sollten eine Aufwertung und eine stärkere Durchgängigkeit des Studienanteils DaZ/ Sprachbildung und -förderung (durch alle Fächer bzw. Fachdidaktiken und Lehramtsstudiengänge) für alle Bundesländer angestrebt werden, um den verschiedentlich aufgezeigten bildungspolitischen Empfehlungen angemessen zu entsprechen. 4. Theoretische Rahmenkonzepte 4.1 Das europäische Kerncurriculum EUCIM-TE Das NRW-Modul ‚Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte‘ (DSSZ-Modul) orientiert sich in seiner curricularen Anlage an dem europäischen Kerncurriculum zur durchgängigen bildungssprachlichen Förderung (EUCIM-TE) (vgl. R OTH et al. 2012: 108). Dieses Konzept zielt auf eine bessere Förderung schulsprachlicher Kompetenzen von mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ab. Die Basis bildet ein curricularer Rahmen („Inclusive Academic Language Teaching“/ IALT) für die universitäre Qualifizierung aller Lehrkräfte (R OTH et al. 2012: 95). Statt eines additiven DaZbzw. Zweitsprachunterrichts wird in dem Konzept ein inklusiver Unterricht vorgeschlagen, bei dem nicht nur die sprachlichen Fächer, sondern insbesondere auch die Sachfächer den bildungssprachlichen Aneignungsprozess von Schülerinnen und Schülern mit mehrsprachigem Hintergrund unterstützen sollen (ebd.: 93). Der Fokus liegt dabei auf dem Erwerb der spezifischen Bildungssprache. 5 Das Erlernen der Zweitsprache wird also als Aufgabe und Teil des Fachunterrichts und der Schulentwicklung angesehen. Dahinter steht der Anspruch, Kompetenzen in der Bildungssprache durch didaktische Unterstützungsmaßnahmen im Fachunterricht gezielt und systematisch zu identifizieren, zu benennen und zu fördern. Die Etablierung eines solchermaßen sprachsensiblen Fachunterrichts erfordert notwendigerweise Veränderungen im Cur- 5 Bildungssprache ist ein heuristischer Begriff, der ein schulspezifisches Register bezeichnet, das im Unterschied zur Allgemein- und in Überlagerung mit Fachsprache spezifische sprachliche Mittel auf Wort-, Satz-, Text- und Diskursebene enthält (vgl. u.a. A HRENHOLZ 2010). In der englischsprachigen Literatur wird dafür der Ausdruck academic language verwendet, der maßgeblich auf der Einteilung sprachlicher Kompetenzen nach BICS (Basic Interpersonal Communicative Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) basiert (vgl. z.B. C UMMINS 2008: 72) und sich an einer Unterschreidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit orientiert. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 33 46 (2017) • Heft 1 riculum der Lehrkräfteausbildung; im europäischen Kerncurriculum werden die diesbezüglichen Zielsetzungen hinsichtlich der Fähigkeiten, des Wissens und der Einstellungen von Lehramtsstudierenden konkretisiert (vgl. R OTH et al. 2012: 106- 107). Zu den zu erwerbenden Fähigkeiten zählen u.a. Kompetenzen zur Entwicklung von Sprach,- Schreib- und Lesefähigkeiten oder auch zur Umsetzung einer Unterrichtsplanung nach dem Makro-Scaffolding-Ansatz (vgl. u.a. G IBBONS 2006). Weiterhin steht der Erwerb sprachbezogenen Wissens im Zentrum. Dazu gehören u.a. Wissen über den fachintegrierten Erwerb literaler Kompetenz, über deren Relevanz für den Bildungserfolg, register- und genrebezogenes Wissen, Wissen über soziale und kognitive Funktionen von Sprache sowie Wissen über die sprachlichen Anforderungen der Fächer (vgl. ROTH et al. 2012: 106). Hinsichtlich der Einstellungen wird u.a. die Ausbildung einer „freundliche[n] unterstützende[n] Haltung gegenüber benachteiligten Gruppen“ angestrebt und die Reflexion der Rolle von Sprache und Kultur im Unterricht in sprachlich heterogenen Gruppen (ebd.). 4.2 Das DaZKom-Kompetenzmodell Im Rahmen des Projekts ‚DaZKom - Professionelle Kompetenzen angehender LehrerInnen (Sek I) im Bereich Deutsch als Zweitsprache‘ ist ein Kompetenzmodell entwickelt worden, das DaZ-spezifische Wissensdomänen und Kompetenzen von Fachlehrkräften (zunächst am Beispiel des Faches Mathematik) beschreibt (vgl. K ÖKER et al. 2015: 184). Das Kompetenzmodell basiert auf einer Dokumentenanalyse (60 Curricula deutscher Universitäten und Institutionen, u.a. für die Fächer DaF und DaZ, EUCIM-TE) und einer externen Validierung durch sieben einschlägige Expertinnen bzw. Experten (vgl. ebd.: 183). Das Modell umfasst daraus abgeleitet drei „Kompetenzdimensionen“ mit „Subdimensionen“ und „inhaltliche[n] Facetten“ (z.B. Kompetenzdimension „Fachregister“, Subdimension „Grammatische Strukturen und Wortschatz“, Facetten u.a. „Morphologie“ und „Syntax“), von denen angenommen wird, dass alle in unterschiedlicher Ausprägung im Unterrichtshandeln von Lehrkräften in der Sekundarstufe I zum Tragen kommen (vgl. ebd.: 184). Es bezieht sich exemplarisch auf das Fachregister des Faches Mathematik, auf das Wissen von angehenden Lehrkräften über dieses Fachregister und ihre Fähigkeit, dieses Wissen im Mathematikunterricht für die Förderung von mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern anzuwenden. Unter Bezug auf S CHLEPPEGRELL (2007: 140) wird dem Kompetenzmodell ein weiter Registerbegriff zugrunde gelegt, der die für das „Fach spezifische Art und Weise des Gebrauchs von Sprache zur Konstruktion von Wissen“ abbildet und Sprache als multimodales System versteht (K ÖKER et al.: 185). Das heißt, dass neben der Subdimension „Grammatische Strukturen und Wortschatz“, innerhalb derer auch im Hinblick auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterschieden wird, ebenfalls „Semiotische Systeme“ des Mathematikunterrichts einbezogen werden, also mathematische Symbolsprache, Bilder und Grafiken (ebd.). Die Dimension Mehrsprachigkeit bezeichnet Wissen über Zusammenhänge zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, über den lebenswelt- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 34 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 bedingten und institutionell geprägten Registererwerb und die Fähigkeit, dieses Wissen für die Unterstützung zweitsprachlicher Lernprozesse im Fach Mathematik zu nutzen (vgl. ebd.: 187). Die Subdimension Zweitspracherwerb verweist auf den individuellen Erwerbsprozess und dessen Bedingungen und Einflussfaktoren (vgl. ebd.: 188). Die Subdimension Migration bezieht sich auf die sprachliche Vielfalt in der Schule und den Umgang mit der dadurch im Fachunterricht entstehenden Heterogenität in den Lernvoraussetzungen (vgl. ebd.: 189). In der Kompetenzdimension Didaktik werden in den Subdimensionen Diagnose und Förderung inhaltliche Facetten wie sprachsensible Unterrichtsinteraktion (Mikro-Scaffolding), sprachlernförderliche Unterrichtsplanung (Makro-Scaffolding) und der „Umgang mit Fehlern“ aufgeführt (ebd.: 190). 6 Das beschriebene Kompetenzmodell bietet eine Folie für die Konkretisierung von DaZ-Kompetenz in anderen Unterrichtsfächern. Außerdem wird es als Grundlage für eine empirisch basierte Kompetenzentwicklungsforschung in diesem Bereich verwendet, die längerfristig die noch ausstehende Standardisierung von Lehrkompetenzen in diesem Bereich unterstützen kann (vgl. K ÖKER et al. 2015: 181). 5. Studienmodelle und curriculare Schwerpunkte In den verschiedenen Bundesländern wird das DaZ-Lehrangebot in Form unterschiedlicher struktureller und curricularer Konzepte realisiert. Nachfolgend werden in dem teilintegrierten Berliner Modell, dem fachübergreifenden DSSZ-Modul in der Lehrkräfteausbildung Nordrhein-Westfalens und dem Erweiterungsfach DaZ/ DaF Thüringens drei richtungsweisende und unterschiedliche Studienmodelle einander gegenübergestellt. 5.1 Das Berliner Modell Von 2007 bis 2015 wurde in Berlin ein fachübergreifendes, für alle Lehramtsstudierende verpflichtendes DaZ-Studienangebot mit einem Umfang von sechs Leistungspunkten (LP) umgesetzt (vgl. L ÜTKE 2010). Nach der Reform der Berliner Lehramtsstudiengänge im Jahr 2014 ist der Geltungsbereich des Studienanteils DaZ nunmehr auf gesetzlicher Ebene verankert und inhaltlich sowie im Umfang der Leistungspunkte (auf zehn LP) erweitert worden (vgl. S ENATSVERWALTUNG FÜR 6 Das DaZKom-Kompetenzmodell verweist auf ein anderes Kompetenzmodell (vgl. K ÖKER et al. 2015: 178), das die Sprachförderkompetenz pädagogischer Fachkräfte (SprachKoPF) im Elementarbereich beschreibt und für Lehrkräfte im Grundschulbereich weiterentwickelt wird. Das SprachKoPF- Modell (vgl. H OPP / T HOMA / T RACY 2010: 614-623) bildet Dimensionen „sprachförderbezogenen Wissens, Könnens und Machens“ ab, wobei die in dem Konstrukt ‚Sprachförderkompetenz‘ zum Tragen kommenden inhaltlichen Gegenstandsbereiche denen des DaZKom-Modells ähneln: Sprache (als kommunikatives und kognitives System), Spracherwerb und Mehrsprachigkeit, Methoden, Instrumente und Konsequenzen von Diagnostik, Sprachförderung mit den Unterkategorien Strategien, Methodik und Einstellungen (ebd.: 614). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 35 46 (2017) • Heft 1 J USTIZ UND V ERBRAUCHERSCHUTZ 2014a). §5 Abs. 1 der Berliner Lehramtszugangsverordnung (LZVO) von 2014 regelt in den „Lehramts- und fachübergreifenden Studieninhalten“ die mit dem Ausbildungsanteil ‚Sprachbildung‘ verknüpften Kompetenzen (vgl. SENATSVERWALTUNG FÜR JUSTIZ UND VERBRAUCHERSCHUTZ 2014b). Hierzu gehört „die Vermittlung pädagogisch-didaktischer Basisqualifikationen“, welche die angehenden Lehrkräfte befähigen, „die Entwicklung von Sprachkompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der deutschen Sprache auf bildungssprachlichem Niveau zu fördern, sowie Grundlagen der Diagnostik und Beratung“ ( SENATSVERWALTUNG FÜR JUSTIZ UND VERBRAUCHERSCHUTZ 2014b: §5 Abs. 1). Sprachbildung umfasst in diesem Zusammenhang neben „Deutsch als Zweitsprache“ außerdem auch „Maßnahmen gegen Analphabetismus“ (ebd.). Auch wenn der Studienanteil „Sprachförderung mit Deutsch als Zweitsprache“ im neuen Berliner Lehrkräftebildungsgesetz von 2014 (S ENATSVERWALTUNG FÜR J USTIZ UND V ER - BRAUCHERSCHUTZ 2014a: § 1 Abs. 2) explizit die Notwendigkeit der Förderung mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler hervorhebt, sollen grundsätzlich alle Schülerinnen und Schüler - mit deutscher und/ oder anderer Familiensprache - im Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen gefördert werden. Dementsprechend laufen die im Wintersemester 2015/ 16 in Kraft getreten neuen Berliner Module unter der allgemeineren Bezeichnung ‚Sprachbildung‘(vgl. z.B. P RÄSIDENT DER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT ZU B ERLIN 2015a: 3) und bereiten die Lehramtsstudierenden in einem weiten Inklusionsverständnis auf den sprachbildenden und sprachfördernden Unterricht in ein- oder mehrsprachig heterogenen Schülergruppen vor. 7 Das Bachelor-Modul umfasst fünf LP und ist fachübergreifend als Vorlesung mit einem begleitenden Seminar angelegt. Die Vorlesung wird nach Lehramtsstudiengängen (Grundschule, Integrierte Sekundarschule/ Gymnasium/ Berufliches Lehramt) und nach Fachrichtungen (mathematisch-naturwissenschaftlich bzw. Geistes-, Gesellschaftswissenschaften und andere Fächer) differenziert. Im Master of Education- Studium sind die Studienanteile nicht mehr fachübergreifend organisiert, sondern mit zwei Leistungspunkten in die jeweiligen Fachdidaktiken und mit drei Leistungspunkten in ein erziehungswissenschaftliches Modul integriert. Die Bachelor-Inhalte behandeln u.a. „Grundlagen der Sprachbildung im Fachunterricht“, „schulrelevante Formen sprachlichen Handelns“ und „Merkmale und Anforderungen von Sprache zur Wissensvermittlung und -aneignung“ (P RÄSIDENT DER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT ZU B ERLIN 2015a: 11-12). Die integrierten Leistungspunkte im Master of Education-Studium sind zum einen in den Modulbeschreibungen der fachdidaktischen Vorbereitungen auf das Praxissemester verankert (zwei LP), weitere drei Leistungspunkte sind in einem erziehungswissenschaftlichen Modul im Praxissemester integriert. In dem Master-Seminar „Sprachbildung im Fachunterricht“ sind z.B. folgende Themen angegeben: „Prinzipien des sprachbildenden Fachunterrichts und Anwendung bei der Unterrichtsplanung“ und „Planung und Re- 7 Vgl. die ausführliche Darlegung der mit dem Berliner Lehrkräftebildungsgesetz von 2014 einhergehenden Veränderungen im Studienanteil DaZ/ Sprachbildung in L ÜTKE / B ÖRSEL (2017). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 36 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 flexion von Fachunterricht unter Berücksichtigung der Rolle von Mehrsprachigkeit und spezifischer Erwerbskontexte, insbesondere des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache“ (P RÄSIDENT DER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT ZU B ERLIN 2015b: 8). Eine Grundlage für die curriculare Konkretisierung der neuen Sprachbildungs- Module bildet u.a. eine umfassende Evaluation der im Wintersemester 2015/ 16 zum letzten Mal angebotenen alten Berliner DaZ-Module (vgl. D ARSOW / W AGNER / P AETSCH 2017). Auch wenn das neue Studienangebot mit einer Aufwertung von sechs auf zehn Leistungspunkte und der Erweiterung von der Sprachförderung mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher auf eine fachintegrierte Sprachbildung aller Schülerinnen und Schüler den gesellschaftlichen Anforderungen nach zunehmender Differenzierung entgegenkommt, so sind die mit dieser Aktualisierung des Lehrangebots verbundenen Herausforderungen nicht zu unterschätzen. Dazu zählen z.B. Fragen der Qualitätssicherung in der Lehre, die Entwicklung fachübergreifender und fachintegrierter Konzepte für die universitäre Lehre in den verschiedenen Fachdidaktiken sowie die mit der Breite der Zielgruppen von Sprachförderung und -bildung verbundenen Reduktionen und Schwerpunktsetzungen. Eine Möglichkeit zur Profilbildung für den Unterricht mit neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern ist ebenfalls dringend notwendig, steht aber noch aus. 5.2 Das DSSZ-Modul (NRW) Im Unterschied zu dem vorab beschriebenen, zehn Leistungspunkte umfassenden Berliner Modell wird in NRW ebenfalls ein für alle Lehramtsstudierende verpflichtendes, ausschließlich fachübergreifend angelegtes Modul mit sechs Leistungspunkten angeboten. Im Vergleich zum Berliner Modell, das auf die Sprachförderung ein- und mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler vorbereitet, qualifiziert das DSSZ-Modul ausschließlich für die Förderung mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher. Das Modul besteht aus einer Vorlesung (im Bochumer Lehrangebot ergänzt durch eine E-Learning-Komponente) und einem fachbezogenen Seminar (vgl. R UHR -U NIVERSITÄT B OCHUM 2016) Die nordrhein-westfälischen Module basieren auf dem in Kapitel 4.1 beschriebenen europäischen Kerncurriculum (vgl. R OTH et al. 2012). 8 Dementsprechend vermittelt z.B. das Bochumer DSSZ-Modul u.a. Wissen über den Zusammenhang von „Spracherwerb und Bildungserfolg“, über „Spezifika von mündlicher Sprache und Schriftsprache“ oder „Problemfelder des Deutschen für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte“ (ebd.). Das Ziel besteht in einer Sensibilisierung der Studierenden für die mit fachintegrierter Sprachförderung zusammenhängenden Inhalte und Kompetenzen. Der verpflichtende Umfang von mindestens sechs Leistungspunkten wird von B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK (2014: 45) als angemessen bezeichnet, „um erste Reflexionsprozesse bei den Studierenden in Gang zu setzen, Wissensgrundlagen zu 8 Vgl. die ausführlichere Beschreibung der Zielsetzungen und Inhalte in Kapitel 4.1. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 37 46 (2017) • Heft 1 schaffen und Basiskompetenzen zu vermitteln“. Diese Zielsetzung verfolgt z.B. das vorab beschriebene Bochumer DSSZ-Modul. Für einzelne Lehrämter könne es laut B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK (2010: 45) außerdem sinnvoll sein, „weitere obligatorische Studienleistungen einzurichten, beispielsweise für das Grundschullehramt, in dem Grundsteine gelegt“ würden und die „Heterogenität unter allen Schularten am größten“ sei. „Neben einem Pflichtmodul für alle sollte ein breites fakultatives Studienangebot zur Verfügung stehen“, das den Studierenden ermögliche, „eine ausgewiesene Profilbildung während der Regelstudienzeit vorzunehmen“; denkbar sei beispielsweise, „DaZ als Unterrichtsfach anzubieten oder eine deutlich erkennbare Schwerpunktsetzung im Wahlpflichtbereich“ (ebd.). Das DSSZ-Modul kann also eine Basisqualifikation für den Unterricht mit mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern ermöglichen. Mehr kann von einem Modul dieses Umfangs aber kaum erwartet werden. Es fehlt eine strukturell vorgegebene Integration sprachbildender Elemente in den fachdidaktischen Lehrveranstaltungen (durch eine Verankerung von Leistungspunkten). Dadurch steht es den Fachdidaktiken mehr oder weniger frei, fachintegrierte Sprachbildung und -förderung zu thematisieren. Außerdem müsste überlegt werden, welche Studienanteile auf den Sprachförderbedarf von Schülerinnen und Schülern mit ausschließlich deutscher Familiensprache (außerhalb der Deutsch-Lehrkräfteausbildung) vorbereiten und wie eine Profilbildung in der Breite ermöglicht werden kann. 5.3 DaZ/ DaF als Erweiterungsfach In verschiedenen Bundesländern (z.B. Bayern, Sachsen, Thüringen) kann der Studienanteil DaZ als Erweiterungsfach im Lehramtsstudium gewählt werden (vgl. für Bayern z.B. R OST -R OTH 2010). Im Folgenden wird ein diesbezügliches Beispiel - das Thüringische Studienangebot - exemplarisch skizziert. In Thüringen ist das Erweiterungsfach „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“ im Jahr 2014 in § 28, Absatz 1 der Änderungsfassung der Thüringer Verordnung über die Fächer und die Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Regelschulen (geänderte Fassung vom 5.11.2014) verankert worden (vgl. FREISTAAT THÜRINGEN 2014: 15). Das Fach DaZ/ DaF kann auf dieser Grundlage seit 2015 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit 60 bzw. 75 LP als Erweiterungsfach im Lehramtsstudium oder im Anschluss an einen Lehramtsabschluss studiert werden und dient als Qualifikation für die Lehre des Deutschen als Zweit ‐ und Fremdsprache an Regelschulen bzw. Gymnasien (vgl. F RIEDRICH -S CHILLER -U NIVERSITÄT J ENA O .J.). Im Zentrum stehen Inhalte zum „Erwerb des Deutschen als Zweitsprache oder Fremdsprache inkl. linguistischer Grundlagen“, zum „Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität in der Schule“ und zur „Planung und Umsetzung von Sprachförderung bzw. Sprachunterricht inklusive Förderdiagnostik“ (ebd.). Mögliche Schwerpunktbildungen können u.a. den Umgang mit neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen betreffen sowie Themen wie „Sprachbildung in allen Fächern“, „Interkulturalität und Heterogenität in der Schule“ oder Unterrichts- und Spracherwerbsforschung vertiefen (ebd.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 38 Beate Lütke 46 (2017) • Heft 1 Dieses Modell ist so angelegt, dass es unterschiedliche Profilbildungen ermöglicht. Damit müssen jedoch andere relevante Themen notgedrungen außen vor bleiben. Auch wenn die Thüringer lehrkräfteausbildenden Hochschulen verpflichtende Studienanteile im Bereich DaZ für Studierende des Grundschullehramts (Deutsch und andere Fächer) und Sekundarstufen-Lehramts (nur im Fach Deutsch) vorsieht, fehlt eine (auf Landesebene verankerte) systematische Sensibilisierung für alle Lehramtsstudierenden im Sinne des DSSZ-Moduls oder des Berliner Modells. 6. Ausblick Die vorab aufgeführten curricularen Rahmenkonzepte (EUCIM-TE, DaZKom) und die drei ausgewählten exemplarischen Studienmodelle zeigen die zunehmende Relevanz, die dem Studienanteil Deutsch als Zweitsprache und Kompetenzen in den Bereichen Sprachbildung und -förderung in der Lehrkräfteausbildung zugewiesen wird; sie weisen aber auch auf diesbezügliche Desiderata hin. Im Vergleich mit der Ausbildungssituation, die S TEINMÜLLER (1984) vor ca. 30 Jahren und B AUR / K IS (2002) vor 15 Jahren kritisierten, kann konstatiert werden, dass sich der Studienanteil mittlerweile stärker in der regulären Lehrkräfteausbildung etabliert hat. Von einer bundesweiten Einbindung, die den gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen an die Lehramtsausbildung entspräche und der KMK-Angabe von 2006 gerecht würde, kann jedoch noch keine Rede sein (vgl. im Überblick B AUMANN / B ECKER -M ROTZEK 2014). Wie vorab verschiedentlich aufgezeigt, hat dies unterschiedliche Gründe: So fehlen in verschiedenen Bundesländern immer noch verbindliche Regelungen auf Landesebene, die eine für alle Lehramtsstudierenden verpflichtende universitäre Basisqualifikation im Umfang von mindestens sechs Leistungspunkten vorschreiben. An den Hochschulen müssen germanistische Institute und Fachdidaktiken für das Thema sensibilisiert und Curricula verändert werden, um den Studienanteil (z.B. wie in Berlin) durchgängig in der ersten Ausbildungsphase zu verankern und Profilbildungen zu ermöglichen. Die Implementierung dieser curricularen Elemente und das damit verbundene konzeptionelle Umdenken bedürfen insbesondere in den verschiedenen Fachdidaktiken sicherlich auch weiterhin einer (hoffentlich zunehmend empirisch fundierten und durch die Verankerung in Form von Leistungspunkten gestärkten) Überzeugungsarbeit. Ein interdisziplinärer Diskurs der wissenschaftlichen, mit Sprachdidaktik und Spracherwerb befassten Disziplinen (Deutsch als Erstsprache-Didaktik, DaZ- und DaF-Didaktik, Fremdsprachendidaktik, Sprachlehr- und -lernforschung und einer fächerbezogenen Sprachbildungsdidaktik) muss in Zukunft stärker verzahnt und als übergreifendes Thema innerhalb der Philologenverbände verstanden werden. Abschließend sollen zusammenfassend zentrale Entwicklungen mit Orientierungscharakter hervorgehoben werden: Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium 39 46 (2017) • Heft 1 • fachübergreifende und verpflichtende Studienanteile in Sprachbildung und -förderung und Deutsch als Zweitsprache für alle Lehramtsstudierenden (wie in Berlin und NRW) und deren Verankerung auf Landesebene, • die Verbindung von Sprachbildung und DaZ mit den Fächern (z.B. in Form der Adaption des IALT-Konzepts in NRW), weiterhin durch die Integration diesbezüglicher Leistungspunkte und Inhaltsvorgaben in fachdidaktischen Studienanteilen (z.B. wie im Berliner Modell), • die Erweiterung der Zielgruppen von Sprachbildung und -förderung, die im Berliner Modell neben Schülerinnen und Schülern mit mehrsprachigem Hintergrund auch solche mit deutscher Familiensprache und Sprachförderbedarf einschließt, • die Ermöglichung von Profilbildungen hinsichtlich des Umgangs mit neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern (wie z.B. im Thüringer Angebot) • sowie eine noch am Anfang stehende forschungs- und kompetenzorientierte Lehrkräfteaus-, -fort- und -weiterbildung in diesem Bereich. 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The aim of instruction in a heritage language is to retain the first language of the learner with immigration background and fostering both, the heritage language as well as the language of instruction in the other country. Instruction in heritage languages has no established status in the German educational system and varies widely between the individual federal states. Approaches are not systematic and sometimes even contradictory. This article starts with the learning situation of heritage language speakers and moves on to the different didactic concepts, which sometimes depend on the various providers, with a focus on motivation of young learners in school contexts. Curricula and other factors determining the perspectives of heritage language instruction in Germany are also analysed. 1. Einleitung In Deutschland wächst ein großer Teil der Schüler/ -innen aus Migrantenfamilien mit zwei oder mehreren Sprachen auf. Im öffentlichen politischen und gesellschaftlichen Diskurs um Migration, Integration und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist das Interesse an Herkunftssprachen in den letzten Jahren deutlich angewachsen. Die Europäische Kommission geht von positiven Wirkungen herkunftssprachenerhaltender Maßnahmen auf den allgemeinen Bildungserfolg von Lernenden mit Migrationshintergrund aus und fordert die Mitgliedsländer dazu auf, im Bildungswesen Initiativen zu entwickeln, mit denen die Mehrsprachigkeit in den europäischen Gesellschaften gefördert werden kann (vgl. K OMMISSION DER E UROPÄISCHEN G EMEIN - SCHAFT 2005). Terminologisch wird der Begriff ‚Herkunftssprache‘ im Deutschen oft als Entsprechung zum englischen Terminus heritage language verwendet (vgl. B REHMER / M EHLHORN 2015a). Neuere Definitionen aus dem angloamerikanischen Kontext (z.B. P OLINSKY 2015) bezeichnen als Herkunftssprache die zuerst erworbene Sprache eines Individuums, das selbst in einer Familie aufwächst, in der nicht (ausschließlich) die Sprache der umgebenden Mehrheitsgesellschaft verwendet wird. Herkunftssprecher/ -innen (heritage (language) speakers) können sowohl simultan mit zwei Sprachen aufwachsen als auch zuerst nur die Herkunftssprache erwerben, * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Grit M EHLHORN , Universität Leipzig, Institut für Slavistik, Beethovenstr. 15, 04107 L EIPZIG . E-Mail: mehlhorn@rz.uni-leipzig.de Arbeitsbereiche: Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung, insbesondere slawische Sprachen und Deutsch als Fremdsprache, Mehrsprachigkeit, Erwerb von Herkunftssprachen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 44 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 bevor zu einem späteren Zeitpunkt die Sprache der umgebenden Bevölkerungsmehrheit hinzukommt. Die herkunftssprachlichen Fähigkeiten können von rudimentären rezeptiven Kompetenzen bis zu nahezu balancierter Sprachbeherrschung in der Herkunfts- und Umgebungssprache reichen, wobei meist eine unterschiedliche Ausprägung der sprachlichen Kompetenzen in verschiedenen Registern anzutreffen ist. Eine Person, die als Herkunftssprecher/ in bezeichnet wird, wurde entweder schon im Aufnahmeland geboren oder ist mit den Eltern aus dem Herkunftsland noch vor dem Schuleintritt immigriert und wächst somit seit der Kindheit in einer mehrsprachigen Lebenswelt auf. Meist fühlt sich das Kind sicherer in der Umgebungssprache (Deutsch); das verstärkt sich, wenn es in die Schule kommt und der Einfluss der Umgebungssprache - meist auf Kosten der Herkunftssprache - zunimmt. Da die Umgebungssprache oft schon in früher Kindheit eine wichtige Rolle spielt und sich im Laufe des Erwerbsprozesses zur dominanten Sprache entwickelt, wird die Herkunftssprache in der Regel nicht vollständig erworben (vgl. B EN - MAMOUN et al. 2013). Kennzeichnend für die Herkunftssprache sind weiterhin die Phänomene Sprachentransfer (einschl. code switching) sowie Sprachverlust, d.h. dass in den sprachlichen Äußerungen der Kinder bzw. Jugendlichen Formen und Funktionen wieder verschwinden, die sie bereits erworben hatten. Da die Herkunftssprachen hauptsächlich als Familiensprachen fungieren, bleibt der sprachliche Input in der Herkunftssprache auf wenige Kontaktpersonen und Register begrenzt und ist nicht vergleichbar mit dem von monolingual aufwachsenden Gleichaltrigen im Herkunftsland. Zu den am häufigsten in Deutschland gesprochenen Herkunftssprachen zählen Russisch, Türkisch, Polnisch und Arabisch. Die Anzahl der verwendeten Herkunftssprachen wächst kontinuierlich. In Österreich sind Türkisch und Bosnisch/ Kroatisch/ Serbisch die am häufigsten gesprochenen Herkunftssprachen, während in der Schweiz auch Albanisch und Portugiesisch eine wichtige Rolle spielen (vgl. C APREZ -K ROMPÁK 2010). Auch Familiensprachen ohne offiziellen Status in einem der Herkunftsstaaten werden in das Unterrichtsangebot einbezogen. 2. Herkunftssprachlicher Unterricht (HSU) 2.1 Organisationsformen Die Bezeichnungen für den herkunftssprachlichen Unterricht variieren. In Österreich heißt er muttersprachlicher Unterricht (MSU) 1 , in der Schweiz Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). 2 Im Folgenden wird übergreifend der Begriff Her- 1 Diese Bezeichnung ist auch in einigen deutschen Bundesländern, z.B. in Nordrhein-Westfalen, üblich. 2 In Österreich, wo der MSU fest im Regelschulwesen verankert ist, werden an den staatlichen Schulen 25 verschiedene Herkunftssprachen unterrichtet, in der Schweiz sind es 36 verschiedene Sprachen. Für die Bundesrepublik Deutschland gibt es keine zusammenfassenden Statistiken (vgl. R EICH 2016: 224). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem 45 46 (2017) • Heft 1 kunftssprachenunterricht (HSU) verwendet. Organisiert wird dieser Unterricht von sehr unterschiedlichen Akteuren: Vertretungen der Herkunftsstaaten, Bildungs- und Schulbehörden, Migranten- und Wohlfahrtsorganisationen sowie religiösen Gemeinschaften. Neben staatlich organisierten Formen des HSU wird dieser HSU auch von kirchlichen Einrichtungen, kulturellen Vereinen, Elterninitiativen oder auch privat angeboten. Einige dieser Angebote (z.B. von der Interkulturellen pädagogischen Gesellschaft MITRA e.V. - eine Vereinigung russischsprachiger Eltern und Pädagogen in Berlin - oder von KRASNALE - der Deutsch-Polnischen Elterninitiative zur Förderung der Zweisprachigkeit in Frankfurt am Main) beginnen bereits im Kindergartenalter mit Maßnahmen zum Erhalt und Ausbau der Herkunftssprache. Die mit Abstand am meisten Angebote für HSU werden von Kindern im Grundschulalter wahrgenommen; beim Übergang in die weiterführenden Schulen kommen wesentlich weniger Kurse zustande. Wenn der HSU nicht als zweite bzw. dritte Fremdsprache anerkannt ist, handelt es sich in der Regel um unverbindliche Unterrichtsangebote, die nicht abschluss- und versetzungsrelevant sind, über ein geringeres Prestige verfügen und mit vielen anderen Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche konkurrieren müssen. Diese auch als „muttersprachlicher Ergänzungsunterricht“ bezeichneten Angebote werden teils von den Vertretungen der Herkunftsstaaten, teils als Zusatzunterricht unter deutscher Verantwortung erteilt und stellen die Normalform des HSU dar (vgl. R EICH 2016: 222). Räumlich sind sie vor allem in größeren Städten konzentriert. In kleineren Orten kommen Kurse oft aufgrund der zu geringen Teilnehmerzahl nicht zustande. Nicht abschlussrelevanter HSU findet meist unter erschwerten Rahmenbedingungen statt. In der Regel erfordert die Erteilung von HSU eine Aufteilung des Klassenverbandes und die Inanspruchnahme zusätzlicher Unterrichtszeiten. Das lässt sich oft nur außerhalb der regulären Stundenplanzeiten - nachmittags oder am Wochenende (sog. Samstags- und Sonntagsschulen) - realisieren. Eher selten kann der HSU an der eigentlichen Schule des Kindes stattfinden, was einen entsprechenden Anfahrtsweg - auch für die Lehrkraft - und einen häufig von den Eltern zu organisierenden Transport der Kinder zum Unterricht erfordert. Darüber hinaus wird der Unterrichtsraum vielfach von einer Schule zur Verfügung gestellt, an der die Lehrkraft nicht regulär unterrichtet, so dass zuweilen auch Unterrichtsmedien und -materialien mitgebracht werden müssen. Die für die Lehrkräfte größte Herausforderung stellen jedoch die äußerst heterogenen Vorkenntnisse und sprachlichen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen dar, die oft jahrgangsübergreifend unterrichtet werden, wobei Altersunterschiede von fünf Jahren innerhalb einer Lerngruppe keine Seltenheit sind. HSU wird überwiegend von Lehrkräften erteilt, die ausschließlich dieses Fach vertreten (vgl. M EHLHORN 2015). Lehrende im HSU sind in der Regel Muttersprachler, aber längst nicht immer für die Vermittlung ihrer Muttersprache ausgebildet. M ARTYNIUK und M ÜLLER (in diesem Band) beklagen die fehlende Ausbildung von Lehrkräften für den HSU. Die Lehrkräfte, die nur die Herkunftssprache unter- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 46 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 richten, werden meist schlechter bezahlt. Oft erhalten sie Honorarverträge für jeweils ein Schul(halb)jahr, wobei die Vor- und Nachbereitung sowie die Werbung für das Zustandekommen der Kurse nicht vergütet werden. Sehr unterschiedlich stellt sich auch das Stundenvolumen in den verschiedenen Formen des HSU dar: Während im zusätzlichen HSU oft nur 90 Minuten pro Woche Unterricht erteilt wird, können es im HSU, der der zweiten Fremdsprache gleichgestellt ist, bis zu fünf Wochenstunden sein. In bilingualen Schulen werden zudem noch weitere Fächer wie Geschichte und Geographie in der Herkunftssprache unterrichtet. 2.2 HSU an deutschen Schulen Schon seit den 1970er Jahren wurde der MSU von Seiten der KMK als „Hilfe bei der Eingliederung in weiterführende Schulen“ unterstützt (H ECKER / R EICH 2013: 38). 1971 hat die KMK festgelegt, jedes Bundesland könne in eigener Zuständigkeit entscheiden, „ob dieser Unterricht innerhalb oder außerhalb des Verantwortungsbereichs der Kultusverwaltung steht“ (KMK 1971, zit. nach Reich 2014: 2). Baden- Württemberg hat eigene Verantwortung für diesen Unterricht abgelehnt und lehnt sie weiterhin ab. Nordrhein-Westfalen dagegen hat von Anfang an Verantwortung übernommen und ist konsequent dabei geblieben. Hessen und Bayern sind seit den 1990er Jahren von ihrer ursprünglichen Position abgerückt und haben sich von ihrer zunächst eingegangenen Verantwortung distanziert. Die drei Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen haben sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt und neben dem von den Konsulaten verantworteten Unterricht zunehmend HSU-Angebote unter eigener Verantwortung etabliert und ausgebaut. Die aktuelle Situation des HSU variiert sehr stark von Bundesland zu Bundesland, ist unübersichtlich und widersprüchlich. Neben staatlichen existieren auch private Angebote; die statistische Aufbereitung ist unsystematisch und lückenhaft. 3 Je nach Organisationsform ist der HSU mal mehr, mal weniger offiziell anerkannt, wobei Formen, die stärker in das deutsche Bildungssystem integriert und abschlussrelevant sind - HSU anstelle einer Fremdsprache sowie bilinguale Zweige und Schulen mit Herkunftssprachen als Partnersprachen - ein höheres Prestige genießen (vgl. S CHMITZ / O LFERT 2013). Daneben gibt es auch Formen, die bewusst Distanz zum deutschen Bildungssystem halten, z.B. das Netz der tamilischen Ergänzungsschulen (vgl. R EICH 2014: 2). Durch die rechtliche Gleichstellung der Herkunftssprache mit anderen Fremdsprachen, ihre Versetzungsrelevanz bzw. die Möglichkeit der Kompensation einer zweiten Fremdsprache hat der HSU in den letzten Jahren offiziell an Bedeutung 3 Im Gegensatz zu Österreich, wo Lernerzahlen für den MSU in allen Bundesländern erhoben und regelmäßig veröffentlicht werden, erfolgt in Deutschland keine systematische Erfassung von Teilnehmenden des HSU. Bei den länderspezifischen Angaben, die für Einzelsprachen von der Kultusministerkonferenz veröffentlicht werden, wird nicht immer zwischen Lernenden der Schulfremdsprachen und der Herkunftssprache differenziert (z.B. KMK 2014). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem 47 46 (2017) • Heft 1 gewonnen. Auch die kompetenzorientierten Bildungspläne, die sich an den Rahmenplänen der fremdsprachlichen Schulfächer orientieren, haben zur Aufwertung des HSU beigetragen. Unter der Aufsicht des jeweiligen Schulamts wird HSU heute in Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen angeboten. In Baden-Württemberg und dem Saarland gibt es herkunftssprachliche Unterrichtsangebote, die - organisiert durch das sog. Konsulatsmodell - finanziell und organisatorisch nicht unter staatlicher Aufsicht stehen (B ÖHMER 2015: 144). Eine Vorreiterrolle im HSU nimmt das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) ein. Der HSU in NRW ist ein Angebot des Landes und steht unter dessen Schulaufsicht. Mit dem 2006 in NRW erschienenen Kernlehrplan zum MSU und der obligatorischen Sprachprüfung am Ende des Besuchs des HSU gewann der innerschulische Diskurs über Qualitätssicherung auch im HSU an Substanz. Die Sprachprüfung im HSU, die das Ministerium für Schule, Jugend und Kinder im Rahmen der Ausbildung in der Sekundarstufe I eingeführt hat, dient der Berücksichtigung der Leistungen in einer Herkunftssprache bei den Schulabschlüssen. Der MSU wird in NRW für die Klassen 1 bis 10 angeboten. Er umfasst bis zu fünf Wochenstunden. Das wöchentliche Regelangebot kann bis auf drei Wochenstunden gekürzt werden, wenn aus organisatorischen oder pädagogischen Gründen Lerngruppen mit weniger als 15 Schüler/ -innen der Primarstufe oder mit weniger als 18 Schüler/ -innen in der Sekundarstufe I gebildet werden müssen oder personelle Gründe es erfordern. Bei ausreichender Teilnehmerzahl wird der Unterricht im Vormittagsunterricht einer einzelnen Schule erteilt. Eine solche Organisation bietet besonders gute Voraussetzungen für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Regelunterricht und MSU. So haben sich gemeinsame Angebote für mehrere Schulen, auch unterschiedlicher Schulformen, bewährt. Diese finden meist nachmittags statt (vgl. B ILDUNGSPORTAL NRW o.J.). Die bisher in NRW geschaffenen hohen Standards, die als ein Teil der allgemeinen Qualitätssicherung des Unterrichts gelten, werden in der Bundesrepublik und im Ausland stark beachtet. Außerdem ist damit bei einem großen Anteil der Eltern ausländischer Herkunft Vertrauen in das deutsche Regelschulsystem geschaffen worden, die diese Unterrichtsangebote für ihre Kinder schätzen und gern annehmen (vgl. ebd.). Die Lehrenden für den HSU in NRW sind Muttersprachler, haben ein Lehramtsstudium nach dem Schulrecht ihres Herkunftslandes absolviert, arbeiten als Angestellte des Landes und werden in der Regel an mehreren Schulen eingesetzt. In NRW wird zwischen MSU und Unterricht in der Herkunftssprache anstelle einer Fremdsprache unterschieden. Die Herkunftssprache kann in der Sekundarstufe I als ordentliches Fach anstelle der zweiten oder der dritten Fremdsprache unterrichtet werden. In diesem Fall ist sie dem Unterricht in einer Fremdsprache in jeder Weise gleichgestellt und kann in der gymnasialen Oberstufe bis zum Abitur fortgesetzt werden. In Hamburg traten zum Schuljahr 2013/ 14 Richtlinien zur Bewertung der Leistungen im HSU in Kraft, die dessen Bedeutung aufwerteten. An einigen Gymnasien Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 48 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 und Stadtteilschulen kann HSU anstatt einer dritten Fremdsprache gewählt werden; unter besonderen Umständen wird auch die zweite Fremdsprache durch HSU ersetzt (vgl. B ÖHMER 2015: 33; FHH 2011: 11). In Sachsen gibt es seit 2014 im Rahmen des Gesamtkonzepts „Sprachliche Bildung“ theoretisch die Möglichkeit, Kurse für Herkunftssprecher/ -innen als reguläre zweite Fremdsprache einzurichten (vgl. SMK 2014b). In der Schulpraxis wurde dies bislang jedoch noch nicht umgesetzt. Neben den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer existieren nur wenige bundesweit geltende Empfehlungen für den HSU. So bietet das Strategiepapier „Förderung der Herkunftssprache Polnisch“ (KMK 2013) einen allgemeinen Einblick in die verschiedenen Modelle des herkunftssprachlichen Polnischunterrichts in Deutschland, listet Argumente auf, die für diesen Unterricht und seine Unterstützung durch die Länder sprechen, und formuliert Empfehlungen für die Länder und Schulen. Speziell für Jugendliche mit Polnisch als Herkunftssprache wurde das telc-Zertifikat Język Polski B1-B2 Szkoła entwickelt - eine skalierte Prüfung, die allgemeinsprachliche Polnischkenntnisse auf zwei Kompetenzstufen prüft. 4 Im Bericht der KMK (2014) zur Situation des Russischunterrichts in Deutschland werden Herkunftssprecher und HSU systematisch mit berücksichtigt. 2.3 HSU aus curricularer Sicht Beim HSU handelt es sich um ein wichtiges Unterrichtsangebot, mit dem Migrationssprachen, die Kinder und Jugendliche sprechen und mit denen sie sich identifizieren, wertgeschätzt und gefördert werden (vgl. D IRIM 2015: 62). Als „Spracherhaltsunterricht“ baut der HSU auf den in der Primärsozialisation erworbenen Sprachkompetenzen auf, bereichert sie und führt in die Schrift- und Standardformen der in den Familien gesprochenen Sprachvarianten ein. Daher sollte er R EICH (2014: 9f.) zufolge mit der ersten Klasse einsetzen, damit er auf der Familiensprache aufbauen und diese in einer altersgerechten Weise weiterführen kann. Die sprachliche Ausgangslage der Herkunftssprache als vorwiegend mündlich verwendete Familiensprache gibt das Ziel auf funktional kommunikativer Ebene vor. So heißt es im Hamburger Bildungsplan für den HSU: „Die Unterrichtssprache wird zunehmend zu einer konzeptionell schriftlichen Sprache, in der verdichtete, kognitiv immer anspruchsvollere Informationen in kontextarmen Konstellationen angeboten werden. Der herkunftssprachliche Unterricht fördert bildungssprachliche Kompetenzen in der Herkunftssprache, indem er explizit, systematisch und kontinuier- 4 Auch in der Sprachausbildung der Hochschulen spielen Herkunftssprachen zunehmend eine Rolle. Einige philologische Studiengänge und Sprachenzentren bieten Kurse für Fortgeschrittene in Sprachen wie Russisch, Türkisch und Polnisch an, um Herkunftssprechern den Ausbau ihrer biographisch bedingten Kompetenzen zu ermöglichen. Seit 2014 ist eine Zertifizierung herkunftssprachlicher Kenntnisse für die Niveaustufen UNIcert® I bis UNIcert® III möglich; das entspricht den GeR-Stufen B1 bis C1. Die Spezifik des UNIcert® für Herkunftssprachen ermöglicht eine reduzierte Form der Ausbildung z.B. mit einem Fokus auf schriftlichen Kompetenzen oder wissenschaftlichem Schreiben. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem 49 46 (2017) • Heft 1 lich Differenzen zwischen Bildungs- und Alltagssprachgebrauch thematisiert“ (FHH 2011: 17). Zudem ist der HSU auf interkulturelle Kompetenzen ausgerichtet (vgl. ebd.: 28). So sollen neben der Geschichte auch (aktuelle) gesellschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Themen des Herkunftslandes behandelt und die individuelle Migrationserfahrung bzw. die der Familie thematisiert werden. Darüber hinaus haben Sprachmittlungsaufgaben und Sprachvergleiche zwischen der migrationsspezifischen Varietät und der im Herkunftsland verwendeten Standardsprache einen wichtigen Platz im HSU (vgl. den Rahmenlehrplan Herkunftssprachen Rheinland-Pfalz, MBBWK 2012). Auf die Notwendigkeit des adäquaten Umgangs mit der Heterogenität im HSU weist der Sächsische Rahmenplan Grundschule hin: „Die unterschiedlichen Migrationssituationen und Sprachenbiografien der Schüler erfordern ein hohes Maß an Binnendifferenzierung im Unterricht. Zugleich birgt diese Heterogenität einen beachtlichen sprachlichen Reichtum, der im Unterricht genutzt werden sollte“ (SMK 2014a: 5). D IRIM (2015: 68f.) weist zu Recht darauf hin, dass die Niveaustufen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) nicht zur Modellierung herkunftssprachlicher Kompetenzen geeignet sind, da sie diese Art des Spracherwerbs nicht berücksichtigen. Dennoch zeigt ein Blick in die Lehrpläne verschiedener Bundesländer, dass hier häufig in Analogie zum Fremdsprachenunterricht mit Niveaustufen operiert wird. Die Erarbeitung eines alternativen didaktischen Sprachmodells zum GeR für herkunftssprachliche Kompetenzen ist daher eine wichtige Aufgabe für die Zukunft. Unterrichtsangebote einiger Schulvereine, kirchlicher Träger sowie der Konsulatsschulen werden hauptsächlich von Akteuren des Herkunftslandes getragen und folgt meist auch einem Lehrplan des Herkunftslandes. Zu dem vom Schulverein Oświata für polnischsprachige Kinder und Jugendliche in Berlin an 13 Standorten erteilten HSU gehört somit auch Unterricht in den Fächern Geschichte, Geographie und Literatur in polnischer Sprache. 2.4 Legitimation des HSU R EICH (2014: 3) zufolge sind die Unübersichtlichkeit und Widersprüchlichkeit des HSU Folgen der föderalistischen Bildungspolitik und erklären sich darüber hinaus aus einer zusätzlich bestehenden Unsicherheit über Sinn und Zweck des HSU. Um der herkunftssprachlichen Bildung einen möglichst eindeutigen Status zu geben und sie aus der „Randständigkeit im System“ heraus in den Zustand eines normalen regulären Schulfaches zu überführen, bestimmen neben der Praktikabilität und fachlichen Selbstorganisation des HSU vor allem die Legitimation und die Motivation zur Teilnahme die weitere Entwicklung des HSU (vgl. ebd.: 4f.). Die Legitimation des HSU wird durch Entscheidungen von offizieller Seite, die sich auf die Berechtigung eines HSU-Angebots an den öffentlichen Bildungsein- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 50 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 richtungen beziehen, programmatische bildungspolitische Äußerungen und bildungswissenschaftliche Argumentationen geprägt. 5 Von der Legitimation hängt es ab, „ob der HSU überhaupt einen Platz an der Schule hat, d.h. aus Gründen, die vor der Gesellschaft insgesamt zu verantworten sind, angeboten wird, oder ob er als ein privates Bildungsinteresse verbucht wird wie Klavierspielen oder Tenniskurse“ (ebd.: 4). In manchen Bundesländern wird dem HSU die Legitimation, Teil des öffentlichen Bildungssystems zu sein, abgesprochen, in anderen wird eine weitgehende Integration versucht. Aber auch dort, wo der HSU anerkannt ist, ist keine hohe Rechtsverbindlichkeit gegeben. Die Aufnahme des HSU in die Stundentafel würde den Status als Regelangebot sicherer machen und eine Grundlage für Verbesserungen im Einzelnen sein. Dabei scheint die Einbeziehung des HSU in Ansätze der europäischen Sprachen- und Sprachbildungspolitik zukunftsweisend: Europarat und EU propagieren nachdrücklich die Mehrsprachigkeit ihrer Bürger, worunter inzwischen auch Migrantensprachen verstanden werden. Fest steht, dass die Teilnahme am HSU keine negativen Auswirkungen auf den Erwerb des Deutschen hat und „dass sie auf jeden Fall zu einer Höherentwicklung der Kenntnisse in der Familiensprache führt, was eine zusätzliche sprachliche Qualifikation darstellt“ (R EICH 2014: 7). Vieles spricht dafür, dass positive Effekte des HSU auf andere schulische Lernprozesse nicht automatisch, sondern nur unter bestimmten Bedingungen eintreten. Dazu gehören u.a. Aspekte wie methodische Abstimmung zwischen den Lehrkräften, didaktische Standards für den HSU, Anerkennung als Fach und kollegiale Kooperation (vgl. ebd.: 8). Von großer Relevanz für die Entwicklung des HSU ist weiterhin das Interesse der Eingewanderten selbst, d.h. die Beweggründe, die Eltern veranlassen können, ihre Kinder zu diesem Unterricht anzumelden (vgl. auch S CHMITZ / O LFERT 2013). Viele Eltern bekunden bei entsprechenden Befragungen (z.B. B REHMER / M EHLHORN 2015b) den Wunsch, dass ihre Kinder „beide Sprachen“ - also die Herkunftssprache und die Umgebungssprache - möglichst gut beherrschen sollten, so dass man im Normalfall von einer Wertschätzung der Herkunftssprache durch die Eltern ausgehen kann. Wo die Schule des Einwanderungslandes kein entsprechendes Bildungsangebot vorlegt, findet man zum Teil ein aktives Suchen nach Alternativen; dann werden Kurse der Herkunftsstaaten (Konsulatsunterricht) oder Angebote von Religionsgemeinschaften (wie z.B. Moscheeunterricht) wahrgenommen oder Selbstorganisationen (z.B. die tamilischen Schulen) aufgebaut; zuweilen wird private Unterstützung in Anspruch genommen (vgl. R EICH 2014: 9). Manche Eltern begnügen sich aber auch mit der Vorstellung, dass die für die Familie notwendigen Sprachkenntnisse schon irgendwie in hinreichender Weise durch die Familie selbst vermit- 5 S CHMITZ und O LFERT (2013: 209) bezeichnen Sprachen wie Russisch und Türkisch als „rechtlich ungeschützte allochthone Minderheitensprachen“: Sprecher/ -innen von nicht traditionellen Minderheitensprachen sind ausdrücklich vom Schutz der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen ausgenommen und haben auf staatlicher Ebene keinen Rechtsanspruch (ebd.: 208). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem 51 46 (2017) • Heft 1 telt werden könnten. Diese resignative Einstellung stellt einen Verzicht auf schulische Bildung dar. HSU ist bisher kein großes Thema in den pädagogischen und (sprach-)didaktischen Diskursen. Beispiele guter Praxis finden wenig Verbreitung über den Kreis der Eingeweihten hinaus. In den Fachzeitschriften gibt es nur wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema, und auch internationale Kooperation und Austausch mit den entsprechenden Akteuren in Frankreich, Skandinavien und Großbritannien, selbst innerhalb der deutschsprachigen Länder findet kaum statt. R EICH (2014: 12) zufolge ist diese geringe Präsenz sowohl eine Folge als auch eine Ursache der unsicheren Stellung des Faches insgesamt. Viele im HSU tätigen Lehrkräfte sehen sich als isolierte Einzelkämpfer und haben keine optimistische Perspektive für die Zukunft ihres Fachs. Deshalb ist eine stärkere fachliche Selbstorganisation der Experten für den HSU, die die Interessen der Herkunftssprecher und Lehrenden nach außen vertritt und die Entwicklung des Fachs vorantreibt, wünschenswert. Ein erster Schritt dazu könnte das am 4. November 2016 gegründete Zentrums für Herkunftssprachen am Sprachenzentrum der Technischen Universität Darmstadt sein. 3. Herkunftssprachen in anderen Fächern Die in Schule und Unterricht erfahrene Wertschätzung der Herkunftssprachen ist ein von den Lernenden sehr bewusst wahrgenommenes Zeichen des persönlichen Respekts und somit wichtige Grundlage für Lernmotivation und Leistungsbereitschaft. Dazu gehört das didaktische Prinzip, die Herkunftssprachen, wo immer sinnvoll und soweit wie möglich, in den regulären Unterricht aller Schularten einzubeziehen und für das Lernen produktiv zu nutzen. In anderen Schulfächern spielen Herkunftssprachen jedoch eher eine marginale Rolle. K ROPP (2015: 167) spricht vom school language effect und bezeichnet damit das Phänomen, „dass herkunftsbedingt erworbene Sprachen, die nicht der jeweiligen Schul- und Umgebungssprache entsprechen, ausgeblendet und unterdrückt werden“ (ebd.). Auch andere Untersuchungen zum Potenzial von Herkunftssprechern im schulischen Kontext (u.a. B REHMER / M EHLHORN 2015b; M EHLHORN 2015) zeigen, dass die Einbeziehung des Vorwissens von Herkunftssprechern, etwa im Geographie- oder Deutschunterricht, eher eine Ausnahme darstellt und auch im sprachen- und fächerübergreifenden Unterricht eher Sprachen mit höherem Prestige eine Rolle spielen. Hier ist noch viel zu tun, um die Mehrsprachigkeit von Herkunftssprechern tatsächlich als Ressource zu nutzen. Da einige Schulfremdsprachen gleichzeitig Herkunftssprachen darstellen, besuchen auch viele Jugendliche regulären Fremdsprachenunterricht in ihrer Herkunftssprache. Das betrifft in erster Linie die Schulfremdsprache Russisch, aber ebenfalls den Unterricht des Spanischen (insbes. lateinamerikanische Herkunftssprecher), Französischen (v.a. Herkunftssprecher afrikanischer Varietäten) und seltener gelernter Schulfremdsprachen wie Arabisch, Chinesisch, Italienisch, Neugriechisch, Polnisch, Portugiesisch, Türkisch und Tschechisch. Diese Schüler/ -innen, die die Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 52 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 Schulfremdsprache auch als Familiensprache gebrauchen, bringen natürlich ganz andere Vorkenntnisse - und zum Teil auch Erwartungen und Ansprüche - in den Unterricht ein als ihre gleichaltrigen Mitschüler/ -innen. Man kann argumentieren, dass dieser Fremdsprachenunterricht dem Spracherhalt der Herkunftssprecher dient, so dass diese ihre schriftsprachlichen Kompetenzen ausbauen, kulturelles Wissen über das Herkunftsland erwerben und ihr mehrsprachiges Potenzial weiter entwickeln. Das kann sich zudem motivationsfördernd auswirken: zum einen für die Herkunftssprecher/ -innen selbst, die eine Wertschätzung ihrer biographisch bedingten Sprachkenntnisse erfahren und auf diese Weise das Interesse am Erhalt dieser Kompetenzen aufrechterhalten, zum anderen für die Mitschüler/ -innen ohne sprachliche Vorkenntnisse, die z.B. von gleichaltrigen Sprachmodellen (etwa im Bereich der Aussprache) und einem authentischen Fremdsprachenunterricht profitieren, in dem Migrationserfahrungen aus der Lebenswelt der Jugendlichen thematisiert werden. Fremdsprachenlehrkräfte, die in Klassen mit Herkunftssprechern unterrichten, beklagen jedoch auch Nachteile dieser Konstellation: Die Jugendlichen mit guten Vorkenntnissen fühlen sich in einem solchen Fremdsprachenunterricht oft unterfordert; manche von ihnen beanspruchen Bestnoten, ohne dafür viel zu leisten, und sind nur bedingt motiviert, zusätzliche Aufgaben zu bearbeiten, die der Verbesserung ihrer herkunftssprachlichen Kompetenzen dienen. Einige Fremdsprachenlernende wiederum fühlen sich durch die Anwesenheit von flüssig sprechenden Herkunftssprechern gehemmt und im Unterricht benachteiligt. Schließlich nehmen Herkunftssprecher/ -innen sprachliche Fehler der (nichtmuttersprachlichen) Fremdsprachenlehrenden wahr, was durchaus zu Konflikten im Unterricht führen kann (vgl. ausführlicher T ICHOMIROWA 2011; M EHLHORN 2013). Pauschale Empfehlungen bezüglich der Anwesenheit von Herkunftssprechern im Fremdsprachenunterricht greifen daher zu kurz. Vielmehr ist das Gelingen von Fremdsprachenunterricht mit Herkunftssprechern stark von den Einstellungen der Beteiligten und binnendifferenzierenden Maßnahmen abhängig. 4. Entwicklung einer Herkunftssprachendidaktik In den USA ist aufgrund der länger andauernden Erfahrungen, einer stärkeren Verbreitung derartiger Unterrichtsangebote und der intensiven linguistischen Auseinandersetzung mit herkunftssprachlichen Varietäten die fachdidaktische Auseinandersetzung mit herkunftssprachlichen Lernenden weiter vorangeschritten als in Deutschland. Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Didaktikern in den USA schlägt sich in zahlreichen Publikationen (für einen Überblick vgl. P OLINSKY 2015), Lehrwerken und der Einrichtung des National Heritage Language Resource Centers nieder. Aber auch andere europäische Länder (z.B. Schweden) haben schon lang andauernde didaktische und methodische Erfahrungen mit HSU (vgl. L ÖSER 2010). In Deutschland steckt die Entwicklung einer eigenen Herkunftssprachendidaktik trotz der stetig anwachsenden Zahl von Herkunftssprechern im Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem 53 46 (2017) • Heft 1 schulischen Unterricht noch in den Kinderschuhen (vgl. B ÖHMER 2015: 145). Die ersten Forschungsergebnisse zu positiven Effekten biliteraler Fähigkeiten auf den schulischen Fremdsprachenerwerb (vgl. u.a. B ÖHMER 2015; G OEBEL et al. 2011) unterstreichen jedoch die Notwendigkeit, dass auch in Deutschland eine Herkunftssprachendidaktik entwickelt wird. 6 Unabhängig von der Angebotsform - als eigenständiger Unterricht oder in heterogenen Lerngruppen mit fremd- und herkunftssprachlichen Lernenden - ist dies notwendig, um Herkunftssprecher/ -innen angemessen zu fördern. Darüber hinaus ist die Entwicklung didaktischer und methodischer Handreichungen für den HSU (z.B. S CHADER 2016) unabdingbar, um die Lehrkräfte bei den durch die starke Heterogenität verursachten Herausforderungen zu unterstützen. 5. Ausblick Herkunftssprachen funktionieren als lebendige Kommunikationssprachen im familiären Kontext, haben emotionale Bedeutung für ihre Sprecher/ -innen und erleichtern den Familienzusammenhalt. Von Seiten der Eltern besteht oft der Wunsch, sie auch in den kommenden Generationen zu erhalten. HSU eröffnet den Lernenden neben seiner allgemeinbildenden Funktion auch soziale und berufliche Chancen. Er ist Teil eines Konzepts der Mehrsprachigkeit und trägt zur Interkulturalität an der Schule insgesamt und zur Allgemeinbildung bei. Darüber hinaus präsentiert er einen eigenen Typus von Sprachunterricht, mit dem die „Herkunftssprachen im Konzert der schulischen Sprachbildung eine eigene Stimme“ erhalten (R EICH 2014: 10). Der HSU hat bislang keinen festen Status im deutschen Bildungssystem. Seine Entwicklung zu einem regulären Schulfach ist eine komplexe Aufgabe (vgl. auch K ÜPPERS / S CHROEDER in diesem Band). Durch die Anerkennung und Förderung individueller Mehrsprachigkeit im Rahmen von HSU wäre es wünschenswert, dass dem HSU schulintern ein höherer Stellenwert eingeräumt und die Vernetzung und Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Fremdsprachen und Fächer gefördert wird. Die didaktische und methodische Einbeziehung in das schulische Gesamtsprachenkonzept nach den Erkenntnissen einer Mehrsprachigkeitsdidaktik sowie die fächer- und sprachübergreifende Projektarbeit (vgl. Vorschläge von H ECKER / R EICH 2013: 40f.) würden zur Aufwertung des HSU beitragen. Solange Lehrkräfte für den HSU jedoch nicht entsprechend ausgebildet sind und nur ein Fach unterrichten, werden sie nicht nur Nachteile in der Besoldung, sondern auch die ungünstigen Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen. Dieses strukturelle Manko könnte behoben werden, indem mehr Lehrkräfte eingesetzt bzw. ausgebildet werden, die neben der Qualifikation zur Erteilung des HSU über mindestens eine weitere Fachqualifikation verfügen, so dass ein Mehr-Fach-Einsatz an einer und der- 6 B ÖHMER (2016) unterbreitet erste Vorschläge für die didaktische und methodische Gestaltung von HSU für das Russische. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 54 Grit Mehlhorn 46 (2017) • Heft 1 selben Schule möglich ist (vgl. R EICH 2014: 11). Eine solche Entwicklung hätte den Vorteil der Integration der Lehrkräfte ins Kollegium und der Integration des HSU in den Stundenplan. Darüber hinaus könnten Inhalte und Methoden besser abgestimmt und Reibungsverluste im Alltag verhindert werden. R EICH (ebd.) sieht die Motivierung von Abiturienten mit Migrationshintergrund für ein Lehramtsstudium und die Schaffung formeller Qualifikationsmöglichkeiten für den HSU als gangbare Lösungen. Literatur B ENMAMOUN , Elabbas / M ONTRUL , Silvina / P OLINSKY , Maria (2013): „Heritage languages and their speakers: Opportunities and challenges for linguistics“. In: Theoretical Linguistics 39, 129-181. B ILDUNGSPORTAL NRW (o. J.): „Fragen und Antworten zum herkunftssprachlichen Unterricht“. www.schulministerium.nrw.de/ docs/ Schulsystem/ Unterricht/ Lernbereiche-und-Faecher/ Herkunftssprachlicher-Unterricht (30.7.2016). B ÖHMER , Jule (2015): Biliteralität. Eine Studie zu literaten Strukturen in Sprachproben von Jugendlichen im Deutschen und im Russischen. Münster, New York: Waxmann. B ÖHMER , Jule (2016): „Ausprägungen von Biliteralität bei deutsch-russisch bilingualen Schülern und die daraus resultierenden Konsequenzen für den schulischen Russischunterricht“. 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SMK - Sächsisches Ministerium für Kultus und Sport (2014b): Rahmenplan Sekundarstufe I. Herkunftssprache. Dresden. T ICHOMIROWA , Anna (2011): „Schüler mit slawischsprachigem Hintergrund im Fremdsprachenunterricht Russisch“. In: M EHLHORN , Grit / H EYER , Christine (Hrsg.): Russisch und Mehrsprachigkeit. Lehren und Lernen von Russisch an deutschen Schulen in einem vereinten Europa. Stauffenburg: Tübingen, 109-133. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG © 2017 Narr Francke Attempto Verlag 46 (2017) • Heft 1 A LMUT K ÜPPERS , C HRISTOPH S CHROEDER * Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist und warum es sinnvoll wäre, Türkisch zu einer modernen Fremdsprache auszubauen Eine sprachenpolitische Streitschrift Abstract. In this contribution we argue that heritage language instruction in the form it is practiced in Germany is outdated and in need of revision. Exemplified against the backdrop of Turkish language teaching in Germany, the question is raised as to why and how heritage language teaching could be enhanced. The objectives in this article are threefold: First, arguments and empirical evidence are brought forward which support the claim that upgrading Turkish and integrating it into the curriculum of modern foreign school languages is beneficial. Second, in times of constant migration flows and increasing mobility and with regard to the growing social rifts in the European societies, the question is raised as to how immigrant languages like Turkish and Arabic can be used as a source for education and for the promotion of multilingualism. Third, language policy decisions are outlined which would be needed to upgrade Turkish as a foreign language. 1. Ziele des Beitrags Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit der Einrichtung des Herkunftssprachenunterrichts (HU) im deutschen Schulsystem auseinander, illustriert am Beispiel des türkischen Herkunftssprachenunterrichts. Innerhalb des Themenschwerpunkts „Sprachenpolitik“ verstehen wir unseren Beitrag als Anstoß für eine kritische Diskussion über das „quo vadis Türkischunterricht“ und damit grundsätzlich über den Herkunftssprachenunterricht. Damit verfolgen wir drei Ziele: Zum einen wollen wir am Beispiel der türkischen Sprache fragen, welche Argumente und empirischen Nachweise für einen Ausbau von Türkisch zu einer modernen Fremdsprache im Kanon * Korrespondenzadressen: Dr. Almut K ÜPPERS , Mercator-IPC Research Fellow, Istanbul Policy Center, Sabancı University - Minerva Han Headquarter, Bankalar Caddessi 2/ 4, 34420 K ARAKÖY - I STANBUL . E-Mail: almut.kueppers@gmail.com Arbeitsbereiche: Englischlehrerausbildung, Mehrsprachigkeitsdidaktik und Didaktik der Sprachen der Migration, Türkisch als Fremdsprache. Prof. Dr. Christoph S CHROEDER , Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Zentrum Sprache, Variation, Migration, Am Neuen Palais 10, 14469 P OTSDAM . E-Mail: schroedc@uni-potsdam.de Arbeitsbereiche: Schriftspracherwerb im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt, Sprachenpolitik und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 57 46 (2017) • Heft 1 der Schulfremdsprachen sprechen. Vor dem Hintergrund beständiger Migration und der aktuellen politischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Zerklüftungen in Europa schließt sich daran die Frage an, wie die großen neuen Einwanderungssprachen als Bildungsressource auf dem Weg zu einer mehrsprachigen Gesellschaft in einem mehrsprachigen Europa genutzt werden können. Und drittens skizzieren wir, welche bildungspolitischen und sprachenpolitischen Weichenstellungen sowie gesellschaftlichen Anstrengungen nötig wären, um Türkisch zu einer modernen Fremdsprache im Kanon der Schulsprachen aufzuwerten. 2. Prolog: Türkisch den Türken Es ist Dienstagnachmittag an irgendeiner Grundschule in irgendeinem Bundesland in Deutschland. 1 Während die Kinder im Klassenraum gegenüber arabischen Herkunftssprachenunterricht (HU) haben, versammeln sich in einem anderen Raum Kinder des 2. Jahrgangs, die von ihren Eltern für den türkischen HU angemeldet wurden. Es sind ca. 15 Jungen und Mädchen, die von Herrn G ÜL unterrichtet werden, einem aus der Türkei für fünf Jahre entsandten sogenannten „Konsulatslehrer“. In dieser Unterrichtsstunde wird ein Arbeitsblatt bearbeitet. Auf der einen Seite befindet sich ein einfaches Kreuzworträtsel, die Erläuterungen dazu sind als Bilder zu Begriffen wie kitap, muz, kedi, çiçek (Buch, Banane, Katze, Blume) dargestellt. Auf der Rückseite befindet sich ein für Anfänger anspruchsvoller Text von Nasreddin H OCA 2 , versehen mit Inhaltsfragen. Während das Kreuzworträtsel eine Übung auf unterstem Anfänger-Niveau (A1) darstellt, ist die Textaufgabe literarisch-landeskundlich anspruchsvoll und schon dem Niveau B1/ B2 zuzuordnen. Exemplarisch verweist dieses Unterrichtsmaterial auf die strukturellen Herausforderungen des Herkunftssprachenunterrichts: die hohen Differenzierungsanforderungen. Herr G ÜL unterrichtet eine Gruppe mit Kindern, von denen einige fließend Türkisch sprechen und über einen bemerkenswerten Wortschatz verfügen; bei anderen Kindern ist das Türkisch hingegen kaum entwickelt oder gar nicht vorhanden. Auf diese besondere Konstellation reagiert Herr G ÜL , indem er differenzierendes Material einsetzt. Dennoch scheinen etliche Kinder damit überfordert, während andere wiederum unterfordert sind. Einige Schüler und Schülerinnen, die an ihren Arbeitsblättern arbeiten, versuchen in Gruppenarbeit das Kreuzworträtsel zu lösen. Für andere Schüler geht es offenbar nur darum, die Informationen von den Mitschüler/ -innen zusammenzutragen. So auch zwei Jungen, die erklären, dass sie nicht wissen, warum sie überhaupt im Türkischunterricht sind. Alexis sagt: „Ich fühl mich hier wie der Osterhase im 1 Diese Unterrichtsstunde fand im Rahmen des HU an einer Grundschule in Deutschland statt; die Gespräche und das Interview mit der HU-Lehrkraft haben ebenfalls stattgefunden. Zum Zwecke der Anonymisierung werden hier keine weiteren Kontextangaben gemacht. 2 Nasreddin Hoca ist Protagonist in etlichen überlieferten humoristischen Geschichten, Witzen und Weisheiten und in der türkisch-islamischen Welt eine literarische Legende. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 58 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 Wald, ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, ich kann gar kein Türkisch“. Ein anderer Schüler, Can, bemerkt: „Ich kann auch kein Türkisch. Aber das ist der Fehler meiner Mutter, sie hat es uns nicht beigebracht. Mein Stiefvater ist auch Türke, der hat seinen Kindern beigebracht, Türkisch zu sprechen. Deswegen ist es auch ein bisschen der Fehler meiner Mutter, sie kann ja Türkisch, aber sie hat es uns nicht beigebracht“. Die beiden Freunde stammen jeweils aus bi-nationalen Partnerschaften. Alexis Mutter ist griechischer Abstammung, sein Vater türkischer - und Cans Mutter ist Türkei-stämmig, sein Vater hingegen einsprachiger Deutscher. Die beiden Freunde besuchen den türkischen Herkunftssprachenunterricht äußerst widerwillig, sie haben beide das Gefühl, dass es eigentlich ein Unterricht ist für Kinder, die Türkisch sprechen können. Beide fühlen sich hier fehl am Platz, weil der Unterricht sprachliche Kompetenzen voraussetzt, die sie in ihren Familien gar nicht erwerben konnten. Und anders als Levent, dessen kommunikative Kompetenzen im Türkischen so sind, dass er Konflikte und Ärger mit dem Türkischlehrer sprachlich aushandeln kann, können Can und Alexis dem Unterrichtsgeschehen überhaupt nur dann folgen, wenn sie Hilfe von Mitschülern bekommen. Wie jetzt beim Zusammentragen der Ergebnisse für das Kreuzworträtsel. Ein paar einzelne Wörter kennen sie inzwischen, aber das Alphabet oder richtig lesen gelernt auf Türkisch haben sie nicht. Der Unterricht ist meistens langweilig, erklären sie, und ergänzen offenherzig, dass sie wie viele andere auch einfach oft gar nicht daran teilnehmen, sondern schwänzen. „Keiner kommt hier wirklich gerne her! “ behauptet eine andere Schülerin. 3. Türkischunterricht in Deutschland Der türkische HU hat es schwer im deutschen Schulsystem. Das zeigt der Einblick in die authentische HU-Stunde, das bestätigen Analysen, und Zahlen über die Teilnahme weisen einen klaren Abwärtstrend auf (vgl. K ÜPPERS / Ş İMŞEK / S CHROEDER 2015 sowie S CHROEDER / K ÜPPERS 2016). Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Organisationsformen aufgrund des föderalen Bildungssystems - mal steht er unter Aufsicht der Bildungsbehörden eines Bundeslandes, mal wird er über die Generalkonsulate organisiert, die aus den Herkunftsländern Lehrkräfte entsenden. Das verbindet sich häufig mit einer fehlenden Integration des HU in die Schulen. Seine Benotung - sofern es sie überhaupt gibt, zumeist werden nur Teilnahmebestätigungen ausgestellt - ist nicht versetzungsrelevant, und der Unterricht findet am Nachmittag statt (vgl. auch M EHLHORN in diesem Band). Der oben skizzierte Einblick in eine exemplarische HU-Stunde zeigt die Verlorenheit derjenigen, die an ihm teilnehmen (müssen) - inklusive der Lehrkräfte, wie ein Gespräch mit Herrn G ÜL illustriert: Als „Konsulatslehrer“ wurde er vom türkischen Staat in ein deutsches Bundesland entsandt. Ein Einweisungs- oder Fortbildungsprogramm hat es weder von Konsulatsseite noch von Seiten der Schulbehörde in dem Bundesland gegeben. Herr G ÜL beklagt außerdem ein fehlendes Curriculum für den HU sowie ein fehlen- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 59 46 (2017) • Heft 1 des Textbuch; er sei im Grunde genommen komplett auf sich alleine gestellt. Seine Hauptaufgabe definiert er wie folgt: „den türkischen Schülerinnen zu helfen“. Da er selbst mit zwei Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland kam und bis zur achten Klasse hier zur Schule gegangen war, ist ihm das deutsche Schulsystem zumindest nicht ganz unbekannt. Herr G ÜL verfügt aber weder über einen pädagogisch geschulten Ansprechpartner im türkischen Konsulat, noch fühlt er sich den Schulen als Dienstherren verpflichtet. An der Schule von Can, Funda und Alexis erteilt er in allen vier Jahrgängen HU, an Schul- und Klassenkonferenzen nimmt er aber nicht teil, und an Betreuungsaufgaben oder Aufsichten beteiligt er sich nur unwillig oder gar nicht. Für das nächste Schuljahr hat er sich eine Schule in einem Stadtteil gesucht, an der viele Kinder von Landsleuten aus seiner türkischen Heimatstadt beschult werden. Ein Gefühl der Loyalität hat Herr G ÜL im Grunde eher zu seinen Schülern als zur Institution entwickelt, in der der HU stattfindet. Er beklagt sich nicht nur über das fehlende Textbuch, den fehlenden Lehrplan, die Disziplinlosigkeit, die einige der Kinder zeigen, sondern auch über mangelndes Interesse und vor allem das schlechte Türkisch. An der Grundschule von Cem, Alexis und Funda nehmen etwa 60-70 Kinder am HU teil, die meisten mit „schlechtem, bis sehr schlechtem“ Türkisch, weil schon die Eltern gar kein richtiges Türkisch in ihrer Kindheit in Deutschland gelernt hätten. „Maximal sechs bis sieben Kinder dieser Schule sprechen wirklich schönes Istanbul-Türkisch, das ist aber wirklich die Ausnahme“. Trotz dieser unbefriedigenden Unterrichtssituation betrachtet Herr G ÜL seine Situation noch als vergleichsweise günstig. Er hat schließlich Deutsch als Fremdsprache in Istanbul studiert und als Grundschullehrer an verschiedenen Schulen in der Türkei gearbeitet. Weil sein Deutsch gut ist („aber es ist nicht wirklich gut“), kann er seine Schüler verstehen. Zudem kennt er sich in Deutschland und mit dessen Schulsystem relativ gut aus. Schlimmer seien seine vier Kollegen dran, die alle als gymnasiale Englischlehrer aus der Türkei nach Deutschland entsandt wurden, um dort Türkisch zu unterrichten. Diese seien das erste Mal in Deutschland und könnten kein einziges Wort Deutsch, womit sie keine Chance hätten, die Kinder zu verstehen, die noch dazu deutsche Umgangssprache sprächen. Wie man Türkisch als (Fremd-)Sprache in einer extrem heterogenen Lerngruppe auf Grundschulniveau in Deutschland unterrichtet, ist somit eine enorme Herausforderung für die aus der Türkei entsandten Gymnasiallehrkräfte. An diesem Beispiel lässt sich ablesen, dass der HU vielfach von der Eigeninitiative der Lehrkräfte lebt, die häufig weder hinreichend auf ihre Aufgaben vorbereitet sind, noch eine entsprechende Ausbildung besitzen und deren institutionelle Anbindung an die Schule, in der der Unterricht stattfindet, eher lose und unverbindlich ist, während die didaktisch-methodischen Herausforderungen aufgrund der schlechten Materialsituation und hohen Differenzierungsleistungen enorm sind. K ÜPPERS / S CHROEDER / G ÜLBEYAZ (2014: 12) kommen in ihrer Analyse der Situation des türkischen HU in Deutschland zu dem Schluss, dass der Türkischunterricht in Deutschland zumeist nicht auf einer empirisch fundierten Methodik aufbaut, sondern als ein Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 60 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 Potpourri unterschiedlicher Zuständigkeiten und Ansätze existiert, die vor allem von dem Erfahrungswissen und Engagement Einzelner leben und von zufälligen lokalen Entwicklungen, von denen einige wenig, andere durchaus vielversprechend sind. Dass dies so ist, liegt nicht an den Akteuren des Unterrichts selbst, sondern es hängt eng mit dem sprachenpolitischen Rahmen zusammen, innerhalb dessen sie agieren. 4. Sprachenpolitische Rahmung Grundsätzlich sehen wir in der Verbannung des Türkischunterrichts in Deutschland in die herkunftssprachliche Ecke einen problematischen bildungspolitischen Weg. Das beginnt bei dem Begriff „Herkunftssprache“. Dieser kann nur verstanden werden als „eine Sprache, die dort gesprochen wird, wo der Sprecher/ die Sprecherin und/ oder seine/ ihre Vorfahren herkommen“ - und das ist entweder geographisch oder ethnisch oder national gemeint, verweist aber keinesfalls auf den Ort, wo der Sprecher/ die Sprecherin dieser Sprache, auf die damit referiert wird, lebt und Teil der Gesellschaft ist, nämlich Deutschland. Nicht zuletzt diese nach außen verweisende Semantik hat dazu geführt, dass der Herkunftssprachenunterricht in Deutschland sich nur in wenigen best practice-Fällen zu einem eigenständigen, dem Fremdsprachenunterricht gleichwertigen Unterrichtsfach entwickeln konnte und auch einen Rückhalt in einer entsprechenden Ausbildung als Fakultas in der universitären Lehrerbildung gefunden hat. 3 Insgesamt sieht die Situation des herkunftssprachlichen Türkischunterrichts in Deutschland sehr viel deprimierender aus: deutlich zurückgehende Lernerzahlen seit PISA 2000, unzureichende Material- und Lehrpersonalsituation, in etlichen Bundesländern lediglich „Anhängsel“ ohne Status aufgrund der fehlenden Integration des Faches in die Curricula oder Stundentafeln der Schulen und Zeugnisse der Lerner, zum Teil nicht vorhandene oder veraltete didaktische Ansätze (vgl. K ÜPPERS / S CHROEDER / G ÜLBEYAZ 2014; K ÜPPERS / Ş İMŞEK / S CHROEDER 2015; S CHROEDER / K ÜPPERS 2016). Überspitzt formuliert muss gerade aus Elternperspektive die Frage erlaubt sein: Warum die Kinder in einen Herkunftssprachenunterricht schicken, wo sie sich langweilen und wertvolle Zeit vergeuden, in der sie entweder für andere Fächer lernen oder etwas „Sinnvolleres“ wie Sport machen könnten, wenn sie dort nicht einmal ein anerkanntes Zertifikat erwerben können und zu allem Überfluss in den Augen ihrer Mitschüler und Lehrkräfte auch noch zu „Türken“ werden, obgleich sie sich doch oft als Deutsche fühlen? 3 Mit dem Lehramtsstudiengang Türkisch an der Universität Duisburg-Essen hat Nordrhein-Westfalen hier eine Vorreiterposition. In den Kanon der in den Sekundarstufen anbietbaren Fremdsprachen aufgenommen ist Türkisch auf dem Papier seit dem Beschluss der KMK vom 1.12.1989, mit dem Einheitliche Prüfungsanforderungen für das Abitur (EPA) für Türkisch als Fremdsprache (TaF) vorliegen (i.d.F. vom 6.6.2013), vgl. KMK (1989). Faktisch gibt es TaF in NRW und Berlin sowie als Modellversuch in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Unseres Wissens gibt es aber noch keine Untersuchungen darüber, ob und mit welchem Erfolg auch echte Sprachanfänger im Türkischen an den neueren TaF-Initiativen teilnehmen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 61 46 (2017) • Heft 1 5. Die europäische Dimension Immer wieder wird in offiziellen europäischen Verlautbarungen die besondere europäische Identität beschworen und definiert über ihre sprachliche und kulturelle Vielfalt. Der Sprachenreichtum Europas gilt als ein besonderer Vorzug, der die Gemeinschaft aber gleichermaßen vor große Herausforderungen stellt. Das Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit spielt in neuaufgelegten Strategiepapieren regelmäßig eine zentrale Rolle (z.B. im Strategic Framework for Education and Training 2020 der Europäischen Union) wie beispielsweise auch prominent in der Gesamtstrategie der EU „Europe 2020“, den Leitlinien für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. 4 Mehrsprachigkeit soll die EU-Bürger mobiler machen, ihre Arbeitsaussichten verbessern und damit insgesamt einen wichtigen Beitrag nicht nur zur individuellen Zufriedenheit der Bevölkerung, sondern auch zum Wirtschaftswachstum leisten. Europäische Mehrsprachigkeit wird zunächst maßgeblich über die Bedeutung der europäischen Nationalsprachen sowie die der offiziellen Amtssprachen definiert. Etliche kleinere Sprachen wie Sorbisch, Gälisch oder Walisisch haben inzwischen den Status als anerkannte Minderheitensprachen erhalten und stehen somit unter besonderem Schutz. 5 Romanes, eine nicht-territoriale Sprache und die Sprache der Roma, wurde mittlerweile von acht Mitgliedsländern offiziell anerkannt, ebenso wie von zwei Dritteln aller Mitgliedsstaaten die jeweilige Zeichensprache des Landes offiziell anerkannt ist. Ein Blick in die dritte Ausgabe des E URYDICE / E UROSTAT -Berichtes (2012), der den tatsächlichen Zustand des Sprachenlernens und Fremdsprachenunterrichts in Europa in Übersichten und Tabellen beziffert, enthüllt ein etwas anderes Bild von der sprachlichen Vielfalt Europas. 6 Hier ist ein Trend nicht zu übersehen: Die Dominanz der englischen Sprache nimmt weiter zu. Sie ist mittlerweile in 14 Mitgliedsstaaten (darunter auch Deutschland) Pflichtfremdsprache (vgl. E URYDICE / E UROSTAT 2012: 49). Auf allen Ebenen und in allen Schulformen nimmt der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die Englisch lernen, beständig zu. Schon über 70 Prozent aller Grundschulkinder und über 90 Prozent aller Sekundarschüler lernen Englisch. Neben Englisch dominieren vier weitere große Fremdsprachen das Angebot in Europa: Französisch, Spanisch, Deutsch und Russisch. In den meisten Ländern nehmen weniger als 5 Prozent aller Lernenden an Angeboten in weiteren Sprachen teil, in etlichen sogar unter 1 Prozent - und häufig sind dies dann Pflichtsprachenangebote wie Finnisch in Schweden oder Dänisch in Island (ebd.). Kurzum: So bunt 4 http: / / ec.europa.eu/ europe2020/ europe-2020-in-a-nutshell/ index_de.htm (20.10.2016). 5 Interessanterweise ist Türkisch eben nicht in die Liste der europäischen Amtssprachen aufgenommen, obwohl es zweite Amtssprache der Republik Zypern ist. Aufgrund der spezifischen Teilungssituation Zyperns mit der international nicht anerkannten Türkischen Republik Zypern im Norden der Insel hat jedoch die griechisch dominierte Republik Zypern, die sowohl Mitglied in der EU als auch im Europarat ist, ihre entsprechende Eingabemöglichkeit nicht wahrgenommen. 6 http: / / ec.europa.eu/ languages/ policy/ strategic-framework/ documents/ key-data-2012_en.pdf (20.10.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 62 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 die sprachliche Vielfalt in Europa auch sein mag, das schulische Fremdsprachenlernen konzentriert sich zunehmend auf Englisch. Nur vereinzelt sind kritische Stimmen zu hören, die davor warnen, diesen ungebrochenen Trend zur „Englishization“ als Mehrsprachigkeit zu bezeichnen (vgl. E XTRA et al. 2013; H U 2016). Und die außereuropäischen Sprachen der Einwanderer spielen im Bekenntnis zur europäischen Mehrsprachigkeit (noch) keine Rolle. Bestenfalls kann man sagen, dass ihre Existenz mittlerweile zur Kenntnis genommen wird: „Finally, attention should be drawn to the existence of languages spoken by immigrant populations“ (E URY - DICE / E UROSTAT 2012: 19). 7 6. Mehrsprachigkeit im nationalen Kontext Bildungs- und sprachenpolitisch hat sich auf nationaler Ebene in Deutschland in jüngster Vergangenheit ein Paradigmenwechsel vollzogen, der aber auf der Schul- und Unterrichtsebene noch nicht angekommen ist und welcher die Lehreraus- und Lehrerfortbildung vor große Herausforderungen stellt: Linguistische und kulturelle Vielfalt soll nicht länger als ein Problem oder gar Defizit betrachtet werden, stattdessen sei migrationsbedingte Mehrsprachigkeit eine Bereicherung und sollte als Bildungsressource genutzt werden (vgl. KMK 2013). In der Unterrichtsrealität des deutschen Schulsystems, welches traditionell selektiv ist und wo Segregationstendenzen zunehmen (vgl. M ORRIS - LANGE / W ENDT / W OHLFAHRT 2013; B ARZ / C ERCI / D EMIR 2013), sind mehrsprachige Kinder mit Migrationsgeschichte jedoch nach wie vor benachteiligt und treffen sich häufig in sogenannten „Brennpunktschulen“, während einsprachige Kinder der deutschen Mittelschicht überproportional häufig an Gymnasien mit bilingualen Angeboten zu finden sind. Diese sogenannte „Zwei-Klassen-Mehrsprachigkeit“, die K RUMM (2013) als „Armuts- und Elitemehrsprachigkeit“ bezeichnet, ist Ausdruck eines Sprachregimes, das in die Zeit der Nationalstaaten zurückzuführen ist. In der allgemeinen Öffentlichkeit wird jedoch immer wieder reflexartig vor allem auf die Deutschkenntnisse der Kinder fokussiert, die es zu entwickeln und verbessern gilt, während gleichzeitig Forderungen nach Ausbau auch der familiensprachlichen Kenntnisse mit dem Verdacht belegt werden, dies behindere eine erfolgreiche Integration und trage zur Entwicklung von Parallelgesellschaften bei. So verwundert es kaum, dass im Augenmerk etlicher bildungs- und sprachenpolitischer Verlautbarungen den DaF-/ DaZ-Angeboten eine entsprechende Schlüsselrolle zugeschrieben wird. Richtig und dringend notwendig ist es ebenfalls, dass endlich auch auf die Bedeutung eines sprachsensiblen Sachfachunterrichtes hingewiesen wird, dessen bildungs- und fachsprachlichen Herausforderungen oft auch schon für 7 Interessant in diesem Zusammenhang auch die Beispiele, wo die Einführung regionaler Varietäten zeitlich parallel zur Abschaffung des Herkunftssprachenunterrichts stattfindet, so geschehen im Bundesland Bayern mit der Einführung des Bairischen als Schulfach (vgl. W OERFEL 2014). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 63 46 (2017) • Heft 1 muttersprachliche Lernende kaum überwindbare Hürden auf dem Weg zu den akademischen Inhalten darstellen (vgl. F EILKE 2012; G ANTEFORT 2013). Die Rolle der Familiensprachen und der Zusammenhang zwischen erfolgreichem Erst- und Zweitsprachenerwerb gerade im Bereich dekontextualisierter (Schrift-)Sprache findet jedoch, wenn überhaupt, nur am Rande Erwähnung (vgl. R OSENBERG / S CHROEDER 2016; C UMMINS 2013; 2014). 7. Fremdsprachen als kulturelle Bereicherung Wörter sind kleine Schatzkisten. Sie enthalten Erfahrungen und spiegeln Gewohnheiten, Traditionen und Werte wider, die in anderen Kulturräumen - und damit deren Sprachen - nicht unbedingt vorhanden sind. So wird beispielsweise Zeit über den Globus verteilt wissenschaftlich exakt in Minuten und Stunden gemessen. In der malayischen Sprache gibt es hingegen eine ungewöhnliche Zeiteinheit, die mit „Pisan zapra“ bezeichnet wird und die Zeit umfasst, die es dauert, eine Banane zu essen (vgl. S ANDERS 2015). Sprachen sind Ausdruck für Lebensweisen und Werte und verweisen auf neue Standpunkte und unbekannte Einstellungen. Ein Mehrwert des Fremdsprachenlernens wird daher stets im interkulturellen Lernen gesehen. Dabei gilt es, im besten Fall über die Auseinandersetzung mit neuen Perspektiven die eigene kulturelle Determiniertheit zu erleben und zu reflektieren, um Positionen zu überdenken und ggf. zu verändern. Mehrsprachigkeit garantiert daher auch kulturelle Vielfalt, und diese wiederum ist zu einer wichtigen Ressource in der Wirtschaft geworden, deren „Global player“ sich im Wettlauf um Kreativität, neue Ideen und Innovationen im Servicezeitalter vor allen Dingen in den großen urbanen Zentren ansiedeln. Interkulturelle Kompetenzen gehören seit den 1970er Jahren zunehmend zu wichtigen Qualifikationen der sogenannten „Creative class“ und „Knowledge worker“ (vgl. F LORIDA 2014). Auch im Bereich des Fremdsprachenunterrichts sind seit den 1990er Jahren interkulturelle kommunikative Kompetenzen zum zentralen Lernziel avanciert. Doch während akademische Diskurse über Modelle und Theoriebildung weit ausdifferenziert sind, stehen in der schulischen Praxis nach wie vor formale Übungen im Zentrum des fremdsprachlichen Unterrichtsgeschehens und der Bewertungspraxis. Wie interkulturelle Kompetenzen eigentlich entwickelt, überprüft und bewertet werden können, ist im Unterrichtsalltag trotz des Referenzrahmens für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (E UROPARAT 2011-2016) nach wie vor eine offene Frage. Nun böte ein moderner Türkischunterricht die Möglichkeit, eine lebendige Sprache als Community-Sprache zu unterrichten und damit interkulturelle Kompetenzen als Handlungskompetenzen zu entwickeln. Denn Türkisch ist eine überaus vitale Sprache in Deutschland, sie lebt vor allen Dingen in den Ballungszentren der Großstädte und wird von ca. drei Millionen Menschen gesprochen. In den urbanen Zentren ist Türkisch nicht nur zu hören, zu sehen und zu lesen, auf Schildern, Aushängen und der Werbung, sondern es gibt auch türkischsprachige Zeitungen und Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 64 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 Bücher, Radiosowie Fernsehsender und damit einen lebensweltlichen Kontext, in dem diese Sprache auch gelernt und vor allen Dingen benutzt werden kann. 8. Türkischunterricht als interkultureller Fremdsprachenunterricht Die hier skizzierten Überlegungen zu den Chancen eines Türkischunterrichts als interkulturellem Fremdsprachenunterricht basieren auf den Erfahrungen und Erkenntnissen, die rund um eine Grundschule in Hannover gesammelt wurden (vgl. K ÜPPERS / Y AĞMUR 2014). Um die Jahrtausendwende entschied sich diese Schule, Türkisch, die dominante Sprache im Stadtteil, aufzuwerten und für Bildungszwecke zu nutzen. Sie implementierte und bewarb ein bilinguales Deutsch-Türkisches Programm mit dem Ziel der interkulturellen Öffnung in die multi-ethnische Nachbarschaft. Das Besondere daran: Es wendete sich gezielt an die Familien der Mittelschicht, um muttersprachlich Deutsch sprechende Kinder für das Angebot zu gewinnen, damit die soziale Kohäsion zu verbessern und vor allem gegen die fast 100 Prozent Segregation 8 anzukämpfen, unter der die Schule litt. Mit der Einführung des bilingualen Programmes erlebten die Sprache Türkisch und ihre Sprecher im Einzugsgebiet der Schule eine Aufwertung sowie Wertschätzung, die ihr in der deutschen Gesellschaft ansonsten selten zuteil wird. Die Schule begreift die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit der Schüler- und Elternschaft grundsätzlich als eine wichtige Ressource für die Bildungsarbeit und leistet damit einen enormen Beitrag nicht nur zu mehr Bildungsgerechtigkeit, sondern insbesondere zum interkulturellen Dialog und besseren Verständnis in der Schulgemeinde. Durch das bilinguale Programm und unterstützende strukturelle Änderungen der Schulorganisation (Ganztagsschule, offener Unterrichtsbeginn, Abschaffung der Hausaufgaben und Einführung selbstgesteuerten Lernens) konnte der Trend zur Segregation an der Schule umgekehrt werden. Die Schullaufbahnempfehlungen dokumentieren einen beeindruckenden Aufwärtstrend der akademischen Leistungen: In einem Zeitraum von zehn Jahren fielen die Hauptschulempfehlungen am Ende der 4. Klasse von ehemals 52 Prozent im Jahr 2005 auf 21 Prozent im Jahr 2014. Im gleichen Zeitraum stiegen die Empfehlungen für das Gymnasium von ehemals 15 Prozent im Jahr 2005 auf fast 40 Prozent im Jahr 2014 (vgl. K ÜPPERS / Y AĞMUR 2014: 39). Für das bilinguale Programm gibt es mittlerweile lange Wartelisten, denn etliche der deutschen Familien betrachten das Türkischlernen als intellektuelle Bereicherung. Die Auseinandersetzung mit einer strukturell so verschiedenen Sprache wie dem agglutinierenden Türkisch führt bei den einsprachig deutschen Kindern zu erhöhter kognitiver Mobilisierung, legt Grundlagen für die Entwicklung eines Sprachlernbewusstseins, was gute Voraussetzungen sind, eine positive Einstellung 8 Fast alle deutschen Familien und auch bildungsorientierte türkische Familien im Einzugsgebiet der Schule meldeten ihre Kinder von dieser Schule ab. Abmelderaten betrugen bis zu 35 Prozent pro Jahrgang, womit fast ausschließlich Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte diese Schule besuchten; sie war somit fast komplett segregiert. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 65 46 (2017) • Heft 1 zu lebenslangem Sprachenlernen zu entwickeln. Die Erfahrung, eine „schwere“ Sprache wie Türkisch zu lernen, führt zudem bei ihnen zu Respekt für die Kinder, die Deutsch als zweite Sprache lernen; Einsprachigkeit wird in geringerem Maße als Überlegenheit erlebt, stattdessen lernen die Kinder, dass Vielfalt normal ist, weil jede/ r in anderen (sprachlichen) Bereichen Stärken hat. Durch die strukturelle Einbettung des Sprachenprogrammes können außerdem die sozialen Machtverhältnisse im Unterricht verändert werden, und die Kinder bekommen trotz der unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnisse ihrer Elternhäuser eher die Chance, sich auf Augenhöhe zu begegnen und wechselseitiges Verständnis zu entwickeln (vgl. K ÜPPERS 2016a). Zudem eröffnet das Türkischprogramm allen Kindern eine Tür, durch die sie ihre mehrsprachige und multi-ethnische Nachbarschaft besser entdecken und verstehen können. Und schließlich erleben sie auch, dass schulisches Sprachenlernen einen kommunikativen Wert hat, wenn sie lernen, dass sie die türkische Sprache, die sie vormittags im Unterricht lernen, auf dem Weg nach Hause beim Bäcker, Gemüsehändler oder Frisör benutzen können. Durch die Nutzung der türkischen Sprache als Bildungsressource leistet die Schule nicht nur einen enormen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Die interkulturelle Ausrichtung des bilingualen Programmes öffnet gleichzeitig auch Begegnungsräume für interkulturellen Dialog innerhalb der Schulgemeinde (vgl. A LBRECHT 2016). Neben der Verbesserung der sprachlich-akademischen Leistungen ist der besondere Mehrwert dieses Ansatzes somit vor allem im Bereich des sozialinterkulturellen Lernens zu sehen. In den bilingualen Klassen entstehen Freundschaften über die ansonsten hohen Sprachgrenzen hinweg, und gerade die einsprachigen Kinder der deutschen Familien tragen die Faszination für die türkische Sprache und eine positive Einstellung zur Kultur und für die Türkei in ihre Familien und darüber hinaus in die Gesellschaft (vgl. K ÜPPERS 2016a). Die subtilen sozial-interkulturellen Wirkungen des Sprachenprogrammes leuchten in Interviews mit den Familien immer wieder auf. Türkische Familien erzählen von Übernachtungs-Partys, an denen ihre Töchter teilnehmen dürfen, deutsche Eltern berichten davon, wie sie über die Begegnung mit Gastfreundschaft und Essensgeschenken (Ikram) alltägliche Routinen neu überdenken (vgl. K ÜPPERS 2016b). 9. Bilingualer Türkischunterricht als transnationales Bildungsangebot Bilinguale Türkischangebote existieren im Grundschulbereich in Deutschland bislang lediglich als Einzelinitiativen in Hannover, Hamburg oder Berlin. Diese vielversprechenden Ansätze für den Sekundarschulbereich bis hin zum Abitur weiterzuentwickeln, bietet die Chance, Bildungsmodelle für transnationale Kontexte zu konzipieren. Im sich schnell und vielfältig vernetzenden Raum zwischen Deutschland und der Türkei werden Türkischkenntnisse so zu einem zentralen Bestandteil transkulturellen Kapitals, also zu Kompetenzen, Einstellungen und Fertigkeiten, die auf Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 66 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 linguistischem und kulturellem Hintergrundwissen für zwei unterschiedliche Kulturräume basieren (vgl. K ÜPPERS / P USCH / U YAN S EMERCI 2016: 6). Damit wird kulturelles Kapital in B OURDIEU s Sinne nicht nur allgemein erweitert, sondern es werden die Grundlagen geschaffen für aktive Teilhabe und Partizipation in zwei Ländern, in Deutschland und der Türkei. Migrantensprachen wie Arabisch und Türkisch aufzuwerten, als voll etablierte moderne Fremdsprachen für alle Lerner der Mehrheitsgesellschaft zu öffnen und in die Curricula der Schulen zu integrieren, erscheint eine wirkungsvolle Möglichkeit, migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in den postnationalen Gesellschaften Europas zu erschließen. Insbesondere in bilingualen Angeboten könnte dem Ruf nach angemessener Integration der Sprachen der Zuwanderer im deutschen Schulsystem (vgl. z.B. F ÜRSTENAU 2012) entsprochen werden, denn die Überführung alltagssprachlicher in bildungssprachliche Kompetenzen ist ein wichtiger Baustein der Forderung nach durchgängiger sprachlicher Bildung und inklusiver Ansätze zur Entwicklung der Bildungssprache/ n (vgl. R EICH / K RUMM 2013). Während fast alle Türkisch-Angebote in Deutschland bislang als exklusiver HU organisiert sind, der auf Vorerfahrungen aufbaut und bei dem davon ausgegangen wird, dass Türkisch bei den Lernenden als Familiensprache entwickelt ist, sind es gerade diese nur vereinzelt existierenden inklusiven bilingualen Angebote, die Lernende mit und ohne Vorerfahrungen zusammenbringen, die aber vielversprechende Erkenntnisse liefern und weitaus zukunftweisender zu sein scheinen als der traditionelle HU. 10. Handlungsempfehlungen Die Fallstudie aus Hannover zeigt deutlich, dass der Erfolg der Schule abhängig ist vom Engagement Einzelner und verweist auf verschiedene Herausforderungen und Desiderate wie z.B. die Entwicklung einer inklusiven Türkischdidaktik sowie die Rekrutierung geeigneter Türkischlehrkräfte (vgl. K ÜPPERS 2015). Angesichts der schwierigen Situation des türkischen HU in Lehrerausbildung und Schulpraxis und nicht zuletzt aufgrund seiner ethnisierenden Wirkung halten wir es für dringend geboten, sich von dem Begriff der „Herkunft“ zu verabschieden und den türkischen HU in einen modernen Fremdsprachenunterricht zu überführen. Das geht natürlich nicht ohne entsprechende Anstrengungen. Folgende, flankierende Maßnahmen erscheinen auf verschiedenen Ebenen zielführend: Auf europäischer Ebene • klares sprachenpolitisches Bekenntnis zum Bildungswert der Sprachen der Migration in Europa • Kommunikation einer Aufwertung der Migrantensprachen in Europa durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit und Nutzung der etablierten Kanäle von Europarat und EU • Auflegung spezieller Programme zur Förderung und Entwicklung der großen Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 67 46 (2017) • Heft 1 Migrantensprachen wie Türkisch und Arabisch als Fremdsprachen, die offen sind für alle Lerner • Auflegung von (multiliteracy-) Programmen und finanzielle Förderung von Forschungsinitiativen, in deren Zentrum die Sprachen der Migration stehen, insbesondere auch mit Fokus auf natürliche Spracherwerbspotentiale außerhalb schulischen Unterrichts (Nachbarschaftssprachen, Mediennutzung, außerschulische Lernorte) • Förderung von CLIL (Content and Language Integrated Learning-) Projekten und schulischer Forschung, wenn Mehrsprachigkeit und die Sprachen der Migration im Fokus stehen (und nicht Englisch und additiver Bilingualismus) Auf nationaler Ebene • grundständige Lehrerausbildung für Türkisch als Fremdsprache für alle Bildungsgänge, aber insbesondere für das Lehramt Grundschule, für das in Deutschland derzeit kein Studiengang vorhanden ist • Entwicklung einer modernen Türkischdidaktik für den Primarbereich mit einer Fokussierung auf interkulturelle / bilinguale Ansätze, die methodisch zweisprachig arbeiten (und nicht immersiv wie häufig im Bereich CLIL/ Englisch) • Entwicklung transnationaler didaktischer Ansätze und Schulprofile deutsch/ türkisch, deutsch/ arabisch, deutsch/ russisch, deutsch/ polnisch, in denen Englisch eine wichtige, aber nachgeordnete Rolle spielt • Entwicklung von Fortbildungsmodulen und Zusatzqualifikationen für im Dienst tätige Fremdsprachenlehrkräfte anderer Sprachen, die über Türkischkompetenzen verfügen • Initiativen mit dem Ziel, vorhandene Kompetenzen in Kooperation mit außerschulischen Testanbietern (wie z.B. TELC) 9 zu zertifizieren Auf der Ebene der Öffentlichkeit • nationalstaatliche Einsprachigkeit gesellschaftlicher Praktiken im Hinblick auf die Bedürfnisse einer Einwanderungsgesellschaft grundsätzlich überprüfen und Maßnahmen zur Integration durch Mehrsprachigkeit entwickeln wie etwa englischsprachige Tageszeitungen, mehrsprachig ausgebildetes Personal in zentralen staatlichen Einrichtungen wie Polizei, Rettungsdienste, Gesundheitsbereich, Verwaltung, Behörden etc. • in Zusammenarbeit mit Behörden, NGOs, Stiftungen und Unternehmen (die besonders von Arbeitsmigration profitiert haben): Entwicklung von Kampagnen und Marketingstrategien, um den Mehrwert von Vielfalt und Mehrsprachigkeit für Individuen und die Gesellschaft zu kommunizieren 10 • Kampagnen in Zusammenarbeit mit Künstlern, Sportlern und Personen des 9 Vgl. www.telc.org, (20.10.2016). 10 Siehe z.B. ähnlich die Initiativen der deutschen Wirtschaft „Wir zusammen“ mit dem Schwerpunkt Integration von Flüchtlingen in die Wirtschaft https: / / www.wir-zusammen.de/ home (10.06.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 68 Almut Küppers, Christoph Schroeder 46 (2017) • Heft 1 öffentlichen Interesses, um das Image besonders stigmatisierter Sprachen (wie Türkisch und Arabisch) zu verbessern 11 • Entwicklung von Informationsmaterial für Kindergärten, Kinderärzte, Hebammen, Frauenärzte, Krankenhäuser, Familienhilfe und Jugendamt, um die wichtigsten Erkenntnisse über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit zu kommunizieren und um über den Umgang mit Bilingualität und Mehrsprachigkeit in Familie und Gesellschaft aufzuklären 12 . 11. Epilog: Auf dem Weg in die mehrsprachige Gesellschaft Deutschland ist ein mehrsprachiges Land im Zentrum Europas mit historischen Phasen der Einwanderung (z.B. von Hugenotten nach Preußen, Polen ins Ruhrgebiet, Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg, Aussiedler aus den Ländern des ehemaligen Ostblock), in dem geschätzte 20 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln leben. 13 Damit ist Deutschland de facto ein mehrsprachiges Land. Bekenntnisse zum Status eines Einwanderungslandes gab es aber erst in jüngerer Vergangenheit und auch nur zögerlich. Wohl nicht zuletzt hängt die Zögerlichkeit gerade jetzt mit dem wieder erstarkenden Rechtspopulismus und seinen Referenzen zu „nationaler Einheit“ und „Leitkultur“ zusammen. Mit Blick auf beständige Migrationsbewegungen und wachsende Mobilität gilt es also nicht nur, allgemein den Wert der Ressource Mehrsprachigkeit zu kommunizieren. Es gilt besonders auch, gesellschaftliche Praktiken zu überdenken, die auf das nationalstaatliche Erbe der proklamierten Einsprachigkeit zurückgehen und zu überlegen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen mehrsprachige Praktiken eine integrative Wirkung haben, die für neu ins Land kommende Menschen eine Hilfe und Orientierung bieten können. Erwähnt sei hier z.B. eine englischsprachige Tageszeitung, mit deren Hilfe Neuankömmlinge sofort am aktuellen politischen Tagesgeschehen im Land teilnehmen könnten oder Rettungsdienste, deren Telefonhotlines nicht nur in den großen europäischen Nationalsprachen angeboten werden, sondern ebenfalls in den großen Sprachen der Migration wie aktuell Arabisch und seit langem Türkisch. Gleichzeitig gilt es aber dringend auch schulische Wege des Umgangs mit Mehrsprachigkeit zu finden, die den bildungspolitischen Auftrag und die sprachlichen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler aufnehmen, ohne vorauseilende Problemzuschreibungen („Migrationshintergrund“) und Ethnisierungen („Türkisch den Türken / Arabisch den Arabern“) zu betreiben. Dazu gehört auch die Anerkennung der großen Spra- 11 Siehe beispielsweise die Fortbildungsmodule „Deutsch ist vielseitig“ (Wiese) unter http: / / www. deutsch-ist-vielseitig.de/ de/ startseite (06.06.2016). 12 Vgl. z.B. die erfolgreichen Marketingkonzepte zur Förderung von Walisisch in Wales, knapp dokumentiert in Edwards (2015). Siehe auch die offizielle walisische Regierungs-Webseite zum Umgang mit Zweisprachigkeit http: / / cymraeg.llyw.cymru/ learning/ cymraegiblant/ ? lang=en (13.06.2016). 13 Bundeszentrale für Politische Bildung, http: / / www.bpb.de/ wissen/ NY3SWU,0,0,Bev%F6lkerung _mit_Migrationshintergrund_I.html Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist 69 46 (2017) • Heft 1 chen der Zuwanderung als moderne Fremdsprachen - hier durchgespielt anhand des Türkischen, aber übertragbar auf Sprachen wie aktuell Arabisch - um diese endlich als Bildungsressourcen für alle Lernenden zu erschließen und sie gleichzeitig als Ressource für gesellschaftliches Wachstum produktiv zu machen. Literatur A LBRECHT , Beatrix (2016): „Interkulturelle Öffnung durch Mehrsprachigkeit: Die Albert-Schweitzer Grundschule in Hannover-Linden“. 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The authors discuss the status of Polish in present-day Germany: the legal and administrative basis is described and analysed for all parts of the German educational system (schools, universities, adult education). As a consequence of recent political developments concerning heritage languages, Polish has received increasing attention in Germany and has become part of the curricula in six federal states (Bundesländer). What exactly does this mean for the neighbouring language Polish? What are the trends and challenges particularly in regions on either side of the Polish-German border? Some recommendations are formulated as to what can be done in order to foster interest and to set new incentives for learning the neighbouring language Polish. 0. Zum Inhalt Der jeweilige Status von Deutsch und Polnisch als Nachbarsprachen ist in beiden Ländern sehr unterschiedlich. Das kommunikative Gewicht, der politische Rang und die Sprecherzahlen sind sehr ungleich. Die deutsche Sprache ist im polnischen Bildungskanon fest verankert und steht unter dem Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, was auf das Polnische in Deutschland nicht zutrifft. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem heutigen Status des Polnischen als Nachbarsprache in Deutschland. Er beschreibt dabei die rechtlich-administrativen Grundlagen und präsentiert Angaben über die gegenwärtige Stellung des Polnischen im deutschen Bildungswesen. Es werden dabei alle Bildungsebenen (Schulen, Universitäten, Erwachsenenbildung) einbezogen. Wir gehen auf die Frage ein, ob sich in * Korrespondenzadressen: Dr. hab. Waldemar M ARTYNIUK , Jagiellonische Universität Krakau, Centrum Języka i Kultury Polskiej w Świecie, Wydział Polonistyki, Grodzka 64, 31-044 K RAKÓW . E-Mail: waldemar.1.martyniuk@uj.edu.pl Arbeitsbereiche: Sprachdidaktische Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und -lehrern für Polnisch als Fremdsprache. Małgorzata M ÜLLER , VHS Eschweiler, Fachbereichsleitung für Fremdsprachen, DAF und Integrationskurse, Kaiserstraße 4, 52249 E SCHWEILER . E-Mail: marga.mueller@eschweiler.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeit, multilinguales Lernen, Interkulturelles Lernen und Prüfungsentwicklung. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 73 46 (2017) • Heft 1 Deutschland in der Resonanz von Herkunftssprachen zugleich auch das öffentliche Interesse an der polnischen Sprache als Nachbarsprache widerspiegelt. Infolge der neueren Politik bezüglich der Herkunftssprachen in der Bundesrepublik erhält Polnisch - zuerst in nur sechs Bundesländern - einen neuen Stellenwert. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Perspektiven sich für Polnisch als Nachbarsprache in Deutschland daraus ergeben. In den Schlussfolgerungen sprechen wir über die für das Thema relevanten Herausforderungen und Tendenzen und formulieren einige Empfehlungen, um die noch bestehenden Probleme, vor allem in der deutsch-polnischen Grenzregion, zu überwinden, das Sprachangebot Polnisch auszubauen und deutlichere Impulse für das Interesse an der Nachbarsprache zu setzen. 1. Einleitung: Warum ist das Erlernen einer Nachbarsprache wichtig? Die Mitglieder eines internationalen Projektteams, das die unterschiedlichen Aktivitäten zum Thema ‚Nachbarsprachen in Grenzräumen‘ am Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates koordiniert hat, haben die Gründe, Nachbarsprachen zu lernen, folgendermaßen zusammengefasst: Warum Nachbarsprachen lernen? • um Europa von unten aufzubauen, • um zusammen mit Nachbarn regionale Identitäten zu schaffen, • um Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, • um eine andere Sprache und Kultur zu erfahren, • um Produkte an die „Anderen“ zu verkaufen, • um den persönlichen Horizont zu erweitern (H ALINK et al. 2003: 2). Diese Gründe können vier Motivationsebenen zugeordnet werden: • der persönlichen Ebene; • der Bildungsebene; • der sozialwirtschaftlichen Ebene; • der internationalen und interkulturellen Ebene. Auf all diesen vier Ebenen findet sich offensichtlich genügend Motivation, andere Sprachen zu lernen. Ganz besonders trifft dies aber auf Nachbarsprachen und Grenzgebiete zu, in denen die Lernsituationen nicht nur simuliert werden, wie beispielweise in einem Lehrbuch, sondern sich ganz konkret, realistisch und alltäglich anbieten - mindestens solange die Grenzen (relativ) offen bleiben. Diese Motivationsebenen bringen besonders im Bezug auf Nachbarsprachen sehr treffend die Prinzipien der europäischen Sprachenpolitik zum Ausdruck, wie sie von Europarat und Europäischer Union entwickelt wurden und vertreten werden. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 74 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 2. Prinzipien der sprachenpolitischen Arbeit des Europarates Das Hauptanliegen der Sprachenpolitik, die seit über 60 Jahren konsequent vom Europarat betrieben wird, ist die Erhaltung und die Entwicklung der bestehenden Vielfalt von Sprachen und Kulturen auf unserem Kontinent und die Förderung der sprachlichen Entwicklung der einzelnen Menschen. Diese Bemühungen stützen sich auf Artikel 2 des Europäischen Kulturabkommens, der die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, das Lehren und das Lernen ihrer Sprachen gegenseitig zu fördern: Artikel 2 Jede Vertragspartei wird, soweit wie möglich: − bei ihren Staatsangehörigen das Studium der Sprachen, der Geschichte und der Zivilisation der anderen Vertragsparteien fördern und diesen Vertragsparteien auf ihrem Gebiet Erleichterungen für die Ausgestaltung solcher Studien gewähren; − bestrebt sein, das Studium ihrer Sprache oder Sprachen, ihrer Geschichte und ihrer Zivilisation im Gebiet der anderen Vertragsparteien zu fördern und deren Staatsangehörigen die Möglichkeit zu geben, sich solchen Studien auf ihrem Gebiet zu widmen (E UROPARAT 1955). Auf dieser Grundlage ist es den Experten des Europarates gelungen, eine beachtliche und kohärente Reihe von Empfehlungen, Resolutionen, Handreichungen und anderen Instrumenten zu erarbeiten, mit denen folgende übergreifende Ziele angestrebt werden: • Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit; • Förderung der sprachlichen Vielfalt; • Förderung des interkulturellen Dialogs; • Förderung der politischen Bildung, die durch adäquat entwickelte mehrsprachige Kompetenz der einzelnen Bürger/ -innen unterstützt wird; • Förderung des sozialen Zusammenhalts - in der Annahme, dass die Chancengleichheit für persönliche Entwicklung, Ausbildung, Beschäftigung, Mobilität, Zugang zur Information und kulturelle Bereicherung stark von sprachlichen Kompetenzen der einzelnen Bürger/ -innen abhängig ist. (M ARTYNIUK 2009: 93-94) 3. Prinzipien der sprachenpolitischen Arbeit der Europäischen Union Die Europäische Union unterstützt die Sprachenpolitik des Europarates und verfolgt dabei auch Ziele, die für die sozialwirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten von Bedeutung sind. Die Union verpflichtet sich in Artikel 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen - angesichts dieses sprachlichen und kulturellen europäischen Reichtums - zu achten (vgl. A MTSBLATT DER E UROPÄISCHEN U NION 2012). Dabei geht es aber auch um die allgemeine und berufliche Bildung, die für die Entwicklung einer wis- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 75 46 (2017) • Heft 1 sensbasierten europäischen Gesellschaft und Wirtschaft unverzichtbar sind (Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000). In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 12. Mai 2009 zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung (vgl. E UROPEAN C OMMISSION 2015: Education and Training 2020) wurde die Aufforderung bestätigt, die Bürger zu befähigen, sich zusätzlich zu ihrer Muttersprache in zwei weiteren Sprachen zu verständigen. Empfohlen wird das Erlernen einer internationalen Verkehrssprache sowie einer Regional-, Minderheiten- oder Nachbarsprache bzw. einer für den individuellen Lebens- und Handlungsrahmen relevanten Sprache. Der Sprachunterricht in der Berufsbildung und in der Erwachsenenbildung soll gefördert werden. Die Förderung der Mehrsprachigkeit nimmt damit einen wichtigen politischen Stellenwert ein. 1 4. Die Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen Der Polnischunterricht in Deutschland ist Gegenstand mehrerer Erklärungen und Verträge zwischen beiden Ländern. Im Jahre 1989 wurde eine gemeinsame deutschpolnische Erklärung zur Förderung des Polnischen als Fremdsprache abgeschlossen. 2 Am 17. Juni 1991 unterschrieben beide Länder einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Mit Art. 21 bis 25 dokumentieren die Vertragsparteien den Willen, das Lehren beider Sprachen und den Unterricht in Deutsch und Polnisch in öffentlichen Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. Es wurde auch die Ständige deutsch-polnische Arbeitsgruppe „Polnisch und Polonistik in der Bundesrepublik Deutschland“ gebildet. Fast 20 Jahre später, im Januar 2011, bildete sich der deutsch-polnische Ausschuss für Bildungszusammenarbeit, angesiedelt bei der deutsch-polnischen Regierungskommission des Auswärtigen Amtes. Die Kultusministerkonferenz beschloss am 9./ 10. Juni 2011 in Zusammenarbeit mit der polnischen Seite, die Arbeitsgruppe „Polnisch und Polonistik“ in den neuen Ausschuss, für den das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg- Vorpommern verantwortlich ist, zu integrieren. Dieser Ausschuss befasst sich grundsätzlich mit Vorschlägen zur Förderung der Partnersprache und hat mehrere Empfehlungen zum herkunftssprachlichen Polnischunterricht erarbeitet. Im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.06.2013 wurden Ziele, Angebote und Organisationsformen von herkunftssprachlichem Unterricht Polnisch benannt sowie Empfehlungen für den Erhalt, den Ausbau und die Weiterentwicklung von Bildungsangeboten in der Herkunftssprache Polnisch bekannt gegeben. Es wird dabei über den Stellenwert der polnischen Sprache und die Qualität bei der Realisierung 1 Die wichtigsten Dokumente der Sprachenpolitik der EU sind auf der folgenden Internetseite der E UROPÄISCHEN K OMMISSION zu finden: http: / / ec.europa.eu/ languages/ index_de.htm (22.11.2016). 2 Gemeinsame deutsch-polnische Erklärung vom 14. November 1989 ist unter https: / / www.berlin. msz.gov.pl zu finden (22.11.2016). Hier insbesondere: § IV. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 76 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 der herkunftssprachlichen Bildungsangebote in deutschen Schulen gesprochen. Die Länder verpflichten sich, Polnisch als Herkunftssprache in den jeweiligen Schulprogrammen konzeptionell zu etablieren, herkunftssprachliche Angebote für Polnisch durchzuführen und die polnischen Lehrkräfte in die innerschulischen Kooperationsformen einzubinden. 5. Lernmotivation und Sprachbedarf in den deutsch-polnischen Grenzregionen Die heutige deutsch-polnische Region ist historisch jung und damit auch anders als die anderen Grenzregionen im Westen von Deutschland. Seit 2007 gehört Polen zum Schengen-Raum, und die Durchlässigkeit ist gänzlich gegeben. In Bezug auf Lohnniveau und Lebensstandard ist die Grenzregion auf beiden Seiten noch asymmetrisch. Wesentlich weniger Deutsche als Polen lernen die jeweilige Nachbarsprache und zeigen weniger Interesse an Land und Leuten. Familiäre, persönliche Verbindungen sowie bestehende Kontakte bleiben gering ausgeprägt. Der grenznahe Arbeitsmarkt und die Mobilität werden immer noch als wenig attraktiv wahrgenommen. Symptomatisch für diese Situation sind die Ergebnisse einer Untersuchung zur Motivation der Polnischlernenden an deutschen Gymnasien und Berufsschulen in der Grenzregion: Warum lernst du Polnisch? trifft voll und ganz zu trifft eher zu trifft eher nicht zu trifft überhaupt nicht zu Polnisch ist Voraussetzung für den Beruf, den ich anstrebe. 3,3% 25,5% 47,3% 23,9% Polnisch könnte ein Plus im Beruf/ bei Bewerbungen sein. 26,3% 53,9% 15,2% 3,7% Verständigung im Alltag (Einkauf, Behörde) etc. 18,9% 40,3% 28,4% 11,9% Verständigung in Freizeit und Urlaub. 13,2% 31,3% 36,6% 18,5% Verständigung mit Freunden/ Bekannten/ Familie aus Polen. 11,5% 20,2% 27,6% 40,3% Ich bin an Land und Leuten, Kultur etc. interessiert. 6,2% 21,8% 42,4% 28,8% Ich kann mir vorstellen, in Polen zu leben. 3,7% 5,8% 23,0% 67,1% Tabelle 1: Motivation der Polnischlernenden an deutschen Gymnasien und Berufsschulen in der Grenzregion 3 3 In: E UROPA -U NIVERSITÄT V IADRINA 2010 (H RSG .): „Dokumentation zur Fachtagung. Polnisch in der Aus- und Weiterbildung im Land Brandenburg, 06.05.2010“, 4. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 77 46 (2017) • Heft 1 Diese Zahlen könnten zu der Schlussfolgerung führen, dass es für das Erlernen der Nachbarsprache Polnisch in der deutschen Grenzregion wenig Nachfrage seitens der Bevölkerung gibt und daher dieser Problematik keine bildungspolitische Aufmerksamkeit eingeräumt werden muss. Die deutsch-polnische Kopernikus-Gruppe, bestehend aus Experten des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt und des Nordeuropainstituts Stettin, war im Jahre 2001 auch der Meinung, dass es in der deutschen Grenzregion zu Polen nicht genügend Polnischunterricht gebe, und bezeichnete die wenigen Sprachangebote als Notlösungen. Es gab auch kaum Angebote zu Lehrerweiterqualifizierung, es wird kein regulärer Polnischunterricht angeboten, man muss systematisch neue Lehrwerke erarbeiten, das Fach Polnisch als Fremdsprache wird nicht in allen Schultypen angeboten. Es gibt allerdings auch Entwicklungen und Initiativen, die einen Wechsel anbahnen. In den vergangenen fünfzehn Jahren lassen sich viele Verbesserungen des Nachbarsprachangebots erkennen. Polnisch wird jetzt in mehreren Kindergärten und Schulen angeboten. Die frühkindliche Spracherziehung in mehreren Herkunftssprachen, darunter Polnisch, wird von vielen Eltern befürwortet. Seit einigen Jahren engagieren sich Kindergärten, Schulen, Universitäten, Deutsch-Polnische Gesellschaften (besonders DPGB, Brandenburg, vgl. D EUTSCH -P OLNISCHE G ESELLSCHAFT 2015), IHK, Institute, Volkshochschulen und andere Weiterbildungseinrichtungen für die Etablierung und den Ausbau des Polnischunterrichts sowie für die Verbesserung der Qualität im Erwerb dieser Nachbarsprache. Neben dem Polnischunterricht werden zahlreiche Tagungen, Workshops, Konferenzen, interkulturelle Austauschprogramme, Exkursionen, kulturelle, politische und wirtschaftliche Begegnungen etc. organisiert und durchgeführt. 4 Die Unternehmen dieser Region haben den Sprachbedarf längst wahrgenommen und verweisen in erster Linie auf Handel, Tourismus, Verkehr und Logistik. Deshalb entstanden in der deutsch-polnischen kaufmännischen Ausbildung viele sinnvolle Projekte: u. a. Europaassistent, Übersetzungshilfen und Handbücher wie Polen- Knigge, deutsch-polnische Doppelausbildung im Hotel- und Gastronomiegewerbe, das Mobilitätsprojekt Azubi Mobil (seit 2008) 5 , E UROJOB -Viadrina Datenbank (2009-2013) 6 , J OBSTARTER (Ausbildungskooperationen) 7 , E URES -Beraterin (Neubrandenburg, Eberwalde, Frankfurt/ Oder, Cottbus und auf polnischer Seite - Westpommern und Lebuser Land), bekannt als ein Netzwerk für grenzüberschreitende 4 Nähere Informationen unter: „Deutsch-polnischer Kulturausschuss“, https: / / www.bundesregierung. de (29.11.2016) bzw. VHS- und DPG-Programme, Bildungsinstitute, Schulen, Universitäten, Vereine etc. 5 Es gibt mehrere Projekte dazu, u. a. Erasmus, vgl.: Berufsbildung ohne Grenzen unter www. mobilitaetscoach.de/ news-archiv (29.11.2016). 6 Vgl. dazu: Informationsportal Ausbildung & Berufe in Deutschland und Polen unter www.eurojob.net 7 Es handelt sich um Projekte einer dualen Ausbildung mit grenzüberschreitenden Ausbildungs- Kooperationen. Diese sind u. a. auf der folgenden Seite zu finden: http: / / www.jobstarter.de/ de/ projektlandkarte-1157.php (29.11.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 78 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 Mobilität am Arbeitsmarkt und für Fragen zu Steuern, Sozialversicherung etc. 8 Alle diese und ähnliche Projekte und Aktivitäten legen den Schwerpunkt auf bedarfsorientierten Polnischunterricht. 2011 wurde die Beschränkung für den deutschen Arbeitsmarkt aufgehoben. In der gesamten deutsch-polnischen Grenzregion werden zweisprachige Arbeitskräfte in vielen Branchen gesucht, u. a. in den Bereichen Metallverarbeitung, Verkauf, Logistik, Pflege- und Gesundheitsberufe, Hotel und Gastronomie, Immobilienbranche, Dienstleistungen und im öffentlichen Dienst (Lehrer, Erzieher, Busfahrer etc.). Zweisprachige Fachkräfte werden für Anwaltskanzleien und andere deutsche und europäische Firmen auf der polnischen Seite gesucht. Während die berufliche Ausbildung eine Konzentration auf die rezeptiven Fertigkeiten (Hör-, Leseverstehen und etwas Sprechen) legt, vermitteln die Schulen und Weiterbildungseinrichtungen verstärkt die produktiven Fertigkeiten (Sprechen und Schreiben) und haben den Anspruch einer ganzheitlichen Sprachvermittlung (z.B. Universitäten). Da die Lehrerausbildung für Polnisch als Fremdsprache in Deutschland (in Polen inzwischen immer verbreiteter) kaum berücksichtigt wird, stellt sich das Problem des Mangels auch in der Grenzregion. Der Unterricht wird fast immer durch polnischstämmige Lehrkräfte erteilt. Die erste Lehramtskandidatin für Polnisch machte ihr Examen an der Universität Potsdam erst im Jahre 2007. Im Lehramtsstudium Polnisch fehlen aber Anteile zur beruflichen Bildung. Das Lehr- und Lernmaterial ist in meisten Fällen eher auf den allgemeinen Bedarf ausgerichtet. Im schulischen Bereich hat sich in den letzten fünf Jahren sehr viel getan. Viele engagierte Schulen und Institutionen (wie z.B. Berufliches Schulzentrum für Wirtschaft und Technik in Görlitz, OSZ II Spree-Neiße in Cottbus, OSZ II für Wirtschaft und Verwaltung in Potsdam, Deutsch-Polnisches Jugendwerk Potsdam) integrieren Polnisch in die Ausbildung und betonen neben den Sprachkenntnissen die Wichtigkeit der interkulturellen Kompetenz und Flexibilität. Die Zusammenarbeit mit den polnischen Ministerien auf diesem Gebiet ist eng und wird personell und fachlich unterstützt. Besonders erfolgreich funktioniert der Austausch zwischen deutschen und polnischen Schulen im Grenzgebiet. Viele kulturelle und schulische Projekte mit Partnerschulen (Musik, Sport- und Kochwettkämpfe etc., polnische Lehrkräfte unterrichten z.B. Biologie auf Polnisch in Deutschland, deutsche Lehrkräfte unterrichten z.B. Geographie auf Deutsch in Polen, polnische Schüler/ -innen forschen in der BRD, deutsche Schüler/ -innen forschen in Niederschlesien etc.) hängen jedoch von besonders engagierten Einzelpersonen ab. Im Bereich der Kindertagesstätten entstanden bilinguale und trilinguale (deutsch-tschechisch-polnisch) Unterrichtsformate („Spotkanie heißt Begegnung - Ich lerne deine Sprache“, in Brandenburg seit 1997) 9 und ein guter personeller und fachlicher Austausch. Hier muss keine besonders große Überzeugungsarbeit bei den Eltern geleistet werden. 8 Vgl. u. a. dazu: http: / / faktor-a.arbeitsagentur.de/ mitarbeiter-finden/ arbeitsmobilitaet-die-grenzgaen gerin/ (29.11.2016). 9 Vgl. https: / / www.dija.de und https: / / www.sz.europa-uni.de unter „Mitarbeiter (Sprache, Grenze, Grenzregion)“ Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 79 46 (2017) • Heft 1 Das Interesse der Ausbildungsbetriebe gibt oft den Ausschlag, dass die Berufsschüler in den drei an Polen grenzenden Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen sowie in Berlin Polnisch belegen. Der reguläre Unterricht, der auf freiwilliger Basis zusätzlich angeboten wird, hängt aber sehr stark von der Zahl der Interessenten ab und muss ggf. in Randstunden stattfinden. Die Noten erscheinen auf dem Berufsschulzeugnis. Die Finanzierung wird in Einzelfällen (Brandenburg) vom Land übernommen. Eine besondere Förderung ist nur an den Europaschulen möglich, weil sie in der Regel Polnisch in ihren Profilen haben sollen. Bei Berufsschulen wird dieser Titel jedoch kaum oder vereinzelt (z.B. Oberstufenzentrum in Fürstenwalde) genutzt. In der Regel dauert der Polnischunterricht an den Berufsschulen drei Jahre (zwei Jahre allgemeine Sprachkenntnisse und ein Jahr Fachsprache) und endet mit einer freiwilligen Abschlussprüfung der Stufe B1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen. Da die berufliche Ausbildung in Polen stärker allgemeinbildend und in Deutschland stark fachgebunden ausgerichtet ist, ist der Austausch im Rahmen der Praktika oft sehr schwierig. Für Auslandsaufenthalte und Begegnungen sowie für derartige interkulturelle Vorbereitungen stehen häufig keine Mittel zur Verfügung, und es fehlt das entsprechende Stundenkontingent für das Lehrpersonal. Das Problem kann teilweise nur durch besonders engagierte Lehrkräfte ausgeglichen werden. Die Kontinuität des Polnischunterrichts in Hinblick auf die Anzahl der Schulen, in denen Polnisch angeboten wird, Vernetzung der Schultypen und zwischen dem Lehrpersonal, das häufig jährlich wechselt und keine gesicherte Finanzierung hat, bereitet immer noch große Probleme und bildet keine gute Perspektive für eine Festigung und Professionalisierung des Unterrichts. Polnisch sollte eher kontinuierlich als Nachbarsprache gefördert und nicht nur als Wahlpflichtfach durch temporäre Projekte finanziert werden. 6. Polnisch und die schulische Förderung in der Bundesrepublik Deutschland Trotz aller Schwierigkeiten mit dem Polnischunterricht in der Grenzregion ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Polnisch in Deutschland zu allen Zeiten - wenn auch zu unterschiedlicher Intensität und aus unterschiedlichen Motiven - gelernt wurde (vgl. W ORBS 2001). Man muss auch zugeben, dass heutzutage von der Politik so viele Voraussetzungen und Möglichkeiten für den Polnischunterricht geschaffen wurden wie nie zuvor. Neben Polnisch als Nachbarsprache gibt es den Unterricht Polnisch als Herkunftssprache, Polnisch als Fremdsprache und an vielen Universitäten Polonistik. Polnisch als Fremdsprache wird in allen Bundesländern angeboten. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk organisiert regelmäßig Sprachkurse für Multiplikatoren des Jugendaustausches sowie Gruppendolmetschkurse. An den deutschen Volkshochschulen lernen so viele Deutsche wie nie zuvor Polnisch - das Polnische nimmt aktuell den 12 Platz in der Rangfolge der angebotenen Sprachen an den deut- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 80 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 schen Volkshochschulen ein. Im Durchschnitt wird an jeder zweiten Volkshochschule Polnisch angeboten, und an jeder dritten kommen die Sprachkurse auch zustande. Bei der Unterstützung dieser Lernformate spielen oft Schnupperkurse, Städtepartnerschaften, Austausch, Tourismus und das persönliche Engagement der Lehrkraft eine wichtige Rolle. Polnisch hat aber in Deutschland noch nicht viele wirklich einflussreiche Unterstützer gefunden. Die deutsch-polnischen Beziehungen definieren sich vor allem über den kulturellen, literarischen und wirtschaftlich-politischen Bereich. Das Interesse an der polnischen Sprache entwickelt sich in den letzten Jahren eher über Tourismus, private Beziehungen, wirtschaftliche Kontakte. Unabdingbar ist es aber auch, die Nachbarsprache durch Kurse und Projekte von Polnisch als Fremdsprache zu unterstützen. Schließlich reichen die Anfänge des Polnischen als Fremdsprache weit in die deutsche Geschichte (13. Jh.) zurück. Über Polnisch als Unterrichtsfach ab dem 16. Jahrhundert wissen wir recht gut Bescheid (vgl. W ORBS 2001: 136). Das Studium Polonistik war seit 1842 an der Universität Berlin möglich und verfolgte vor allem das Ziel, den Polen in Preußen eine Möglichkeit zur „Vervollkommnung“ in ihrer Muttersprache zu geben. Heute hat sich das Bild erheblich verändert. Polnisch wird als Haupt- oder Nebenfach eines gesamtslawischen Studiengangs an den meisten deutschen Universitäten angeboten. Der bis heute erfolgreich geführte Polnischlehrgang mit dem Namen „Mainzer Polonicum“ an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz war bereits von 1979 bis 1983 ein Modell für Nicht-Slavisten. In diesem Zusammenhang entstand im Jahre 1987/ 88 auch die erste polonistische Professur in der Bundesrepublik Deutschland. Im geteilten Deutschland bestanden unterschiedliche Voraussetzungen für Polnisch im schulischen Bereich. Nur wenige wissen, dass es in Bremen bereits seit 1985 („Bremer Modell“) Polnisch als muttersprachlichen Unterricht gibt und dass seit 1989 Polnisch als Fremdsprache-Wahlmöglichkeit für deutsche Schüler existiert, auch wenn die personellen und in manchen Bundesländern die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren oder immer noch nicht sind. 1951 gab es in der DDR an mehreren erweiterten Oberschulen fakultativ Polnisch als zweite Fremdsprache. Die Lehrer stammten in der Regel aus Polen, waren zweisprachig und auf die Vermittlung des Polnischen vorbereitet. In den sechziger Jahren unterrichteten dann zusätzlich polnische Gastlehrer. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands bemüht man sich, im Bereich des Polnischunterrichts einen rechten Fortschritt zu erreichen. Wenn eine Lehrkraft verfügbar ist und wenn sich eine entsprechende Zahl von Interessenten findet, kann Polnisch als Herkunftssprache unterrichtet werden. Die Länder sind verpflichtet, im Sinne des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991, sich für den Erhalt, den Ausbau und die Weiterentwicklung von Bildungsangeboten für Polnisch als Herkunftssprache einzusetzen und entsprechende Rahmenbedingungen bei der Durchführung der Bildungsangebote zu schaffen. Deshalb versucht man in den jeweiligen Schulprogrammen, die herkunftssprachlichen Angebote konzeptionell zu etablieren, die polnischen Lehrkräfte in die innerschulischen Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 81 46 (2017) • Heft 1 Kooperationsformen einzubinden, in den Konferenzen und Elternversammlungen die potenziellen Interessenten entsprechend über bestehende Bildungsangebote zu informieren und eine Zusammenarbeit mit Schulen und Kindertagesstätten zu entwickeln. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler/ -innen werden dokumentiert und anerkannt. Die aktuelle Zahl der polnischsprachigen Schüler/ -innen lässt sich aufgrund von Datenschutz und mangelnden Erhebungen nicht genau feststellen, der muttersprachliche Ergänzungsunterricht Polnisch wird aber an mehreren staatlichen Schulen in Bremen, Hamburg, Niedersachsen, NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen angeboten. 10 Neben den herkunftssprachlichen und weiterbildenden Angeboten gibt es Polnischunterricht im Netz der polnischen Organisationen in Deutschland. Das Schulwesen der polnischen Verbänden und Organisationen (oft als Polonia bezeichnet) sowie die Einrichtungen der Polnischen Katholischen Mission und Schulen des Polnischen Bildungsministeriums an polnischen Konsulaten sind hier besonders hervorzuheben. In einem Strategiepapier der deutschen Kultusministerkonferenz wird über diese Initiativen recht ausführlich berichtet: Gegenwärtig lernen in den polnischen Vereinen genauso viele Schülerinnen und Schüler wie in den öffentlichen Schulen. […] Die Polonia-Schulen werden betrieben und finanziert dank des ehrenamtlichen Engagements zahlreicher Partner. Die Haupteinnahmequelle sind die Elternbeiträge und ehrenamtliche Arbeit der Mitglieder von polnischen Organisationen. Das Polnische Bildungsministerium stellt kostenlos Bücher und weitere Unterrichtsmaterialien für den Unterricht von Polnisch als Herkunftssprache zur Verfügung. Die Finanzierung der staatlichen Angebote erfolgt dabei ganz, teilweise oder gar nicht durch das Land. Bei Konsulatsunterricht oder Angeboten von Freien Trägern erhalten diese oft Zuwendung des Landes. Bei Angeboten von Konsulaten und Freien Trägern erfolgt eine fachliche und organisatorische Abstimmung mit der Schule, die Schulaufsicht ist eingebunden. Entsprechend der Organisationsmodelle sind die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer im Landesdienst, arbeiten auf der Grundlage eines Honorarvertrages oder werden direkt von dem Herkunftsland eingesetzt. Als Qualifikation der Lehrkräfte werden eine pädagogische Ausbildung, z.B. ein in Deutschland oder dem Herkunftsland erworbenes Lehramt sowie gute Deutschkenntnisse vorausgesetzt. In den meisten Fällen unterrichten Muttersprachler. […] Polonia-Schulen unterrichten nach einem Lehrplan des Polnischen Bildungsministeriums. […] Sofern nach Lehrplan unterrichtet wird, werden meist Noten erstellt. In einigen Ländern gibt es die Möglichkeit, eine Sprachprüfung abzulegen. Alle Polonia-Schulen stellen ihre eigenen Zeugnisse und Teilnahmebescheinigungen aus. (KMK 2013: 4ff.).. Zu diesen und ähnlichen Zwecken entstanden in den letzten fünf Jahren zahlreiche neue Lehrwerke sowohl für bilinguale Polnischsprecher als auch für deutschsprachige Muttersprachler, die Polnisch lernen. Viele Materialien werden von Lehrern in der Praxis produziert. Im Rahmen der Fortbildungen für Lehrkräfte und Workshops entstehen zahlreiche didaktische Programme und einzelne Veröffentlichungen für Polnisch als Fremd- und Zweitsprache. Mit der Didaktik und Methodik des Pol- 10 Es gibt zurzeit keine genauen Angaben zu diesem Bereich, denn der herkunftssprachliche Unterricht wird für mindestens zehn Sprachen in Deutschland angeboten. Die genauen Angaben liegen häufig in den jeweiligen Schulämtern vor. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 82 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 nischunterrichts beschäftigen sich in Deutschland neben dem universitären Bereich v. a. das Netzwerk der Polnischlehrkräfte in NRW und die Bundesvereinigung der Polnischlehrkräfte in Berlin. Aktuell wird vorgeschlagen, sich mehr mit der Erfassung der Sprachkompetenz im Fach Polnisch zu beschäftigen. Anke S ENNEMA und Magdalena W IAŻEWICZ (2015: 109) schreiben dazu: Im Hinblick auf die berufliche Aus- und Weiterbildung besteht noch ein großer Bedarf an spezifischerer Erfassung der Sprachkompetenz hinsichtlich Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Registerwahl, Fachsprache und der betrieblichen Handlungsfähigkeit, und zwar in beiden Sprachen Deutsch und Polnisch. [...]: Eine genaue Auswertung könnte den Lehrkräften eine objektive Einschätzung der sprachlichen Fähigkeiten sowie eine Ableitung der spezifischen Sprachförderbedarfe ermöglichen, die für den jeweiligen Berufsbereich relevant sind. Mit den gewonnenen Erkenntnissen könnte gezielter auf die sprachlichen Anforderungen der beruflichen Bildung reagiert und Mehrsprachigkeit als anerkannte tragfähige Ressource ausgebildet werden. Auf diese Art und Weise würde Polnisch besser in die berufliche Bildung integriert werden. Eine fundierte Begründung für die Etablierung des Polnischunterrichts in der Grenzregion lässt sich jedoch nur dann formulieren, wenn man viele Aspekte aus solchen Disziplinen wie Linguistik, Erziehungswissenschaften, Soziologie, Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften beachtet und berücksichtigt. Das Nachbarsprachenlernen ist u.a. ein Akt der gegenseitigen Achtung und Toleranz, der neben der persönlichen sprachlichen Bereicherung jedes Lernenden vor allem einen Beitrag zur Förderung der Verständigung und zum Abbau der Fremdenfeindlichkeit leisten soll. Albert R AASCH (2010: 6), der u. a. das Projekt „Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen“ koordinierte, spricht an dieser Stelle von einer speziellen „Grenzkompetenz“. Diese sollen die Einwohner/ -innen von Grenzregionen entwickeln und neben Sprachkenntnissen auch Wissen über das Nachbarland und die gemeinsame Geschichte erwerben. Dieser Grenzkompetenzerwerb, der ein Teil der Ausbildung sein muss, soll eine Sensibilisierung für Stereotype und typische Verhaltensweisen sowie eine Reflexion der eigenen Einstellungen beinhalten. Er schlägt als Sprachenfolge in Grenzregionen Folgendes vor: 1. die jeweilige Nachbarsprache, 2. Englisch, und 3. eine Sprache nach Wahl. So sei Polnisch als Nachbarsprache eine wichtige Zusatzqualifikation, ein Baustein für beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg und Chancen für deutsche Arbeitnehmer/ -innen auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Somit wäre Englisch eine „notwendige Bedingung“ (Lingua Franca) und die Nachbarsprache („Lingua Culturalis“) eine Zusatzqualifikation. Generell ist angebracht, sich stärker auf die Mehrsprachigkeit zu konzentrieren (vgl. R AASCH 2010: 6). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 83 46 (2017) • Heft 1 7. Herausforderungen und Empfehlungen Eine wesentliche Voraussetzung für Kommunikation und gegenseitiges Verständnis ist nicht eine Sprache, sondern Mehrsprachigkeit. Reduziert man die Mehrsprachigkeit auf Englisch als lingua franca, verliert man die sprachliche und kulturelle Vielfalt und ignoriert die Nachbarn. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wirtschaftliche Kooperationen, Einkaufstourismus, Personenverkehr, Nutzung von Dienstleistungen im Nachbarland, Zusammenarbeit von Verwaltungseinrichtungen, Schulen, Kommunen, Institutionen, Ministerien etc. sind schwierig und werden durch die fremde Sprache zur kulturellen und sprachlichen Barriere. Die Vorurteile, Minderwertigkeits- oder Überheblichkeitskomplexe werden durch fehlende Kommunikation, Kooperation in der Nachbarsprache und die fehlenden Kenntnisse in Landeskunde verstärkt. Eine Herausbildung von Grenzgängern mit der nötigen Grenzkompetenz ist so nicht möglich. Die Reduzierung der Sprache auf Englisch würde in Grenzregionen ebenfalls die komplette Reduzierung der beruflichen Basisqualifikation und des interkulturellen Lernens bedeuten. Daher ist es unerlässlich, den Erwerb der Nachbarsprachen weiterhin zu unterstützen und so früh wie möglich (Kindergarten) mit dem Sprachunterricht zu beginnen. Die Bildungspolitik soll die notwendigen Regelungen und Voraussetzungen dafür schaffen, um ein frühes Erlernen der Nachbarsprache (zuerst in den Grenzregionen und später in den Schulen in ganz Deutschland) zu ermöglichen. Es sollte vor allem möglich sein, die Nachbarsprache als Fremdsprache zu wählen. Es ist richtig, dass die Industrie- und Handelskammern vermehrt anmahnen (z.B. in Brandenburg), Polnisch als zweitwichtigste Fremdsprache zu behandeln. Man beobachtet wachsende Anstrengungen, die Nachbarsprache zu lernen. Um eine Nachhaltigkeit dieser Anstrengungen zu erzielen, muss verstärkt versucht werden, partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen deutschen und polnischen Schulen nachdrücklich einzurichten und diese politisch zu unterstützen. Daher ist es wichtig, die Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen, Schulen, Hochschulen, Kulturinstituten, Wissenschaftseinrichtungen in ganz Polen und ganz Deutschland besonders zu stärken und Weiterqualifizierungsangebote für alle Lernzielgruppen in beiden Ländern dauerhaft zu entwickeln. Austausche und Schulpartnerschaften mit beiden Ländern sollten erweitert und stabilisiert werden. Das Erlernen der Nachbarsprache verlangt ein systematisches schulisches Angebot. Polnisch als Herkunftssprache in nur sechs Bundesländern und nur bis zur 10. Klasse ist kein systematisches Angebot für ganz Deutschland. Keine Note auf dem Zeugnis bedeutet die automatische Reduzierung dieser Sprache und ihres Stellenwerts im schulischen System. Geringe Unterstützung der polnischen Lehrkräfte und der Fremdsprachendidaktik für Polnisch in Deutschland sowie fehlendes Interesse seitens der deutschen Schulen für herkunftssprachlichen Unterricht führen zur Unzufriedenheit bei Schülern und Eltern. Dies alles ist auf einen mangelnden Umsetzungswillen der politischen Eliten zurückzuführen. Auf allen Ebenen ist zu spüren und zu erfahren, dass die Komplexität und die vielfältigen Chancen von den Ent- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 84 Waldemar Martyniuk, Małgorzata Müller 46 (2017) • Heft 1 scheidungsträgern noch nicht richtig erfasst wurden. Dies drückt sich u.a. auch in der fehlenden Ausbildung von Lehrkäften für den herkunftssprachlichen Unterricht aus. Die Gleichbehandlung der polnischen Sprache mit anderen Fremdsprachen, die abiturrelevant sind, ist in den westlichen Bundesländern immer noch nicht gewährleistet. Dies zu ändern ist im Rahmen der deutsch-polnischen Abkommen dringend geboten. In Anlehnung an das integrierte deutsch-französische und deutsch-niederländische Studium zur Euregiolehrerin bzw. zum Euregiolehrer wäre es angebracht, eine ähnliche grenzüberschreitende fremdsprachliche Ausbildung von Lehrern auch für Polnisch einzurichten. Während in den westlichen Grenzregionen von Deutschland Lehrerfortbildungen für die Nachbarsprachen recht verbreitet sind, beschränkt sich ein entsprechendes Angebot an der östlichen Grenze auf vereinzelte Angebote. Zu Recht wünschen sich die Lehrkräfte der Nachbarsprachen Polnisch und Deutsch systematische, spezifische Lehrerfortbildungen für Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen und Schulpraktika im Nachbarland sowie eine stärkere Unterstützung des Erweiterungsstudiums Polnisch als Fremdsprache. Schließlich verlangt das Erlernen der Nachbarsprache eine Erarbeitung von Lehrwerken und Lehrmaterialien für Polnisch als Fremdsprache im Schulunterricht. Sprache als Instrument transregionaler Kontakte muss fruchtbar gemacht werden. Dabei ist es wichtig, dass all diejenigen, die Sprachen unterrichten, gleichzeitig auch sprachenpolitisch denken müssen (vgl. R AASCH 2010). Einen Ausgleich zwischen den Ländern und Regionen sowie eine Annährung untereinander zu schaffen, ist nur dann möglich, wenn Wirtschafts- und Sprachenpolitik eng zusammenarbeiten. Die Nachbarsprachen sind ein zentrales Mittel für die Nutzung der Potenziale auf verschiedenen Ebenen in den Grenzregionen. Das Sprachangebot Polnisch sollte in Deutschland ausgebaut werden, um u. a. auch deutliche Impulse für das Interesse an der Nachbarsprache zu setzen und diese in den östlichen Grenzregionen verstärkt zu unterstützen. Es ist eine fachlich-wissenschaftliche und sozialpolitische Herausforderung, die politisch engagiertes Engagement in beiden Ländern fordert. Es ist ein Prozess, der keineswegs nur mit politischen Abkommen abgeschlossen sein darf, sondern er muss der Förderung und Forderung nach der Nachbarsprache im Lernangebot sowie einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Nachbarsprachen dienen. Sprachenpolitisch darf man auch dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren: Die Nachbarsprachen sollten einen weitaus größeren Raum im Bildungswesen und im öffentlichen Bewusstsein bekommen und erhalten dürfen, um das bewusste Lehren und Lernen von Sprachen neu zu individualisieren und jede individuelle Mehrsprachigkeit zu unterstützen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen 85 46 (2017) • Heft 1 Literatur A MTSBLATT DER E UROPÄISCHEN U NION (2012): Charta der Grundrechte der Europäischen Union. http: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do? uri=OJ: C: 2012: 326: 0391: 0407: DE: PDF (29.11.2016). B INGEN , D IETER / W ŁODARCZYK , E DWARD (2002): Verein für Politik und Zeitgeschichte in der Steiermark, Graz (2002): Mitteilung über die 4. Sitzung der ‚Kopernikus-Gruppe‘ http: / / www.deutsches-polen-institut.de/ politik/ kopernikus-gruppe/ arbeitspapier-iv/ (14.11.2016). D EUTSCH -P OLNISCHE -G ESELLSCHAFT B RANDENBURG (2015): Polnisch in der Schule und weitere Beitrage. www.dpg-brandenburg.de (18. 12. 2015). E UROPA -U NIVERSITÄT V IADRINA (Hrsg.) (2010): Dokumentation zur Fachtagung ‚Polnisch in der Aus- und Weiterbildung im Land Brandenburg‘. 06. 05. 2010. Frankfurt/ O.). E UROPARAT (Hrsg.) 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Does educational policy supply the basis necessary to attain a stronger cooperation between the individual languages within the school context? Current decisions made at federal state level are raising concerns that, in the future, school children in Germany will not be able to achieve the goal - “Native Language Plus Two” - advertised by the European Union. On the contrary, in certain federal states, like, for example, Lower Saxony and Hamburg, the tendency to weaken rather than to reinforce the status of second foreign languages in the Oberstufe is emerging, in turn leading to a firmer establishment of individual bilingualism as opposed to plurilingualism. 1. Ausgangssituation Vor ca. 15 Jahren sah Andreas N IEWELER (2001: 4) „an den Schulen eine teilweise erbitterte Konkurrenz der Fremdsprachen: Französisch gegen Latein, Spanisch gegen Französisch usw.“ - mit dem Ergebnis, dass jede Sprache „um die Gunst der wählenden Schülerschaft [buhle]“. Zum damaligen Zeitpunkt schienen sich insbesondere die romanischen Schulsprachen, die traditionell die Stellung als zweite und/ oder dritte Fremdsprache innehaben, gegenseitig Konkurrenz zu machen. Und heute: Hat sich etwas an dieser Wahrnehmung geändert? Welche Stellung haben die romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem? Hat sich die konkurrierende Situation der zweiten und dritten Fremdsprachen evtl. sogar weiter verschärft? Tatsache ist, dass aufgrund der stets voranschreitenden Globalisierung immer mehr Sprachen in die Schulen drängen und das Sprachenangebot immer weiter wächst, die für das Erlernen einer Fremdsprache zur Verfügung stehende Zeit hingegen nicht steigt. Tatsache ist auch, dass trotz einzelner Flexibilisierungen, die von der Kultus- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Marcus B ÄR , Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 W UPPERTAL . E-Mail: mbaer@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik und Interkomprehensionsforschung, Aufgabenorientierung und Konstruktion komplexer Lernaufgaben für den Spanischunterricht, europäische Sprach- und Bildungspolitik. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 87 46 (2017) • Heft 1 ministerkonferenz (KMK) seit dem sog. Hamburger Abkommen aus dem Jahr 1964 vorgenommen worden sind, weiterhin nur an Schulformen, die zur Allgemeinen Hochschulreife führen, von den Schülerinnen und Schülern zwei Fremdsprachen belegt werden müssen; an allen anderen Schulformen kann eine zweite Fremdsprache als Wahlfach belegt werden (vgl. hierzu KMK 1964: §§ 9-13). Diese über 50 Jahre alte Regelung führt letzten Endes dazu, dass das von der Europäischen Kommission propagierte Ziel „Muttersprache plus zwei“ im Sinne einer Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit in Deutschland klar verfehlt wird und die Schülerinnen und Schüler hierzulande durchschnittlich 1,3 bis 1,4 Sprachen (inkl. Latein) im allgemeinbildenden Sekundarbereich erlernen (vgl. hierzu bspw. E URYDICE 2008: 66). Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Belegungszahlen keinerlei Rückschluss auf die tatsächlich im Fremdsprachenunterricht erworbenen Fertigkeiten und Kompetenzen erlauben. 2. Sprachkonkurrenz statt Sprachenfolge Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, dürfte es im Sinne des o.g. EU- Ziels im deutschen Bildungssystem eigentlich nicht darum gehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt „entweder Französisch oder Spanisch oder eine andere Sprache zu lernen“ (B ÄR 2012a: 245; Hervorhebungen im Original), da ein solches Entweder-Oder, vor dem letzten Endes alle Schülerinnen und Schüler der 6. oder 7. Klasse im Gymnasium stehen, dazu führt, dass in den Köpfen der Lernenden künstlich Mauern zwischen den Sprachen hochgezogen werden, die das Gegeneinander-Ausspielen der Sprachen befördern. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die bei C ASPARI / R ÖSSLER (2008: 61) zitierte Aussage eines Fachleiters für Französisch an einer Berliner Schule hingewiesen: „Solange ich an dieser Schule Französisch- Fachleiter bin, werden wir kein Spanisch bekommen. Dafür sorge ich“. Öffentlichkeitswirksam wurde dieses Gegeneinander der Sprachen bzw. die Angst vieler Französischlehrkräfte vor der steigenden Zahl der Spanischschülerinnen und -schüler bspw. auch im Spiegel unter dem Titel „Shakira schlägt Jacques Brel - Deutsche Schüler wollen lieber Spanisch als Französisch lernen“ im doppelten Sinne einseitig dargestellt (vgl. F RIEDMANN 2011). Dieser Artikel ist ein Paradebeispiel dafür, wie einfach es letzten Endes ist, allein durch die Darstellungsweise (Grafiken, …) oder auch durch eine gezielte Auswahl an Daten die öffentliche Wahrnehmung in die eine oder andere Richtung zu lenken und im konkreten Fall Missstimmung gegen die sog. Gallier-Lobby in den Ministerien zu schüren (vgl. ebd.). In der Regel verfehlen solche plumpen Stimmungsmacher ihr Ziel nicht. Es ist daher umso wichtiger, dass im Folgenden der Versuch unternommen wird, die zur Verfügung stehenden Datensätze des Statistischen Bundesamtes möglichst objektiv darzulegen und zugleich auf potenzielle Manipulationsfallen hinzuweisen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 88 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 2.1 Belegungszahlen laut Angaben des Statistischen Bundesamtes Es sei vorab erwähnt, dass die reinen Zahlen für ganz Deutschland nur einen sehr begrenzten Aussagewert haben, zumal die meisten Regelungen und Vorgaben sprachen- und bildungspolitscher Art länderspezifisch sind und sich daher viele beobachtbare Entwicklungen auch nur auf einzelne Bundesländer beziehen. Laut dem Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes betrug die Gesamtschülerzahl im Schuljahr 2014/ 15 etwa 8,3 Millionen (vgl. D ESTATIS 2015: 39). 1 Hiervon besuchten ungefähr 1,52 Millionen Schülerinnen und Schüler das Fach Französisch (18,4%), ungefähr 400.000 das Fach Spanisch (4,8%) und etwa 50.000 das Fach Italienisch (0,6%). Zehn Jahre zuvor lag die Gesamtschülerzahl noch bei etwa 9,5 Millionen, von denen wiederum knapp 1,69 Millionen das Fach Französisch belegten (17,7%), ca. 210.000 das Fach Spanisch (2,2%) und knapp 45.000 das Fach Italienisch (0,5%). Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine romanische Schulsprache belegen, wächst, auch wenn im Falle von Französisch die absolute Zahl in den letzten Jahren gesunken ist. Es wird zudem deutlich, dass die Zahl der Französischlernenden in etwa vier Mal so hoch ist wie die Zahl der Spanischlernenden, die wiederum acht Mal so hoch ist wie die Zahl der Italienischlernenden. Je nach Stoßrichtung der beabsichtigten Aussage kann man nun hervorheben, dass sich die Zahl der Spanischlernenden in den letzten zehn Jahren deutschlandweit etwa verdoppelt hat (oder - bei Wahl des Zeitraums von 2000/ 2001 bis 2010/ 2011 - um über 200% gestiegen ist, vgl. hierzu B ÄR 2012b: 36), während im gleichen Zeitraum die Zahl der Französischlernenden um knapp 200.000 abgenommen hat, oder aber der Fokus wird auf den seit Jahrzehnten stabilen bzw. leicht anwachsenden Anteil von ca. 17 bis 19% der Schülerschaft gelegt, die das Fach Französisch wählen, während der Anteil der Spanischlernenden trotz (angeblichen) Booms noch immer unter 5% liegt und somit über 95% der Schülerschaft keinen Kontakt mit der spanischen Sprache haben. Wie bereits angedeutet, bilden die genannten Zahlen keine Grundlage für eine sachgerechte Diskussion, da die Belegungen in den einzelnen Bundesländern z.T. sehr unterschiedlich sind. So schwankt der Anteil der Spanischlernenden zwischen 16,9% in Hamburg und nur 1,9% in Rheinland-Pfalz (über alle Schuljahre hinweg), der Anteil der Französischlernenden ist im Saarland mit 59,9% am größten und in Bremen mit 11,9% am geringsten. 2 In Hamburg und Bremen übersteigt die Zahl der Spanischlernenden die Zahl der Französischlernenden, auch wenn in Bremen die Schülerzahl, die Spanisch belegt, gegen den bundesweiten Trend in den letzten zehn Jahren um fast ein Viertel abgenommen hat. Und Italienisch? Fast 80% der Italie- 1 Sämtliche Berechnungen erfolgen unter Ausschluss der folgenden Schulformen: Vorklassen, Schulkindergärten, Abendschulen, Kollegs. 2 Betrachtet man innerhalb eines Bundeslands die Anteile in einzelnen Schulformen und/ oder Jahrgangsbereichen, wird man u.a. feststellen, dass im Saarland nahezu 90% der Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I an Gymnasien das Fach Französisch belegen, aber zugleich auch über 12% dieser Schülerschaft das Fach Spanisch. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 89 46 (2017) • Heft 1 nischlernenden finden sich in NRW, Bayern und Baden-Württemberg; in allen anderen Bundesländern spielt das Fach Italienisch nur eine marginale Rolle. Eine solche marginale Rolle spielt auch das Spanische in nahezu allen Schulformen mit Ausnahme des Gymnasiums und der Gesamtschulen. Hier wiederum kann es vor allem im Sekundarbereich II punkten: Am Gymnasium belegen 18,3% der Oberstufenschülerinnen und -schüler das Fach Spanisch, an Gesamtschulen sogar 36,9%. An Schulformen wie Haupt- und Realschulen, die infolge des o.g. Hamburger Abkommens nur eine Pflichtfremdsprache kennen, liegt der Anteil der Spanischlernenden hingegen unter 1%. 2.2 Moderner Imperialismus im deutschen Schulsystem Der kleine Exkurs in die Zahlenwelt sollte ausreichen, um nachvollziehen zu können, dass die Unterschiede sowohl in den einzelnen Bundesländern als auch in den jeweiligen Schulformen und Jahrgangsstufen zu groß sind, um allgemeingültige Aussagen zu treffen bzw. pauschale Antworten à la Spiegel im Hinblick auf die konkurrierende Situation der Fremdsprachen im deutschen Bildungssystem zu geben. Die vielfach zitierte Konkurrenz der (zweiten, dritten, …) Fremdsprachen ergibt sich schlichtweg aus dem Fakt, dass im deutschen Bildungssystem nur an einer Schulform (Gymnasium) zwei Fremdsprachen (für eine gewisse Zeit) belegt werden müssen, von denen eine (Englisch) gesetzt ist. Diese Tatsache ist dahingehend zu bedauern, dass eine von der Europäischen Kommission propagierte (wichtige und richtige) Zielsetzung, nämlich dass jede(r) Bürgerin und Bürger Europas neben ihrer/ seiner Muttersprache über Kenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen verfügen sollte, in Deutschland nicht flächendeckend umsetzbar ist und die Schülerinnen und Schüler somit statt zu einer individuellen Mehrsprachigkeit eher zu einer Zweisprachigkeit (bei Berücksichtigung der qualitativen Komponente in vielen Fällen auch nur zu einer Anderthalbsprachigkeit) erzogen werden: „Aus dem stereotypen Sprachenpaar Deutsch plus Englisch kann sehr leicht, statt einer Basis für echte Mehrsprachigkeit, eine Form der Anderthalbsprachigkeit entstehen, die nur ein paar Schritte aus der Einsprachigkeit herausführt und insofern eine kulturelle Sackgasse darstellt“ (W EINRICH 2002: 35). Die sprachen- und bildungspolitischen Vorgaben führen somit dazu, dass alle an Schulen angebotenen Sprachen (und nicht nur die typischen romanischen Schulsprachen Französisch, Spanisch und Italienisch) mit Ausnahme des Englischen in Konkurrenz stehen. Für jede einzelne Sprache ließen sich diverse Gründe finden, sie zu erlernen, aber das hiesige Schulsystem lässt dies nicht zu, sondern privilegiert durch Festlegungen zur Sprachenreihenfolge, Stundentafel, Versetzungsrelevanz usw. einige wenige und ganz besonders das Englische. Der Aussage von Antonio de Nebrija folgend, der im Prolog zur ersten Grammatik des Spanischen aus dem Jahr 1492 den Satz „Siempre la lengua fue compañera del imperio“ prägte und somit die Bedeutung von Sprachenpolitik unterstrich, könnte man heute - mehr als 500 Jahre später - von einem modernen Imperialismus sprechen. Es soll durch diese Einschät- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 90 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 zung aber keinesfalls der Eindruck entstehen, dass das Fach Englisch als Schuldiger im Sinne einer bislang nicht realisierten Entwicklung hin zu einer individuellen Mehrsprachigkeit definiert werden soll. Dies wäre zu kurz gedacht, zumal eine (simple) Erweiterung des Sprachenangebots sowie eine stärkere Flexibilisierung der Sprachenreihenfolge in sich keinen Beitrag hierzu leisten würden, denn: „Die Tatsache, dass 13 statt 2 Sorten Frischkäse in einem Supermarkt angeboten werden, bedeutet nicht, dass jeder Kunde von nun an mehr Frischkäse kauft“ (E DMONDSON 2004: 40). Ist der Wegfall der Konkurrenzsituation das Ziel bei gleichzeitiger Erfüllung des EU-Ziels, so müsste das Fremdsprachenangebot radikal (auf zwei? ) gekürzt werden und für alle Schulformen die Belegung zweier (bzw. dieser zwei? ) Fremdsprachen verpflichtend sein. Ein solches Vorgehen wäre weltfremd und an Unsinnigkeit nicht zu überbieten. Ein größeres und vielfältigeres Fremdsprachenangebot verschärft hingegen die Konkurrenzsituation - wohlgemerkt nur unter der Prämisse, dass die Anzahl der zu lernenden Fremdsprachen weiterhin mit eins oder zwei festgelegt bleibt und de facto bspw. aus personaltechnischen Überlegungen (Lehrkräfte im Landesdienst) sowie Ressourcen im Rahmen der universitären Lehrerausbildung (Professuren für die Didaktik der einzelnen Fächer) oder auch studientechnische Vorgaben (Latinum 3 ) bestimmte Sprachen zur Auswahl stehen und erst zu einem bestimmten Zeitpunkt angewählt werden können. Insbesondere in Zeiten eines wachsenden kulturellen Radikalismus ist bzw. wäre das Erlernen mehrerer Sprachen nötiger denn je, zumal die mehrheitlich anzutreffende „Fremdsprachen-Monokultur“ nicht den erforderlichen Weitblick ermöglicht sowie die Erlebbarkeit transkultureller kommunikativer Kompetenz massiv einengt (vgl. hierzu R EIMANN 2016). Eine stärkere Flexibilisierung bei der Belegung von Fremdsprachen wäre zudem dahingehend zu begrüßen, dass der (individuelle) Fremdsprachenbedarf einer Schülerin bzw. eines Schülers nicht vorhersagbar ist und es somit einer mehrsprachigen Fremdsprachenausbildung bedarf, die - an allen Schulformen - das Erlernen einer zweiten Fremdsprache obligatorisch und das Erlernen weiterer Fremdsprachen fakultativ vorsieht. 3 Hinsichtlich des Latinums wurde bspw. in NRW am 25.04.2016 u.a. §11, der den „Nachweis fremdsprachlicher Kenntnisse“ in der „Verordnung über den Zugang zum nordrhein-westfälischen Vorbereitungsdienst für Lehrämter an Schulen (Lehrerzugangsverordnung - LZV)“ regelt, dahingehend geändert, dass die erforderlichen fachwissenschaftlichen Kenntnisse in den Fächern Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch nicht mehr auf Kenntnissen in Latein beruhen müssen, was faktisch einer Abschaffung des Latinums als Zugangsvoraussetzung für die genannten Fächer entspricht. Allerdings wurde den einzelnen Hochschulen in §11, Abs. 3 zugestanden, in ihren Prüfungsordnungen weitergehende Anforderungen zu stellen. Dies hat nun zur Folge, dass die Universität Bonn zum Wintersemester 2017/ 18 Lateinkenntnisse als Sprachvoraussetzung wieder einführen will (vgl. hierzu die Internetseiten des Bonner Zentrums für Lehrerbildung), während die Bergische Universität Wuppertal am 26.08.2016 in den Allgemeinen Bestimmungen der Prüfungsordnung für die Studiengänge Master of Education in §2, Abs. 3 die Nennung der Fächer Englisch, Französisch und Spanisch bereits gestrichen hat, für deren Studium bislang Lateinkenntnisse erforderlich waren. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass in NRW für das Lehramt an Berufskollegs mit beruflicher Fachrichtung nur noch Kenntnisse in einer Fremdsprache nachzuweisen sind (vgl. §11, Abs. 1 der LZV vom 25.04.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 91 46 (2017) • Heft 1 3. Gegenwärtige sprachenpolitische Tendenzen in ausgewählten Bundesländern 3.1 Mit einer Fremdsprache zum Abitur Aktuelle Tendenzen in einzelnen Bundesländern zeigen allerdings in eine andere Richtung: So war bspw. in der Hannoverschen Allgemeine vom 26. Juni 2015 ein Artikel mit „Ohne zweite Fremdsprache zum Abitur? “ überschrieben (D ÖHNER 2015), der Weser-Kurier titelte am 7. Juli 2015 „Streit über die zweite Fremdsprache“ (M LODOCH 2015). Erläutert werden Pläne der Landesregierung, die zweite Fremdsprache auch an Gymnasien bereits nach Klasse 10 abwählen zu können, was zur Folge hätte, dass nach der in Niedersachsen vollzogenen Rückkehr von G8 zu G9 in der gymnasialen Oberstufe ggf. nicht mehr zwei Fremdsprachen von den Schülerinnen und Schülern belegt werden müssen, sofern die Pflichtzeit bereits im Sekundarbereich I erfüllt worden ist. Da eine solche Regelung vor allem die zweiten Fremdsprachen, also vorrangig Französisch und Spanisch (und in Deutschland kurioserweise auch Latein), betrifft, verwundert es nicht, dass bspw. der Landesverband Niedersachsen des Deutschen Spanischlehrerverbands in einem Schreiben an die niedersächsische Kultusministerin unter Verweis auf eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz (KMK 2011) die anvisierte Abschaffung der Pflichtbelegung in Klasse 11 scharf kritisiert (vgl. K RAFT 2015). Die KMK-Empfehlungen beginnen mit dem allgemeinen Hinweis, dass die „Vielfalt der Sprachen und Kulturen (…) ein Reichtum [sei], den es durch geeignete Bildungsmaßnahmen zu erschließen [gelte]“ (KMK 2011: 2). Da dem Fremdsprachenunterricht hierbei „eine besondere Rolle“ zukomme, indem er „zielorientierte Kommunikationsfähigkeit“ schaffe und „interkulturelle Handlungskompetenz“ entwickle, müssten diese Zielsetzungen „mit unter den Ländern abgestimmten Sprachlernangeboten“ erreicht werden - „beginnend mit einem flächendeckend etablierten qualitativ hochwertigen Fremdsprachenunterricht im Primarbereich bis hin zu einem vielfältigen Fremdsprachenangebot in den weiterführenden Schulen“ (ebd.). Eine entgegengesetzte Meinung vertritt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): Statt den Verlust sprachlicher und kultureller Vielfalt zu beklagen, sieht die GEW in dem „Wegfall der Pflicht zur zweiten Fremdsprache in 11 (…) nicht weniger Unterricht und Niveau, sondern“ die Erweiterung der „Möglichkeiten für die Naturwissenschaften, die gesellschaftswissenschaftlichen und die ästhetischen Fächer und auch die Fremdsprachen selbst“, da hierdurch die Sekundarstufe II „um interessante und hoch qualifizierte Angebote“ erweitert werden könnte (S AUERLAND 2015). Begründet wird die Einschätzung mit dem Hinweis, dass die Belegung einer zweiten Fremdsprache in den Klassen 6 bis 10 ausreiche, was laut KMK-Beschluss zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe formal stimmt (vgl. KMK 1972/ 2013: 9), aber dennoch verheerende Auswirkungen auf die Fortführung der zweiten Fremdsprache in der Qualifikationsphase haben dürfte, zumal nach einer Abwahl nach Klasse 10 eine potenzielle Wiederaufnahme in Klasse 12 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 92 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 verhindert würde und somit eine weitere Engführung auf das Englische zu erwarten wäre. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass trotz eventuell gleichbleibender Anforderungen in Bezug auf die Dauer der Belegungspflicht der zweiten Fremdsprache (bei G9: 7.-11. Klasse, bei G8: 6.-10. Klasse) lern- und entwicklungspsychologische Faktoren durch die Vorverlegung von Klasse 7 auf Klasse 6 in der Diskussion zumeist unberücksichtigt bleiben. 4 Das niedersächsische Kultusministerium (NKM) hat daraufhin im Februar 2016 einen Änderungsentwurf zur Verordnung über die gymnasiale Oberstufe (VO-GO) veröffentlicht. In § 8, Abs. 2 heißt es zunächst, dass „jede Schülerin und jeder Schüler […] am Unterricht in zwei Fremdsprachen teilnehmen [muss]“, um diese Pflicht sogleich in Abs. 3 wie folgt einzuschränken: „Abweichend von Absatz 2 kann der Schulvorstand beschließen, von der verpflichtenden Belegung einer zweiten Fremdsprache abzusehen und zusätzlich ein Wahlpflichtangebot einzurichten. Der Unterricht findet im Umfang von drei Wochenstunden statt. […] Die Verpflichtung der Schule, Unterricht in einer zweiten Fremdsprache anzubieten, bleibt hiervon unberührt“ (NKM 2016a: 1f.). Das NKM verteidigt den Änderungsentwurf dahingehend, dass durch den möglichen Wegfall einer Belegungspflicht die Schulen einen größeren Spielraum erhalten und zudem „Schülerinnen und Schüler, die bereits im 11. Schuljahrgang wissen, dass sie ein anderes Profil in der Qualifikationsphase anwählen möchten, [sich] dann schon in der Einführungsphase durch das zusätzliche Wahlpflichtangebot intensiv auf die entsprechenden Schwerpunktfächer vorbereiten“ (NKM 2016b). Den Stellungnahmen diverser Verbände, unter ihnen des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen Niedersachsen, des Landesverbands Niedersachsen des Deutschen Spanischlehrerverbands und des Philologenverbands Niedersachsen, ist eine deutliche Kritik an der geplanten Neuregelung zu entnehmen, die vorgesehene Verbindlichkeit zur Belegung einer zweiten Fremdsprache in der Einführungsphase durch einen Beschluss des jeweiligen Schulvorstands aufheben zu können 5 : „Der FMF Niedersachsen lehnt eine derartige de facto-Optionalität grundsätzlich ab, da diese Regelung eine enorm wichtige fremdsprachenpolitische Entscheidung an ein Gremium einer Schule überträgt, dessen Entscheidung interessegeleitet und von kurz- und mittelfristig angelegten Motiven abhängig sein wird“ (S CHÜLER 2016: 1; Hervorhebungen im Original). Stattdessen wird gefordert, „in puncto Fremdsprachen eine Position einzunehmen, die dem Erlernen von modernen Fremdsprachen eine klare curriculare Priorität einräumt“ (ebd.). Ergänzend verweist K RAFT (2016: 2) darauf, dass „eine solch bildungsrelevante Entscheidung auf der Basis eines richtungsweisenden fremdsprachenpolitischen Konzepts zu treffen [sei]“ und dass die „Verantwortung für die Zukunftsperspektiven der Schüler(innen) […] nicht auf ein 4 Weitergehende Ausführungen zu den Auswirkungen auf die Sekundarstufe I (G8/ G9) erfolgen am Ende von Kapitel 3.1. 5 Laut § 38b des seit 01.08.2015 geltenden Niedersächsischen Schulgesetzes besteht der Schulvorstand aus Lehrkräften (50%), Erziehungsberechtigten (25%) sowie Schülerinnen und Schülern (25%). Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit (Ja/ Nein) gefällt. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 93 46 (2017) • Heft 1 ständig wechselndes Gremium der unteren Ebene verlagert werden [dürfe]“, da eine solche Entscheidung „originär der obersten Schulbehörde“ obliege. Den hier nur exemplarisch verdeutlichten Einwänden der Verbände kann auch aus fremdsprachendidaktischer Sicht nur beigepflichtet werden: Ein von einem Gremium der unteren Ebene vollzogener Tausch (von einer Fremdsprache zu einem wie auch immer gearteten Wahlpflichtangebot) ist ein bedeutender Verlust des Bildungswerts, das das (Weiter-)Lernen von Sprachen und Kulturen nicht ersetzen kann. Zudem ist davon auszugehen, dass die Vorverlegung in Klasse 10 im Hinblick auf die Entscheidung, ob eine Schülerin bzw. ein Schüler in der Qualifikationsphase (Klassen 12 und 13) einen Kurs auf grundlegendem oder erhöhtem Niveau belegen will, dazu führt, dass mehr Abwahlen der Fächer Französisch und Spanisch erfolgen werden, da die Schülerinnen und Schüler zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht überblicken können, welche Konsequenzen hiermit verbunden sind und sich stattdessen mehrheitlich von kurzfristigen Überlegungen leiten lassen bzw. den Weg des geringsten Widerstands wählen werden. In der Folge werden in der Qualifikationsphase deutlich weniger Schülerinnen und Schüler als bisher eine (zweite oder dritte) Fremdsprache belegen und somit eine Vielzahl von Lernenden tatsächlich lediglich mit (profunden) Kenntnissen in einer Fremdsprache, nämlich im Englischen, die Hochschulreife erwerben. Denkbar ist sogar, dass die Einrichtung von Kursen in der Qualifikationsphase - unabhängig davon, ob auf grundlegendem oder erhöhtem Niveau - durch den geringeren oder gänzlich fehlenden Zulauf aus der Einführungsphase entweder erschwert oder nahezu unmöglich wird. Wie Erfahrungen bspw. aus Hamburg zeigen, wo die Verpflichtung zur Belegung einer zweiten Fremdsprache in der gymnasialen Oberstufe abgeschafft wurde, finden Kurse in der Q1 und Q2 aufgrund der geringen Schülerzahlen oftmals jahrgangsübergreifend statt. Solche jahrgangsbzw. niveauübergreifende Kurse sind für das (Weiter-)Lernen jedweder Fremdsprache aus didaktischer Sicht als ungeeignet einzustufen und mindern die Erfolgschancen einer jeden Schülerin bzw. eines jeden Schülers, die bzw. der daran interessiert ist, ihre bzw. seine Fremdsprachenkenntnisse kontinuierlich zu erweitern und zu festigen. Es muss insgesamt festgehalten werden, dass die vorgeschlagenen Änderungen nahezu sämtliche Überlegungen und Bemühungen konterkarieren, die individuelle Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, was wiederum im Zuge der immer weiter fortschreitenden Globalisierung letzten Endes alternativlos ist. In der Konsequenz werden in Deutschland noch weniger Schülerinnen und Schüler als bisher das EU-Ziel „Muttersprache plus zwei“ erreichen und schlechter auf interkulturelle Handlungssituationen vorbereitet sein. Es bleibt daher zu hoffen, dass im Falle Niedersachsens die Einwände der Verbände von der Landesregierung gehört und berücksichtigt werden, um einem langsamen (aber ziemlich sicheren) Aussterben der zweiten Fremdsprache(n) in der gymnasialen Oberstufe entgegenzuwirken. Die genannten Regelungen haben darüber hinaus auch Auswirkungen auf den Bereich der Sekundarstufe I. Wie bereits weiter oben angedeutet, würden zwar - wie von der GEW beschrieben - durch die Rückkehr von G8 zu G9 beim Wegfall der Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 94 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 Belegverpflichtung in Klasse 11 in Niedersachsen keine Stunden für die zweiten Fremdsprachen verloren gehen, da die frühere Verpflichtung (7.-11. Klasse) durch die Summe der Belegungen in den Klassen 6 bis 10 gleich bleiben würde, allerdings berücksichtigt diese Aussage nicht die entwicklungs- und lernpsychologischen Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schüler der Klassen 6/ 7 bzw. 10/ 11. Durch den frühe(re)n Beginn der zweiten Fremdsprache in Klasse 6 (statt 7) ist die erste Fremdsprache bei Schülerinnen und Schülern (nach einem Jahr G8) oftmals noch nicht derart gefestigt, dass sich über sie Erschließungsmöglichkeiten auf sprachlicher und methodisch-strategischer Ebene ergeben und somit die Transfermöglichkeiten von einer ersten auf weitere Fremdsprachen - im Sinne einer Brückensprache 6 - deutlich geringer sind. Die bewusste Nutzung von Transferbasen (insbesondere auf sprachlicher Ebene) zur Förderung und Entwicklung einer individuellen Mehrsprachigkeit (im Sinne eines integrierten statt additiven Begriffsverständnisses) erfordert von den Schülerinnen und Schülern eine kognitive Reife, die in Klasse 6 häufig noch nicht gegeben ist. Es sollte daher grundsätzlich geprüft werden, die Belegungspflicht der zweiten Fremdsprachen in die Klassenstufen 7 bis 11 (statt 6 bis 10 bzw. 11) zu verlegen, zumal zudem die sich durch G8 vielerorts ergebende Hauptbelastung in der Unter- und Mittelstufe ein wenig entschärft werden könnte. Auf diese Weise würde sich auch keine Anschlusslücke zur Qualifikationsphase ergeben, die derzeit in Bundesländern entstanden ist, die die Belegpflicht in Klasse 11 mit dem Hinweis abgeschafft haben, dass der für das Abitur vorgeschriebene Nachweis zweier Fremdsprachen durch die Vorverlegung in Klasse 6 bereits nach Klasse 10 erfüllt ist. Während bspw. Nordrhein-Westfalen sowohl für das Gymnasium (G8) als auch für die Gesamtschulen (G9) den Beginn der zweiten Fremdsprache grundsätzlich in Klasse 6 vorsieht (vgl. MSW NRW 2012: §§ 17 und 19), gestattet Niedersachsen seinen Integrierten Gesamtschulen (G9) die Möglichkeit, eine zweite Fremdsprache „erst ab Schuljahrgang 7 anzubieten“ (NKM 2014: 444). 7 Aufgrund der vorherigen Ausführungen sollte bestenfalls auch den (G9-)Gymnasien in Niedersachsen eine solche Möglichkeit zugestanden werden, sodass es zu einer Gleichstellung bezüglich der Wahlmöglichkeit des Beginns der zweiten Fremdsprache kommt (vgl. hierzu auch K RAFT 2016: 3). 3.2 Anzahl der zweiten Fremdsprachen im Angebot der Schulen Um beim Beispiel Niedersachsen zu bleiben: Beachtenswert erscheint zu dem bisher Gesagten auch der weiter oben zitierte (zunächst unscheinbar wirkende) Satz hin- 6 Der Begriff „Brückensprache“ geht auf die von Horst G. K LEIN und Tilbert D. S TEGMANN entwickelte Methode der sieben Siebe (EuroCom) zurück und bezeichnet diejenigen Sprachenkenntnisse, die von Lernenden als „Brücke“ (Transferbasen) zwischen Ausgangs- und Zielsprache genutzt werden, um die neu zu erlernende Sprache (rezeptiv) schneller und effizienter zu erschließen (vgl. K LEIN / S TEGMANN 2000). 7 Eine solche Entscheidung kann „der Schulvorstand mit Zustimmung des Schulelternrats“ treffen (vgl. ebd.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 95 46 (2017) • Heft 1 sichtlich der schulischen Verpflichtung, Unterricht in einer zweiten Fremdsprache während der Einführungsphase anbieten zu müssen (§ 8, Abs. 3, Satz 5). Wie K RAFT (2016: 1) betont, lässt die Formulierung „die Lesart zu, dass die Schule aus ihrem Kanon der zweiten Fremdsprachen lediglich eine einzige zweite Fremdsprache in der Einführungsphase anbieten muss“. Eine solche Auslegung ist zwar nicht unbedingt zu erwarten, könnte aber - z.B. aufgrund knapper werdender finanzieller Ressourcen oder einer bestimmten Personalsituation - als legale Verknappung des Angebots ausgenutzt werden. Die oben zitierte Vielfalt der Sprachen und Kulturen (vgl. KMK 2011: 2) kann - auch angesichts des weiter oben erläuterten Zitats von E DMONDSON (2004: 40) - nur erhalten werden, wenn ein Mindestmaß an Sprachenvielfalt von den Schulen angeboten wird, zumal das Vorhalten lediglich einer (zweiten) Fremdsprache diese in ungerechtfertigter Art und Weise privilegieren und den Weg zu einem oben angesprochenen modernen Imperialismus ebnen würde. Alles andere wäre ein Verstoß gegen die ethische Prämisse der Gleichwertigkeit aller Sprachen. Sollten (einzelne) Schulen dennoch - aus welchen Gründen auch immer - nur eine vorab festgelegte (zweite) Fremdsprache in der Einführungsphase anbieten wollen oder können, so hätte dies auch unweigerlich Auswirkungen auf die Wahl derselben in Klasse 6 und somit letzten Endes auch auf die von einzelnen Bildungspolitikern immer wieder zur Schau gestellten vielfältigen Sprachangebotspaletten in der Sekundarstufe I, die in Teilen hinfällig wären. 8 3.3 Sinkende Anwahlzahlen durch neue Belegauflagen Obwohl aus den zu Beginn genannten Zahlen des Statistischen Bundesamts erkennbar wird, dass die Belegungszahlen für Französisch, Spanisch und Italienisch trotz sinkender Gesamtschülerzahl seit mehreren Jahren stabil sind oder gar ansteigen, soll im Folgendem ein zweites Beispiel angeführt werden, das exemplarisch das Dilemma der zweiten (und dritten) Fremdsprachen verdeutlicht. Im Land Bremen hat die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die Spanisch als zweite oder dritte Fremdsprache anwählen, in den letzten Jahren gegen den Bundestrend deutlich abgenommen. Die sinkenden Anwahlzahlen haben u.a. mit der Auslagerung des Unterrichts zweiter und dritter Fremdsprachen in weniger attraktive Randstunden zu tun, aber auch mit der Pflicht, in der Einführungsphase 9 mindestens zwei naturwissenschaftliche Fächer (Biologie, Chemie oder Physik) im Umfang von sechs Wochenstunden sowie insgesamt drei gesellschaftswissenschaftliche Fächer (Geschichte plus zwei weitere Fächer wie bspw. Geographie, Politik oder Religionskunde) im Umfang von 8 Vergleichbar erscheinen in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Ministeriums für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt auf eine Anfrage des Autors zur Situation des Spanischen in Sachsen-Anhalt, die verdeutlichen, dass Entwicklungen, das Wahlangebot der zweiten Fremdsprachen an Realschulen (bzw. in der dortigen Denomination Sekundarschulen) ab Klasse 7 gezielt um weitere Sprachen wie bspw. Spanisch zu erweitern, aufgrund der personellen Situation bzw. der Anzahl der entsprechend ausgebildeten Lehrkräfte nicht beabsichtigt seien. 9 Die Einführungsphase entspricht in Bremen der 10. Jahrgangsstufe (G8). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 96 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 ebenfalls sechs Wochenstunden zu belegen (vgl. SKBB 2015: 5, 16). Zusammen mit den weiteren Belegauflagen hat dies zu einem starken Rückgang bei der Belegung zweiter und dritter Fremdsprachen geführt. Schülerinnen und Schüler, die an der Belegung weiterer Fremdsprachen während der Oberstufenzeit interessiert sind, werden durch die sich hieraus ergebenden nahezu unverantwortlich hohen Stundenbelastungen von 37 Wochenstunden (und mehr) abgeschreckt, sodass auch hier ein Weg in Richtung Zweistatt Mehrsprachigkeit für die Mehrzahl der Abiturientinnen und Abiturienten eingeschlagen worden ist. 10 Verschärft wird diese Problematik durch das System der sog. „Profiloberstufe“, das nicht nur in Bremen, sondern bspw. auch in Hamburg dazu geführt hat, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine zweite (oder dritte) Fremdsprache auf erhöhtem Niveau belegen, sehr gering ist und somit die Dominanz des Englischen weiter perpetuiert wird. In Hamburg liegt ein weiterer Grund für die Aufwertung des Englischen gegenüber den zweiten Fremdsprachen in der erfolgten Reduzierung der Mindeststundenzahl für die zweite Fremdsprache (Wahlpflichtfach ab Jahrgangsstufe 6 oder 7 bis Jahrgangsstufe 10) auf mind. 532 Unterrichtsstunden, die im Jahr 2011 im Rahmen der Änderungen der sog. Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Grundschule und die Jahrgangsstufen 5 bis 10 der Stadtteilschule und des Gymnasiums (APO-GrundStGy 11 ) erfolgte (vgl. BSB HH 2011: 35, 44). 12 4. Schlussfolgerungen Der Blick hinter die Kulissen bzw. die Analyse einzelner Verordnungen und Auflagen, die die Situation der Fremdsprachen insgesamt, aber insbesondere der zweiten und dritten Fremdsprachen und somit explizit des Französischen und Spanischen betreffen, macht deutlich, dass es in der Summe in den letzten Jahren immer wieder Entscheidungen auf Seiten der Sprachen- und Bildungspolitik gegeben hat (z.B. Bremen und Hamburg) und weiter geben wird (z.B. Niedersachsen), die sehr konkret die Möglichkeiten und Optionen für Schülerinnen und Schüler einschränken, neben Englisch vertiefte Kenntnisse in weiteren Sprachen und Kulturen zu erlangen. Die zunächst im Jahr 1995 im sog. „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung - Lehren und Lernen“ der Europäischen Kommission formulierte und im Jahr 2002 beim Europäischen Rat in Barcelona bestärkte Zielsetzung „Muttersprache plus zwei“ wird - wie die erläuterten Beispiele gezeigt haben - von der deutschen Bildungspolitik entweder ignoriert oder in Teilen konterkariert. Sollte dieser Weg weiter verfolgt werden, wird Deutschland in Bezug auf die Förderung individueller Mehrsprachigkeit im europäischen Vergleich weiter zurückfallen und die (berufli- 10 Die hohen Stundenbelastungen sind in Teilen auch der Umstellung von G9 auf G8 geschuldet. 11 Als Stadtteilschulen werden in Hamburg seit der zum 1. August 2010 in Kraft getretenen Schulreform alle vorherigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen bezeichnet. 12 532 Unterrichtsstunden entsprechen 14 Wochenstunden - verteilt auf vier oder fünf Jahre (vgl. ebd.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 97 46 (2017) • Heft 1 chen) Chancen unserer Schülerinnen und Schüler auf einem globalisierten Arbeitsmarkt sinken. „Einsprachigkeit ist heilbar“ lautete 1997 der Titel eines von A MMON [et al.] herausgegebenen Sammelbands - es scheint an der Zeit zu sein, diesen Ausruf 20 Jahre später erneut und vielleicht lauter als jemals zuvor zu wiederholen. Literatur A MMON , Ulrich et al. (1997): Einsprachigkeit ist heilbar - Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Tübingen: Niemeyer. 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KG © 2017 Narr Francke Attempto Verlag 46 (2017) • Heft 1 H ENNING R OSSA * Lost in Translation Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards als bildungspolitische Steuerungsinstrumente für die Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch Abstract. The implementation of national educational standards for a number of (core-)subjects (including English and French as a foreign language) at the beginning of the new millennium is arguably the most significant initiative in Germany’s educational system in recent history. This reform is explicitly connected with the intention of monitoring the quality of education and promoting the development of effective teaching and learning practices in schools which aim at expanding learners’ competences. The present paper traces the developments which led to the introduction of educational standards as instruments of educational and language policies, and analyses their perceived influence on teaching practices and the academic discourse in the field of foreign language education. Some ten years after the first standards were implemented in schools, positive evidence of their instrumental impact is scarce. This is particularly apparent with a view to the objective of informing and promoting change in teaching practices. Reasons for this perceived lack of effectiveness are discussed, and a stronger emphasis on subject-specific concepts in schoolbased activities towards improving teaching practices in TEFL is proposed. 1. Einleitung: Unterrichtsentwicklung in Zeiten des Monitoringparadigmas Die Bildungsstandards für Englisch als erste (KMK 2003; KMK 2004) bzw. fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012) sind als Instrumente der curricularen Steuerung im Bildungssystem explizit mit der Intention verbunden, die Unterrichtsqualität durch die Vorgabe von Kompetenzerwartungen und die Rückmeldung von Ergebnissen regelmäßiger Kompetenzmessungen zu verbessern. Der Erfolg dieser bildungspolitischen Monitoringstrategie hängt also fundamental davon ab, inwiefern sich Schulen, Fachkonferenzen und individuelle Lehrpersonen tatsächlich in Prozessen der Unterrichtsentwicklung engagieren, die auf eine Veränderung der Praxis im Sinne der Standards abzielen. Gut zehn Jahre nach Einführung der ersten Bildungsstandards lassen die bislang vorliegenden Untersuchungen ein deutliches „Wir- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Henning R OSSA , Institut für Anglistik: Fachdidaktik Englisch, Fakultät Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften, Universität Trier, 54286 T RIER . E-Mail: henning.rossa@tu-dortmund.de Arbeitsbereiche: Lehrerbildung in der Fachdidaktik Englisch, Forschung zu sprachlichen Kompetenzen sowie zu Kognitionen von Lehrenden und Lernenden. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards 101 46 (2017) • Heft 1 kungsdefizit“ (L ANDWEHR 2015) erkennen. Der hier vorgelegte Beitrag diskutiert die grundsätzlichen Probleme, die die Innovationskraft und Wirksamkeit der Implementierung von Bildungsstandards im Kontext des Englischunterrichts bislang behindert haben und skizziert fremdsprachendidaktisch spezifizierte Gelingensfaktoren für eine evidenzbasierte und kompetenzorientierte Unterrichtsentwicklung. 2. Bildungs- und sprachenpolitische Faktoren, die den Weg zu Bildungsstandards beeinflusst haben Die politische und wissenschaftliche Diskussion um die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems war im Verlauf der 1990er Jahre von einer zunehmenden Schwächung etablierter Positionen der (sozialdemokratischen) Bildungspolitik charakterisiert. Zu diesen Positionen zählten z.B. die Ablehnung der Teilnahme an internationalen Leistungsvergleichen und die Favorisierung dezentraler Prüfungen. Stattdessen gewann die Diskussion der Frage an Bedeutung, wie die Wirksamkeit schulischer Bildung erfasst werden kann und welche Steuerungsinstrumente zur Qualitätssicherung im Bildungssystem geeignet sind. Als ersten Schritt in die Richtung einer „neuen Evaluationskultur“ legten die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder 1993 in ihrer „Vereinbarung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I“ fest, Standards für den Mittleren Schulabschluss in den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache abzustimmen (KMK 1993). Diese Standards wurden im Mai 1995 beschlossen und sollten „das Anspruchsniveau des mittleren Schulabschlusses verdeutlichen“ (KMK 1995: 24). Für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) wurden im gewohnten Vokabular der damals gültigen Curricula Inhalte, Themenbereiche und Ziele beschrieben, die in Bezug auf die folgenden fünf Bereiche präzisiert wurden; die ersten beiden Bereiche wiesen dabei deutliche Bezüge zu einem notional-functional syllabus (W ILKINS 1981) auf: 1. Sprachfertigkeiten (unterteilt in Kommunikationsbereiche sowie Mitteilungsabsichten/ Sprachfunktionen), 2. sprachliche Mittel, 3. Landeskunde/ Interkulturelles Lernen, 4. Umgang mit Texten, 5. Lern- und Arbeitstechniken. Es handelt sich bei diesem Beschluss um den Versuch, angesichts der großen Vielfalt der Bildungsgänge und Schulformen auf der Sekundarstufe I verbindliche und vergleichbare Leistungsanforderungen zu definieren. Drei Jahre später wird diese Motivation in den „Konstanzer Beschlüssen“ explizit offenbart, denn in diesem Dokument bekennt sich die KMK (1997b) zu der Aufgabe, die „Gleichwertigkeit der schulischen Ausbildung, die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse sowie die Durchlässigkeit des Bildungssystems“ zu prüfen und zu sichern. Dazu sei es notwendig, „in den Ländern Instrumente zur Evaluation zu entwickeln und zu erpro- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 102 Henning Rossa 46 (2017) • Heft 1 ben“ und „regelmäßige länderübergreifende Vergleichsuntersuchungen“ durchzuführen. Diese strategische Hinwendung zu einer zentral gesteuerten evidenzbasierten Evaluation ist auch als Reaktion auf die unbefriedigenden Ergebnisse der TIMMS- Studie zu Schülerleistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften (7. und 8. Jahrgangsstufe 1 ) zu verstehen. So heißt es in der offiziellen Pressemitteilung zur Plenarsitzung in Konstanz in einem geradezu beschwörenden Ton, dass angesichts der TIMMS-Ergebnisse eine „Kultur der Anstrengung von Bedeutung“ sei und dass eine Stärkung der „Wertschätzung des Lernens in Deutschland“ ebenso notwendig sei wie die „Verbesserung der Qualität und Organisation des entsprechenden Fachunterrichts an den Schulen“ (KMK: 1997a). In der 280. Plenarsitzung wird auch beschlossen, dass Deutschland zukünftig an weiteren internationalen Leistungsvergleichen, insbesondere an Studien im Rahmen der OECD (PISA), teilnehmen wird. Als dann im Dezember 2001 erste Ergebnisse zu PISA 2000 zeigen, dass die mathematisch-naturwissenschaftlichen und fächerübergreifenden Kompetenzen bei einem knappen Viertel der Fünfzehnjährigen auf Grundschulniveau liegen (vgl. D EUTSCHES PISA-K ONSORTIUM 2001), ist die KMK vorbereitet und veröffentlicht zeitgleich einen Handlungskatalog, der sieben Handlungsfelder enthält: 1. Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich 2. Bessere Verzahnung von vorschulischer Bildung und Grundschule: frühere Einschulung 3. Verbesserung der Grundschulbildung mit dem Ziel verbesserter Kompetenzen in den in PISA getesteten Domänen 4. Förderung bildungsbenachteiligter Kinder 5. Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule durch verbindliche Standards sowie eine ergebnisorientierte Evaluation 6. Systematische Schulentwicklung zur Stärkung der diagnostischen und methodischen Kompetenzen der Lehrkräfte 7. Ausbau schulischer und außerschulischer Ganztagsangebote (KMK 2002: 6-7). In der Folge - und vorbereitet durch die sogenannte „Klieme-Expertise“ (K LIEME et al. 2003) - werden Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss und den Hauptschulabschluss verabschiedet, mit denen, wie bereits 1993 vereinbart, verbindlich zu erreichende Vorgaben (Regelstandards) für diese Bildungsabschlüsse festgelegt werden. Die Standards sollen drei Funktionen erfüllen: Alle Beteiligten im Bildungssystem sollen sich an den angestrebten Lernergebnissen orientieren können, die Stan- 1 Zwei beispielhafte deskriptive Befunde zeigen, dass erstens die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler in anderen europäischen Ländern im Vergleich zu deutschen Schülerinnen und Schülern in Mathematik und Naturwissenschaften über einen Leistungsvorsprung von mehr als einem Schuljahr verfügen und zweitens ca. 20 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler in der Jahrgangsstufe 8 mathematische Leistungen zeigen, die nur den Anforderungen am Ende der Grundschulzeit entsprechen (vgl. B AU - MERT / L EHMANN 1997). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards 103 46 (2017) • Heft 1 dards sollen überprüft und zur Diagnose und Förderung im Unterricht eingesetzt werden. Die Überprüfung der Standards soll Daten in Bezug auf die Frage liefern, inwiefern Lernende die erwarteten Kompetenzen erwerben. Diese regelmäßigen Untersuchungen sollen in zwei Richtungen Feedback bereitstellen. Einerseits werden die Daten für Zwecke des Systemmonitorings genutzt, das die Qualität schulischer Bildung und den angemessenen Einsatz bildungspolitischer Ressourcen und Entwicklungsinstrumente sichern soll. Andererseits sollen die Erkenntnisse zur Standarderreichung als Impulse für die Schulentwicklung - gemeint ist im Kern die Unterrichtsentwicklung - in den Bundesländern umgesetzt werden (ebd.). Tatsächlich aber sind die ersten Jahre nach Einführung der Bildungsstandards davon gekennzeichnet, dass die Standards bei ihrer Vermittlung in der Praxis hauptsächlich mit den Begriffen „Leistungsmessung“ und „Testen“ verknüpft werden, wie T ILLMANN (2009: 23) feststellt: „Systematische, länderübergreifende und inzwischen in allen Ländern praxisrelevant gewordene Aktivitäten hat es nur in einem einzigen Handlungsfeld gegeben - nämlich im Handlungsfeld 5, bei der Qualitätssicherung durch ‚verbindliche Standards‘ und ‚ergebnisorientierte Evaluation‘“. Die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) beziehen sich in ihrem grundlegenden Konstrukt auf den Begriff der Kompetenz, die Unterscheidung von Kompetenzniveaus und entsprechende Deskriptoren in Form von can-do statements, wie sie der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GeR) für Sprachen darlegt (vgl. E UROPARAT 2001) 2 . Q UETZ und V OGT (2009) weisen zu Recht darauf hin, dass es sich hierbei um eine Adaptation handelt, die die selbstgesteckten Grenzen der Funktionalität des GeR deutlich überschreitet: Die Bildungsstandards verwandeln Kompetenzbeschreibungen, die als Referenz für konzeptuelle und empirische Arbeiten zur Beschreibung von Sprachkönnen gemeint sind, de facto in normative Setzungen. Für das Fach Englisch rückte neben den Bildungsstandards und dem außerordentlich lebhaft diskutierten GeR die zwischen 2001 und 2006 durchgeführte DESI- Studie „Deutsch Englisch Schülerleistungen International“ die Fragen in den Mittelpunkt, wie die fremdsprachlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe differenziert erfasst und beschrieben werden können und welche Zusammenhänge zwischen dem Lernerfolg und Merkmalen der Alltagspraxis im Englischunterricht (z.B. Sprechanteil der Schülerinnen und Schüler am Unterrichtsgespräch) bestehen (B ECK / K LIEME 2007; DESI-K ONSORTIUM 2008). Die rasche Einführung verbindlicher Bildungsstandards für die erste Fremdsprache schien zunächst durch Erkenntnisse aus TIMMS und PISA über unzureichende Lernergebnisse in anderen Domänen, vornehmlich in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in fächerübergreifenden Kompetenzbereichen (insbesondere Lesekompetenz) motiviert zu sein. Die DESI-Ergebnisse machten aber sehr 2 Die Bildungsstandards für die erste Fremdsprache lassen sich auch als Bekenntnis lesen, das übergeordnete Ziel europäischer Sprachenpolitik zu unterstützen, alle Bürger Europas mögen neben ihrer Muttersprache mindestens zwei Fremdsprachen erwerben (vgl. C OUNCIL OF E UROPE 2000; K OMMISSION DER E UROPÄISCHEN G EMEINSCHAFTEN 2008). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 104 Henning Rossa 46 (2017) • Heft 1 wohl deutlich, dass Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung auch im Englischunterricht angezeigt sind, da eine große Gruppe von Lernenden - in Hauptschulen, Integrierten Gesamtschulen und Schulen mit mehreren Bildungsgängen gilt dies für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler - weder die curricular vorgegebenen, noch die in den Bildungsstandards ausgewiesenen Anforderungen 3 bewältigen können. Die 2003 bzw. 2004 veröffentlichte erste Generation der Bildungsstandards für das Fach Englisch ist in der fachdidaktischen Diskussion überwiegend sehr kritisch rezipiert worden (vgl. B AUSCH et al. 2005, 2009; B REDELLA 2006). Die Kritik bezieht sich vornehmlich auf den funktionalen Bildungsbegriff, der sich hinter den Kompetenzbeschreibungen verberge. Aufgrund der normativen Wirkung der Standards, die angesichts des zunehmenden Evaluationsdrucks durch Lernstandserhebungen, Ländervergleiche und zentrale Abschlussprüfungen noch verstärkt werde, sei zu befürchten, dass inhaltlich bedeutsame, persönlichkeitsbildende sowie kreativästhetische Bildungsprozesse in der Unterrichtspraxis zukünftig vernachlässigt werden (vgl. R OSSA 2016). Auch die direkte Übernahme von Kompetenzdeskriptoren aus Skalen des GeR sowie die Festsetzung der Niveaustufen A2 und B1 für den Hauptschulabschluss bzw. den Mittleren Schulabschluss wird skeptisch gesehen, da diese Verwendung des GeR, wie bereits in Abschnitt 1 ausgeführt wurde, weit über seine intendierte Referenzfunktion hinausgeht und dabei eine Objektivität und Absolutheit der Kompetenzskalen suggeriert, die angesichts der vielfältigen Quellen der Deskriptoren und der empirischen Grundlage ihrer Entwicklung nicht realistisch ist (vgl. Q UETZ / V OGT 2009). Q UETZ und V OGT (ebd.: 84) weisen zudem darauf hin, dass mit dieser missbräuchlichen Nutzung des GeR auch die inhaltlich problematischen Aspekte der Referenzskalen (z.B. die fehlende Systematik und Konsistenz der zudem teils wenig konkret formulierten Deskriptoren) übernommen wurden. Die 2012 veröffentlichten Standards für die Allgemeine Hochschulreife (fortgeführte Fremdsprache Englisch/ Französisch) (KMK 2012) sind angesichts dieser Monita aus einer fachdidaktischen Perspektive durchaus als positive Weiterentwicklung einzuschätzen, da hier eine ganze Reihe bedeutsamer Aspekte fremdsprachlichen Lehrens und Lernens - die interkulturelle kommunikative Kompetenz (vgl. V OGT 2016), die Text- und Medienkompetenz, die Sprachbewusstheit und die Sprachlernkompetenz - umfassender und eigenständiger beschrieben und spezifiziert wurden. Auch die Orientierungsfunktion der Bildungsstandards wurde stärker als zuvor berücksichtigt. So wurden etwa 270 von 300 Seiten im Dokument für illustrierende Prüfungs- und Lernaufgaben verwendet, die zuvor in kleinen Stichproben erprobt worden waren. Außerdem verfolgt die KMK das Ziel einer „länderübergreifende[n] Kalibrierung der Bewertungsanforderungen sowie letztlich der Bewertungspraxis von Schülerleistungen in Abiturprüfungen“ (S TANAT / P ANT 2013: 6), so dass die mit 3 Die Entwicklung der DESI-Testinstrumente stützte sich auf eine Analyse der 2001 gültigen Lehr- und Rahmenpläne in den Bundesländern. Im Rahmen der Berichterstattung wurden die Ergebnisse dann auch mit Blick auf die zwischenzeitlich verabschiedeten Bildungsstandards interpretiert (vgl. DESI- K ONSORTIUM 2008). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards 105 46 (2017) • Heft 1 den Standards verknüpfte Intention einer verbesserten Vergleichbarkeit schulischer (Prüfungs-)Leistungen zumindest in diesem Rahmen realisierbar erscheint. 3. Die mangelnde Wirksamkeit der Standardorientierung in Bezug auf die Unterrichtsentwicklung Die im vorangegangenen Abschnitt skizzierte Entwicklung, die zur Verabschiedung der Bildungsstandards führte, lässt sich durchaus als Reaktion der KMK auf die wachsende Kritik am Bildungsföderalismus verstehen (vgl. T ILLMANN 2009: 25). Das wichtigste Ziel der länderübergreifend verbindlichen Zielvorgaben besteht darin, die Qualität des Unterrichts im gesamten System zu verbessern; die konkreten Veränderungsprozesse müssen aber auf der lokalen Ebene der Schulen und letzten Endes in den unterrichtlichen Handlungsroutinen der Lehrkräfte umgesetzt werden. Wenn Unterrichtsentwicklung im Sinne der Standards gelingen soll, stellt sich die Frage, wie die Entwicklungen in Schulen durch die zentralen Vorgaben wirksam beeinflusst und in konkrete Handlungen übersetzt werden können. Der vorherrschende Begriff der „Implementation“ beschreibt diesen Prozess mit einer Metapher, die vorgibt, dass es sich hier um ein rein technisches Problem handle. Die Wirksamkeit der Standardorientierung als Steuerungsinstrument für die Unterrichtsentwicklung wird aber neben der Frage der Kompatibilität der Vorgaben mit der Unterrichtsrealität auch von der Akzeptanz der Standards durch die Akteure im Schulsystem abhängen, wie B ERNER et al. vermuten: „Der Grad der Implementation nationaler Bildungsstandards wird sich nicht zuletzt daran messen lassen müssen, inwieweit die mit ihnen verfolgten Zielsetzungen im Hinblick auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen von den anderen Systemkomponenten unterstützt und getragen werden“ (B ERNER / O ELKERS / R EUSSER 2008: 224). Vier Jahre nach ihrer Einführung kommen P ANT et al. in einer quantitativen Studie zur Rezeption von Bildungsstandards in Deutschland zu dem Schluss, dass die Akzeptanz der Bildungsstandards unter den Lehrkräften offenbar noch gering ausgeprägt ist, da sie anhand der Befragung einer repräsentativen Stichprobe (n = 496) eine „vergleichsweise geringe Beschäftigung mit den alltagspraktischen Aspekten standardbasierten Unterrichtens“ feststellen müssen (P ANT et al. 2008: 841). Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass im weiteren Prozess der Implementation der Standards hauptsächlich das Problem des fehlenden Transfers zwischen „massiven testbasierten Evaluationsanforderungen an Schulen und Lehrkräfte“ (ebd.: 842) und einer potenziell planvollen und evidenzbasierten Schul- und Unterrichtsentwicklung zu lösen sei. Im Kontext der Implementation von Bildungsstandards in Österreich kommentiert A LTRICHTER (2008: 86) ähnliche Ergebnisse von Befragungen und interviewbasierten Fallstudien zu den Einstellungen von Lehrkräften gegenüber Bildungsstandards, die aus seiner Sicht nicht anders zu erwarten waren: Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 106 Henning Rossa 46 (2017) • Heft 1 [K]einer der Studienautoren [würde] behaupten, dass es sich bei Bildungsstandards um eine Innovation handelte, auf die LehrerInnen gewartet hätten und für deren rasche Umsetzung entsprechende Bereitschaften und Einstellungen schon vorhanden wären. Dies ist nun auch wieder nicht so verwunderlich: Wenn Bildungsstandards tatsächlich der Paradigmenwechsel für die Schul- und Unterrichtspraxis sind, als der sie bildungspolitisch propagiert werden, so darf es nicht überraschen, dass sie in der bisherigen Praxis teilweise auf Unverständnis und Skepsis treffen. W ACKER et al. erkennen in ihrer Befragung von Lehrkräften in Baden-Württemberg, einer Querschnittsuntersuchung mit zwei Messzeitpunkten (2005 und 2009), „eine Zunahme kompetenzorientierter Unterrichtskonzepte und damit einhergehenden Veränderungen bei den Ausrichtungen und Formen der Leistungsbeurteilung“ (W ACKER / R OHLFS / K RAMER 2013: 131f.). Die Autorinnen und Autoren der Studie, geben allerdings zu bedenken, dass dieser Befund „durchaus im Kontrast zu anderen einschlägigen Studien zu dieser Thematik [steht], die für die Bildungsstandards eine nur geringe Bedeutung für die tägliche Unterrichtsarbeit und eingeschränkte Innovationskraft für die individuelle Unterrichtsentwicklung konstatieren“ (ebd.: 131- 132). Aus einer fachdidaktischen Perspektive sind diverse Aspekte zu erkennen, die den Implementationsprozess erschweren bzw. die Wirksamkeit der Standardorientierung hinsichtlich der Unterrichtsentwicklung einschränken. Der schwerwiegendste Mangel besteht aus meiner Sicht darin, dass der mit den Bildungsstandards verknüpfte Begriff der ‚Unterrichtsqualität‘ weder theoretisch noch fachspezifisch fundiert ist. Tatsächlich wird der Begriff in den Standards für das Fach Englisch noch nicht einmal explizit genannt. Selbst die 2010 veröffentlichte „Konzeption der Kultusministerkonferenz zur Nutzung der Bildungsstandards für die Unterrichtsentwicklung“ belässt es dabei, das Konstrukt Unterrichtsqualität auf die Umsetzung der Kompetenzorientierung zu reduzieren, die für das Fach Englisch etwa durch den Ansatz des task-based learning gelingen könne (vgl. KMK 2010: 10). Es gelte, „den Unterricht von seinem angestrebten Ergebnis her langfristig mit Blick auf einen kontinuierlichen und schrittweisen Aufbau von Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu gestalten. Dabei muss sich die Unterrichtsqualität auch daran messen lassen, inwieweit es gelingt, das Lernpotenzial von Schülerinnen und Schülern auszuschöpfen“ (ebd.: 10). Diese mangelhafte Spezifikation des Konstrukts ‚Unterrichtsqualität‘ ist mit Blick auf den zurückhaltenden bis skeptischen fremdsprachendidaktischen Diskurs und die eher bruchstückhafte Theoriebildung zu diesem Thema durchaus nachvollziehbar. In der post-method era (B ROWN 2002), die den unwissenschaftlichen Status der Fachdidaktik als „rezeptologische“ Disziplin überwinden helfen soll, verweist der Mainstream der Fremdsprachenforschung auf die „Faktorenkomplexität“ (K URTZ 2001: 264) des Lehrens und Lernens im Unterricht und bezweifelt die Relevanz der Qualitätsmerkmale, die im Prozess-Produkt-Paradigma (W INNE 1987) der kognitivistischen, pädagogisch-psychologisch orientierten Unterrichtsforschung identifiziert wurden. In dieser Haltung offenbart sich ein weiterer, grundlegender Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards 107 46 (2017) • Heft 1 Konflikt zwischen den politisch motivierten Ansprüchen der Bildungsstandards und der Realität des Unterrichtens: Für die Kunst des Unterrichtens gibt es kaum verbindliche Standards, sondern wesentlich nur das Ergebnis von Versuch und Irrtum, wobei es für die Praxis spricht, dass gleichwohl in vielen Fällen eine hohe Qualität entwickelt wird. Der Ausdruck „Standard“ unterstellt eine technische Normierung. Schulischer Unterricht ist aber ersichtlich nicht mit einer Norm erfassbar. Unterricht ist Interaktion mit ungleichem Verlauf und Ausgang. (O ELKERS 2010: 35) Das Gelingen einer standardorientierten Unterrichtsentwicklung ist aber dennoch zwangsläufig davon abhängig, inwiefern die „Entwicklungsarbeit sich an bedeutsamen, durch empirische Forschung und Evidenz erhärteten Dimensionen guten und wirksamen Unterrichts orientiert, d.h. in der inhaltlichen Ausrichtung nicht beliebig und lediglich selbstreferenziell ist“ (O ELKERS / R EUSSER 2008: 403f.). Für eine gezielte Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch, die eine konkrete Veränderung der Lehr-Lern-Prozesse anstrebt, sind aus meiner Sicht fachdidaktisch spezifizierte Prinzipien eines gelingenden Englischunterrichts von Bedeutung, die über die allgemeindidaktischen bzw. pädagogisch-psychologisch fundierten Unterrichtsmerkmale (z.B. kognitive Aktivierung, Strukturierung, Methodenvielfalt usw.) hinausweisen. Eine umfassende, kohärente und empirisch gestützte Theorie der Entwicklung fremdsprachlicher Kompetenzen ist nicht in Sichtweite, Erkenntnisse zu wirksamen Prinzipien bzw. Lehr-/ Lerntechniken existieren jedoch trotz der Komplexität und Dynamik der Faktoren, die das Lehren und Lernen einer Fremdsprache in unterschiedlichen Kontexten beeinflussen, durchaus; z.B. für die Wortschatzarbeit (S CHMITT 2008), das Hörverstehen (R OST 2008), den Grammatikerwerb (E LLIS 2005) oder den Umgang mit Fehlern (L YSTER / S AITO / S ATO 2013). Eine fachdidaktisch fokussierte Unterrichtsentwicklung bezieht sich zudem auf die genuinen Bedingungen eines interkulturellen und kommunikativen Fremdsprachenunterrichts, in dem die Lernenden nicht nur Wissen und Kompetenzen hinsichtlich eines Unterrichtsgegenstands erwerben, sondern sich vielmehr in ihrer sprachlichen und kulturellen Identität entfalten: „Every bone and fiber of your being is affected in some way as you struggle to reach beyond the confines of your first language and into a new language, a new culture, a new way of thinking, feeling and acting“ (B ROWN 2005: 1). Der Erwerb einer Fremdsprache ist demnach kein geradliniges, technologisch planbares Verfahren, sondern eher ein individueller Aushandlungs- und Wachstumsprozess, der z.B. mit dem Begriff acculturation (G ARDNER 1979) umschrieben wird. Diese Perspektive auf den Englischunterricht weist auf einen weiteren Anhaltspunkt hin, der das bestehende „Transferdefizit“ (K UHN 2014: 421) des Steuerungsinstruments Bildungsstandards erklären kann: Zwischen der inneren Logik von Standards bzw. standardorientierten Kompetenzmessungen und der Planung, Durchführung, Reflexion und Weiterentwicklung von Unterricht besteht eine grundlegende konzeptuelle Differenz, die offenbar nur schwer zu überbrücken ist. Während standardorientierte Tests üblicherweise darauf abzielen, Kompetenzen als möglichst Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 108 Henning Rossa 46 (2017) • Heft 1 objektiv auswertbares Antwortverhalten zu operationalisieren, ist gerade der Fremdsprachenunterricht im Wortsinne ‚Verhandlungssache‘: Widersprüchliche Deutungen der Gegenstände werden herausfordert, dynamische und unregelmäßige Entwicklungsverläufe sind zu ertragen. Hinzu kommt, dass „das Datenfeedback aus Leistungstests […] von vielen Lehrpersonen als kontrollierend bzw. als bedrohlich empfunden [wird]“ (L ANDWEHR 2015: 164). Der als gering empfundene Nutzen testbasierter Rückmeldungen mag auch darauf zurückzuführen sein, dass die Lehrkräfte die notwendige Rekonstruktion der dem Test vorangegangenen Lehr-Lernprozesse als Überforderung empfinden. Während die Konstruktion und Auswertung der üblichen, meist von den Lehrkräften selbst erstellten Leistungsmessungen im Unterricht zumindest implizit auf einer mehr oder weniger intuitiven Einschätzung der Lehr-Lern-Prozesse und der wahrgenommenen Lernschwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler beruht, müssen Lehrkräfte bei der Interpretation des Feedbacks aus zentral gestellten, standardorientierten Leistungsmessungen diese Analyseleistung gewissermaßen nachholen (vgl. ebd.: 167): Welche Anforderungen mussten meine Schülerinnen und Schüler in diesem Test bewältigen? Wie verhalten sich diese Anforderungen im Vergleich zu den Aufgaben und Problemstellungen, die ich zuvor für meinen Unterricht ausgewählt habe? Welche Rückschlüsse lassen sich in Bezug auf eine verbesserte Unterstützung der individuellen Kompetenzentwicklung bei meinen Schülerinnen und Schülern, etwa durch unterrichtliche Angebote und Hilfen, aus den Testergebnissen ableiten? Wenn für diese komplexen Fragen keine ausreichende Datenbasis zur Prozessqualität des vorangegangenen Unterrichts vorliegt und entsprechende Unterstützungsmechanismen bzw. Motivationen und Kompetenzen für die individuelle professionelle Entwicklung der Lehrkräfte fehlen, ist das Wirkungsdefizit zentraler Leistungsmessungsdaten vorprogrammiert, wie T ERHART (2014: 192) ernüchtert bemerkt: „Lehrkräfte benutzen Datenrückmeldungen zu Schülerlernständen zur Abrundung ihrer Notengebung, was so ohne Weiteres eigentlich nicht geht. Das eigentliche Ziel des Ganzen - Feedback, das eine Verbesserung des Unterrichts nach sich zieht - wird insgesamt nicht oder doch nur zu einem sehr geringen Anteil erreicht“. 4. Ausblick: Gelingensfaktoren einer evidenzbasierten und kompetenzorientierten Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch Im Vergleich zur Forschung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken 4 spielt das Konzept ‚Unterrichtsentwicklung‘ als expliziter Gegenstand 4 Vgl. z.B. die einschlägigen Publikationen zu den Projekten SINUS: „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (D EMUTH / W ALTHER / P RENZEL 2011; P RENZEL et al. 2005), ChiK: „Chemie im Kontext“ (F EY et al. 2004) und For.Mat: „Bereitstellung von Fortbildungskonzeptionen und -materialien zur kompetenzbzw. standardbasierten Unterrichtsentwicklung, vor allem Lesen, Geometrie, Stochastik“ (D AUMEN / K LINGER 2009), die fachliche Unterrichtsentwicklung verfolgen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lost in Translation. Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards 109 46 (2017) • Heft 1 fremdsprachendidaktischer Forschung bislang eine kaum wahrnehmbare Rolle. Die theoretische Fundierung und praxisorientierte Erforschung didaktischer Konzepte, die zur Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts beitragen könnten, zählen aber sehr wohl zu den selbstverständlichen Erkenntnisinteressen unseres Faches. Die Frage, wie fachdidaktische Erkenntnisse, forschungsmethodische Konzepte und Evaluationsstrategien lokale Projekte der Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch wirksam fördern können, weist auf ein wichtiges Forschungsfeld hin, das die Fremdsprachenforschung nicht der Pädagogik bzw. den Bildungswissenschaften überlassen sollte. Durch die gegenwärtige Hinwendung fremdsprachendidaktischer Forschung zu Fragen der Lehrerprofessionalisierung gerät der Begriff ‚Entwicklung‘ wieder in den Fokus des Erkenntnisinteresses, das die Relevanz einer kritischen Auseinandersetzung mit der Unterrichtspraxis und denkbaren Veränderungsimpulsen zumindest impliziert (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014; L EGUTKE / S CHART 2016). In diesem Forschungskontext geht es unter anderem um die Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer sich vor dem Hintergrund ihres Wissens und Könnens, ihrer Einstellungen und Überzeugungen im Unterricht erleben, ihr Handeln und ihre Erfahrungen reflektieren. Aus dieser Perspektive ist zu erkennen, dass Professionalisierung - verstanden als Entwicklungsaufgabe für individuelle Lehrende - eng mit Prozessen verbunden ist, die auch für Unterrichtsentwicklung als übergreifendes, fachdidaktisches Ziel wichtig sind. R OLFF skizziert das Konzept einer „wirksamen Unterrichtsentwicklung“ (2015: 25) als ganzheitlichen, d.h. vernetzten und zusammengeschalteten Prozess, der in der Schule verortet ist. Alle Akteure (Schulleitung, Fachkonferenz, Lehrkräfte) arbeiten im Rahmen der Unterrichtsentwicklung systematisch und kooperativ zusammen, unter Rückgriff auf Fachwissen, Fachdidaktik und eine Allgemeine Didaktik des pädagogischen Handelns. Grundlegende Ziele sind die Sicherung und Verbesserung der Lernchancen, die im Unterricht geschaffen werden, die Reflexion der Unterrichtspraxis sowie die Entwicklung von Haltungen und Werten, die einen schüleraktivierenden Unterricht fördern. Insbesondere die letzte Ebene, die über die Dimensionen des Wissens und Könnens hinausweist, ist angesichts aktueller Befunde zu den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Lehrkräften (K OCHER 2014) und der empfundenen Kongruenz ihrer subjektiven Theorien (beliefs) mit der Praxis (B UEHL / B ECK 2015; R OSSA 2017) von Bedeutung für die Sicherung und Entwicklung der Unterrichtsqualität. Die „Evidenzbasierten Methoden der Unterrichtsdiagnostik“, die H ELMKE et al. (2016) für die Unterrichtsentwicklung in Schulen empfehlen, zielen ebenfalls auf die „Bewusstmachung eigener subjektiver Theorien und Urteilsgewohnheiten“ (ebd.: 3) ab. So kann der Blick auf den eigenen Unterricht geöffnet werden, damit das Lehren und Lernen unter Rückgriff auf Feedback, z.B. aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler oder einer Kollegin oder eines Kollegen im Sinne H ATTIES (2011) „sichtbar“ wird (H ELMKE et al. 2016: 3). Fachdidaktisch relevante Konzepte und Prinzipien könnten dafür eingesetzt werden, in der Auseinandersetzung mit den rekonstruierten Lehr-Lernprozessen den Blick auf die genuinen Bedingungen des Faches zu richten. Auf diese Weise könnte eine Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 110 Henning Rossa 46 (2017) • Heft 1 gezielte Anpassung und Veränderung des eigenen unterrichtlichen Handelns hinsichtlich der notwendigen Lerngelegenheiten für eine Kompetenzentwicklung im Sinne der Bildungsstandards gelingen. L ANDWEHRS (2015) Reflexionsmodell zur Analyse und Nutzung von standardorientierten Leistungsmessungsergebnissen für die Unterrichtsentwicklung zeigt schließlich auf, dass die für eine standardorientierte Unterrichtsentwicklung unabdingbare Rekonstruktion der Lernprozesse im Wesentlichen fachdidaktische Fragen herausfordert: Welches waren die wichtigen Lernschritte im betreffenden Lerngebiet? Welches waren besondere Herausforderungen, die bewältigt werden mussten? […] Was habe ich (als Lehrperson) im betreffenden Lernbereich getan, um die Lernprozesse zu steuern und zu unterstützen? (fachlich, didaktisch, methodisch…) […] An welchen Stellen des Lernprozesses […] vermute ich, dass die Maßnahmen zur Lernsteuerung und -unterstützung nicht gegriffen haben? Wo sehe ich aufgrund dieser Überlegungen einen Optimierungsbedarf? (L ANDWEHR 2015: 168) Wenn Lehrkräfte bei der Beantwortung dieser Fragen auf fremdsprachendidaktisch konkretisierte Konzepte zum kompetenzorientierten Unterricht Bezug nehmen können, ist vorstellbar, dass erstens die Kluft zwischen der isolierten Empfehlung „Den Unterricht von den Ergebnissen her denken! “ und den heterogenen, komplexen Aushandlungsprozessen in der Unterrichtspraxis überbrückt werden kann, und dass zweitens eine gezielte, d.h. von allgemeindidaktischen Qualitätskriterien emanzipierte Weiterentwicklung des Fachunterrichts gelingen kann. 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KG 46 (2017) • Heft 1 © 2017 Narr Francke Attempto Verlag E NGELBERT T HALER * Englisc hdidaktik - State of the Art F or s c hu ng s ü b e rbli c k 2 0 0 0 - 2 0 1 6 Abstract. This article attempts at reviewing the research literature on English language learning and teaching published between 2000 and 2016 in Germany. These studies include research in ten fields: educational standards, early foreign language learning, content and language integrated learning, intercultural learning, media literacy, the Hattie study, teaching methods, teacher education, coursebook research, and handbook development. The survey reveals a flourishing and diverse field of research activities. The concluding chapter refers to the requirement of a balanced research paradigm. 1. Einleitung Dieser Beitrag versucht, einen Überblick zu wissenschaftlichen Arbeiten im Bereich der Englischdidaktik zu geben. Primär wird die Englischdidaktik im deutschsprachigen Raum beleuchtet, wobei wichtige Impulse aus englischsprachigen Kontexten mit bedacht werden, sofern sie einen offenkundigen Einfluss auf die hiesige Forschungslandschaft haben. Die Zeitspanne beträgt ca. 16 Jahre, beginnt also mit der Jahrtausendwende und dem Erscheinen des folgenreichen Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR). Die Englischdidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen der englischen (Fremd-)Sprache, Literatur und Kultur. Das Lehren und Lernen von Englisch als Fremdsprache spielt in der globalisierten Wissensgesellschaft Deutschlands eine wesentliche Rolle. Fast alle Schüler/ -innen lernen Englisch bereits an Grundschulen: 94 % der Drittklässler und 95 % der Viertklässler erhielten im Schuljahr 2009/ 2010 in Deutschland Englischunterricht. Englisch ist die Fremdsprache, die mit Abstand am häufigsten in allen Schulformen in den 16 Bundesländern Deutschlands unterrichtet wird: Im Schuljahr 2014/ 15 gab es 7.274.027 Schüler/ -innen an allgemeinbil- * Korrespondenzdresse: Prof. Dr. Engelbert T HALER , Universität Augsburg, Historisch-Philologische Fakultät, Universitätsstraße 10, 86159 A UGSBURG . E-Mail: thaler@uni-augsburg.de Arbeitsbereiche: Unterrichtsmethodik, Lehrwerkentwicklung, Lehreraus- und -fortbildung. N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 116 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 denden Schulen (87 %) und 1.362.745 Lernende an beruflichen Schulen mit Englischunterricht (S TATISTISCHES B UNDESAMT 2015). Im Folgenden werden zunächst die Kriterien für die Auswahl der Forschungsliteratur dargelegt, bevor die dominanten Forschungsthemen zusammengefasst werden. Abschließend erfolgen eine kurze Zusammenfassung sowie ein Ausblick auf zukünftige Forschung in diesem Feld. 2. Auswahlkriterien Um die relevanten Forschungsprojekte und beherrschenden Themen zu eruieren, wurden folgende Quellen gesichtet: • Bibliografien: z.B. die vierteljährlich erscheinende Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht des IFS der Philipps-Universität Marburg • Datenbanken: z.B. GEPRIS (Datenbank über Forschungsvorhaben der DFG), Fachportal Pädagogik (FIS-Bildung, DIPF), Deutscher Bildungsserver, Deutsche Nationalbibliothek • Dokumentationen von Qualifikationsarbeiten: z.B. Klippel-Sauer-Liste (Chronologie der Dissertationen und Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen Disziplinen) • Forschungsrelevante staatliche Dokumente: z.B. Bildungsstandards (BMBF 2004; KMK 2003; 2012) • Forschungsüberblicke: z.B. Meta-Beiträge von F INKBEINER et al. (2013), D OFF / G RÜNEWALD (2015) • Jahresberichte: z.B. Annual Report on English and American Studies (AREAS), die halbjährliche Dokumentation zu den Instituten und Forschungsaktivitäten der Anglistik / Amerikanistik an den Hochschulen Deutschlands und Österreichs • Theorie-Praxis-Fachzeitschriften, i.e. solche Zeitschriften, die sich nicht auf reine Unterrichts-Rezeptologie beschränken, sondern den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis anstreben, z.B. Praxis Fremdsprachenunterricht, Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch • Vorträge auf Konferenzen: z.B. DGFF, GAL, ALA, AILA, GMF • Wissenschaftliche Fachzeitschriften: z.B. FLuL, Language Awareness, Zeitschrift für Angewandte Linguistik, ZFF Der Versuch, in einem eng beschränkten Seitenumfang einen Forschungsüberblick der letzten eineinhalb Jahrzehnte in einer lebendigen akademischen Disziplin zu geben, erweist sich zweifelsohne als ein ambitioniertes Unterfangen. Diese Herausforderung verstärkt sich, wenn man einen breiten Forschungsbegriff zugrunde legt, der neben rein empirisch-statistischen Studien auch hermeneutisch-integrative Ansätze umschließt. Angesichts der großen Fülle einschlägiger Untersuchungen kann den Gütekriterien wie Validität, Reliabilität und Objektivität nur eingeschränkt Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 117 46 (2017) • Heft 1 Rechnung getragen werden, und eine gewisse subjektive Selektivität ist nolens volens unvermeidlich. 3. Forschungsbereiche 3.1 Bildungsstandards Durch die Ergebnisse der - nicht den Englischunterricht betreffenden - Studien TIMSS, IGLU und PISA (B AUMERT et al. 2001) wurde offenkundig, dass die in Deutschland dominierende Input-Steuerung nicht zu den erwünschten Ergebnissen führte. Eine Output-Steuerung, d.h. die Festlegung und Überprüfung der erwarteten Leistungen, erschien notwendig. Deshalb legte die Kultusministerkonferenz (KMK) einen besonderen Fokus auf die Einführung bundesweit geltender Bildungsstandards, die mehrere Ziele verfolgen: Transparenz schulischer Anforderungen, Entwicklung eines kompetenzorientierten Unterrichts, Grundlage für die Überprüfung der erreichten Ergebnisse, Durchlässigkeit von Bildungswegen, Vergleichbarkeit von Abschlüssen, Weiterentwicklung der Qualität des Bildungswesens (KMK 2003; 2012; S CHRÖDER 2005, T HALER 2016a). Die Bildungsstandards basieren auf dem GeR (C OUNCIL OF E UROPE 2001). Dieses auch über Europa hinaus sehr einflussreiche Dokument stellt eine gemeinsame Basis dar für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Lehrwerken und Qualifikationsnachweisen in der europäischen Spracharbeit. V OGT (2011) adaptiert in ihren fremdsprachlichen Kompetenzprofilen die Skalen und Deskriptoren des GeR für Fremdsprachenlernen mit einer beruflichen Anwendungsorientierung. Um die in den Bildungsstandards postulierten Kompetenzstände zu überprüfen, wurden mehrere Studien durchgeführt. Als bislang größte Untersuchung in Deutschland zu Englisch als Fremdsprache gilt DESI (Deutsch Englisch Schülerleistungen International), welche die sprachlichen Leistungen und die Unterrichtswirklichkeit in den Fächern Deutsch und Englisch untersuchte. Etwa 11.000 Schüler/ -innen der neunten Jahrgangsstufe aller Schularten wurden zu Beginn und am Ende des Schuljahres 2003/ 04 befragt und getestet; dazu kamen Befragungen von Lehrkräften, Eltern und Schulleitungen sowie Videoaufnahmen im Englischunterricht (B ECK / K LIEME 2007; D ESI -K ONSORTIUM 2008). Die Ergebnisse zeigen u.a., dass die Kompetenzen einer sehr starken Leistungsspitze von 10 bis 15 Prozent der Schüler/ -innen vor allem am Gymnasium weit über das Anforderungsniveau der Lehrpläne hinausragen, aber vor allem in Hauptschulen, Integrierten Gesamtschulen und Schulen mit mehreren Bildungsgängen große Defizite bestehen, da nur etwa ein Drittel der Lernenden das gesetzte Regelziel des GeR erreicht. Als Merkmale von erfolgreichem Unterricht wurden identifiziert: • Hohe Anforderungen seitens der Lehrkräfte • Betonung sprachlicher Kompetenzen (korrektes Sprechen und Schreiben) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 118 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 • Lehrkräfte mit fachdidaktischem Engagement und Kontakten mit dem englischsprachigen Ausland • Konsequente Einsprachigkeit des Unterrichts • hoher Sprechanteil der Lernenden • längere Wartezeit der Lehrkräfte nach Fragen • Möglichkeit der Selbstkorrektur für Schüler/ -innen • bilinguale Angebote: Erfolgsmodell Um Kompetenzen zu messen, wird auch der C-Test eingesetzt (z.B. Z YDATIß 2005). Dabei handelt es sich um einen integrativen schriftlichen Test der allgemeinen Sprachbeherrschung, der auf dem Konzept der „reduzierten Redundanz“ beruht und als valider, reliabler und objektiver als beispielsweise der cloze-test gilt. Bei H AR - TIG / H ÖHLER (2010) basiert das theoretische Modell dagegen auf der Annahme, dass kommunikative und sprachliche Kompetenz genauer gemessen werden kann, wenn man sich auf Sub-Fertigkeiten konzentriert (z.B. Grammatik, Lese- oder Hörverstehen). Es kommt hierbei ein mehrdimensionales psychometrisches Modell (multidimensional item-response theory: MIRT) zum Einsatz, in dem das Kompetenzkonstrukt differenziert hinsichtlich mehrerer zugrunde liegender Teilkompetenzen modelliert wird. P ANT / T IFFIN -R ICHARDS / K ÖLLER (2010) beschäftigen sich mit der Frage, wie Standards für Kompetenztests in „large-scale assessment“-Projekten bestimmt werden können. Die Setzung von Schwellenwerten (Cut-Scores), durch die benachbarte Kategorien auf einer kontinuierlichen Testwertskala abgegrenzt werden, stellt dabei ein wichtiges Transformationsmoment zwischen fachdidaktischpsychometrisch basierter Kompetenzmessung und politisch-administrativer Verwertbarkeit dar. Erste Ergebnisse zeigen, dass es Unterschiede zwischen verschiedenen Tester-Gruppen gibt, z.B. setzen Lehrer niedrigere Schwellenwerte als gemischte Gruppen. Insgesamt haben die Bildungsstandards ein großes Interesse an der empirischen Überprüfung fremdsprachlicher Kompetenzen hervorgerufen. In methodologischer Hinsicht lässt sich dabei ein zunehmender Einfluss von Psychologen und Bildungswissenschaftlern feststellen, die IRT/ MIRT und psychometrische Modelle in die Fremdsprachenforschung eingeführt haben. Damit es nicht zu einer empirisch-positivistischen Verengung kommt, muss die Forschung multiple Daten aus unterschiedlichen Perspektiven auf Schüler-Kompetenzen triangulieren, um die Ergebnisse für die konkrete Unterrichtspraxis nutzbar machen zu können. Im Kontext der DESI-Studie entstanden auch die Dissertationen von H ARSCH (2006), welche die Leistungen und Grenzen von DESI am Beispiel des semi-kreativen Schreibens eruiert, sowie von R OSSA (2012), die mit der Testung von Hörkompetenzen beispielhaft die Frage nach Qualitätskriterien in der empirischen Forschung diskutiert. Im Diskurs zu Bildungsstandards wird häufig die Kompetenzorientierung mit der Aufgabenorientierung verknüpft (BMBF 2004; M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER 2011, 2005). Beim Task-Based Language Learning (strong version) bzw. Task-Supported Language Learning (weak version) steht eine bedeutsame Lernaufgabe im Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 119 46 (2017) • Heft 1 Zentrum, die auf die Förderung von Kompetenzen zielt, indem sie anspruchsvolle kognitive, emotionale und soziale Lernprozesse anleitet, die Schüler-/ innen als ganzheitliche Individuen anspricht, authentische Sprachverwendung fordert und authentisches Material verwendet. Derzeit entwickelt sich die einschlägige Forschung international von der psycholinguistischen Untersuchung von Spracherwerbsprozessen unter Laborbedingungen hin zur Erforschung von Spracherwerbsprozessen in authentischen Lernumgebungen (classroom research, action research). Die Fremdspracheninstitute (Abteilung Englisch) der PHs Freiburg und Heidelberg (S CHOCKER / M ÜLLER -H ARTMANN ) nehmen dabei eine Vorreiterrolle ein. In einem vom IQB geförderten Projekt leiten sie Lehrkräfte der Sekundarstufe I aller Schularten dazu an, Lernaufgaben für ihre Klassen zu entwickeln, zu erproben und unter bestimmten Fragestellungen auszuwerten. Ebenfalls mit Unterstützung des IQB wurden Lernaufgabenbeispiele für alle 100 Einzelkompetenzen der Abiturstandards entwickelt, in der Praxis erprobt und überarbeitet; längere Unterrichtsszenarien und Prüfungsaufgaben ergänzen die Darstellung zu „Standard-basiertem Englischunterricht“ (T HALER 2016a). 3.2 Früher Fremdsprachenunterricht Die erste groß angelegte Studie, die sich mit frühem Fremdsprachenunterricht evidenz-basiert und transnational beschäftigte, wurde von E DELENBOS / J OHNSTONE / K UBANEK (2006) durchgeführt. Ihre Metaanalyse zu 400 einschlägigen Studien in 31 Ländern berücksichtigte auch Deutschland seit 1999, kategorisierte Beispiele für good practice und bestimmte wesentliche pädagogische Grundsätze für frühes Fremdsprachenlernen; letztere wurden schließlich evaluiert (K UBANEK -G ERMAN / E DELENBOS 2009). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass ein Frühbeginn substanzielle Vorteile für die Kinder haben kann, aber keine Garantie darstellt. Es bedarf einer stützenden Umgebung und der Kontinuität im Sprachenlernen. Zwei Lernervariablen haben einen entscheidenden Einfluss auf kompetente Sprachverwendung: Begabung (aptitude) und Motivation (attitude). Letztere wird allerdings nicht nur durch Spiele erhöht, sondern auch durch kognitive Herausforderungen. Zudem ist es nötig, den Lernenden auch Lesen und Schreiben zu vermitteln und sich nicht nur auf Hören und Sprechen zu beschränken. Ausgehend von der Hypothese, dass die Entwicklung des Spracherwerbs gewissen Regelmäßigkeiten folgt, führten P IENEMANN / K ESSLER / L IEBNER (2006) eine Profilanalyse der Sprachdaten von 70 Kindern (inkl. 56 Grundschüler/ -innen) durch. Das Ergebnis zeigt, dass im Englischunterricht der Primarstufe der Spracherwerb der Lernenden entsprechend der Entwicklungslinien kontinuierlich verläuft. Als Reaktion auf den dringenden Bedarf nach Leistungsbeurteilung in der Primarstufe wurde die Studie TAPS (Testing and Assessing Spoken English in Primary School) initiiert (D IEHR / F RISCH / R ENSCH 2007). Die Ergebnisse der quantitativen Datenanalyse offenbarten, dass die Grundschüler/ -innen die Anforderungen des Bildungsplans übertrafen. Sie konnten mit der Fremdsprache produktiv und reflektiert Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 120 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 umgehen, verwendeten nicht nur grammatikalische Regeln, sondern auch chunks aus dem mentalen Lexikon und produzierten damit komplexe Äußerungen. E LSNER (2007) untersuchte das Hörverstehen, wobei sie einen Leistungsvergleich zwischen Kindern mit deutscher Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache anstellte. Sowohl K OLB (2007) als auch B ECKER (2012) sehen großes Potential in der Arbeit mit Portfolios, da mit diesem Medium Grundschulkinder ihr Sprachenlernen angemessen reflektieren können. In Deutschland - wie auch in den meisten Staaten der Europäischen Union - ist der früh beginnende Fremdsprachenunterricht inzwischen fest etabliert: 4 Bundesländer starten die Fremdsprache in der 1. Klasse, 12 Länder in Klasse 3; 10 Bundesländer bieten ausschließlich Englisch an. Das „sprachlernorientierte Konzept“ („ergebnisorientierter Unterricht“), bei dem der frühe Fremdsprachenunterricht die sprachliche Grundlage für eine Weiterführung des Unterrichts auf der Sekundarstufe 1 ermöglichen soll, hat dabei weitgehend das Konzept der Fremdsprachenbegegnung verdrängt (Nachbarschaftssprachen, Begegnung mit Sprachen). Die Heterogenität der Lernenden in der Grundschule stellt für die Englisch-Lehrkräfte ein Problem dar. Ansonsten zeichnen internationale und nationale Studien ein überwiegend positives Bild des Fremdsprachenunterrichts an Grundschulen (vgl. L EGUTKE / M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER (2009): • Die große Mehrheit der Schüler lernt die fremde Sprache gern. • Sie verfügen über eine elementare Hörverstehenskompetenz. • Es zeigen sich Ansätze von Sprach(lern)bewusstheit. • Es gibt sowohl Lernende, die sofort mit der neuen Sprache experimentieren, als auch solche, die zunächst lieber zuhören und imitieren. • Defizite bestehen im Bereich produktiven Sprechens - aufgrund der Vernachlässigung dieser Fertigkeit. Die alte Gleichung „Je früher, desto besser“ gilt allerdings nicht so pauschal, denn wichtiger als der Zeitpunkt des Beginns ist die Dauer des Kontakts mit der Fremdsprache. 3.3 CLIL Zweisprachigen Unterricht gibt es in verschiedenen Formen seit Jahrtausenden. In Deutschland wurden im Gefolge des deutsch-französischen Vertrags von 1963 bilinguale Unterrichtsangebote (1969/ 70) institutionalisiert. Im europäischen Kontext hat sich seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts der Begriff CLIL (Content and Language Integrated Learning) eingebürgert; „[…] a foreign language is used as a tool in the learning of a non-language subject in which both language and the subject have a joint curricular role“ (M ARSH 2002: 58). In Deutschland spricht man meist von Bilingualem Sachfachunterricht: Ein Sachfach wird in einer Fremdsprache unterrichtet, wobei Englisch (oder Französisch) als Unterrichtssprache, Werkzeug, Arbeitssprache verwendet wird (u.a. B ACH / N IEMEIER 2010). Bei den Sprachen Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 121 46 (2017) • Heft 1 dominiert Englisch, bei den Schulformen ist „BILI“ hauptsächlich am Gymnasium (und Realschulen sowie Gesamtschulen, inzwischen auch Grundschulen) vertreten, bei den Sachfächern werden vor allem Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde, daneben auch Religion, Biologie, Chemie, Physik gewählt. Was die Typen der Umsetzung betrifft, lassen sich drei Modelle unterscheiden: Bilinguales Modul, Bilingualer Zug, Bilinguale Schule. Die konkrete Implementierung von CLIL in Deutschland basierte nicht auf vorher entwickelten theoretischen Konzepten, sondern erfolgte als Basisbewegung, getragen durch die explorative Praxis engagierter Lehrkräfte (Z YDATIß 2007a). Deshalb war in den ersten 20 Jahren systematische empirische Forschung nicht existent. Inzwischen ist CLIL jedoch zu einem sehr populären Forschungsfeld avanciert, wobei die meisten empirischen Studien den Sprachaspekt fokussieren und die Sachfach-Dimension vernachlässigen (ebd.: 184). Bei einer Umfrage nach den Forschungsschwerpunkten der Professuren der Englischdidaktik in Deutschland landete „Bilingualer Unterricht“ mit Abstand auf Platz 1 (49 %, gefolgt von „Medieneinsatz“ mit 34 % und „Interkulturellem Lernen“ mit 32 %: G RÜNEWALD / V ERRIERE 2015: 27). Im DEZIBEL-Projekt (Deutsch-Englische Züge in Berlin) wurde die englische Sprachkompetenz von 180 Lernenden in gymnasialen CLIL-Programmen getestet und verglichen (Z YDATIß 2007b). Die Resultate belegen, dass die Bilingualen Schüler/ -innen ein höheres Sprachniveau erreichen als Lernende in regulären Klassen. Den Fokus auf die Sachfach-Dimension richtete das DFG-Projekt von V OLLMER (2007; 2009), der bei dem Vergleich der schriftlichen Geografie-Kompetenzen von 174 Schüler/ -innen in CLIL- und regulären Klassen keine Leistungsunterschiede feststellte; allerdings zeigten beide Gruppen gravierende Sachfachdefizite. DESI (s.o.) untersuchte 38 Klassen, die ab der siebten Jahrgangsstufe zumindest in einem Sachfach Englisch als Unterrichtssprache verwendet hatten. Diese zusätzlichen Lerngelegenheiten wirkten sich auf die kommunikative Kompetenz der Schüler/ -innen sehr positiv aus. So erreichten sie im Hörverstehen bis zum Ende der Jahrgangsstufe neun gegenüber Lernenden mit vergleichbaren Ausgangsbedingungen einen Vorsprung von etwa zwei (! ) Schuljahren. Aber auch in der Fähigkeit, grammatische Fehler zu erkennen und zu korrigieren, war ihr Fortschritt sehr beachtlich (K LIEME et al. 2006). H EINE (2007) untersuchte Quantität und Qualität des L2-Input, und B REIDBACH (2007) begründete die Notwendigkeit einer eigenständigen CLIL- Didaktik. Insgesamt zeigen diese und andere Studien, dass bilingualer Sachfachunterricht Motivation und Zielsprachenkompetenz positiv beeinflusst. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass hier auch positive Selbst-Selektions-Prozesse in der Eingangsphase stattfinden (F EHLING 2008; Z YDATIß 2007b). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 122 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 3.4 Interkulturelles Lernen Der akademische Aufstieg der Kulturwissenschaften, die europäische Einigung, die wachsende Globalisierung, die Sehnsucht nach Frieden in einer krisengeschüttelten Welt, die Suche nach der eigenen Identität und das Bewusstsein von der Untrennbarkeit Sprache - Kultur haben die Bedeutung interkultureller Kompetenz in den letzten Jahrzehnten gesteigert. Das Gießener Graduiertenkolleg Didaktik des Fremdverstehens fand zwar schon vor der Jahrtausendwende (1991-2000) statt, entfaltete aber auch danach eine starke Wirkung auf die gesamte fremdsprachenwissenschaftliche Szenerie in Deutschland. Eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten und Sammelbänden ist aus dem Kolleg hervorgegangen, und mehrere Doktoranden wurden später auf Professuren berufen. Von den internationalen Einflussfaktoren ragt - neben dem 3. Ort (Third Place) von Claire K RAMSCH und dem Developmental Model of Intercultural Sensitivity von Milton B ENNETT - insbesondere das B YRAM - Modell (B YRAM 1997) heraus, auf dessen fünf savoirs sich deutsche Studien immer wieder beziehen. Bei der Analyse der Qualifikationsschriften in der Fremdsprachenforschung im deutschsprachigen Raum 2007-2013 (D OFF 2015: 146) landet das Themencluster „Kulturelles Lernen“ auf dem 1. Rang (11 Dissertationen). Dabei wird nicht selten inter-/ transkulturelles Lernen mit literarischem Lernen kombiniert. B URWITZ -M EL - ZER (2003) führte in ihrer qualitativ-empirischen Untersuchung verschiedene Unterrichtseinheiten in der Sekundarstufe I in allen Schulformen durch, wobei die Verstehensprozesse im Englischunterricht mit fiktionalen Texten den Kern der Fragestellung darstellten. Auf der Basis von multikulturellen Texten und Filmen britischer fiction of migration entwickelte F REITAG -H ILD (2010) ein theoretisch fundiertes Unterrichtsmodell, eine Aufgabentypologie sowie modellhafte Unterrichtsreihen, ergänzt durch die qualitativ-empirische Analyse von drei Fallstudien aus dem englischen Literaturunterricht der Sekundarstufe II. K OLB (2013) untersuchte den Diskurs um die kulturellen Inhalte des Englischunterrichts in den Sekundarstufen der allgemeinbildenden Schulen seit 1975, wobei sie die drei Länder Deutschland, Frankreich und Schweden miteinander verglich. Dabei wird offenkundig, dass neben gemeinsamen europäischen Tendenzen die Diskussionen stark in länderspezifische Fach- und Bildungstraditionen eingebettet sind. Hitzige Debatten werden außerdem über das Verhältnis zwischen interkulturellem und transkulturellem Lernen geführt (z.B. M ATZ / R OGGE / S IEPMANN 2014). In den letzten Jahren wird zudem das Konzept einer Global Education (Globales Lernen), das Prozesse der Globalisierung, Migration und Nachhaltigkeit in ihrer Relevanz für den Fremdsprachenunterricht in den Blick nimmt, verstärkt diskutiert (z.B. L ÜTGE 2015). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 123 46 (2017) • Heft 1 3.5 H ATTIE -Studie Sehr große Aufmerksamkeit in Deutschland und weltweit erzeugte der neuseeländische Bildungsforscher John H ATTIE mit dem Anspruch, die wichtigste Frage der Bildungsforschung umfassend zu beantworten: Was ist guter Unterricht? (H ATTIE 2009; 2012). In seiner Meta-Meta-Studie wertete er sämtliche englischsprachigen Studien zum Lernerfolg aus, d.h. mehr als 800 Metaanalysen und über 50.000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteiligten Schüler-/ innen. Für die verschiedenen Lernbedingungen errechnete H ATTIE einen Erfolgsfaktor, die sog. Effektstärke. Die zentrale Botschaft seiner Analyse lautet: Auf den guten Lehrer kommt es an (The teacher matters). In seiner Rolle als director (nicht guide) legt die Lehrkraft Wert auf eine stringente Klassenführung (classroom management) sowie Klarheit (teacher clarity) und sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner Schüler (visible learning). Darüber hinaus können H ATTIE s Ergebnisse so zusammengefasst werden: • Was schadet: Sitzenbleiben, übermäßiges Fernsehen, lange Sommerferien • Was nicht hilft: offener Unterricht, jahrgangsübergreifender Unterricht, Webbasiertes Lernen • Was nur wenig hilft: geringe Klassengröße, finanzielle Ausstattung, entdeckendes Lernen • Was mehr hilft: lehrergeleiteter Unterricht, regelmäßige Leistungsüberprüfungen, Zusatzangebote für starke Schüler • Was richtig hilft: Lehrerfeedback, fachspezifische Lehrerfortbildung, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler Aufgrund der immensen Datengrundlage, der Dekonstruktion lieb gewonnener Mythen (Offenheits-Paradigma) und der Bestätigung traditioneller Überzeugungen (zentrale Bedeutung der Lehrkraft, Vorzüge direkter Instruktion) wurde die H ATTIE - Studie in diversen Medien als „Entdeckung des Heiligen Grals“ gefeiert. Gleichwohl erkannte man auch sachliche, methodische und statistische Defizite in dieser Untersuchung (z.B. T ERHART 2014). Sie beschränkt sich weitgehend auf messbare kognitive Faktoren, lässt affektive und soziale Aspekte außen vor, berücksichtigt nur englischsprachige Studien, enthält keine Untersuchungen zum Fremdsprachenunterricht und ist nur eingeschränkt auf den deutschen Kontext anwendbar. Wesentliche Ergebnisse der H ATTIE -Studie wurden vor deren Publikation bereits von T HALER (2007) für den Englischunterricht ermittelt, z.B. die Problematik offener Lernarrangements und die Notwendigkeit einer aktiv steuernden Lehrkraft. Nach der Veröffentlichung versuchten mehrere Forscher, die allgemeinen Resultate speziell auf den Fremdsprachenunterricht zu übertragen (H ATTIE -Reihe in Praxis Fremdsprachenunterricht 2014/ 15; D E F LORIO -H ANSEN 2014). Die Wiederentdeckung der Lehrer-Perspektive fand ihren Niederschlag auch im Rahmenthema der 26. Tagung der DGFF 2015 (Sprachen lehren) sowie im FLuL-Heft „Der Fremdsprachenlehrer im Fokus“ (K ÖNIGS 2014). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 124 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 3.6 Unterrichtsmethodik Als Antworten auf Heterogenität sind Individualisierung, Differenzierung, autonomes und kooperatives Lernen längst zu modischen buzzwords im aktuellen bildungspolitischen Diskurs avanciert. Ob und wie die hehren Ideale effektiv im konkreten Englischunterricht umgesetzt werden können, entzieht sich dagegen bislang weitgehend empirischer Validierung. Neben kooperativem Lernen und der Verwendung von Lernstrategien gerät Mehrsprachigkeit immer stärker in das Blickfeld der Forschung. H U s qualitativempirische Studie (2003) zum Verhältnis von schulischem Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingtem Multilingualismus problematisiert dieses Konzept im Spannungsfeld von Identität, Sprachenpolitik und schulischer Realität vor dem Hintergrund des didaktischen und kulturwissenschaftlichen Diskurses und entwickelt Konsequenzen für die fremdsprachendidaktische Forschung und Lehrerausbildung. J AKISCH (2015) skizziert potenzielle Mehrsprachigkeitsfelder, gibt Einblicke in die Sichtweisen der Beteiligten (Befragung von über 250 Schüler/ -innen und 15 Lehrkräften) und erkennt, dass mit einer Öffnung des Englischunterrichts für Mehrsprachigkeit nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken verbunden sind. Angesichts der aktuellen politischen Situation wird die Notwendigkeit der Erforschung von Multilingualismus/ Multikulturalität und Heterogenität in Deutschland in Zukunft noch verstärkt. Vor dem Hintergrund der Forderung, den lehrerzentrierten Frontalunterricht abzuschaffen und den (Fremdsprachen-)Unterricht hin zu stärker schülerorientierten Methoden zu öffnen, legt T HALER (2007) die unterschiedlichen theoretischen und praktisch-pädagogischen Wurzeln des Offenheits-Paradigmas frei, bestimmt die Merkmale offenen Englischunterrichts, analysiert 27 offene Lernarrangements und validiert die Erkenntnisse an den 44 MODUS-21-Schulen in Bayern, an denen Reformmodelle erprobt wurden. Aufgrund der großen Defizite offenen Unterrichts plädiert er für Balanced Teaching i.e.S., d.h. eine didaktisch sinnvolle Kombination offener und geschlossener Lernarrangements, sowie Balanced Teaching i.w.S., d.h. eine Balance in weiteren 20 unterrichtspraktischen Bereichen (z.B. Kompetenzen, Aufgaben, Sozialformen, Medien, Lehrerrolle, Lernerrolle, Tempo, Klassenzimmerdiskurs, Atmosphäre, Leistungsmessung). S TROHN (2015) geht zu Recht davon aus, dass die subjektiven Theorien der Englischlehrer/ -innen einen großen Einfluss auf den Einsatz von binnendifferenzierenden Maßnahmen in ihrem Unterricht haben. Als Fazit fordert sie eine „Balance zwischen einerseits einem klar strukturierten, lehrerzentrierten Klassenunterricht mit einer Differenzierung von oben sowie einem Blick auf die Lerngruppe und andererseits einem abwechslungsreichen, von den individuellen Schülern ausgehenden Unterricht mit einer Individualisierung von unten“ (2015: 491). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 125 46 (2017) • Heft 1 3.7 Mediendidaktik Der technologische Fortschritt findet seinen Niederschlag natürlich auch in der Forschungslandschaft. Die Anzahl der Arbeiten, die sich mit den didaktisch-methodischen Fragen und weniger den technischen Problemen beschäftigen und dabei gezielt den Englischunterricht ins Blickfeld rücken, ist allerdings überschaubar. Seit 1992 findet regelmäßig das von G IENOW und H ELLWIG begründete Mediendidaktische Kolloquium statt, aus dem jeweils Themenbände hervorgehen, zuletzt zu „Web 2.0 und komplexe Lernaufgaben“ (B LELL / BECKER / RÖSSLER 2016). L EGUTKE / R ÖSLER (2005) kombinierten CLT (Communicative Language Teaching) mit CMC (Computer-Mediated Communication) in der universitären Lehrerausbildung und kommen zu dem Schluss, dass zukünftige Ausbildungsformen den Studierenden ermöglichen sollten, individuelle Lernprozesse zu reflektieren und kooperative Lernformen als integrale Komponenten zu erfahren (vgl. ebd.: 190). S CHMIDT (2007) interessierte sich in seiner explorativ-interpretativ angelegten Arbeit für lernprogrammgestützte Partnerarbeitsphasen. H UBER s (2009) Forschungsobjekt waren Laptop-Klassen im Englischunterricht. Neben Computer und Internet erfuhren auch Filme größere Aufmerksamkeit. H ENSELER / S URKAMP / M ÖLLER (2011) veranschaulichen die große Bandbreite des Filmeinsatzes mit vielen Daten und Tipps. L ÜTGE (2012) entwirft ein Curriculum für den kontinuierlichen Aufbau des Filmverstehens. T HALER (2014) zeigt das methodisch-didaktische Potential von short, medium und long formats auf und schlägt für letztere vier methodische Zugänge vor: straight-through approach, segment approach, sandwich approach, clip approach. 3.8 Lehrerausbildung Nicht erst seit H ATTIE spielt die Rolle des Lehrers und damit die Bedeutung der Lehrerausbildung eine große Rolle (H ATTIE 2009; 2012; T ERHART et al. 2011). Relevante Forschungsfragen eruieren die notwendigen Kompetenzen einer Lehrkraft, ihre subjektiven Theorien, die Gestaltung der unterschiedlichen Phasen der Lehrerbildung oder die Professionalisierung des Lehrerberufs - allerdings häufig ohne konkreten fachspezifischen Bezug zum Englischlehrer. Unter Bezugnahme auf Lehrerausbildungsforschung und professionstheoretische Ansätze (subjektive Theorien, Donald S CHÖN s Konzept des „reflektierenden Praktikers“) entwirft S CHOCKER - VON D ITFURTH (2001) ein Ausbildungsmodell im Kontext des Fachpraktikums, in dem die Studierenden sich mit lernbiografisch prägendem Erfahrungswissen, ausgewählten fachdidaktischen Wissensbeständen und den Lehr- und Lernprozessen im fremdsprachigen Klassenzimmer auseinandersetzen. Dabei identifiziert sie u.a. 4 Typen von (zukünftigen) Lehrkräften: „Anglophile“, „Pädagogen“, „Unsichere“, „Entertainer“. Die Akzeptanz und Effektivität von Blended Learning-Konzepten in der Fremdsprachenlehrerausbildung untersucht G RÜNEWALD (2009) mittels Fragebogen und Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 126 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 Online-Interviews an 186 Lehramtsstudierenden unterschiedlicher Sprachen aus drei Universitäten. Die Resultate ergeben eine positive Einstellung der Studierenden gegenüber neuen Medien und Computer-unterstütztem Lehren und Lernen. Die empirische Studie von Ö ZKUL (2011) erörtert auf der Basis einer breiten Umfrage an deutschen Universitäten, welche Motive Studierende dazu bewegen, Englischlehrer/ -in zu werden. R AITH (2011) begleitete in Fallstudien Lehramtsanwärter für die Realschule in Baden-Württemberg und zeigt an Praxismodellen, wie durch standardbasierte Reflexion des Unterrichts aufgabenorientierte Kompetenzen in der Lehrerausbildung gefördert werden können. W IPPERFÜRTH (2015) beschäftigte sich mit professional vision in Lehrernetzwerken, konzipiert eine „reflective best practice in dialogue“ und zeigt damit, wie die Berufssprache einen Weg und ein Ziel der Professionalisierung von Lehrkräften darstellen kann. 3.9 Lehrwerksforschung Die Lehrwerksforschung erstreckt sich auf die Konzeptionierung, Entwicklung, Analyse, empirische Evaluation und Kritik von Lehrwerken. Die Relevanz des Lehrwerks resultiert aus seiner Doppel-Funktion als „geheimer Lehrplan“ (Mittler zwischen offiziellem Lehrplan und Unterrichtsplanung) und „äußerem Lehrplan“, d.h. bildungspolitische, fachdidaktisch-methodische und curriculare Innovationen werden am besten durch Lehrwerke multipliziert. Sie können als Transmissionsriemen für englischdidaktische Forschungsergebnisse wirken - und selbst zum Objekt empirischer Studien werden. Bereits die vorletzte Lehrwerk-Generation (z.B. für Gymnasium: English G 21, Summit, Camden Town, Green Line) orientierte sich partiell an der Output-Orientierung. Die neueste Generation an Lehrwerken, z.B. Access (2016), verfolgt noch dezidierter die Orientierung an den Kompetenzen der Bildungsstandards; dazu kommt die Betonung von Aufgaben, Differenzierung, kooperativen Lernformen, Medienintegration und lebensweltlichem Bezug. Immer wieder dienen Lehrwerke auch als Gegenstand quantitativer und qualitativer Untersuchungen, z.B. eine aktuelle Studie zum Vergleich von Lehrbüchern in vier verschiedenen Ländern hinsichtlich der Förderung von interkulturellem Lernen (V ALI 2015). 3.10 Überblickswerke Die systematische Anordnung des aktuellen Wissensstandes einer Fachdisziplin ist in doppelter Hinsicht forschungsrelevant. Sie dient als orientierende Zusammenfassung einschlägiger Forschung und liefert - durch die Darstellung von Forschungslücken - gleichzeitig Impulse für zukünftige Forschungsarbeiten. In den letzten 10 Jahren wurden mehrere Übersichtsdarstellungen und Einführungen in die Englischdidaktik veröffentlicht (z.B. H ASS 2006; K LIPPEL / D OFF 2007; T HALER 2012). Dazu kommen Fachdidaktik-Lexika (S URKAMP 2010) und Handbücher (H ALLET / K ÖNIGS 2010; H ALLET / K ÖNIGS 2013; B URWITZ -M ELZER et al. 2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000 - 2016 127 46 (2017) • Heft 1 Außerdem eröffnet der Sammelband von D OFF (2012) differenzierte Einblicke in das Feld der empirischen Fremdsprachenforschung mittels detaillierter Anwendungsbeispiele aus der Praxis. Er informiert über die Planung empirischer Arbeiten, illustriert anhand ausgewählter quantitativer und qualitativer Methoden die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses und stellt wichtige Instrumente der Datenerhebung, -analyse sowie -auswertung vor. Das aktuellste Handbuch von C ASPARI / K LIPPEL / L EGUTKE (2016) bietet einen systematischen Überblick über die Forschungsrichtungen und -methoden der Fremdsprachendidaktik, ausgehend von den drei grundlegenden Forschungsrichtungen der historischen, theoretischen und empirischen Forschung. 4. Rückblick und Ausblick Der kurze Überblick offenbart, dass die Englischdidaktik eine fruchtbare und breit gefächerte Forschungsdisziplin darstellt. Dabei wurden bestimmte Forschungsbereiche noch gar nicht gebührend berücksichtigt, etwa Literaturdidaktik (z.B. B URWITZ - M ELZER 2003; F REITAG -H ILD 2010; T HALER 2008; 2016b), Englisch als Lingua Franca (z.B. G NUTZMANN / I NTEMANN 2005) oder Grammatikvermittlung (z.B. D Ü - WELL / G NUTZMANN / K ÖNIGS 2000). Es überwiegen Einzelforschungen gegenüber Verbundprojekten, was in der Natur der Qualifikationsarbeiten und den Genehmigungstraditionen von DFG und anderen Förderinstitutionen begründet liegt. Impulse aus Nachbardisziplinen sind willkommen, und interdisziplinäre Projekte können vielversprechend sein, aber eine unreflektiert-unmündige Imitation von Forschungsmethoden aus anderen Disziplinen ist nicht angebracht. Seit der Ära der PISA-Ingenieure grassiert eine von Nützlichkeits-Ideologie inspirierte Messbarkeits-Manie, aber nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt. Das Lehren und Lernen von Englisch ist ein hochkomplexer Forschungsgegenstand, der sich aufgrund seiner Multiperspektivität (neben methodisch-didaktischen auch politische und vor allem menschlich-soziale Dimensionen) nicht dem Diktat ökonomisch motivierter Ansätze beugen darf. Basierend auf den drei grundständigen Forschungsrichtungen der historischen, theoretischen und empirischen Forschung, haben sowohl quantitative als auch qualitative Ansätze ihre Berechtigung, neben analytisch-nomologischen Methoden auch die explorativ-interventionistische Erfassung komplexen Unterrichtsgeschehens, neben statistischen Instrumenten auch integrative Reflexion. Ein Balanced-Research-Paradigma respektiert die Heterogenität der forschenden Persönlichkeiten, inkludiert die Breite der Erkenntnisziele / Erkenntnisobjekte / Erkenntnismethoden und akzeptiert die Komplexität von menschlichem Lehren, Lernen und Leben. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 128 Engelbert Thaler 46 (2017) • Heft 1 Literatur B ACH , Gerhard / N IEMEIER , Susanne (Hrsg.) (2010): Bilingualer Unterricht. Frankfurt/ M.: Lang. B AUMERT , Jürgen et al. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Opladen: Leske + Budrich. 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Bislang ist diese Entwicklung in der Fremdsprachendidaktik noch wenig rezipiert worden. Insofern verdient der vorliegende Sammelband eine besondere Aufmerksamkeit. Er geht aus einem 14-tägigen Erasmus Intensivprogramm mit dem Titel „Tracing European Space: Language, Culture, and Identity“ hervor, das 2014 an der FU Berlin mit DaF-Studierenden aus sechs verschiedenen Ländern stattfand. Ziel der Ausbildungsmaßnahme war es, am Beispiel Berlins die Teilnehmer/ innen anhand der Raumkategorie für landeskundlich-kulturelle Wahrnehmungen zu sensibilisieren und auf diesem Wege fremdsprachliches und vor allem interkulturelles Lernen miteinander zu verbinden. Dies geschah in praxisbezogener Weise über Erkundungen vor Ort oder über mediale Artefakte, aber auch über theoretische Einführungsveranstaltungen. Diese doppelte Ausrichtung spiegelt sich in dem Buch dergestalt wider, dass es neben zwei vorrangig theoretisch ausgerichteten Beiträgen sechs Berichte zu Lehr-Lern- Projekten umfasst. Den Band einleitend umreißen die beiden Herausgeberinnen gemeinsam mit Yvonne D ELHEY die Grundgedanken des genannten Intensivprogramms, dessen Zielsetzung und Durchführung sowie die Schwerpunktsetzungen der einzelnen Beiträge. Dem Zielkonzept der interkulturellen Kompetenz widmen sich Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ , Sabine J ENTGES und Antje S TORK . Hierbei lehnen sie sich an A UERNHEIMER s Gliederung in die Bereiche Wissen, Haltungen und Fähigkeiten an, welche sie wiederum einer kognitiven, einer affektiven und einer pragmatischen Dimension zuordnen. Dabei vertreten sie eine kulturrelativistische Position von der „Gleichwertigkeit aller Kulturen“, der zufolge es wichtig sei, „Angehörigen fremder Kulturen nicht das eigene Modell aufzunötigen“. In der hier gewählten Diktion zeigt sich ein Grundwiderspruch, der nicht nur im vorliegenden Band, sondern auch in anderen kulturdidaktischen Schriften zu finden ist. Er besteht darin, einerseits explizit ein Verständnis diskursiver Verfasstheit und damit von Heterogenität und Dynamik aller kulturellen Selbst- und Fremdzuschreibungen zu vertreten, andererseits jedoch in der Benennung konkreter didaktischer Zielsetzungen reduktionistische Formulierungen zu wählen, die homogenisierenden Sichtweisen einer statischen Verfasstheit von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ Vorschub leisten. Ein solcher Zwiespalt zeigt sich auch im zweiten Teil des Beitrags. Einige der dort vorgestellten „Aktivitäten zum interkulturellen Lernen“ geben zwar vielfältige Anregungen zur Reflexion lernerseitiger Vorannahmen sowie zu deren Revision, was im Einklang mit dem vertretenen Kulturkonzept steht, ein anderes Beispiel hingegen (kultursemantische Kontrastierung von Frühstücksgewohnheiten) lässt ein eher traditionelles Verständnis erkennen. Im zweiten Grundlagenbeitrag gehen Chiara C ERRI und Henriette D AUSEND auf neuere Raumkonzepte ein und fragen nach deren Eignung für ein interkulturelles und fremdsprachliches Lernen. An einer chinesischen Weltkarte aus dem 18. Jahrhundert illustrieren sie die Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 133 46 (2017) • Heft 1 zentrale These, dass Raumvorstellungen kulturell kodiert sind. Soziologische, geographische und kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen aufgreifend gehen sie zunächst auf S CHEFFER s Modell „selektiver Kulturräume“ (vgl. S. 38f.) ein. Dies strebe die „Erfassung der räumlichen Verteilung von Menschen mit bestimmten Eigenschaften“ an, was ermögliche, den Einzelnen als „nicht nur einer einzigen Kultur zugehörig, sondern als Teil unterschiedlicher Gemeinschaften“ zu betrachten (S CHEFFER , zitiert auf S. 38). Ähnlich seien die Überlegungen J OACHIMSTHALER s zur Überschneidung mehrerer Kulturräume an einem physischen Ort zu verstehen. In Abgrenzung zu älteren „Container“-Vorstellungen von ‚Raum‘ als „System von Lagebeziehungen materieller Objekte“ (S. 40) sei allerdings entscheidend, dass ‚Raum‘ nunmehr als Kategorie von Sinneswahrnehmungen und Bedeutungskonstruktionen verstanden werde. Veranschaulicht wird dies an mentalen Landkarten, die von DaF-Studierenden entworfen wurden. Die fremdsprachendidaktische Perspektive kommt am Ende des Beitrags in zwei von studentischer Seite entwickelten Unterrichtsvorschlägen zum Tragen, in denen die Kulturraumverdichtung am Beispiel der Universitätsstadt Marburg bzw. an Manifestationen von street art in einem nicht näher benannten urbanen Raum erkundet wird. Die nachfolgenden Projektberichte geben einen detaillierten Einblick in unterschiedliche Unterrichtsarrangements, in denen Raumwahrnehmungen thematisiert und zum Gegenstand kulturellen Lernens gemacht wurden. Im ersten verfolgen Corinna L ÖWE und Susanne S CHARNOWSKI eine ethno-/ historiographische Perspektive, indem sie die „Aneignung von Stadträumen in Jugendbuch und Film der DDR“ untersuchen. An unterschiedlichen Medientexten rekonstruierten die Studierenden unter ihrer Leitung die in den kulturellen Artefakten transportierten Vorstellungen des Lebens in der Metropole Berlin und kontrastieren diese mit eigenen, in aktuellen Ortserkundungen entstandenen Eindrücken. Letzteres bestimmt auch den Ansatz von Yvonne D ELHEY , Dorota O KONSKA und Andrea S CHÄFER , wenn sie zwei vorab an den Standorten Essen und Nijmegen bereits erprobte Unterrichtskonzepte miteinander kombinieren, in denen zum einen der fremdsprachliche Lernort Kunstmuseum, zum anderen die Stadt selbst als zu lesendes Palimpsest im Mittelpunkt standen. Mit Street Art als „Ausdrucksform menschlicher Bedürfnisse“ (S. 84) beschäftigte sich ein Vorhaben, das Henriette D AUSEND vorstellt. Einleitend hebt sie die Unterschiedlichkeit von Varianten (Graffiti, Tags, Pieces u.a.) und Funktionen der Street Art hervor. Symbole und Zeichen würden, so ist zu lesen, nicht nur verbreitet, um das eigene „Alter Ego innerhalb der individuellen subkulturellen Zugehörigkeit zu definieren, Raum zu markieren und Existenzen zu legitimieren“ (S. 88), sondern auch um auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen und „das Recht auf Mitgestaltung des öffentlichen Raums einzufordern“ (ebd.). Vor dem Hintergrund einer auf diese Zusammenhänge gerichteten Einführung erstellten Studierende arbeitsteilig in Gruppen Planungsmodelle einer Unterrichtseinheit, deren Ziel es ist, über Berliner Stadterkundungen „Street Art als Indikator gesellschaftlicher Ideen lesen“ (S. 90) zu lernen. Um „Räume als Schlüssel zum landeskundlichen Lernen“ (so der Titel) geht es nachfolgend Chiara C ERRI und Sabine J ENTGES . Vor dem Hintergrund eines Rückblicks auf Landeskundekonzepte der Vergangenheit argumentieren sie, dass der Raumansatz besser als jene dem landeskundlichen Unterricht ein solides theoretisches Fundament vermitteln könne. Die in ihrem Projekt erarbeiteten Unterrichtsvorschläge basieren erneut auf Stadterkundungen. Dies gilt ebenso für den Beitrag von Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ und Antje S TORK , mit dem Unterschied allerdings, dass hier ausgehend von Denkmälern Unterrichtsvorschläge entwickelt werden, welche die Wahrnehmung bedeutender Persönlichkeiten der alten Bundesrepublik zu rekonstruieren versuchen. Den Band beschließt ein Text von Camilla B ADSTÜBNER -K IZIG und Marta J ACHANOWSKA - B UDYCH zur Frage, wie vergangene städtische Räume medial erfahren und didaktisch genutzt Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 134 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 werden können. Grundlage bilden hier Spielfilme aus dem bzw. über das Berlin der 1920er/ 1930er Jahre. Fremdsprachenunterricht hat, wie die beiden letztgenannten Autorinnen anmerken, ein grundsätzliches Raumproblem und damit „einen besonderen Grund, sich den Einflüssen des spatial turn zu öffnen“ (S. 133f.). Denn anders als der Zweitsprachenunterricht finde er in der Regel in Räumen statt, in denen die Verwendung der Fremdsprache nicht zwingend notwendig ist, weswegen er sich „in einer Art künstlichem Raum-Zeit-Konstrukt“ (S. 134) abspiele. Inwieweit jedoch der spatial turn für die Fremdsprachendidaktik grundlegend neue Perspektiven vermitteln kann, muss auch nach der Lektüre des Buches offen bleiben. Impulse zur Gestaltung einer erlebnisbasierten Fremdsprachenvermittlung, wie die im Band dargelegten, können zum einen an den in einem Exkurs behandelten Ansatz der „Erlebten Landeskunde“ zurückgreifen, zum anderen dürfte signifikant sein, dass es den Studierenden z.T. schwer fiel, die „vor Ort (in Berlin) erfahrenen didaktischen Ansätze auf die Situation an einem anderen Ort zu übertragen“ (S. 150). Damit erscheint der mögliche Anwendungsbereich der vorgestellten Projekte doch begrenzt. Innerhalb der angesprochenen doppelten Ausrichtung des Bandes auf Praxisberichte und theoretische Grundsatzüberlegungen überwiegt die erstgenannte. Der geleistete Beitrag zur theoretischen Fundierung eines am Raumkonzept orientierten fremdsprachlich-kulturellen Lernens verdient gewiss Anerkennung, bedarf jedoch weiterer Studien. Nicht nur für die Kultur-, sondern besonders auch für die Literaturdidaktik dürften hier noch unentdeckte Potenziale liegen. Des Weiteren wäre es angesichts des grundsätzlichen Raumproblems fremdsprachlichen Lernens vermutlich ergiebig, die zahlreichen bestehenden Forschungen zum fremdsprachlichen Klassenraum, zu außerschulischen Lernorten, zu virtuellen Lernräumen, zum „dritten Raum“ etc. im Lichte des spatial turn neu zu perspektivieren. Dies hingegen will der vorliegende Band nicht leisten. Sein Fokus liegt eindeutig auf den landeskundlichen Aspekten von Raumerkundungen. Hierzu liefert er lesenswerte Anregungen. Berlin L UTZ K ÜSTER Bettina D EUTSCH : Mehrsprachigkeit durch bilingualen Unterricht? Analysen der Sichtweisen aus europäischer Bildungspolitik, Fremdsprachendidaktik und Unterrichtspraxis. Frankfurt/ M.: Lang 2016 (Kolloquium Fremdsprachenunterricht; Band 55), 310 Seiten [€ 53,20] Bei dem nachfolgend rezensierten Werk handelt es sich um die im Jahr 2015 eingereichte Dissertationsschrift von Bettina D EUTSCH , mit der diese das Ziel verfolgt, „ein differenziertes Gesamtbild vom Beitrag des bilingualen Unterrichts für die Förderung von Mehrsprachigkeit“ (3) zu zeichnen, indem „die postulierten und vermuteten Zusammenhänge zwischen den Konzepten von Mehrsprachigkeit und bilingualem Unterricht/ CLIL“ (ibid.) aus verschiedenen Perspektiven herausgearbeitet werden. Hierdurch möchte die Verfasserin Antworten darauf finden, welche Auffassungen Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler von den Konzepten Mehrsprachigkeit und bilingualer Unterricht haben und inwiefern diese Konzepte miteinander verbunden werden. Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen gliedert D EUTSCH ihre Arbeit in sieben Kapitel. Nach einer Einleitung, in der die o.g. Ziele der Arbeit angeführt werden, widmet sich die Verfasserin in den Kapiteln 2 und 3 den beiden zentralen Begriffen der Arbeit sowohl aus sprachenpolitisch europäischer als auch aus fremdsprachendidaktischer Sicht. Sie zeichnet hierbei einerseits die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nach und erläutert anderer- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 135 46 (2017) • Heft 1 seits zentrale Ziele und Prinzipien einer Didaktik der Mehrsprachigkeit und des bilingualen Unterrichts. D EUTSCH untersucht in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von Dokumenten, die in den letzten Jahrzehnten von verschiedenen europäischen Institutionen veröffentlicht wurden, und stellt fest, dass beide Konzepte „auf europäischer Ebene bis auf weiteres unverbunden nebeneinander stehen“ (47), da eine „explizite Förderung mehrerer Fremdsprachen durch den CLIL-Ansatz […] in den ausgewählten europapolitischen Dokumenten keine Rolle“ spiele und somit der CLIL-Ansatz „als Beitrag zu einem eher additiven Konzept von Mehrsprachigkeit […] reduziert“ werde (ibid.). Die Betrachtung der beiden Konzepte aus einer fremdsprachendidaktischen Sichtweise offenbart hingegen, dass bspw. die Interkomprehension als „Kern der Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (57) gesehen wird und somit das Verständnis einer integrierten (statt additiven) Mehrsprachigkeit vorherrschend ist. In Bezug auf die Organisationsformen und Ziele des bilingualen Unterrichts wird deutlich, dass grundsätzlich eine doppelte Sachfachliteralität gefördert werden soll, also eine bi-linguale und bi-kulturelle Kompetenz hinsichtlich der Inhalte und der Sprachen, wenngleich es in der Regel „jedoch im bilingualen Unterricht zum Einsatz von nur einer Fremdsprache“ (83) kommt und somit auch „nur eine Sprache wirklich intensiv gefördert“ (84) wird. Hiervon abgesehen kristallisieren sich allerdings einzelne Aspekte heraus, die im Rahmen eines bilingualen Unterrichts sehr wohl im Sinne einer Mehrsprachigkeitsförderung betrachtet werden können, so z.B. ein sprachreflexives Vorgehen, die Bewusstmachung von methodischen Kompetenzen oder die Bedeutung interkultureller Kompetenzen. Die theoretisch basierte Sicht wird in den sich anschließenden Kapiteln 4 und 5 um die Perspektive von insgesamt 21 Lehrkräften sowie 75 Schülerinnen und Schülern aus vier verschiedenen Schulen ergänzt. Zunächst erläutert D EUTSCH auf 40 Seiten das methodische Vorgehen im Rahmen ihrer empirischen Studie. Es wird deutlich, dass die Wahl der einzelnen Schritte und Erhebungsinstrumente (Gruppendiskussionen, Fragebögen) wohl durchdacht ist; die Studie wird m.E. sämtlichen Gütekriterien qualitativer Forschung gerecht, da sämtliche Überlegungen - sei es zur Auswahl der Probanden, sei es zu den Schritten der Datenaufbereitung und -analyse - systematisch nachgezeichnet und reflektiert werden und somit für die Leserschaft intersubjektiv nachvollziehbar sind. Das Herzstück der Arbeit bildet Kapitel 5 (S. 135-225), das die Darstellung der Analyseergebnisse der Gruppendiskussionen mit den Lehrkräften und der Analyseergebnisse der Fragebogenstudie mit den Schülerinnen und Schülern umfasst. Die Ausführungen sind an die Leitfragen bei den Gruppendiskussionen bzw. beim Fragebogen angelehnt und thematisieren lehrer- und schülerseitig u.a. die Auffassungen von Mehrsprachigkeit, Möglichkeiten zur Förderung von Mehrsprachigkeit (im Unterricht und außerschulisch), die Ziele bilingualen Unterrichts sowie den bilingualen Unterricht als „optimalen“ Weg zur Mehrsprachigkeitsförderung. Die einzelnen Aspekte werden zunächst in den Unterkapiteln 5.1.1 bis 5.1.6, die wiederum jeweils mit einer kurzen kommentierten Zusammenfassung enden, aus der Perspektive der Lehrkräfte dargestellt und sodann die zentralen Ergebnisse in Kap. 5.1.7 noch einmal zusammengefasst. Analog geht D EUTSCH bei der Beschreibung der Ergebnisse aus Schülersicht in Kapitel 5.2 vor; in Kapitel 5.3 werden die jeweiligen Ergebnisse dann noch einmal zusammengeführt. Aus Sicht des Rezensenten kommt es hierdurch unweigerlich zu diversen Redundanzen, bspw. wird die Feststellung, dass die befragten Lehrkräfte in Bezug auf den Mehrsprachigkeitsbegriff unsicher sind und schließlich im Laufe der Diskussionen zu einem additiven Verständnis gelangen, in kurzer Abfolge in gehäufter Form erwähnt. Von Interesse sind hingegen die Ergebnisse selbst: So wird u.a. deutlich, dass die Lehrkräfte nur sehr vereinzelt auf den Aspekt des (interkomprehensiven) Sprachvergleichs als Merkmal eines (integrierten) Mehrsprachigkeitsbegriffs eingehen (siehe hierzu die Aussage einer Lehrkraft auf S. 143: „[…] dann versucht Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 136 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 man mal so ein bisschen Parallelen zu ziehen, […]“), was wiederum für ein sehr punktuelles und unsystematisches Vorgehen spricht. Darüber hinaus erachten sie mehrheitlich die intensive Förderung einer Fremdsprache bereits als Wegbereiter für Mehrsprachigkeit (vgl. 151), sehen Mehrsprachigkeit eher als Ergebnis, das „sich einstellt, wenn mehrere Sprachen möglichst sehr gut beherrscht werden“ (147) und verorten „Mehrsprachigkeit und deren Förderung außerhalb der Institution Schule“ (157), was darauf hindeutet, dass die „einzelnen Fremdsprachen […] bei den befragten Lehrer_innen eher nebeneinander zu stehen [scheinen] und, wie in der Schule üblich, nach Schulfächern getrennt betrachtet werden“ (165). In der Summe sehen die Lehrkräfte den bilingualen Unterricht nicht als optimalen Weg zur Mehrsprachigkeitsförderung, wenngleich einzelne Aspekte wie z.B. der Einsatz authentischer Materialien, eine erhöhte sprachreflexive Betrachtungsweise und die Anwendung methodischer Kompetenzen (Strategien) eine Tür Richtung Mehrsprachigkeit im Sinne einer erhöhten Sprach(en)bewusstheit und Sprachlernbewusstheit zu öffnen vermögen. Die Analyse der Schülerperspektive wird durch eine (m.E. in Teilen zu) extensive Beschreibung von Sprachenporträts eingeleitet, die zudem an einzelnen Stellen sehr subjektive und daher „gewagte“ Interpretationen enthält (z.B. auf S. 181 und 186), wenngleich D EUTSCH mehrfach selbst darauf hinweist (183, 271). Die Sprachenporträts sollen die Funktion erfüllen, „Hinweise zum Stellenwert der bilingual unterrichteten Fremdsprache Französisch zu erhalten“ (176) und zudem den Schülerinnen und Schülern einen „affektiven, kreativen und intuitiven Zugang zur Thematik“ (270) ermöglichen. Auch wenn die Verfasserin rückblickend das Ausfüllen eines Sprachenporträts als „forschungsmethodisch ergiebig“ und „die daraus gewonnenen Ergebnisse als sehr spannend“ (270) bezeichnet, wird bei der Lektüre der Bezug zu den eingangs gestellten Forschungsfragen m.E. nicht immer ausreichend deutlich. Hiervon abgesehen zeigt die Analyse der Fragebögen, dass die Schülerinnen und Schüler keinen direkten Bezug zwischen bilingualem Unterricht und Mehrsprachigkeit sehen. Wie bei den Lehrkräften lassen die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler „auf ein additives, verschiedene Sprachen isoliert behandelndes Konzept von Mehrsprachigkeit“ schließen (212). Explizite Verbindungen zwischen den Sprachen werden nicht hergestellt, und auch die Einbindung der vorhandenen Mehrsprachigkeit (Herkunftssprachen) spielt - wie bei den Lehrkräften - keine Rolle (vgl. z.B. 213). Lediglich indirekt wird der bilinguale Unterricht als Wegbereiter für Mehrsprachigkeit eingeschätzt, indem die vertiefte Kenntnis einer Fremdsprache als Voraussetzung für (eine zu einem späteren Zeitpunkt zu erlangende) Mehrsprachigkeit angesehen wird und indem im Rahmen des bilingualen Unterrichts verstärkt fächerübergreifende und somit übertragbare Kompetenzen eine Rolle spielen (interkulturelle K., methodische K.). Der Vergleich zwischen verschiedenen Sprachen als Kern der Mehrsprachigkeitsdidaktik (s.o.) bleibt sowohl auf Lehrerals auch auf Schülerseite nahezu unerwähnt. Letzten Endes hält die Verfasserin fest, dass der bilinguale Unterricht „nicht automatisch mehrsprachige Schüler_innen [ausbildet], […] jedoch wichtige Grundlagen [legt]“, die wiederum die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler fördern (können) (225). In Kapitel 6 werden die verschiedenen Perspektiven (Sprachenpolitik, Fremdsprachendidaktik, Unterrichtspraxis) miteinander verschränkt. In diesem Zusammenhang werden die zuvor erläuterten Analyseergebnisse auf die in den Kapiteln 2 und 3 beschriebenen sprachenpolitischen Dokumente sowie fremdsprachendidaktischen Konzepte in gelungener Weise bezogen. In Bezug auf den Beitrag des bilingualen Unterrichts zur Förderung von Mehrsprachigkeit hält die Verfasserin als Ergebnis u.a. fest: „Hier deutet sich eine Diskrepanz zwischen den europapolitischen Zielsetzungen, den theoretischen Annahmen und der schulpraktischen Realität an. Lehrkräfte scheinen die Förderung von Mehrsprachigkeit im bilingualen Unterricht nicht im Blick zu haben“ (247). Den Abschluss der Arbeit bildet Kapitel 7 mit Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 137 46 (2017) • Heft 1 einer Reflexion der beiden Teile zur Theorie und Empirie, welche noch einmal den hohen Anspruch auf ein forschungsmethodisch einwandfreies Vorgehen unterstreicht. In der Summe handelt es sich bei der Dissertationsschrift um ein sehr lesenswertes Werk, das vor allem durch seine inhaltliche Tiefe in Bezug auf die beschriebenen Konzepte, die Multiperspektivität sowie die hohe Reflexivität hinsichtlich der Forschungsmethodik positiv auffällt, wenngleich m.E. der Aspekt des Sprachenvergleichs im Rahmen der Auffassungen zum Mehrsprachigkeitsbegriff (in Theorie und Empirie) zu kurz kommt und redundante Wiederholungen in den Kapiteln 5 und 6 durch einen Rückbezug der lehrer- und schülerseitigen Aussagen an die Theorie bereits in Kapitel 5 hätten vermieden werden können. Wuppertal M ARCUS B ÄR Barbara P IZZICONI , Miriam A. L OCHER (eds.): Teaching and Learning (Im)Politeness. Berlin and Boston: de Gruyter Mouton 2015, 272 Seiten [€ 99,95]. Over the last few decades, discourse and conversation analysis, ethnomethodology, foreign language teaching and learning and pragmatics have all seen a notable proliferation of research taking a particular perspective on language-in-performance. What all their academic endeavours show is a clear shift from Aristotelian-Leibnizian ways of meaning-making in language to an understanding of meaning in natural language seen primarily as an analogical system, constituted and characterised by culture-specific social practices, activities, morality, beliefs, values, identities, and ideologies of communities of practice. Seminal moments in the theoretical development have included G OFFMAN ’s conception of ‘negative’ and ‘positive face’ and its sociopragmatic elaboration by B ROWN and L EVINSON that excited tremendous interest. It is not surprising, therefore, that in addressing these issues, typically covered by the folk term ‘politeness’, the editors in the collective volume under review give it centre stage. In exploring ways of indexing and regulating social relations in a community and in contemplating teaching and learning these, they put ‘politeness’ onto a sound basis as an empirical science, and all the papers in the volume under review here are exemplary. In the following, I will provide very brief synopses of the nine contributions included, thus not really doing justice to the intricacies and complexities of some of the papers, but I will also try to highlight some of the issues raised and conclude with a very brief overview and evaluation. The contributions in the collective volume clearly address the specialist, but the articles are also written at a level suitable for postgraduates with sufficient prior exposure to discourse analysis or conversation analysis and politeness theory. The contributions discuss topics relevant in a number of (sometimes) divergent disciplines such as language acquisition, language pedagogy and (interpersonal) pragmatics, thus illustrating why the most exciting work in the language sciences today is conducted across disciplinary boundaries. Following an instructive introduction, the volume is split into two sections: (i) (im)politeness in L2 instructional contexts and (ii) ‘teaching’ and ‘learning’ (about) (im)politeness in L1 and L2. The introduction provides the reader with brief information on current research in politeness theory, bridging the gap to aspects of cultural transmission and acculturation in many diverse contexts via a very broad definition of instructional learning and teaching as flexible and adaptive processes in the language classroom. It is both the understanding of language and “(im)politeness as socially disputed, situationally emergent, dialogic and indexical concept” (p. 10), coupled with ways of sensitising the language learner to cultural variability (via awareness-raising Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 138 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 techniques or form-focused instruction, for example) that constitute the gist of this volume. Section (i) starts out with a paper by B ELLA , S IFIANOU and T ZANNE entitled “Teaching politeness? ” and is mainly concerned with new ways of teaching politeness in the context of foreign languages. The paper draws on an impressive array of theoretical and practical frameworks, turning the entire endeavour into an eclectic enterprise. With the Common European Framework of Reference for Languages (CEFR 2001, see also below) and B ROWN and L EVINSON ’s rule-, maximand strategy-based approach as cornerstones, ‘politeness’ is grasped as an emergent property of interaction, and this insight leads to a number of suggestions for addressing politeness in the foreign language classroom (i.e. introduction of speech acts as minimal units of discourse, focus on situated discourse with corpus data ‘refined’ for instructional purposes, techniques of awareness-raising, focus on teaching solidarity devices, etc.). The article by G YOGI on “Voices from the Japanese language classroom: Honorifics do far more than politeness” highlights the indexical properties of honorifics in everyday and classroom language, with intermediate learners of Japanese struggling to contribute to the construction of social identities in a ‘proper’ way; learners in this paper are construed as speakers in their own right rather than being viewed as deficient native speakers of Japanese. The paper by R IEGER (“(Im)politeness and L2 socialization: Using reactions from online fora to a world leader’s ‘impolite’ behaviour”) focuses on the teaching and learning of (im)politeness, exemplified by German classes at North American colleges and universities with the aim of enhancing awareness of the socio-cultural and socio-pragmatic situatedness of relational work in particular ‘communities of practice’. P IZZICONI ’s “Teaching and learning (im)politeness: A look at the CEFR and pedagogical research” aims to show that the CEFR (see above) is, at least in its descriptive scheme, sufficiently comprehensive, but evidently unable to grasp all the ‘polite’ subtleties evolving from the interactants’ relational work in intercultural and intracultural encounters. Section (ii) outlines current research into different contexts of use in which (im)politeness manifestations do not constitute learning outcomes in instructional settings, but in which (im)politeness manifestations may give rise to discussions of norms and expectations, and possibly (im)proper exploitations. M APSON ’s “Paths to politeness: Exploring how professional interpreters develop an understanding of politeness norms in British Sign Language and English” introduces concepts such as ‘signed language’, ‘bimodal bilinguals’, ‘code-blending’ or ‘blended transfer’, thus drawing a boundary line between the aural/ oral modality of English and the visual/ spatial one of British Sign Language. Given the fact that meaning construction in dialogue and social interaction, shared attention, cooperative activity and shared cognition are key to meaningful and polite language use in all communities of practice, the paper is able to show that different socialisation paths of deaf sign users and non-deaf language users contribute to different perceptions of norms and expectations. In the paper “”After all, the last thing I wanted to be rude”: Raising of pragmatic awareness through reflective writing”, L OCHER emphasises the need for reflective writing as an established professional practice, both in medical education and elsewhere. She maps out an interdisciplinary research field that encompasses much more than the study of ordinary ‘polite’ forms in doctor-patient communication in that she explores students’ metapragmatic comments (as techniques of meta-pragmatic awareness raising) on face and rapport management, including comments on the transactional, interpersonal and non-verbal dimensions involved. B URDELSKI ’s paper on “Children instructing kin and peers in politeness routines in Japanese” expands the scope of the papers found in this section, dealing with verbal and non-verbal ways of Japanese-speaking children informally socialising other children to politeness, i.e. non-honorific expressions used especially among in-group members. The author explains some ways in which audiovisual recordings of naturally occurring interaction can enrich, sup- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 139 46 (2017) • Heft 1 plement, and provide a framework for future research in interaction studies. In the final paper of the volume (“Epilogue: Impoliteness in learning and teaching”), H OUSE turns specifically to issues in interlanguage pragmatics and pragmatics in language learning and teaching; her focus in this paper is on her integrated multilevel model of (im)politeness, claiming that impoliteness in particular is an important form of social practice that deserves proper treatment in foreign language classrooms. Working at the intersection of theoretical, experimental and data-based and data-driven approaches, the research presented in this volume inspires the reader to look beyond disciplinary boundaries and to observe language-in-use from angles well-established in pragmatics, sociology, foreign language teaching and learning, interlanguage pragmatics, etc., simultaneously marking the maturity of the research field. The synthesis of different viewpoints is one of the strengths of the volume, leading to processes of cross-fertilisation on the part of the reader and the scholar. The volume isolates several helpful insights from different disciplines and suggests areas for future research, either implicitly or explicitly. On the whole, well-readable papers predominate in the volume; but this is also to say that not all contributions are appealing to the novice or the expert to the very same degree. Everybody who has edited a collection of papers knows how difficult it is to bring different viewpoints and methodologies into a reasonable structure; the editors of this volume have succeeded well in this respect. Given that so many papers share the ‘politeness’ modifier in their titles, one might fall under the impression that there is a consistent model of politeness that unites all the contributions in the volume. Unfortunately, a couple of ‘polite’ approaches to interaction often draw inconsistently and ambiguously from a range of first and second-generation ‘politeness’ models and weld them together, thereby retaining such ill-conceived distinctions as between ‘linguistic politeness’ and ‘non-linguistic politeness’, or should it rather be ‘face work’, ‘face management’ or ‘rapport management’? The inconsistent employment of different ‘politeness’ terms and frameworks, however, does not brush aside the important and laudable advances made in the fields covered in the volume. Hannover R AINER S CHULZE Claudia S CHLAAK : Fremdsprachendidaktik und Inklusionspädagogik. Herausforderungen im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit. Stuttgart: Ibidem 2015 (Reihe: Romanische Sprachen und ihre Didaktik, Band 55), 154 Seiten [€ 24,90] Claudia Schlaak appelliert in der vorliegenden Arbeit dafür, Inklusion nicht nur auf Lernende mit Behinderung jeglicher Art zu beziehen, wie es ihrer Aussage nach aufgrund der Verbindung zur UN-Behindertenrechtskonvention noch oft geschehe, sondern auch auf mehrsprachige Lernende mit Migrationshintergrund. Hintergrund dieses Appells ist die Überzeugung, dass Inklusion in der Schule die Toleranz und Anerkennung von Verschiedenartigkeit innerhalb der Gesamtgesellschaft fördert. Dies sei derzeit besonders bedeutsam, da vor dem Hintergrund kriegerischer Handlungen z.B. in Syrien, im Irak und Afghanistan die nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendliche beschult werden müssen. Eine gemeinsame Beschulung dieser Kinder stellt eine erhebliche Herausforderung für das deutsche Bildungs- und Schulsystem dar (S. 10). Die Studie ist in drei Teile gegliedert: In Teil I beschäftigt sich Schlaak zunächst mit theoretischen Grundlagen von Inklusion sowie Mehrsprachigkeit und Migration. In Teil II werden Umsetzungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einer inklusiven Mehrsprachigkeits- und Fremd- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 140 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 sprachendidaktik diskutiert. Teil III schließlich enthält die Auswertung einer Befragung zweier involvierter Personengruppen: a) Lehrkräfte von Deutschlernklassen für Kinder mit Migrationshintergrund sowie b) zukünftige Fremdsprachenlehrkräfte. Positiv ist hervorzuheben, dass sich die Autorin eines Themas annimmt, das in der inklusiven Didaktik bisher wenig gewürdigt worden ist. Es erscheint gerade im Anbetracht hoher Zuwanderungszahlen bedeutsam, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Migration und Mehrsprachigkeit, so wie es die Autorin betont, als Chance und Potenzial zu sehen sind. Ebenso ist die Auswertung der oben erwähnten Befragung von Akteuren im Rahmen einer Fragebogenstudie aufschlussreich (S. 75-121), da hier die verschiedenen Bedarfe der Lehrpersonen - seien es nun bereits tätige Lehrkräfte für die so genannten „Willkommensklassen“ oder zukünftige Lehrkräfte, die zurzeit noch ein Lehramtsstudium absolvieren - zu Wort kommen und sehr disparate Vorstellungen von und unterschiedliche Erfahrungen mit Inklusion und ihrer Umsetzung zum Ausdruck bringen. Die ersten beiden Teile der vorliegenden Studie sind jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch. Der Autorin gelingt es nicht, das Prinzip der Inklusion differenziert darzustellen. Sie zitiert zwar H INZ (2014) 1 mit dem Hinweis, dass es unterschiedliche Positionen zur Frage gebe, „wie eng bzw. wie weit der inklusive Blick“ zu fassen sei (S. 31), konkretisiert diese Positionen jedoch an keiner Stelle. Stattdessen versteigt sie sich zu Beginn der Studie zu vagen Äußerungen wie der folgenden „Dass Inklusion ein Idealzustand ähnlich einer Utopie ist, der kaum erreicht werden kann, ist nicht schlimm, denn ‚ideal‘ ist in der Realität tatsächlich kaum erreichbar“ (S. 9, vgl. auch S. 34). Weiterhin heißt es auf S. 61: „Der eine lernt die Vokabel ein wenig später als der andere - das heißt nicht, dass er dümmer ist“ (sic! ). Zum anderen wird nirgendwo auf die Qualität der Förderschulen eingegangen (der Autorin ist dieser Terminus offenbar nicht geläufig, verwendet sie doch wiederholt den veralteten Begriff „Sonderschule“ (z.B. S. 29, 64). Nicht nur in der Praxis ist man nach wie vor der Ansicht, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Förderschule erfolgreicher beschult werden können als in Inklusionsklassen. 2 Die Gründe dafür hätten in der vorliegenden Studie erörtert werden müssen. Ebenso problematisch ist, dass überhaupt nicht deutlich wird, was die Ziele einer modernen Fremdsprachendidaktik bzw. eines modernen Fremdsprachenunterrichts sind. Es lässt sich an keiner Stelle ein konsistenter Didaktikbegriff erkennen. Die Autorin führt Techniken/ Methoden des Fremdsprachenunterrichts an, die oberflächlich gesehen zwar den individuellen Lerner in den Mittelpunkt stellen. Es wird jedoch nicht thematisiert, mit welchem Lernziel diese Techniken eingesetzt werden sollen (S. 68ff.). Die Forderung, die Erstsprachen der Lernenden in den Unterricht einzubeziehen, wird geäußert, allerdings nur in Bezug auf einen Vergleich von Strukturen und möglichen „Parallelen“ zwischen Sprachen, der den Lernerfolg aller Schülerinnen und Schüler steigern solle (S. 44). Bedauerlicherweise wird nicht ausgeführt, wie und warum sich dieser Lernerfolg einstellen sollte; es werden darüber hinaus auch keinerlei Studien dazu genannt. Eine Möglichkeit, verschiedene Sprachen in den Unterricht einzubeziehen, so wie die Autorin es fordert, um möglicherweise die Akzeptanz 1 Andrea H INZ : „Einführung: Was ist Inklusion? “ In: Michael K LEIN -L ANDECK (Hrsg.): Inklusions- Material. Englisch. Klasse 5-10. Berlin: Cornelsen 2014, 6-21. 2 Bettina A MRHEIN , Christiane M. B ONGARTZ : „,Diversity and inclusion in second and foreign language learning‘ - Chancen für die LehrerInnenbildung“. In: Roman B ARTOSCH , Andreas R OHDE (Hrsg.): Im Dialog der Disziplinen. Englischdidaktik - Förderpädagogik - Inklusion. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2014, 25-43. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 141 46 (2017) • Heft 1 für verschiedene Erstsprachen zu stärken, ist die Software, die im MuVIT-Projekt (Fostering multiliteracy through multilingual talking books) entwickelt worden ist. 3 Geradezu ärgerlich ist es, Lehrkräften pauschal zu unterstellen, sie hielten Lerngruppen für homogen: „Wenn Lehrkräfte bereits heute ein Verständnis entwickeln würden, dass Heterogenität Realität ist, würde die Diskussion um die Umsetzung von Inklusion wahrscheinlich nicht so schleppend vorangehen. Im Grunde muss nur akzeptiert werden, dass jede Klasse heterogen [ist]“ (S. 25). Auf S. 60 folgt die Erkenntnis: „So homogen, wie meist vermutet, sind die Klassen heute schon nicht“. Hier entsteht der Verdacht bzw. der Eindruck, dass die Autorin bisher nur wenig Kontakt zu Lehrkräften hatte bzw. wenig konkrete Unterrichtserfahrung vorweisen kann. Schließlich ist verwunderlich, dass die Autorin in ihren Bemühungen, einen inklusiven Fremdsprachenunterricht zu skizzieren, nicht auf bilingualen Sachfachunterricht zu sprechen kommt. Dieser Unterricht eignet sich deshalb für inklusives Lernen, weil das Sprachenlernen implizit abläuft und kein bewusstes Formen- und Strukturlernen involviert ist, sondern der Sachfachinhalt im Vordergrund steht. Es gibt Hinweise darauf, dass sich bilingualer Sachfachunterricht gerade auch für Lerner mit Migrationshintergrund eignet. 4 Fazit: Ich stimme der Autorin zu, wenn sie (zugegebenermaßen etwas simplistisch) feststellt, Inklusion müsse im Kopf beginnen (S. 37). Ebenso ist zu begrüßen, dass Mehrsprachigkeit und Migrationshintergrund in dieser Studie im Rahmen eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts thematisiert werden. Es lohnt sich auch, die Auswertung einer Befragung von Lehrkräften und Lehramtsstudierenden zum Thema Inklusion und Mehrsprachigkeit anzuschauen, um einen Eindruck davon zu gewinnen, was involvierte Lehrkräfte bzw. Lehramtsstudierende über Inklusion denken und wie weit sie mit dem Prinzip vertraut sind. An zu vielen Stellen dieser Studie bleibt die Autorin jedoch deutlich hinter ihren Ansprüchen zurück, und der Argumentation fehlen entweder der Verweis auf entsprechende Studien oder eindeutige Begriffsbestimmungen. Einige Passagen, die ohne Bezüge zur Forschung auskommen, wirken geradezu wie ein plakatives bildungspolitisches Pamphlet (z.B. S. 33, 65) und nicht wie die Argumentation einer wissenschaftlichen Studie. Köln A NDREAS R OHDE Manuela W IPPERFÜRTH : Professional vision in Lehrernetzwerken. Berufssprache als ein Weg und ein Ziel von Lehrerprofessionalisierung. Münster: Waxmann 2015 (Münchener Arbeiten zur Fremdsprachen-Forschung, Band 32), 360 Seiten [€ 39,90] Es mag kaum jemand widersprechen, wenn behauptet wird, dass ein Austausch über das eigene Handeln mit anderen professionell agierenden Kolleginnen und Kollegen - in welchem Arbeitsfeld auch immer - bereichernd sein kann. Im Kontext von Schule und Unterricht verliert sich dieser Austausch leider häufig nach anfänglich intensiver Kooperation in ersten Ausbildungsphasen hin zum Lehrerberuf aufgrund einer Mehrfachbelastung durch unter- 3 Daniela E LSNER , Anja W ILDEMANN : „MuVit - Multiliteracy Virtual Talkingbooks: Why, What, How? “ In: Wladimir M. K URITSYN (Hrsg.): Language Competencies and their Development. Staatliche Universität Schuja: FGBOU VPO „SGPU“ 2012, 5-17. 4 Anja S TEINLEN , Thorsten P ISKE : „Zur Entwicklung der Schulleistungen von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in einer bilingualen Grundschule: Eine Pilotstudie“. In: Markus K O ̈ TTER , Jutta R YMARCZYK (Hrsg.): Englisch auf der Primarstufe: Neue Forschungen - Weitere Entwicklungen. Frankfurt/ M.: Lang 2015, 123-149. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 142 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 schiedlichste Faktoren. Die Einrichtung von Reflexionsgruppen - z.B. auch mit dem Einsatz von aufgezeichneten Unterrichtsstunden in video clubs - wird daher auch in dieser Hinsicht vermehrt in Forschung und Praxis angeregt und betrachtet, um einen solchen Austausch zu initiieren und die professionelle Entwicklung von Lehrkräften weiterzuführen. Die Verfasserin beschäftigt sich in ihrer Dissertation interessanterweise mit einer solchen, organisierten Form des Lehrer(innen)austauschs über Erfahrungswissen und professionelle Praxis und untersucht dabei ein Projekt, das hierdurch Reflexion von Unterricht unter Lehrenden stärken möchte. Sie gliedert ihre Arbeit in sechs größere Teile, von denen die ersten beiden als Theorieabschnitte charakterisiert werden können, und nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand nach einer Einleitung (Kap. 1) über das Konzept der Berufssprache, welches bislang im Kontext des Lehrerberufs, noch dazu im Kontext der Forschung zum Fremdsprachenlehrerberuf, überraschenderweise wenig Beachtung gefunden hat. In einer theoriegeleiteten, hermeneutischen Herangehensweise werden die Eigenschaften und Funktionen von Berufssprache von Lehrerinnen und Lehrern zusammengefasst und ihre Potenziale im Kontext der gemeinsamen Besprechung von Unterricht diskutiert (Kap. 2). Dazu nötig ist sowohl der erziehungswissenschaftlich und kognitionspsychologisch geprägte Diskurs um den Bruch zwischen explizierbarem Wissen, Kompetenz und Handeln, z.B. auch „dass das, was Lehrer-/ innen verbalisieren, nur sehr wenig mit ihrer tatsächlichen Praxis zu tun hat“ (S. 18). Beschrieben wird in diesem Zusammenhang auch die Fähigkeit zur professional vision, dem Erkennen und Explizieren von Schlüsselmomenten eigener Handlungspraxis (Kap. 3). Genau diese professional vision nimmt die Verfasserin anschließend in den Fokus (Kap. 4), um zu diskutieren, worin diese genau besteht und wie sie damit modellhaft zur Grundlage ihrer eigenen Forschung gemacht werden kann (Kap. 5). Das Projekt „Lernendes Lehrernetzwerk“ gab von 2010 bis 2011 für ein Jahr lang vier Englischlehrkräften unterschiedlicher berufspraktischer Erfahrung sowie vier Berufseinsteigenden einen Raum zum professionellen Austausch anhand von Unterrichtsmitschnitten und gemeinsamer Reflexionsgespräche aller Teilnehmenden (Kap. 6). Die theoretischen Grundannahmen mit Leitideen wie Kooperation, deliberate practice und critical friends sowie der Einsatz von videographiertem Material (Kap. 7) werden getrennt von der praktischen Umsetzung des Projekts betrachtet (Kap. 8) und abschließend zusammenfassend charakterisiert (Kap. 9). Es folgt die umfassend dargestellte Untersuchung, Ergebnispräsentation und Diskussion in drei größeren Teilen mit acht weiteren Kapiteln. Die Datenerhebung erfolgte auf mehreren Ebenen: Es wurden sowohl berufsbiographische Daten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhoben, Leitfadeninterviews zur Wahrnehmung und Veränderung von Unterricht geführt sowie die Netzwerktreffen an sich videographiert und ausgewertet (Kap. 10). Die Auswertung der Daten mittels Qualitativer Inhaltsanalyse wird methodisch wie auch gegenstandstheoretisch leitend begründet und zielt insbesondere darauf ab, auch das Potenzial induktiver Kategorienbildung zu nutzen, d.h. tatsächlich von den teilnehmenden Lehrkräften aufkommende Themen und Elemente berufssprachlicher Kommunikation in die Auswertung einzubeziehen (Kap. 11). Teil IV der Arbeit widmet sich der Auswertung der Leitfadeninterviews und der (berufs-) biographischen Fragebögen unter dem Fokus der „erlebten Potentiale von Berufsgesprächen“. Kap. 12 zeigt dabei, warum und worüber im Lehrerberuf mit Kolleginnen und Kollegen gesprochen wird (z.B. im Kontext von Unterrichtsbesuchen oder zur Materialbeschaffung), während in Kap. 13 das Verständnis der teilnehmenden Lehrkräfte zum Konzept der Berufssprache dargestellt wird. Interessanterweise beschreiben die Befragten aufgrund subjektiv Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 143 46 (2017) • Heft 1 empfundener hoher Ansprüche „eine dominierend negative Einstellung gegenüber der wissenschaftlichen Disziplin der Englischdidaktik“ (S. 161), die Reflexion und gemeinsamen Gespräche in der Gruppe charakterisieren sie jedoch als durchaus „motivierend“ und „anspornend“ (ebd.). Entsprechend positiv erfolgt die Evaluation des „Lernenden Lehrernetzwerks“ auf Grundlage der Erwartungen und Lernpotenziale. So erleben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine größere Motivation, ihren Unterricht zu entwickeln, und sehen die Chance, durch den Austausch Selbstreflexion antreiben und eigenes Wissen reaktivieren zu können (Kap. 14). In Kap. 15 widmet sich die Verfasserin den Gesprächen in den Netzwerktreffen an sich und interessiert sich hier insbesondere dafür, welche Funktionen Berufssprache in diesem Zusammenhang einnimmt. Sie bleibt bei der Auswertung bewusst zunächst auf einer sehr oberflächlichen Ebene der angesprochenen Themen und verwendeten (fremdsprachendidaktischen) Fachtermini, die auffindbare Bandbreite an diskutierten Bereichen auf Grundlage der acht Treffen ist dabei beachtlich und spiegelt auch die Komplexität fremdsprachenunterrichtlichen Lehrerhandelns wider. Der Fokus der Netzwerkgespräche liegt dabei offensichtlich auf Aspekten der Lehrer-Schüler-Interaktion in einem kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht. In Rückgriff auf die Interviewauswertung stellt die Verfasserin heraus, „dass die Teilnehmer/ -innen die dienende Funktion von Fachterminologie [zwar; D.G.] besonders betonen … Fachterminologie [aber; D.G.] nur zu einem gewissen Maß als notwendig [erachten]“ (S. 279). Inwiefern der explizite Gebrauch professions- oder domänenspezifischen Vokabulars also für einen reflexiv orientierten Austausch zielführend ist, bleibt dabei weiterhin offen. Der sechste Teil der Arbeit mit den abschließenden beiden Kapiteln widmet sich dezidiert der aus dem Untersuchungsgegenstand konstruierbaren professional vision und explizierbarem Lehrerwissen. Es zeigt sich, dass die Netzwerkgespräche „die Verbalisierung und damit potentielle Veränderung des handlungsleitenden Lehrerwissens fördern“ (S. 308) und somit auch aufgrund geteilten Erfahrungswissens Potential für die individuelle Entwicklung der teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrer sowie für deren Unterrichtsentwicklung bieten (Kap. 16). Ein interessantes wie auch erwartetes Ergebnis zur professional vision ist hierbei, dass „Beobachtung und Verbalisierung intensiv miteinander [interagieren]“ (S. 309), aber Diskussionen um eine konkrete unterrichtliche Herausforderung, z.B. aufgeworfen durch den jeweils diskutierten Unterrichtsmitschnitt, schnell auf einer allgemeineren, abstrakteren Ebene weitergeführt werden. Die Verfasserin identifiziert im gleichen Schritt anhand ihrer Daten allerdings auch Faktoren, die einen theoriegeleiteten und fokussierten Austausch ermöglichen (können). Sie entwickelt als Ausblick auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse zwei Vorschläge zur Ausgestaltung von Lehrernetzwerken: zum einen das Konzept einer community of practice and research, bei dem - wie im Forschungsprojekt angelegt - eine gewisse Nähe zur Universität (z.B. durch vorgegebene Rahmenbedingungen oder Prozesssteuerung) besteht und somit Praxis und Forschung enger verknüpft werden könnten; zum anderen der Entwurf einer allgemeineren reflective best practice von Praktikerinnen und Praktikern, die einen Schritt über die basale Diskussion videographierten Unterrichtsmaterials in Nachbesprechungen hinausgeht und explizit das Verbalisieren von Erfahrungswissen innerhalb solcher Diskussionsrunden hervorhebt. Der Verfasserin gelingt es in ihrer Dissertation, im Zusammenhang der Förderung einer Fremdsprachenlehrerprofessionalisierung ausgehend vom Konzept der (Berufs-)Sprache einen bedeutenden Zugang zu Reflexivität, Lehrer(erfahrungs)wissen und der Förderung von Continuing Professional Development offenzulegen, einem Gegenstand, der im Kontext einer Ausschärfung fremdsprachendidaktisch orientierter Professionsforschung weiter verfolgt und Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 144 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 vertiefend untersucht werden müsste. Dabei sollte die Chance der professionellen (und freiwilligen) Weiterentwicklung durch die Einrichtung entsprechender Austausch- und Reflexionsgruppen schul- und fachübergreifend Lehrerinnen und Lehrern schmackhaft gemacht werden. Allerdings: Flexiblere Zeitstrukturen (z.B. im Nachmittagsbereich) müssten dabei schulorganisatorisch freigegeben werden, damit Lehrpersonen die Möglichkeit zum Austausch bekommen und somit Wissen und Expertise, den leider regelmäßig wieder vergrabenen Erfahrungsschatz (Kap. 1 und S. 310), verbalisieren und in ihren Unterricht zurücktragen können. Möglicherweise können die positiven Erkenntnisse der vorliegenden Untersuchung auch hierfür einen Beitrag leisten. Marburg D AVID G ERLACH Eva B URWITZ -M ELZER , Grit M EHLHORN , Claudia R IEMER , Karl-Richard B AUSCH , Hans-Jürgen K RUMM (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Auflage. Tübingen: Francke 2016, 692 Seiten [49,99 €] Im August 2016 erschien die 6. Auflage des bewährten Handbuchs Fremdsprachenunterricht erstmals in rotem Umschlag. Die Farbe weist deutlich auf grundlegende Neuerungen dieser völlig überarbeiteten und erweiterten Auflage hin. Gegenüber der 5. Auflage gibt es nicht nur einen neuen roten Umschlag, sondern vor allem auch ein neues Herausgeberteam und eine neue konzeptionelle und inhaltliche Gestaltung. Das Herausgeberteam markiert sowohl Kontinuität gegenüber den vorangegangenen Auflagen als auch Erneuerung: Es handelt sich um Eva B URWITZ -M ELZER , Grit M EHLHORN und Claudia R IEMER , die für einen Generationenwechsel in diesem Team stehen, sowie um Karl- Richard B AUSCH und Hans-Jürgen K RUMM , die bereits die vorangegangenen Auflagen herausgegeben haben. Herbert C HRIST war bis zu seinem Tod im Februar 2011 ebenfalls an der Entstehung und Entwicklung wesentlich beteiligt, Werner H ÜLLEN hingegen konnte als vierter der Herausgeber der Erstausgabe nicht mehr daran mitwirken. Das Handbuch hat den Anspruch, „eine differenzierte und möglichst vollständige Bestandsaufnahme des Fremdsprachenunterrichts in allen seinen institutionellen und fachlichen Ausprägungen“ sowie „Einblicke in die zentralen unterrichtlichen Fragestellungen und den Forschungsstand des Lehrens und Lernens fremder Sprachen in den verschiedenen Alters- und Lernstufen sowie im schulischen und außerschulischen Bereich“ zu gewähren (S. XI). Diesem von den Herausgebern im Vorwort formulierten Ziel wird die Publikation voll gerecht. Die Strukturierung des Fachgebiets trägt dem aktuellen Stand der Forschung ebenso Rechnung wie sprachenpolitischen und curricularen Entwicklungen. Die Gliederung umfasst die folgenden Abschnitte: A Das Lehren und Lernen von Sprachen: Grundlagen B Interdisziplinäre Bezüge auf das Lernen und Lehren von Sprachen C Sprachenpolitische, bildungspolitische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen D Kompetenzen und Standards E Entwicklung sprachlicher Curricula F Spezifische Formen des Lernens und Lehrens von Sprachen G Die Sprachenlernenden H Spracherwerb und Sprachenlernen I Die Lehrenden J Methodische Prinzipien und Verfahren Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 145 46 (2017) • Heft 1 K Förderung selbst gesteuerten Sprachenlernens L Leistungsmessung, Bewertung, Selbstevaluation M Lehr-/ Lernmaterialien und Medien N An Schulen deutschsprachiger Länder unterrichtete Sprachen O Forschungsmethoden und Forschungsansätze P Aus-, Fort- und Weiterbildung von Sprachlehrenden Q Geschichte des Fremdsprachenunterrichts R Organisationen und Institutionen zur Förderung des Lernens und Lehrens von Sprachen In dieser Gliederung werden einige zentrale Weiterentwicklungen gegenüber der 5. Auflage des Handbuchs Fremdsprachenunterricht deutlich. Bereits im ersten Abschnitt zu den Grundlagen des Lehrens und Lernens von Sprachen zeigt sich ein verändertes Selbstverständnis der Fremdsprachendidaktik und der Sprachlehr-/ -lernforschung: Wurde das Lehren und Lernen fremder Sprachen in der 5. Auflage noch als Gegenstand verschiedener Wissenschaften aufgefasst und damit den verschiedenen Bezugswissenschaften in einzelnen Abschnitten Raum gegeben, so treten die Kerndisziplinen, die sich mit dem Sprachenlehren und -lernen befassen, jetzt selbstbewusster auf. Die Grundlagen werden durch die Fremdsprachendidaktik und die Sprachlehr-/ -lernforschung allein definiert und auf Kategorien wie Sprachenbegriffe, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Interdisziplinarität bezogen. Interdisziplinäre Bezüge erfolgen nicht mehr auf der Ebene der Bezugswissenschaften, sondern werden inhaltlich durch die Fokusse Lernen, Lehren, Sprache sowie Texte - Medien - Literatur - Kultur präzisiert. Darüber hinaus fällt auch eine neue konzeptionelle Ausrichtung in der Terminologie auf: Wurde in den vorangegangenen Auflagen immer vom Lehren und Lernen von Fremdsprachen gesprochen, findet sich hier nun der konsequente Wegfall des Determinativkompositums „fremd“ in allen Titeln und Untertiteln. Mit dieser Öffnung erfolgt nicht nur eine Erweiterung des Gegenstands, sondern auch ein neutralerer Zugang zu den Sprachen, der Unterscheidungen zwischen Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache etc. sinnvollerweise nivelliert. Vor diesem Hintergrund hätte der Titel des Handbuchs konsequenterweise ebenfalls verändert werden sollen. Offenbar konnten sich die Herausgeber nicht zu einem Handbuch Sprachunterricht durchringen. Auch in dem Abschnitt zu politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden Weiterentwicklungen gegenüber den Jahren 2003 und 2007 der 4. und 5. Auflage deutlich. Neu hinzugekommen sind beispielsweise die Kapitel über Globalisierung und Standardisierung, über die Folgen der Migration für Bildung und Erziehung oder auch das Lehren und Lernen von Sprachen im nichtöffentlichen Bildungsbereich. Mit diesen Schwerpunkten wird aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sinnvoll Rechnung getragen. Kompetenz- und Standardorientierung bilden sicherlich die wichtigsten Impulse für das Lehren und Lernen von Sprachen seit der Publikation des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (2001) sowie der Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003), für den Hauptschulabschluss (2004) und für die Allgemeine Hochschulreife (2012). Demzufolge bildet der Abschnitt D mit einzelnen Kapiteln zu den verschiedenen Kompetenzen konsequent die Struktur und Logik der Bildungsstandards ab. Diese prominente Platzierung der Kompetenzorientierung stellt eine sinnvolle Weiterentwicklung gegenüber den vorangegangenen Auflagen des Handbuchs dar. Eine weitere Verlagerung der Schwerpunkte wird in der Reduktion der methodischen Aspekte des Lehrens und Lernens von Sprachen und in einer Ausweitung der Kapitel zu den Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 146 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 Sprachenlernenden und den Lehrenden sichtbar. Während die methodischen Aspekte in der 4. und 5. Auflage noch ausführlich berücksichtigt wurden und in einzelnen Kapiteln zu Sozialformen und Übungen detailliert thematisiert waren, wird in der 6. Auflage des Handbuchs eine abstraktere Vermittlungsebene verfolgt, so dass beispielsweise Sozialformen sinnvollerweise nur im Überblick thematisiert sind und die Ausdifferenzierung der Übungen gleich ganz gestrichen wurde. Stattdessen sind Kapitel z.B. zur Aufgabenorientierung oder zu dramapädagogischen Ansätzen eingefügt. Symptomatisch ist ebenfalls die Aufwertung der Sprachenlernenden, denen in einem Abschnitt mit mehreren Kapiteln Rechnung getragen wird. Wurden Fremdsprachenlerner und Fremdsprachenlehrer in der 4. und 5. Auflage mit gerade einmal einem einzigen Kapitel bedacht, finden sich in der 6. Auflage neun Kapitel zu den Lernenden, die sich u.a. auf Alter, Geschlecht, Sprachlerneignung oder Lernstile beziehen, sowie zwei Kapitel zu den Lehrenden, die das Sprachenlehren als Beruf und die Kompetenzen der Sprachlehrenden beleuchten. Darüber hinaus sind weitere Aktualisierungen erkennbar. So zeigt sich die Relevanz der Kompetenzorientierung auch in der Gestaltung der einzelnen Kapitel zu curricularen Dimensionen. Hier gibt es nun Kapitel, die die Inhalte zur Entwicklung sprachlicher und literarischer Kompetenzen oder die Inhalte zur Entwicklung landeskundlicher und interkultureller Kompetenzen beschreiben. Neu hinzugekommen ist ebenfalls das Kapitel zum Gesamtsprachencurriculum. Der Anspruch des Handbuchs, aktuelle curriculare, wissenschaftliche und sprachenpolitische Entwicklungen aufzugreifen, wird auch in der Bezugnahme auf gegenwärtige politische Entwicklungen umgesetzt. Somit geht es in weiteren neu hinzugekommenen Themen um Zusammenhänge zwischen Migration und Sprachen. Dem tragen die Kapitel über Institutionen zur Förderung des Lernens und Lehrens von Sprachen für Migrantinnen und Migranten sowie Sprachdiagnostik und Sprachprüfungen für Migrantinnen und Migranten konsequent Rechnung. Weitere neue Kapitel thematisieren Albanisch als eine an Schulen deutschsprachiger Länder unterrichtete Sprache, Praxisphasen in der Ausbildung von Sprachlehrenden oder auch die internationale Mobilität von Sprachlehrenden. Daneben sind im Vergleich zur älteren Auflage einige Themen gestrichen, d.h. ein Kapitel zu Deutsch als Fremdsprache im Abschnitt der an Schulen deutschsprachiger Länder unterrichteten Sprachen, ein Kapitel zu Sprachenlernen im Seniorenalter und ein weiteres zum Altsprachlichen Unterricht. Insgesamt erweisen sich die grundlegende Umstrukturierung des Handbuchs und die Auswahl neuer Autorinnen und Autoren für die meisten Beiträge als richtige Entscheidungen des Herausgeberteams, die zu einer sinnvollen Überarbeitung und Erweiterung des Handbuchs Fremdsprachenunterricht geführt haben. Dieses Handbuch stellt ein umfassendes, detailliertes und gleichzeitig übersichtliches Kompendium zum Lehren und Lernen von Sprachen dar, dessen einzelne Kapitel den interessierten Leserinnen und Lesern den jeweils aktuellen Stand der Diskussionen und der Forschung in stringenter Form darbieten. Es eröffnet einen ersten und umfassenden Einblick für diejenigen, die sich mit einzelnen Themengebieten vertraut machen wollen, und gibt für weiterführende Auseinandersetzungen anregende Hinweise auf die Fachliteratur. Den Fachkolleginnen und -kollegen bietet es ein interessantes Nachschlagewerk, das bei genauer Lektüre zwischen den Zeilen die Spurensuche nach der persönlichen Handschrift der jeweiligen Autorinnen und Autoren eines Beitrags nahelegt. Augsburg C HRISTIANE F ÄCKE Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 46 (2017) • Heft 1 I n f o • V o r s c h a u Hinweis in eigener Sache Es gehört zum natürlichen Lauf der Dinge, dass sich in einer Zeitschrift von Zeit zu Zeit personelle Veränderungen ergeben. Für FLuL steht eine solche Veränderung jetzt an: Mit Beginn dieses Jahres tritt K AREN S CHRAMM (Universität Wien) in das Herausgeberteam ein, nachdem sie die Redaktionsarbeit auch jetzt bereits ein Stück weit begleitet hat. Zum Ende des Jahres 2017 verlässt F RANK G. K ÖNIGS (Philipps-Universität Marburg) nach 16 Jahren die Herausgebergruppe. Wir hoffen, dass wir so einen guten gleitenden Übergang gewährleisten und die Herausgeberarbeit insgesamt in vollem Umfang und gewohnter Weise fortsetzen können. Vorschau auf Jahrgang 46.2 (2017) Der von Heiner B ÖTTGER (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) koordinierte Themenschwerpunkt trägt den Titel „Frühes Fremdsprachenlernen“. Das Frühe Fremdsprachenlernen scheint trotz vieler positiver Forschungsbefunde immer wieder bildungspolitische Verfügungs- und Manövriermasse zu sein, so auch im Erscheinungsjahr dieses Heftjahrgangs. Einmal mehr ein Grund, eine umfassende Standortbestimmung zu wagen, die idealerweise die Aufbau- und Konsolidierungsphase seit Einführung des frühen Fremdsprachenunterrichts bis heute beschreibt und analysiert, den aktuellen Status quo insbesondere des institutionalisierten Englischunterrichts ausleuchtet sowie Potenziale und Grenzen einer zukünftigen Entwicklung antizipiert. Es gilt, (selbst)kritisch zu reflektieren, ob sich der unbestritten große, engagierte und langjährige Einsatz und Aufwand aller Verantwortlichen für die Entwicklung des Frühen Fremdsprachenlernens gelohnt hat. Aus dieser Position heraus lässt sich dann am besten erschließen, wie es beispielsweise mit einem Grundschulfach Englisch weitergehen kann und soll - jedoch nicht bildungspolitisch, sondern wissenschaftlich betrachtet. Das Themenheft widmet sich der ganzen Bandbreite der Entwicklung des Frühen Fremdsprachenlernens von Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren, berücksichtigt aber insbesondere die Grundschulzeit. Es wird sich dabei mit der institutionellen Vermittlung insbesondere von Frühenglisch in Kindertagesstätten, Kindergärten und in der Grundschule beschäftigen, und somit auch die im Sinne eines Sprachenkontinuums besonders sensiblen Phasen an den Übergängen vom Kindergarten zur Grundschule und von dieser in die weiterführenden Schulen beinhalten. Alle Fremdsprachen, früh erlernt, wird das Themenheft einschließen bzw. mitbedenken, ebenso die parallelen Entwicklungen des Frühen Fremdsprachenlernens privater, staatlich anerkannter oder genehmigter Institutionen. In alle Überlegungen sollen neben den sprachlichen auch allgemeine, den Sprachlernprozess betreffende geistige und körperliche Entwicklungsprozesse der in den Blick genommenen Altersspanne miteinbezogen werden. Die Interdependenzen von Muttersprachenerwerb bzw. einem Aufwachsen in zwei Sprachen und dem frühen Erlernen fremdsprachlicher Fertigkeiten werden ebenfalls thematisiert. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 148 Info • Vorschau 46 (2017) • Heft 1 Heiner B ÖTTGER (Eichstätt): Frühe Fremdsprachenlerner - Prädispositionen und Potenziale. Otfried B ÖRNER (Hamburg): Historische Entstehung und Entwicklung des Frühen Fremdsprachenlernens. Christa L OHMANN (Kiel): Konsolidierung des Grundschul-Englischunterrichts. Stephanie F RISCH (Wuppertal): Eckpfeiler des kommunikativen Englischunterrichts in der Grundschule. Henriette D AUSEND (Chemnitz): Übergänge im frühen Englischunterricht. Heiner B ÖTTGER (Eichstätt), Otfried B ÖRNER (Hamburg), Adelheid K IEREPKA (Halle), Christa L OHMANN (Kiel): Zukünftige Potenziale und Grenzen des Frühen Fremdsprachenlernens. Daniela E LSNER (Frankfurt): Was bringt das Frühe Fremdsprachenlernen? Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 47.1 (2018) Fachlichkeit und Erziehungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koordiniert von Lutz K ÜSTER und Jochen P LIKAT ) Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Heiko F. Marten Sprach(en)politik Eine Einführung narr STUDIENBÜCHER 2016, 337 Seiten [D] € 24,99 ISBN 978-3-8233-6493-1 eISBN 978-3-8233-7493-0 Ob es um die Rechtschreibreform geht, um Anglizismen im Deutschen oder um den Umgang mit Migranten- oder Minderheitensprachen - Debatten und Meinungen zu Sprache(n) und Sprachformen sind Teil unseres Alltages. Dass Sprache auch Gegenstand der Politik ist, also Sprache und das Verhältnis von Sprachen in der Gesellschaft - bewusst oder unbewusst - gesteuert werden, wird dagegen in deutschsprachigen Kontexten eher selten thematisiert. Diese Einführung gibt einen Überblick über Ansätze, Praktiken, Theorien und Perspektiven auf wichtige Bereiche der Sprach(en)politik. Der erste Teil erläutert den theoretischen Hintergrund, der zweite Teil stellt eine Reihe von Ländern vor, die beispielhaft für wichtige Ansätze der sprachpolitischen Praxis stehen, aber auch nach ihrer Bedeutung für die größten philologischen Fächer (Germanistik, Anglistik, Romanistik) ausgewählt wurden. Damit liegt die erste systematische deutschsprachige Einführung in ein Thema vor, das international seit langem ein großes Maß an Aufmerksamkeit erhält. LEHRBUCH \ SPRACHE UND POLITIK + erstmaliges Aufgreifen des Themas mit einführendem, ordnendem Ansatz + ausgewogene Balance zwischen theoretischen Hintergrunderläuterungen und praktischen Beispielen + richtet sich an Studierende, Lehrende sprachwissenschaftlicher Fächer und Nachbardisziplinen sowie an Akteure der sprachpolitischen Praxis Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1992 - 2017) 21 (1992): Idiomatik und Phraseologie (hrsg. von Ekkehard Zöfgen) 22 (1993): Fehleranalyse und Fehlerkorrektur (koord. von Gert Henrici und Ekkehard Zöfgen) 23 (1994): Wörterbücher und ihre Benutzer (koord. von Ekkehard Zöfgen) 24 (1995): Kontrastivität und kontrastives Lernen (koord. von Claus Gnutzmann) 25 (1996): Innovativ-alternative Methoden (koord. von Gert Henrici) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): ` Neokommunikativer A Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von Claus Gnutzmann, Frank G. Königs und Lutz Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt Beiträge zu Forschung und Unterricht aus allen für den Fremdsprachenunterricht relevanten Bereichen sowie zum Fremdsprachenlehren/ -lernen im Ausland. Grundlage für jeden Beitrag sollte eine ausreichende wissenschaftliche Fundierung mit unmittelbarer oder mittelbarer Relevanz des Gegenstandes für die fremdsprachenunterrichtliche Tätigkeit an der Hochschule sein. Beiträge, die den schulischen Fremdsprachenunterricht zusätzlich zur Reflexionsgröße erheben, sind gleichermaßen willkommen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISSN 0932-6936 www.periodicals.narr.de www.narr.de Themenschwerpunkt: Sprachenpolitik E va B urwitz -M ElzEr , J ürgEn Q uEtz Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ............................................................3 M ichaEla P ErlMann -B alME Wie viel Deutsch sollen Migranten können? ........................................................ 11 B EatE l ütkE Deutsch als Zweitsprache-Module im Lehramtsstudium: Entwicklung, Relevanz und curriculare Konzepte ..........................................................................................27 g rit M Ehlhorn Herkunftssprachen im deutschen Schulsystem ................................................... 43 a lMut k üPPErs , c hristoPh s chroEdEr Warum der türkische Herkunftssprachenunterricht ein Auslaufmodell ist und warum es sinnvoll wäre, Türkisch zu einer modernen Fremdsprache auszubauen. Eine sprachenpolitische Streitschrift ................................................................................ 56 w aldEMar M artyniuk , M a Ł gorzata M üllEr Die Rolle der Nachbarsprache Polnisch im deutschen Bildungswesen ................... 72 M arcus B är Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem ........................................................................... 86 h Enning r ossa . Überlegungen zum Wirksamkeitsdefizit der Bildungsstandards als bildungspolitische Steuerungsinstrumente für die Unterrichtsentwicklung im Fach Englisch .......................................................... 100 Lost in Translation Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG