Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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2018
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Gnutzmann Küster Schramm(Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: F a c hli c hk e it u n d B il d u n g s a uf tr a g i m s c h uli s c h e n F r e m d s pr a c h e n u nt e rri c ht Koordination: Lutz K ÜSTER , Jochen P LIKAT L UTZ K ÜSTER , J OCHEN P LIKAT Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ....................................................... 3 B ARBARA S CHMENK Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kontext des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts .................................................... 10 A NDREAS B ONNET , E LISABETH B RACKER DA P ONTE Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? Social skills und Reflexivität im kooperativen Englischunterricht ..................................................................... 25 J OCHEN P LIKAT Der Evolutionäre Humanismus - eine ethische Grundlage für kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht .................................................................... 40 I VO S TEININGER Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz: Der fremdsprachliche Literaturunterricht als persönlichkeitsbildender Lernort ..................................... 56 D ANIELA C ASPARI Reflexives Fremdsprachenlernen - eine Chance zur Verbindung von Fachlichkeit und Bildungsauftrag im Fremdsprachenunterricht .......................... 72 M ALTE B RINKMANN Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht. Sozial- und demokratietheoretische Überlegungen mit Humboldt und Nancy ....................... 88 47. Jahrgang (2018) • Heft 1 Herausgeber: Claus G NUTZMANN (Braunschweig), Lutz K ÜSTER (Berlin), Karen S CHRAMM (Wien) © 2018 Narr Francke Attempto Verlag www.periodicals.narr.de/ index.php/ flul 47 (2018) • Heft 1 Nicht-thematischer Teil K AREN S CHRAMM Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion in den Jahren 2007-2017 .................................................................. 105 Buchbe s pre chung en • Re ze nsionsartikel Sabine D OFF , Andreas G RÜNEWALD : Wechsel-Jahre. Wandel und Wirken in der Fremdsprachenforschung. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2015 (M ICHAEL L EGUTKE ) .. 122 Tamara Z EYER , Sebastian S TUHLMANN , Roger Dale J ONES (Hrsg.): Interaktivität beim Fremdsprachenlehren und -lernen mit digitalen Medien. Hit oder Hype? Tübingen: Narr 2016 (D IANA F EICK ) .................................................................................................. 124 Jochen P LIKAT : Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt/ M.: Lang 2017 (A DELHEID H U ) ...................................................... 127 Solveig C HILLA , Karin V OGT (Hrsg.): Heterogenität und Diversität im Englischunterricht. Frankfurt/ M.: Lang 2017 (A NDREAS R OHDE ) ................................................... 130 Elizabeth E LLIS : The Plurilingual TESOL Teacher. The Hidden Languaged Lives of TESOL Teachers and why they Matter. Boston/ Berlin: de Gruyter Mouton 2016 (C LAUS G NUTZMANN ) ........................................................................................................ 132 Bettina A KUKWE , Rüdiger G ROTJAHN , Stefan S CHIPOLOWSKI (Hrsg.): Schreibkompetenzen in der Fremdsprache. Aufgabengestaltung, kriterienorientierte Bewertung und Feedback. Tübingen: Narr 2017 (S TEFAN D. K ELLER ) ...................................................... 135 Info • Vorschau 138 47 (2018) • Heft 1 © 2018 Narr Francke Attempto Verlag L UTZ K ÜSTER , J OCHEN P LIKAT * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Derzeit, am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, hat es vielfach den Anschein, als seien wir Zeugen eines tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Wandels. Einige Stichwörter mögen genügen, um - in erster Linie aus europäischer Perspektive - den Wandel zu charakterisieren: zunehmende Abkehr vom europäischen Einigungsgedanken, Erstarken nationalistischer Strömungen, gestiegene Spannungen zwischen den Machtblöcken Russland, USA und China; Gefahr militärischer Konflikte im Rahmen einer bereits weitgehend überwunden geglaubten Spaltung Europas und der Welt in West und Ost; wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich und daraus resultierende gesellschaftliche Spannungen im Verhältnis sowohl der Staaten untereinander als auch im Inneren der jeweiligen Gesellschaften; intensivierte Zuwanderung von Menschen, die aus politischen und/ oder wirtschaftlichen Motiven ihre Heimat verlassen, mit daraus resultierenden Polarisierungen im Innern der aufnehmenden Gesellschaften in Befürworter und Gegner einer einwanderungsfreundlichen Politik; Erstarken populistischer und rechtsradikaler Bewegungen angesichts einer zunehmenden ethnisch-kulturellen und sprachlichen Heterogenität der Bevölkerungen; steigende Bedrohung durch religiös-fundamentalistisch motivierte Terrorakte; Strukturwandel von Öffentlichkeit durch digitale Kommunikations- und Unterhaltungselektronik und deren Einfluss auf Prozesse individueller und kollektiver Wirklichkeits- und besonders Identitätskonstruktionen, um lediglich einige hervorstechende Merkmale zu nennen. Während Friedenssicherung in Zeiten des Kalten Krieges vorwiegend auf die Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staatengruppen gerichtet war, scheint sie heute darüber hinaus und vor allem eine Notwendigkeit im Hinblick auf ein gewaltfreies Zusammenleben innerhalb unserer Gesellschaften zu sein. Vor dem Hintergrund dieser hier nur stichwortartig skizzierten Entwicklungen erhält die Frage nach dem Bildungsbzw. Erziehungsauftrag von Schule eine neue * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Lutz K ÜSTER , Institut für Romanistik, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: lutz.kuester@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachliche Literatur- und Mediendidaktik, Didaktik kulturellen Lernens, Kompetenzentwicklung im Bereich der Multiliteralität. Dr. Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik des kulturellen Lernens, digitale Medien, Kompetenzentwicklung im Bereich der Lexik. Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht 4 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Dringlichkeit. Auf der Ebene aller Fächer, also auch der fremdsprachlichen, wäre demzufolge zu klären, welchen spezifischen Beitrag diese zum fächerübergreifenden Bildungsbzw. Erziehungsauftrag zu leisten willens und imstande sind. Die im Grunde vorgelagerte Frage, wie dieser Auftrag zu begründen und konkret zu fassen ist, lässt sich stets nur im Zuge gemeinschaftlicher Aushandlungsprozesse bestimmen. Insofern lassen sich beide Bereiche, der fächerübergreifende und der fachspezifische, nicht völlig voneinander trennen. Auch den Bildungs- und den Erziehungsgedanken kennzeichnen zwar unterschiedliche Denkansätze, sie beziehen sich aber auf ein und dasselbe Feld und sind daher nicht völlig losgelöst voneinander zu betrachten. Während sich mit dem Begriff ‚Erziehung‘ im schulischen Rahmen vornehmlich die bewusst lenkende Einflussnahme auf Entwicklungs- und Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler verbindet, unterstreicht der Bildungsbegriff eher die vom Einzelnen ausgehenden Bemühungen, die eigenen Denk- und Handlungsräume zu erweitern. Aufgabe von Schule wäre es folglich, hierfür bestmögliche Gelingensbedingungen zu schaffen. Die Unterschiede in der Begrifflichkeit verweisen implizit auf die offene Frage nach der Legitimation externer Normierungen. In den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Heftes wird vor allem auf den Bildungsbegriff rekurriert. Es sind jedoch auch die verschiedenen Facetten des Erziehungsgedankens mit gemeint, wenn wir übergreifend im Titel des Themenschwerpunkts kurz vom „Bildungsauftrag“ sprechen. Ob bzw. in welchem Maße Schule Anteil an der Verfolgung staatlich definierter Ziele haben kann und soll, darüber besteht auch unter den Autorinnen und Autoren dieses Themenschwerpunktes keineswegs Einmütigkeit. So vertreten z.B. Malte B RINKMANN und Jochen P LIKAT (beide in diesem Heft) vor dem Hintergrund unterschiedlicher bildungsbzw. gesellschaftstheoretischer Ansätze in Teilen konträre Positionen. Eine Nulloption gibt es in diesem Feld nicht, denn auch eine Weigerung, sich auf überfachliche und gesellschaftliche Bildungsziele einzulassen, wäre eine politisch zu verantwortende Haltung und damit keineswegs neutral. In jedem Fall gilt, dass die Schule im Allgemeinen und der Fremdsprachenunterricht im Besonderen stets in einen sozialen Kontext eingebettet sind und Einfluss auf gesellschaftliche Transformationsprozesse nehmen - und zwar unabhängig davon, ob dies den handelnden Personen jeweils bewusst ist oder nicht. 1 Angesichts der Geschichte des fremdsprachlichen Unterrichts und seiner politischen Indienstnahme für staatlich verordnete und z.T. stark ideologisch geprägte Zwecke ist allerdings in der Tat Skepsis gegen jede Anpassung an oder gar Unterwerfung unter zeitgeistige oder machtpolitisch motivierte Zielsetzungen angebracht. Denken wir nur an die Wandlungen, die der landeskundliche Unterricht in Deutschland während des Kaiserreichs, dann der Weimarer Zeit, unter der Herrschaft des NS-Regimes und später 1 Zu der Frage, wie diese Transformationsprozesse beschaffen sind und wie sie sich im Interesse der Menschen womöglich steuern lassen, sind in den Gesellschaftswissenschaften des deutschen Sprachraums in jüngerer Zeit sehr lesenswerte Studien erschienen. Besonders hervorgehoben seien die Arbeiten von Hartmut R OSA (2016), der das Konzept der Resonanz für die Soziologie und zudem gemeinsam mit Wolfgang Endres (R OSA / E NDRES 2 2016) für die Pädagogik fruchtbar gemacht hat, sowie „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ von Andreas R ECKWITZ (2017). Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 47 (2018) • Heft 1 auf Druck der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Ansätzen einer politisch-kritischen Landeskunde vollzogen hat. Letztere fand vor allem in den 1970er Jahren ein breites Echo, das sich im Gefolge der 68er-Bewegung einem individuell und kollektiv emanzipatorisch gedachten Projekt gesellschaftlicher Transformation verdankte (vgl. die Überblicksdarstellungen in S CHUMANN 2017, D ECKE -C ORNILL / K ÜS - TER 2015: 218ff., R ADDATZ 1996). Im Hinblick auf die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik in jüngerer Vergangenheit lassen sich in erster Linie drei Felder überfachlichen Lernens bzw. überfachlicher Bildung ausmachen, welche Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung schulischen Fremdsprachenunterrichts nahmen. Da ist zunächst der Bereich interkulturellen Lernens zu nennen, zu dem mit den im Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ erarbeiteten Ansätzen (vgl. u.a. B REDELLA / C HRIST / L EGUTKE 2000) in der Fremdsprachendidaktik genuin eigene Profile entwickelt wurden. Ferner ist an die Medienpädagogik zu denken, wobei die Fremdsprachendidaktik sich überwiegend den eher instrumentellen Aspekten einer Nutzung digitaler Medien für unterrichtliche Zwecke widmete, die Ziele eines kritischen und verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen u.E. dagegen nicht in ausreichendem Maße in den Blick nahm. Mit dem überfachlichen, da kognitionspsychologisch begründeten Leitziel der Lernerautonomie wiederum setzte sich unsere Disziplin intensiver auseinander. Dabei wurden neben der Effektivitätssteigerung des Lernens (Stichwort „das Lernen lernen“) auch ideologiekritische Aspekte thematisiert, u.a. von Barbara S CHMENK (vgl. 2008 und in diesem Heft). Sie stellen allesamt Versuche dar, das spezifisch Fremdsprachendidaktische, hier kurz als ‚Fachlichkeit‘ Gekennzeichnete, mit Erziehungsbzw. Bildungszielen zu verknüpfen. Doch wie stellt sich die Situation heute dar? Seit Anfang der 2000er Jahre werden die Ziele des schulischen Fremdsprachenunterrichts wesentlich bestimmt von den Vorgaben der Bildungsstandards und der auf sie Bezug nehmenden länderspezifischen Rahmenlehrpläne. Übereinstimmend orientieren sich die bildungspolitischen Normsetzungen an den Kompetenzmodellen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR; E UROPARAT 2001). Im Zuge der administrativ implementierten Output-Orientierung mit ihren Postulaten einer Rechenschaftslegung (accountability) und empirischen Fassbarkeit der Ergebnisse schulischen Unterrichts erhalten in diesem Rahmen die fertigkeitsbezogenen Teilkompetenzen gegenüber den sog. „weichen“ Kompetenzen ein vergleichsweise starkes Gewicht (vgl. H U / L EUPOLD 2008). Letztere entsprechen jedoch am ehesten den fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen, welche durchaus auch in den genannten Vorgaben zu finden sind. Da sie aber zumeist in der Begrifflichkeit unterschiedlicher Teilkompetenzen (insbesondere der interkulturellen, aber auch der methodischen Kompetenzen) ausdifferenziert werden, steht in ihnen überwiegend die Befähigung zu Problemlösungen in konkreten Handlungssituationen im Vordergrund. Die Abiturstandards (KMK 2012) bilden in dieser Hinsicht allerdings ein gewisses Gegengewicht, da in sie auch Kompetenzziele der Sprachbewusstheit und eine weiter gefasste Text- und Medienkompetenz Eingang gefunden haben. 6 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Mit dem vorliegenden Themenschwerpunkt soll der Versuch unternommen werden, einen Beitrag zu der eingangs angesprochenen Diskussion um mögliche Verbindungen von Fachlichkeit und übergreifenden Bildungsbzw. Erziehungszielen, ihren Legitimationen und konkreten Ausgestaltungen zu leisten. Als vorläufige Arbeitsdefinition und damit zugleich als Gliederungshilfe und als Orientierungsrahmen für die thematische Ausdifferenzierung des Themenschwerpunkts sei der Bildungs- und Erziehungsauftrag sehr allgemein definiert als Befähigung zu Selbstständigkeit des Denkens und Handelns in sozialer Verantwortung und zu einer als bereichernd empfundenen Lebensgestaltung. Hieraus ergeben sich Anknüpfungspunkte an fremdsprachendidaktisch relevante Diskurse, die in folgenden Leitfragen deutlich werden: 1. ausgehend vom Stichwort „Selbstständigkeit“: Welche gedanklichen Impulse können von Arbeiten zum Konzept der Lernerautonomie im Überlappungsfeld von Zielen einer Sprachlern- und einer Persönlichkeitskompetenz ausgehen (wobei letztere genauer zu definieren wäre)? Welche Erweiterungen bzw. Neuorientierungen erscheinen notwendig oder sinnvoll? (s. hierzu den Beitrag von Barbara S CHMENK ) 2. ausgehend vom Stichwort „sozial“: Schulischer Fremdsprachenunterricht kann als Experimentier- und Lernfeld sozialen Lernens fungieren. Im Sinne von Kommunikations- und Interaktionsorientierung sind die sprachlernförderlichen Implikationen kooperativen und kollaborativen Arbeitens vielfach herausgearbeitet worden. Welche überfachlichen Ziele können damit zugleich bedacht werden? (Dieser Frage nehmen sich Andreas B ONNET und Elisabeth B RACKER DA P ONTE an.) 3. ausgehend von der Formulierung eines „sozial verantwortlichen Denkens und Handelns“: Die oben angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen rufen Fragen politisch-ethischer Natur auf den Plan, die im Kontext der Fremdsprachendidaktik bisher unter den Leitkonzepten interkultureller Kompetenzen wie auch der intercultural citizenship (B YRAM 2008) diskutiert wurden. Wie kann vor deren Hintergrund der mögliche fremdsprachendidaktische Beitrag konzeptuell genauer gefasst und unterrichtlich realisiert werden? (Diese Thematik wird von Jochen P LIKAT behandelt.) 4. ausgehend vom Zielkonstrukt einer „Befähigung zu einer als bereichernd empfundenen Lebensgestaltung“: In diesem Bereich sind die Forschungsdiskurse zu Fragen ästhetischen Lernens zu nennen. Wie sind diese in den Rahmen eines umfassenderen Verständnisses von fremdsprachlicher und überfachlicher Bildung bzw. Erziehung zu verorten und ggf. weiterzuentwickeln? (s. hierzu den Aufsatz von Ivo S TEININGER ) 5. Eine Gemeinsamkeit aller oben angesprochenen Aspekte liegt darin, dass sie reflexive Zugänge erfordern. Welche Bedeutung hat Reflexivität als Ziel von Bildung und Erziehung im Kontext fremdsprachlichen Lernens? (s. hierzu den Beitrag von Daniela C ASPARI ) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 47 (2018) • Heft 1 6. in transversaler Perspektive: Welche Impulse liefert derzeit die Erziehungswissenschaft, vor dem Hintergrund der o.g. aktuellen Entwicklungen den Bildungs- und Erziehungsauftrag neu zu denken? (Dies sind Fragen, derer sich der Beitrag von Malte B RINKMANN annimmt.) Der obigen Reihung folgend beginnt der Themenschwerpunkt mit einem Beitrag von Barbara S CHMENK . Ausgehend von dem weit verbreiteten Konzept der Lernerautonomie beleuchtet sie verschiedene Facetten dieses oft zum Slogan verkommenen Begriffs. Den sich mit ihm verbindenden Postulaten hält sie die seit H ATTIES (2008) Studie wiedererstarkten Rufe nach einer Rückkehr des „starken Lehrers“ entgegen. Dies nimmt sie zum Anlass, ihre Gedanken zur Unaufhebbarkeit des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie und damit zu den „Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kontext institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts“ (so der Titel ihres Beitrags) zu entfalten. Vor diesem Hintergrund könne das zentrale, Fachliches und Überfachliches verbindende Ziel des Fremdsprachenunterrichts nur darin bestehen, dilemmatische Strukturen wie diese zu reflektieren und kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln bzw. zu stärken. Die eingangs umrissenen aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen führen zur Infragestellung gegebener sozialer und politischer Strukturen und daher zu einer Zunahme an Ungewissheit. Diesen Begriff stellen Andreas B ONNET und Elisabeth B RACKER DA P ONTE ins Zentrum ihres Beitrags. Der schulische Erziehungs- und Bildungsauftrag muss - so ihre Überlegung - u.a. darin bestehen, dass Lernende nicht nur Ungewissheit auszuhalten lernen, sondern dass sie auch die Fähigkeiten entwickeln, diese in ungewissen Situationen produktiv und eigenverantwortlich einzusetzen. Das Autorenduo berichtet über drei empirische Studien, in denen gezeigt werden konnte, dass die genannten Fähigkeiten sowohl auf social skills als auch auf Reflexivität angewiesen sind. Diese seien, so das Fazit des Beitrags, entscheidend dafür, dass gesellschaftliche Partizipation möglich wird. Zu dieser Partizipation müsse sogar die Fähigkeit gezählt werden, die Setzungen schulischen Lernens selbst in Frage zu stellen. B ONNET und B RACKER DA P ONTE kommen zu dem Ergebnis, dass die Kompetenzorientierung bisweilen im Gegensatz zu einem solchen reflektierten sozialen Lernen stehen kann, welches die Infragestellung gegebener Strukturen ausdrücklich vorsieht. Ungewissheit entsteht auch aus der Infragestellung von so genannten Metaerzählungen durch die postmoderne Philosophie. Wenn jedoch keine Metaerzählungen und somit keine normative Rahmung für ethische Fragestellungen mehr zur Verfügung stehen, wird die kritische Beurteilung kultureller Phänomene unmöglich oder zumindest beliebig. Wie kann in diesem Vakuum der schulische Erziehungsauftrag, der auch die Erziehung zu sozialer Verantwortung beinhaltet, verwirklicht werden? Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich Jochen P LIKAT in seinem Beitrag. Er arbeitet heraus, dass das verbreitetste Modell interkultureller Kompetenz, das auf Michael B YRAM (1997) zurückgeht und den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen entscheidend geprägt hat, eine harmonistische und relativistische Schieflage aufweist. P LIKAT erläutert anhand des antiken Euthyphron-Dialogs, dass religiöse Normen hier unter keinen Umständen einen Ausweg bieten. Er schlägt stattdessen den so genannten 8 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Evolutionären Humanismus als ethische Rahmung vor. Dieser ist in weiten Teilen mit den Allgemeinen Menschenrechten kompatibel, kann in Konfliktfällen aber auch zu deren Reflexion und Weiterentwicklung dienen. Einer anderen Facette des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist Ivo S TEININGERS Beitrag gewidmet, den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen, die im GeR im Kapitel zu den Allgemeinen Kompetenzen unter dem Begriff savoir être zusammengefasst sind. Sie sind in der Regel auch für Modellierungen literarischer Kompetenzen von entscheidender Bedeutung. Im Beitrag wird eine empirische Studie vorgestellt, welche die Entwicklung persönlichkeitsbezogener Kompetenzen bei der Arbeit mit authentischen literarischen Texten im Englischunterricht in den Blick nimmt. S TEININGER formuliert auf dieser Grundlage Gelingensbedingungen, deren Einhaltung dazu führen soll, dass durch literarisches Lesen im Fremdsprachenunterricht sowohl Erziehungs- und Bildungsziele berücksichtigt als auch literarisch-ästhetische Kompetenzen entwickelt werden. Dies zeigt, welch wichtige Rolle gerade Literatur im Kontext der in diesem Band diskutierten Thematik spielen kann. Wie der Autonomieist auch der Reflexivitätsbegriff außerordentlich facettenreich. Daniela C ASPARI zeichnet in ihrem Beitrag die wichtigsten Verständnisse von Reflexivität in der Fremdsprachendidaktik und in angrenzenden Disziplinen nach. Anschließend widmet sie sich dem Begriffspaar Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz, welches in das Kompetenzmodell der KMK-Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012) Eingang gefunden hat. In beiden Bereichen geht es im Kern um Reflexion, die sich im einen Fall auf verschiedene Domänen von Sprache, im anderen Fall auf den Sprachlernprozess richtet. Hier könnte das Lernen einer Fremdsprache, so C ASPARI s Fazit, einen wichtigen, über den Fremdsprachenunterricht hinausweisenden Beitrag zu einer durchgängigen Sprachbildung der Schülerinnen und Schüler und somit zum schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag leisten. Im Rahmen bildungstheoretischer Erörterungen geht Malte B RINKMANN von der in jüngeren soziologischen Studien vertretenen Diagnose einer „Entdemokratisierung“ der westlichen Gesellschaften aus und reflektiert deren Implikationen für das Verständnis schulischen Handelns. Im Hinblick auf fremdsprachliches Lernen rückt er die Auseinandersetzung mit Fremdheit ins Zentrum seiner Überlegungen, wobei er einen Bogen von H UMBOLDTS Bildungs- und Sprachtheorie über dekonstruktivistische Ansätze bei F OUCAULT hin zu Jean Luc N ANCY spannt. Dessen phänomenologisch fundierte Gedanken zur Ereignishaftigkeit des Leiblichen macht er fruchtbar für einen veränderten Blick auf Sinnverstehen und Sinnproduzieren (als Mit-teilen) im Unterricht, das immer auch die Erfahrung des Nicht-Verstehens und Missverstehens einschließt. Als „negative Erfahrungen“ - so eine zentrale Überlegung B RINKMANNS - verfügen diese über ein hohes Lernpotenzial, insbesondere dann, wenn sie als singuläre Erfahrungen in ein gemeinschaftliches Suchen und Mit-teilen münden. „(Fremd-)Sprachenbildung als Mitteilung zwischen Eigenem und Fremden kann so als demokratisches Mit-ein-ander-sein bestimmt werden [...]“, lautet sein Fazit, das somit über den unterrichtlichen Rahmen hinaus die politisch-gesellschaftliche Dimension der angesprochenen Lernprozesse unterstreicht. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 47 (2018) • Heft 1 Der vorliegende Themenschwerpunkt deckt ein weites Feld unterschiedlicher Aspekte ab, die allesamt um die Frage kreisen, worin der überfachliche Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule besteht und wie sich dessen Realisierung mit den spezifisch fachlichen Anliegen fremdsprachlichen Lernens und Lehrens verbinden lässt. Die große Mehrzahl der hier vertretenen Autorinnen und Autoren ist in der Fremdsprachendidaktik verankert und argumentiert dementsprechend vor dem Hintergrund fachdidaktischer Theoriebildung. Bewusst haben wir uns allerdings zusätzlich um einen dezidiert erziehungswissenschaftlichen Beitrag bemüht, der uns und unserer Leserschaft Einblicke in gegenwärtige grundlagentheoretische Reflexionen gewährt, welche das genuin Überfachliche unseres Themas berühren. Wir hoffen, dass viele Leserinnen und Leser hierin, wie auch in den Aufsätzen dieses Heftes insgesamt, Anregungen finden, die eigenen didaktischen und methodischen Wissensbestände, Problemsichten und Einstellungen zu erweitern. Literatur B REDELLA , Lothar / C HRIST , Herbert / L EGUTKE , Michael K. (Hrsg.) (2000): Fremdverstehen zwischen Theorie und Praxis. T übingen: Narr. B YRAM , Michael (1997): Teaching and assessing intercultural communicative competence. Clevedon: Multilingual Matters. B YRAM , Michael (2008): From Foreign Language Education to Education for Intercultural Citizenship. Essays and Reflections. Clevedon/ Tonawanda/ North York: Multilingual Matters. D ECKE -C ORNILL , Helene / K ÜSTER , Lutz ( 3 2015): Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr. E UROPARAT (Hrsg.) (2001): GeR = Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen [Niveau A1, A2, B1, B2, C1, C2]. Berlin: Langenscheidt. H ATTIE , John (2008): Visible Learning: A Synthesis over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London et al.: Routledge. H U , Adelheid / L EUPOLD , Eynar (2008): „Kompetenzorientierung und Französischunterricht“. In: T ESCH , Bernd / L EUPOLD , Eynar / K ÖLLER , Olaf (Hrsg.) (2008): Bildungsstandards Französisch: konkret. Berlin: Cornelsen Scriptor, 51-84. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10. 2012). https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_ 18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (16.11.2017). R ADDATZ , Volker (1996): „Fremdsprachenunterricht zwischen Landeskunde und Interkulturalität“. In: Fremdsprachenunterricht 40/ 4.4: 242-252. R ECKWITZ , Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp. R OSA , Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. R OSA , Hartmut / E NDRES , Wolfgang ( 2 2016): Resonanzpädagogik. Berlin: Suhrkamp. S CHMENK , Barbara (2008): Lernerautonomie: Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tübingen: Narr. S CHUMANN , Adelheid ( 2 2017): „Landeskunde“. In: S URKAMP , Carola (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 187-188. © 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 B ARBARA S CHMENK * Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kontext des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts Abstract. Autonomy is one of the most prominent notions in general educational discourses and in L2 research. Yet, debates about learner autonomy in the field of foreign/ second language learning and teaching rarely take into consideration general eduational discourses of autonomy, many of which focus critically on the modernist ideal of the sovereign, autonomous subject. This article argues that the critique of autonomy voiced in educational philosophy can contribute to a more differentiated understanding of the notion of autonomy in foreign/ second language learning. It gives an overview of autonomy discourses in both fields and highlights some of the commonalities and differences. In conclusion, it is argued that a more sophisticated concept of autonomy is pivotal if one wants to realistically assess the degree and the kind of independence learners of languages can develop in the context of institutionalized learning, and avoid an unreflected idealization, as well as an unreflected rejection of autonomy. 0. Einleitende Überlegungen Autonomie gehört zu denjenigen Begriffen, die sowohl in fachdidaktischer als auch in allgemein-erzieherischer Hinsicht seit geraumer Zeit diskutiert werden. Dennoch gibt es bislang nur wenige Versuche, diese beiden Autonomiediskurse miteinander in Bezug zu setzen und auf ihre gegenseitige Kompatibilität hin zu befragen. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen zu skizzieren, inwiefern bildungswissenschaftliche Autonomiediskurse dazu beitragen können, die fachdidaktische Diskussion zur Lernerautonomie zu differenzieren. Dabei erweist sich v.a. die kritische Reflexion des Autonomiepostulats in bildungswissenschaftlicher Perspektive als hilfreich, wenn es um die Konkretisierung von Vorstellungen zur Lernerautonomie geht. Dies erscheint auch insofern notwendig, als unreflektierte Autonomiebegriffe, wie sie einseitigen Idealisierungen, aber auch Verurteilungen von Autonomie zugrunde liegen, mit Hilfe allgemein-erzieherischer Überlegungen korrigiert und differenziert werden können. * Korrespondenzadresse: Barbara S CHMENK , Professor of German/ Applied Linguistics, Department of Germanic and Slavic Studies, University of Waterloo, W ATERLOO , ON N2L 3G1, Kanada. E-Mail: bschmenk@uwaterloo.ca Arbeitsbereiche: Deutsch als Fremdsprache, Cultural Studies, Lehrerbildung. Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 11 47 (2018) • Heft 1 1. Auf den Lehrer kommt es an! Abrechnungen mit dem Autonomiepostulat „Lehrer? Deren Zeit ist vorbei“. So die ersten Worte von Christoph T ÜRCKE in seinem 2016 erschienenen Buch mit dem reißerischen Titel Lehrerdämmerung, in dem er mit dem pädagogischen Zeitgeist abrechnet, der Lernende in den Mittelpunkt und Lehrer - so Türckes Diagnose - ins Abseits stellt. Auch Michael Felten, Lehrer und Autor der Kolumne „Schulfrage“ in der Zeit sowie Verfasser von Büchern und Artikeln zur Situation der Schule und insbesondere der Lehrenden, moniert regelmäßig und publikumswirksam „die immer noch grassierende Überschätzung individualisierender Lernformen“ (F ELTEN 2015). In seinem Buch mit dem Titel Auf die Lehrer kommt es an (2011) ruft er nach einer Rückkehr der starken Lehrerfigur: Forderungen wie „Das Führen beleben“ (ebd.: 21) oder „Lob der Lehrersteuerung“ (ebd.: 66) lassen sich als direkte Angriffe auf diejenigen Ideale und Bildungsziele lesen, die Pädagog(inn)en und Didaktiker(innen) seit Jahren versuchen, unter dem Stichwort „Autonomie“ zu propagieren. Felten hingegen möchte explizit „vor der offenen Flanke der Selbstlerneuphorie warnen“ (ebd.: 17) und setzt - angespornt durch einige aus der H ATTIE -Studie (2008) abgeleitete Thesen zur Bedeutung von Lehrenden - stattdessen auf den starken Lehrer. „Wir brauchen eine Renaissance der Lehrerpersönlichkeit“, so formuliert er in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (2012), denn die „Lehrerin, der Lehrer ist der Begleiter auf dem Lernweg, Brückenbauer in neue Wissenswelten, Antreiber in den Mühen des Lernens und nicht zuletzt Bändiger der Unlustanwandlungen“. Und auf seiner Homepage (www.elternlehrer-fragen.de) klagt er unter der Rubrik „Problemfeld Schule“ den pädagogischen Zeitgeist an, gegen den er sich so vehement zur Wehr setzt: Auf den Unterricht kommt es an! Unterricht? Die Zeichen der Zeit klingen heute anders: Individualisierung, Eigenverantwortlichkeit, Selbststeuerung - so einige beliebte Mantras. Der Lehrer als Führungsfigur erscheint als zunehmend bedrohte Art, das Unterrichten „des ganzen Haufens” als Relikt einer auslaufenden Epoche. (http: / / www.eltern-lehrer-fragen.de/ problemfeld-schule.html) Ganz offensichtlich werden wir hier Zeugen einer intentional konstruierten Konfrontation von zwei (ebenso intentional) polarisierten pädagogischen Ausrichtungen. Im Post-Hattie Diskurs in den deutschen Feuilletons herrscht zweifellos eine Tendenz zu Vereinfachungen und Schnellschüssen. Pauschale Verurteilungen von Individualisierungs- und Eigenverantwortlichkeitspostulaten sind rasch zur Hand, wenn es um Rehabilitierungsversuche der Führungsfigur des Lehrers 1 geht. 1 Die überwiegende Verwendung des Maskulinums zur Bezeichnung von Lehrpersonen ist sehr auffällig im Rahmen der Wiederbelebungsversuche des starken Lehrers und scheint mir nicht als generische Personenbezeichnung intendiert zu sein. Es ist sicher kein Zufall, dass „der starke Lehrer“ als Führungsfigur selten auch in femininer Form daherkommt - da es sich hier um ein Konstrukt handelt, das mit stereotypen Attributen wie „Bändiger, Führender, Antreiber“ expliziert wird, scheinen ebenso stereotype Bilder von Männlichkeit besonders geeignet, um die intendierte Beschreibung der vom Untergang bzw. der „Lehrerdämmerung“ bedrohten Lehrerpersönlichkeit wirkungsvoll zu charakterisieren. Die Feuille- 12 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 Was hier schwarz-weiß einander gegenübergestellt wird, sind die zu Polen zugespitzten Begriffe Eigenverantwortlichkeit, Selbstlernen, Individualisierung, Selbststeuerung einerseits und Lehrerpersönlichkeit, Führungsfigur, Unterricht, Lehrende als Antreiber, Steuerer, Bändiger, Begleiter, Brückenbauer andererseits. Diesem binären Schema liegt ein Denken zugrunde, das sich auf ein ganz bestimmtes Verständnis von Autonomie als Bildungs- und Erziehungsziel stützt (wie auch von Lehre und Lehrern); genauer: auf ein verkürztes und unreflektiertes Autonomiekonzept. Im Folgenden ist deshalb der Frage nachzugehen, was hier wie verkürzt wird und was infolge dessen unreflektiert bleibt. 2. Autonomie als Lern- und Bildungsziel Der Begriff der Autonomie wird sowohl im Sinne eines fachlichen Lernziels als auch zur Bezeichnung eines Erziehungsbzw. Bildungsziels verwendet, wobei hier durchaus Unterschiede, allerdings auch Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Begriffsbedeutungen auszumachen sind. Beide werden im Folgenden kurz dargestellt. 2.1 Autonomie als Erziehungsziel Als Erziehungsziel wird Autonomie i.d.R. im Sinne von personaler Autonomie verstanden, also als Autonomie der Person. Wenn von Autonomie als einem Bildungsziel die Rede ist, dann geht es entsprechend um individuelle Selbstbestimmung. Nicht zufällig werden in der Pädagogik und Erziehungsphilosophie die Begriffe Autonomie, Emanzipation und Mündigkeit als Synonyme gesetzt (vgl. B AST 1989; R IEGER -L ADICH 2002; S PANHEL 2006), wobei speziell die Autonomie unmittelbar an neuzeitliche Subjektbegriffe gebunden erscheint: Wenn behauptet wird, der Mensch der Neuzeit sei wesentlich Subjekt, so bedeutet das: Er ist seiner selbst bewusst, selbstbestimmungs- und ausdrucksfähig. [...] [D]ie Moderne [bezweifelt] die Gültigkeit absoluter, unbezweifelbarer Normen und Werte und bindet die Gültigkeit nicht mehr an die einem Subjekt vorgängige Ordnung, sondern an die Zustimmung und Autonomie des Subjekts selbst (Z IRFAS , 2004: 153). Autonomie, so macht dieses Zitat deutlich, ist eine wesentliche Eigenschaft, die dem modernen Subjektbegriff eingeschrieben ist, das sich seiner selbst bewusst ist und Ordnungen nicht einfach hinnimmt, sondern aktiv mitgestaltet. Hier schimmern deutlich Kants Vorstellungen des mündigen Subjekts durch, das zu wissen wagt, selbst entscheidet, kritisch denkt und sich nicht bevormunden lässt. Erinnert sei in ton-Diskussionen würden mit hoher Wahrscheinlichkeit andere Vorstellungen evozieren, wenn hier von der „Rückkehr der starken Lehrerin“ oder einer „Lehrerinnendämmerung“ die Rede wäre. Ich überlasse der Leser(innen)schaft von FLuL, hieraus ihre Schlüsse zu ziehen, und verwende deshalb die maskulinen Formen in derselben Weise, wie sie in den breitenwirksamen Beiträgen zu Hatties Visible Learning erscheinen (z.B. A RP 2013; K ERBEL 2013; T ÜRCKE 2016; V OLTZ 2013; W ERNER 2013). Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 13 47 (2018) • Heft 1 diesem Zusammenhang auch an Adornos programmatische Aussagen zur „Erziehung nach Auschwitz“, in denen er Autonomie zum höchsten und unverzichtbaren Bildungsziel erklärt: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (A DORNO 1971: 93). Diese und ähnliche Aussagen zur Autonomie umreißen ein übergreifendes Bildungs- und Erziehungsziel, dessen Stellenwert speziell in bundesrepublikanischen Diskussionskontexten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen ist. Dennoch ist diesen Idealsetzungen von Autonomie sowie der Synonymsetzung von Autonomie und Mündigkeit im Kant’schen Sinne (die sich ja auch in Adornos Text findet) mit Vorsicht zu begegnen, denn Autonomie ist in vieler Hinsicht nicht deckungsgleich mit Mündigkeit (was von Kant selbst auch durchaus gesehen wurde 2 ). Festzuhalten ist in jedem Fall, dass Autonomie im Sinne eines übergeordneten Erziehungsziels auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet ist, und zwar dahingehend, dass Schüler/ -innen lernen sollen, eigene Standpunkte zu entwickeln und zu vertreten sowie selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Dass diese Ziele mit dem Begriff der Autonomie nicht optimal erfasst werden können, sei an dieser Stelle schon angedeutet. Bevor das aber genauer erörtert wird, sei dem hier kurz umrissenen allgemein-erzieherischen Autonomiebegriff eine Skizzierung des fachlichen Lernziels Autonomie an die Seite gestellt, wie es speziell in der Fremdsprachendidaktik entwickelt wurde. 2.2 Autonomie als fachliches Lernziel Als fachliches Lernziel verbindet man mit Autonomie vor allem die Fähigkeit, selbstbestimmt zu lernen und zu handeln, was bekanntermaßen unter dem Begriff der Lernerautonomie gefasst wird. Interessanterweise wird dieser Begriff fast ausschließlich für den Bereich des Fremdsprachenlernens verwendet, auch wenn es m.E. keinen zwingenden Grund gibt, so etwas wie Lernerautonomie nicht auch auf den Bereich mathematisch-naturwissenschaftlicher oder gesellschaftswissenschaftlicher Fächer zu beziehen. Was die Bedeutungsvarianten von Autonomie angeht, dominieren Auffassungen von Lernerautonomie als einer individuellen Fähigkeit. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang Henri Holecs berühmte Definition von Lernerautonomie: „To say of a learner that he is autonomous is […] to say that he is capable of taking charge of his own learning“ (H OLEC , 1980: 4). Und im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen heißt es: „Sobald jedoch der formale, organisierte Unterricht endet, muss das weitere Lernen autonom, d.h. selbstgesteuert erfolgen“ (E UROPARAT 2001: 140). Ähnlich auch S CHARLE / S ZABÓ (2000: 4): 2 Kants Abhandlungen zur moralischen Autonomie und dem Kategorischen Imperativ finden sich an anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang (K ANT 1999/ 1785) als sein Essay zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung bzw. Mündigkeit sei (K ANT , 1977/ 1784). Vgl. hierzu auch S CHMENK (2008: 150ff. und 169ff.). 14 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 [W]e may define autonomy as the freedom and ability to manage one’s own affairs, which entails the right to make decisions as well […] Some degree of autonomy is […] essential to successful language learning. No matter how much students learn through lessons, there is always plenty more they will need to learn by practice, on their own. Diese Auffassungen von Autonomie zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den häufig kritisch als „Mantras“ bezeichneten Emblemen desjenigen pädagogischen Zeitgeistes, gegen die sich Verfechter für „den starken Lehrer“ auflehnen. Der Fokus der zitierten fremdsprachendidaktischen Arbeiten liegt auf dem selbstgesteuerten, alleinverantwortlichen Lernen ohne Lehrende, findet sich auch häufig noch erweitert um eine technologische Komponente, da die Selbststeuerung scheinbar besonders begünstigt wird, wenn Lernende mit Hilfe digitaler Medien das eigene Lernen selbst in die Hand nehmen. Dass es sich hierbei um eine technizistisch verengte Auffassung von Autonomie handelt, ist schon seit geraumer Zeit und an vielen Orten kritisch kommentiert worden (s. stellvertretend für viele B ENSON 2001, 2007, 2013; O XFORD 2003; P ENNYCOOK 1997; R ÖSLER 1998, 2007; T OOHEY 2007). Anders verhält es sich mit Autonomiekonzeptionen, die explizit auch für unterrichtliche Kontexte entwickelt wurden. Deren Vertreter/ -innen verweisen immer wieder darauf, dass Lernerautonomie nicht mit isoliertem Alleinlernen zu verwechseln sei. Hier sind an erster Stelle die vielen Arbeiten von David Little zu nennen, der wiederholt erklärt hat, dass Autonomie eine Fähigkeit sei, die man nur im sozialen Verband erwerben könne: „learner autonomy does not arise spontaneously from within the learner but develops out of the learner’s dialogue with the world to which he or she belongs“ (L ITTLE 1994: 431). Littles Autonomiekonzept kann infolge dessen auch als entwicklungspsychologisches bezeichnet werden. Er argumentiert insbesondere mit Bezug auf Vygotskys lerntheoretische Überlegungen, dass jedes Lernen zunächst in sozialen Kontexten stattfindet und erst im Zuge der weiteren Entwicklung verinnerlicht und somit zu individuellem Wissen bzw. Fertigkeiten wird, denn „the decisive factor will always be the nature of the pedagogical dialogue“ (L ITTLE 1995: 175). Er führt an anderer Stelle weiter aus: The child learns to perform a particular task in interaction with an adult, and the adult maintains a verbal commentary to which the child contributes (communicative speech). When the child has mastered the task, she uses her own commentary (egocentric speech) to prompt and support independent performance. In due course egocentric speech becomes inner speech: in this case the conscious process by which the child plans, monitors and evaluates task performance. (L ITTLE 1999: 24) Der Prozess der Autonomisierung, den Little hier beschreibt, stellt eine schrittweise Internalisierung von sprachlichem Wissen und Fertigkeiten zur Bewältigung sprachlicher Aufgaben dar und ist auf der Basis von Eltern-Kind-Dialogen modelliert. Die frühkindliche Sprachentwicklung, die hier umrissen wird, lässt sich nach Little auch auf Autonomisierung in späteren fremdsprachlichen Lernprozessen übertragen: [L]earners will not develop their capacity for autonomous learning within formal contexts by simply being told that they are independent: they must be helped to achieve autonomy by processes of interaction similar to those that underlie developmental and experiential Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 15 47 (2018) • Heft 1 learning. Vygotsky’s notion of the ‘zone of proximal development’ is particularly helpful in clarifying the operation of these processes. He defines the ‘zone of proximal development’ as ‘the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with peers’ (V YGOTSKY 1978: 86; zit. n. L ITTLE 1994: 435). Autonomie erwächst dieser Auffassung nach aus der Kommunikation mit Erwachsenen oder peers. Gemäß dieser Sichtweise gewinnt der Autonomiebegriff eine soziale Dimension, die in den oben erwähnten technizistischen Konzepten keine Rolle spielt. Auch erhält in Littles Ausführungen die Lehrperson entscheidende Funktionen im Prozess der Autonomieentwicklung - die Klage über den Untergang des Lehrers und des Unterrichts dürfte angesichts solcher Autonomiekonstrukte also gar nicht aufkommen. Darauf wird unten noch zurückzukommen sein. In den letzten Jahren ist die soziale Dimension von Autonomie in der internationalen Fremdsprachenforschung zunehmend in den Vordergrund gerückt worden, so dass inzwischen gar von einem social turn im Lernerautonomiediskurs die Rede ist: This social turn [...] represents a point of tension within research on autonomy, however, because there is a sense in which the idea of autonomy lacks meaning if it does not involve some element of individual development and some element of helping individuals to match learning activities to their own preferences and needs (B ENSON 2011: 17). Dieser social turn und seine Engführung von individuellen und sozialen Facetten von Autonomie führt allerdings bei genauerem Hinsehen in eine Aporie. Was Benson hier als point of tension bezeichnet, verdient mehr Aufmerksamkeit als in seinem Zitat anklingt: Denn solange man unter Autonomie eine individuelle Fähigkeit begreift, wertet man die soziale Dimension des gemeinsamen Lernens sowie der Hilfestellung durch Lehrende zur entwicklungspsychologisch notwendigen Phase ab (vgl. S CHMENK 2012, 2014). Soziales Lernen wird dadurch instrumentalisiert, gerät zum Mittel zum Erreichen des Zwecks, nämlich der Entwicklung individueller Autonomie durch Internalisierung von im sozialen Kontext entwickelten Wissens- und Fertigkeitsrepertoires. Solchen Internalisierungsmodellen liegt weiterhin die Auffassung von Autonomie als Selbststeuerung zugrunde, was in der Logik entwicklungspsychologischer Argumentationen zwar nur mit Hilfe von sozialem Lernen erreicht werden kann, diese sozialen Lernbzw. Entwicklungsprozesse werden jedoch lediglich hinsichtlich ihrer Funktion für das Individuum und seine zu entwickelnde Autonomie betrachtet. Dabei werden weder die komplexen Aushandlungsprozesse und Machtverhältnisse bedacht, die soziales Lernen stets charakterisieren, noch die damit verbundenen Einschränkungen personaler Autonomie aufseiten der Beteiligten. Die Engführung von Autonomie und Individualisierung verstellt gleichsam den Blick auf die real stattfindenden Lern- und Aushandlungsprozesse im Unterricht und - wie im folgenden Abschnitt noch genauer erläutert wird - trivialisiert sowohl soziale Lernprozesse als auch den Autonomiebegriff. 16 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 3. Aporien von Autonomie und Individualisierung Sowohl der eingangs geschilderten Autonomieschelte als auch den fachdidaktischen Arbeiten zur Lernerautonomie liegt die Vorstellung zugrunde, dass Autonomie eine Eigenschaft oder eine Fähigkeit des Individuums sei. Die Förderung individueller Selbstbestimmung und selbstgesteuerten Lernens wird dabei in einem immanenten Spannungsverhältnis zu sozialen Lernformen sowie zum Lernen im Klassenverband und unter Anleitung oder Beratung durch Lehrende gesehen. Was in der Fremdsprachendidaktik unter dem social turn vollzogen wird, ist der Versuch, Autonomie und soziales Lernen wie auch das Lernen durch Hilfestellung seitens einer Lehrperson in einen Zusammenhang zu bringen, indem auf die Interdependenz von Lernenden verwiesen wird und deren noch nicht abgeschlossene Entwicklung von Lernerautonomie. Will man soziales Lernen hingegen nicht lediglich als Mittel zum Zweck sehen, muss man die Engführung von Autonomie und Individualisierung problematisieren. Zwei Ansätze für eine solche Problematisierung sollen hier vorgestellt und erörtert werden: (a) eine Umdeutung des Autonomiebegriffs von individueller zu sozialer Autonomie, und (b) eine Infragestellung der Individualisierungsthese, indem ihre Prämissen und die inhärente Logik des ‚Autonomwerdens‘ beleuchtet werden. Hierbei ist auch die Zuhilfenahme allgemein-pädagogischer Autonomiediskussionen sinnvoll. 3.1 Soziale Autonomiebegriffe Eine Alternative zum dominierenden Autonomieverständnis stellen soziale Autonomiebegriffe dar. Diese gehen zurück auf das antike Verständnis von Autonomie als Selbstgesetzgebung seitens einer Gruppe (z.B. Gesellschaft, Stadt, Gemeinde). Mit einem solchen Autonomiebegriff arbeitet Diana F EICK (2016) in ihrer Studie zu Gruppenaushandlungsprozessen im projektorientierten Fremdsprachenunterricht. Sie definiert die soziale Autonomie in Abgrenzung zu individueller Autonomie: Soziale Autonomie wird in dieser Untersuchung in ihrer Ausprägung als Autonomie der Gruppe, also Gruppenautonomie verstanden […]. Sie unterscheidet sich von der Autonomie des Einzelnen […]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gruppenautonomie nicht die Summe der individuellen Autonomien der Gruppenmitglieder darstellt, sondern die Gruppe als Gesamtgefüge als autonom betrachtet werden kann, wenn Gruppenentscheidungen konsensbasiert ausgehandelt werden (ebd.: 32). Feicks detaillierte Analysen von Gruppenentscheidungsprozessen machen deutlich, dass jede Konsensfindung zahlreiche Einschränkungen und Kompromisse seitens aller Beteiligten erfordert. Was die oben skizzierte instrumentalisierende Sichtweise von sozialem Lernen zwecks individueller Autonomieförderung völlig außer Acht lässt, wird in Analysen von Konsensfindungsprozessen evident: Individuelle Autonomie erweist sich als hinderlich für soziales Lernen und kann auch nicht einfach als Resultat dieses Lernens gesehen werden. Feick erläutert dies folgendermaßen: Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 17 47 (2018) • Heft 1 Erfolgreiche Gruppenaushandlungsprozesse und insbesondere die dabei vollzogene Entscheidungsfindung zeichnen sich durch Interdependenz sowie Kooperations- und Kollaborationsprozesse aus, in denen der Einzelne als Teil der Gruppe seine persönlichen Bedürfnisse und Ziele immer wieder neu zur Aushandlungsdisposition stellt und mit den Gruppenzielen und -handlungsplänen konsensbasiert in Einklang bringt. In diesem Fall stellen Gruppenmitglieder bewusst die Ausübung personaler Autonomie zugunsten der Gruppenautonomie zurück und erfahren sich durch ihre Mitbestimmung im Gruppenaushandlungsprozess als autonom handelnd (ebd.: 73). Solche minutiös erfassten und analysierten Gesprächseinheiten, in denen Lernende an einem fremdsprachlichen Produkt arbeiten, lassen erahnen, wie komplex das Verhältnis von Selbst-, Fremd- und Mitbestimmung ist und wie unzureichend der pauschale Begriff der Internalisierung ist, wenn es darum geht zu verstehen, was in sozialen Lernprozessen abläuft und was da wohl wie internalisiert werden könnte, das schließlich auf die Herausbildung von individueller Autonomie hinauslaufen soll. 3.2 Das Konstrukt der individuellen Autonomie und seine blinden Flecken Es ist kein Zufall, dass sich Autonomie dann als problematisches Konstrukt erweist, wenn man es im Kontext gemeinsamen Lernens und Arbeitens beleuchtet, wie es für schulischen FSU typisch ist. Der Kunstgriff, hier zu argumentieren, dass Lernen im Klassenverband oder in Kleingruppen ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur individuellen Autonomie ist, kann das Problem allerdings nicht lösen, denn in solchen sozialen Lernsituationen erfahren Lernende nicht nur, dass ihre eigenen Ideen und Vorstellungen gefragt sind, sondern sie müssen sich zugleich mit anderen Vorschlägen und Perspektiven auseinandersetzen, auf die Beiträge anderer reagieren, Kompromisse eingehen, mitunter die eigenen Ideen zurückstellen. Was hat das mit Autonomie zu tun? Nicht viel. Wenn ich meine eigenen Vorlieben und Wünsche zwar äußern kann, sie dann aber aushandeln und ändern oder sogar verwerfen muss, dann ist das sicher nicht einfach Zeichen meiner individuellen Autonomie. Vielmehr geht es hier um etwas anderes: die stetige komplexe Verwobenheit von Autonomie und Heteronomie, von Selbst- und Fremdbestimmung. Heteronomie wird im Lernerautonomiediskurs kaum je genannt, entsprechend auch nicht reflektiert, und doch stellt sie das immer präsente Gegenbild von Autonomie dar. Beide treten nicht in Reinform auf, sondern greifen immer ineinander, sind bisweilen sogar kaum noch unterscheidbar. Die Erziehungsphilosophin Käte M EYER -D RAWE (1990) hat dieses Oszillieren des Subjekts „jenseits der Ohnmacht und Allmacht des Ich“ (so der Untertitel ihres Buches) folgendermaßen beschrieben: „Wir wissen, daß menschliche Existenz weder nur autonom noch nur heteronom ist, und diese Einsicht ist erhellend, ohne daß wir abschließend bestimmen müßten, was diese Existenz denn positiv ist. Autonomie kann auf diesem Wege erkennbar werden als von Heteronomie durchzogen“ (M EYER -D RAWE 1990: 11). Und sie führt weiter aus, dass es 18 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 einen praktischen Sinn von Autonomie gibt, der sich theoretisch nicht adäquat ausweisen läßt. Als Chiffre für eine humane Gesellschaft bleibt Autonomie unverzichtbar, weil sie protestiert gegen reale Fremdbestimmungen, wenngleich deren vollständige Beseitigung aussichtslos ist. Aber auch dem Denken bleibt vollständige Autonomie vorenthalten, weil es über das Was des Gedachten eingebunden bleibt in eine dichte Erfahrungswelt voller heteronomer Bestimmungen (ebd.: 64). Meyer-Drawes erziehungsphilosophische Ausführungen helfen nicht nur, das soziale Lernen als komplexes Ineinander von Autonomie und Heteronomie zu verstehen, sondern ermöglichen darüber hinaus, die Aporien von individueller Autonomie zu durchdringen, die sich durch den Lernerautonomiediskurs ziehen. Im Anschluss an ihre Gedanken ist die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie zu stellen, das in Vorstellungen von Lernerautonomie impliziert ist: Wie autonom sind eigentlich autonome Lernende? Da wird rasch erkennbar, dass die vermeintliche Autonomie der Lernenden, die die Verantwortung für das eigene Lernen übernommen haben und geeignete Strategien und Materialien auswählen, um möglichst erfolgreich (und effizient) eine Fremdsprache zu lernen, doch tatsächlich eher das Resultat von Internalisierungen ist - und zwar Internalisierungen von überwiegend fremdbestimmten Elementen. Der Einsatz von Lernstrategien etwa oder die Bewertung von Lernmaterial und Auswahl von Lernmethoden kann überhaupt nur gelingen, wenn man zuvor Wissen und Fertigkeiten erworben hat, die zu solcherart autonomem Lernen notwendig sind. Das dürfte wohl kaum einfach selbstbestimmt erfolgt sein. Auch die sprichwörtlich sich selbst und das eigene Lernen steuernden Lernenden stellen ein paradoxes Konstrukt dar - denn sie sind zugleich Steuernde und Gesteuerte, Subjekt und Objekt der Steuerung, und als solche natürlich nicht lediglich autonom, auch wenn man der Selbststeuerung das Etikett der Autonomie überstülpt und so die Heteronomie einfach ausblendet und gleichsam unsichtbar macht. Ein Beispiel aus der Automobilindustrie kann dieses Paradoxon noch präziser illustrieren. Dort wird in jüngster Zeit das so genannte autonome Fahren für den Einsatz im Straßenverkehr geprüft. Was darunter zu verstehen ist, wird u.a. auf der Homepage von Daimler Benz erklärt: „Autonomes Fahren bedeutet das selbständige, zielgerichtete Fahren eines Fahrzeugs im realen Verkehr, ohne Eingriff des Fahrers“ (https: / / www.daimler.com/ innovation/ autonomes-fahren/ special/ definition. html). Unterschieden werden dabei die drei Autonomiestufen „teilautomatisiert“, „hochautomatisiert“ und „vollautomatisiert“. Diese Unterscheidung ist aufschlussreich zum Verständnis des Autonomiebegriffs, der dem autonomen Fahren zugrunde liegt: Teilautomatisiert: Der Fahrer muss die automatischen Funktionen ständig überwachen und darf keiner fahrfremden Tätigkeit nachgehen. Dazu zählen die Fahrerassistenzsysteme, die Mercedes-Benz unter dem Begriff ‚Intelligent Drive‘ […] anbietet. Hochautomatisiert: Das automatische System erkennt seine Grenzen selbst und fordert in diesem Fall die Übernahme durch den Fahrer rechtzeitig an. Fahrfremde Tätigkeiten des Fahrers sind begrenzt möglich […]. Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 19 47 (2018) • Heft 1 Vollautomatisiert: Das System kann alle Situationen autonom bewältigen; eine Überwachung durch den Fahrer ist nicht erforderlich. Fahrfremde Tätigkeiten sind dem Fahrer erlaubt. Ebenso ist in dieser Stufe fahrerloses Fahren möglich. (https: / / www.daimler.com/ innovation/ autonomes-fahren/ special/ definition.html#tabmodule-15000812836323 ) Neben der Tatsache, dass intelligent drive offenbar dasjenige Fahren kennzeichnet, bei dem der Mercedes-Fahrer selbst nicht mehr viel denken muss, ist unübersehbar, dass das intelligente Auto eines ist, das so programmiert wurde, dass es genau das tut, was zuvor 100% präsente, kompetente und konzentrierte Fahrer/ -innen getan hätten. Hier wird die Autonomie des Fahrzeugs als Ergebnis von Programmierungs- und Automatisierungsprozessen definiert. Autonomie ist dann die Eigenschaft der Fahrzeuge, die so programmiert wurden, dass sie sich selbst steuern können. Ein Schelm, wer hier Ähnlichkeiten mit der fremdsprachendidaktischen Internalisierungsthese von Lernerautonomie sieht. Dergleichen Vorstellungen von Selbststeuerung und Autonomie haben gemeinsam, dass Selbst- und Fremdbestimmung ununterscheidbar werden. Nur weil ein Auto fahrer/ -innenlos fährt oder eine Lernende ohne fremde Hilfe eine Fremdsprache lernt, Sprachlernstrategien anwendet oder fremdsprachliche Aufgaben bewältigt, ist das Etikett „Autonomie“ für diese Form der Selbststeuerung irreführend. Mehr noch: Das Etikett blendet, und es blendet die fremdbestimmten Elemente aus, die zur Ausübung von Selbststeuerung entwickelt werden mussten. Auf den fremdsprachlichen Autonomisierungsprozess bezogen, liest sich das folgendermaßen: [C]learly, the exercise of responsibility for one’s own learning […] and as members of a group [...] implies that the acceptance of responsibility is constantly renewed […]. From this it should be clear that the first task of the teacher intent on fostering learner autonomy is to introduce her learners to their responsibilities as individuals. In due course, the aims and objectives of the official curriculum must become the learner’s personal aims (L ITTLE 1997: 237). Das Sollen muss zum Wollen werden: Curriculare Vorgaben gilt es zu persönlichen Aufgaben und Zielen zu machen. Eine Reflexion darüber, wie es in solchen Prozessen mit der Selbst- und Fremdbestimmung steht, würde zumindest allzu vollmundige Beschreibungen von Lernerautonomie relativieren helfen. Diese Gedanken machen zugleich deutlich, inwiefern allgemeinpädagogische und erziehungsphilosophische Überlegungen zum Autonomieproblem als Korrektive im Rahmen fachdidaktischer Diskurse wirken können. 4. Pädagogische Reflexionen über Autonomie und ihr Potenzial für die Fremdsprachendidaktik Neben der Korrektivfunktion, die Diskurse zur Autonomie in der Allgemeinen Pädagogik im Rahmen der Lernerautonomiediskussion haben können, helfen sie auch, den Blick für das Autonomieproblem zu schärfen, mit dem wir es im Rahmen 20 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 der Fremdsprachendidaktik zu tun haben. Die selbstkritische Haltung, die im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt, deutet eine konkrete Richtung solcher Problematisierungsversuche an: Gerade weil der pädagogische Diskurs den Menschen noch immer meist entlang einer Kette dichotomer und irreführender Gegensätze zu bestimmen versucht - etwa: Subjekt/ Objekt, Autonomie/ Heteronomie, Selbstbestimmung/ Fremdbestimmung, Freiheit/ Determination -, gelingt es ihm kaum, die Trennung von Ideal und Wirklichkeit zu überschreiten und ihn jenseits dieser Extreme in den Blick zu nehmen. Fixiert auf die verführerische Selbstbeschreibung des Menschen […], fällt es der Allgemeinen Pädagogik außerordentlich schwer, sprachliche Formen für jene Erfahrungen zu entwickeln und bereitzustellen, die dem idealisierenden Bild des Menschen widersprechen und dessen Abhängigkeit, Angewiesenheit, Endlichkeit, Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit betonen (R IE - GER -L ADICH 2002: 73). Dasselbe gilt natürlich auch für die Fremdsprachendidaktik. Auch hier wäre es wichtig, Begriffe und Zugriffe zu finden, die nicht eindimensional die Autonomie feiern, sondern die stattdessen die blinden Flecken sichtbar werden lassen, die dieser Diskurs produziert. Daneben legen die kritischen Töne auch nahe, dass der Autonomiebegriff wenig geeignet ist, reale Lernende zu beschreiben, aber vielleicht als Reflexionsfolie nutzbar wäre. Das deutet Meyer-Drawe an, wenn sie für die Allgemeine Pädagogik festhält: Eine Antwort darauf, ob man [...] nicht auf den Begriff Autonomie verzichten soll, ist [...] allerdings noch nicht gefunden. Zumindest zweierlei ist jedoch [...] zu bedenken: Autonomie könnte [...] auf eine praktische Illusion verweisen, ohne die der Mensch nicht leben kann [...]. Autonomie könnte dergestalt nicht länger als Lösung, sondern als eine moderne Problematisierungsform von Subjektivität diskutiert werden (M EYER -D RAWE 1998: 48). Im Sinne einer „Problematisierungsform von Subjektivität“ bleibt das Autonomiepostulat zentral für das Nachdenken über allgemein erzieherische wie auch fremdsprachendidaktische Ansätze und Praktiken, die zur Selbstbestimmung von Lernenden beitragen wollen. Das schließt eine kritische Betrachtung realer heteronomer Verstrickungen ebenso ein wie die Anerkennung von oft notwendigen (und keineswegs verwerflichen) Kompromissen, die die Zurückstellung oder den Verzicht auf nur dem eigenen Selbst verpflichteten Entscheidungen und Wünschen erfordern. Als Erziehungsziel wie auch als Lernziel ist der Begriff der Autonomie insofern problematisch und unrealistisch. Als Reflexionsfolie kann er hingegen dazu dienen, die einseitige Fokussierung auf Selbstbestimmung zu durchbrechen: Ein starkes Ich […] ist eines, das sich verstrickt weiß in die zahlreichen Relationen, in denen es sich bildet, ohne dieses Verkennungsschicksal annullieren zu wollen [...]. Das Ich ist Souverän und Untertan zugleich, es hat sich nicht zu entscheiden zwischen Unschuld und Gewalt, allerdings wird es damit nicht verantwortungslos, sondern hat die Aufgabe, [...] jeweils von neuem kritisch danach zu fragen, ob die Beziehung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung so sein muß, wie sie ist (M EYER -D RAWE , 1993: 200). Meyer-Drawes Vorschlag kann als Einladung zu einer Gratwanderung gelesen werden. Pauschal von Autonomie zu reden und dabei heteronome Momente einfach zu Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie 21 47 (2018) • Heft 1 ignorieren, ist ebenso fehl am Platz wie der Verzicht auf ein fortwährendes kritisches Nachdenken über Grenzen und Möglichkeiten individueller Gedanken- und Handlungsspielräume. Vielmehr gilt es, überhöhte Autonomieansprüche zu relativieren und das Spannungsverhältnis von Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung in den Blick zu nehmen. Dabei bietet der Fremdsprachenunterricht einzigartige Möglichkeiten der Reflexion und des spielerischen Ausprobierens, erhalten Lernende dort doch Zugang zu neuen sprachlichen und kulturellen Ordnungs- und Positionierungsräumen. Diese ermöglichen es ihnen, neue Selbstpositionierungen auszuprobieren. Dabei wird zugleich eine Erfahrung alternativer Möglichkeiten der Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung impliziert, die zumindest im Ansatz auch in unterrichtlichen Kontexten zum Thema gemacht werden können. Voraussetzung dafür ist allerdings die Abwesenheit von starken Lehrern, die von vornherein wissen, wo es hingehen soll und entsprechend bändigen und führen. 5. Ausblick Meine Überlegungen zum Lern- und Bildungsziel Autonomie sollen verdeutlichen, dass verbreitete fachdidaktische Auffassungen von Autonomie als Selbststeuerung und Selbstbestimmung zu vordergründig bleiben. Auch das pauschal als erstrebenswert gesetzte Erziehungsziel Autonomie mit seinem Anspruch, das souveräne Subjekt zu fördern, erweist sich angesichts der erziehungsphilosophischen Kritik am Autonomiebegriff als problematisch. Auswege aus diesen überhöhten Autonomiebegriffen bietet eine kritisch-reflexive Herangehensweise, die Autonomie nicht als empirische Selbstbeschreibung von Lernenden oder individuellen Mitgliedern von sozialen Gruppen (z.B. Klassenverbänden, Gesellschaften, Diskursgemeinschaften) fasst, sondern die sich der Erkundung des komplexen Geflechts von Autonomie und Heteronomie in (fremdbzw. mehrsprachigen) Lern- und Erfahrungsräumen widmet. Hier ließen sich fachdidaktische Ansprüche an den Fremdsprachenunterricht mit allgemeinpädagogischen Diskursen verbinden. Voraussetzung ist allerdings der Verzicht auf einseitige Autonomiepostulate, wie sie im Lernerautonomiediskurs nach wie vor dominieren. Dabei ist es vor allem die Ausblendung von Heteronomie, die Verfechter von Lernerautonomie dazu verführt, das Etikett Autonomie vorschnell zu verwenden - und die heteronomen Verflechtungen von so genannten autonomen Lernenden zu ignorieren. Diese Kritik am Autonomiebegriff ist allerdings grundsätzlich zu unterscheiden von der eingangs skizzierten Autonomieschelte und dem Ruf nach der Rückkehr des starken Lehrers. Zwar geht es auch dort um eine Kritik an bildungspolitischen und didaktischen Forderungen nach Autonomie, Selbstbestimmung oder Selbststeuerung. Allerdings hinterfragt man diese pädagogischen Attribute nicht, sondern setzt sie pauschal als Feindbild, das als „neue Lernkultur“ charakterisiert wird und dem der starke Lehrer als Korrektiv entgegengesetzt wird. In dieser Polarisierung wird das Pendel dann lediglich mit Wucht ins andere Extrem geschleudert, was da heißt: 22 Barbara Schmenk 47 (2018) • Heft 1 Lehrer führen und dirigieren, Schüler/ -innen sollen wieder ‚erzogen‘ werden, und auch das soziale Lernen wird hier durchaus als erstrebenswert gesehen - das Autonomiepostulat hingegen erklärt man für obsolet. In diesem Diskurs werden Lehrende und Lernerautonomie extrem holzschnittartig dargestellt und anschließend gegeneinander ausgespielt. Dieser Autonomieschelte liegt also eine ganze Reihe gedanklicher Kurzschlüsse zugrunde, die im Resultat dazu führen, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Wer über Lehrerdämmerung und die Notwendigkeit der Rückkehr des starken Lehrers orakelt, hat offenbar das Autonomieproblem nicht verstanden. Eben diese unreflektierte Schelte mit ihrem Ruf nach dem Altbekannten wird jedoch medienwirksam inszeniert und in Feuilletons diskutiert. Von Differenzierung und Anerkennung der Komplexität von Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung kann hier keine Rede sein. Dabei sind solche populistischen Stimmen insofern ernst zu nehmen, als der Grad ihrer Unreflektiertheit tatsächlich dazu führen kann, dass sich viele von der verteufelten „neuen Lernkultur“ abwenden, ohne sich differenzierter mit ihr auseinander zu setzen. Insofern stellt die Post-Hattie Rhetorik eine reale Gefahr für die Autonomiediskussion dar. Was einer differenzierteren Sichtweise des Autonomiepostulats allerdings ebenfalls wenig zuträglich ist, ist der im Zuge der Neoliberalisierung von Bildungsdiskursen propagierte Autonomieschub, der wieder zurückfällt in ein hypertrophes Autonomieverständnis, allerdings erweitert um ökonomische Bedeutungsdimensionen. Wenn etwa in OECD-Publikationen gefordert wird, dass die Mitglieder moderner Wissensgesellschaften „need to be able to take responsibility for their own continuing, life-long learning“ (OECD 2008: 1) und die Entwicklung von Autonomie zur Bedingung für die Vermehrung von Humankapital erklären, dann muss man sich fragen, ob der Versuch der Differenzierung des Autonomiediskurses sowie der Überlegungen zu einem reflexiven Autonomiebegriff nicht einem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Manchmal hat es den Anschein. Literatur A DORNO , Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. v. Gerd K ADELBACH . Frankfurt/ M.: Suhrkamp. A RP , Doris (2013): Schwerpunktthema: Auf den Lehrer kommt es an. Deutschlandfunk v. 9. 5. 2013. http: / / www.deutschlandfunk.de/ schwerpunktthema-auf-den-lehrer-kommt-es-an.1148.de. html? dram: article_id=245959 (20.07.2017). B AST , Roland (1989): „Autonomie“. 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All three projects display generic skills in different ways. In this article, these findings are compiled systematically for the first time. It focuses on the questions of how social and individual skills and reflexivity interplay in the students’ group interactions and what role these skills play in the process of coping with uncertainty. 1. Einleitung Sprach man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schon vom Ende der Geschichte und befand sich Europa seit dem Vertrag von Maastricht auf einem scheinbar unumkehrbaren Weg zu immer stärkerer Integration, zu Frieden und Wohlstand, so entspricht dies spätestens seit Finanz- und Flüchtlingskrise nicht mehr der Wahrnehmung breiter Teile der europäischen Bevölkerung. Diese Ereignisse haben Konflikte und Problemlagen nach Europa getragen, vor denen sich die EU zuvor abschotten zu können glaubte. Nicht zuletzt als Reaktion darauf ist der Populismus in Europa wieder erstarkt und droht, durch z.B. EU und KSZE etablierten Multilateralismus und kooperative Friedensarchitektur durch Nationalismus und Sündenbocktheorie zu ersetzen. Dies bestätigt Voraussagen von bereits in den 1980er Jahren vorgenommenen Gesellschaftsanalysen, aus denen wir wesentliche Aspekte im Folgenden exempla- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Andreas B ONNET , Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Von-Melle-Park 8, 20146 H AMBURG E-Mail: Andreas.Bonnet@uni-hamburg.de Arbeitsbereiche: Didaktik der englischen Sprache und Literatur Dr. Elisabeth B RACKER DA P ONTE , Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Von- Melle-Park 8, 20146 H AMBURG E-Mail: Elisabeth.Bracker@uni-hamburg.de Arbeitsbereiche: Didaktik der englischen Sprache und Literatur 26 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 risch nennen werden. Nicht nur der Glaubwürdigkeitsverlust der „großen Erzählungen“ (L YOTARD 1986), sondern auch der rasante technologische Wandel und die nicht abzusehenden Risiken des Klimawandels (vgl. B ECK 1986) sowie zunehmende (transkontinentale) Migration führen zu einer wachsenden Komplexität der gesellschaftlichen und politischen Diskurse und Perspektiven. Wir befinden uns in der sog. „zweiten Moderne“ (ebd.), in der Entscheidungen nicht mehr auf sicher geglaubtem Wissen beruhen, gewachsene soziale Strukturen sich zunehmend auflösen und vertraute Institutionen wie der Nationalstaat oder die Erwerbsarbeit ihre Konturen verlieren (vgl. B ÖHLE / W EIHRICH 2009: 9). Diese Komplexität stellt die Einzelnen vor große Herausforderungen. Wir befinden uns gegenwärtig in kulturellen, gesellschaftlichen und globalen Transformationsprozessen, „durch die die Grundkoordinaten unseres In-der-Welt-Seins erschüttert, traditionelle Bindungen und Gewissheiten aufgelöst und selbst die Versuche, die Situation zu begreifen, auf eine harte Probe gestellt werden“ (W IMMER 2014: 49). Wir schließen uns dieser Sichtweise an, welche die Auflösung von Gewissheit und damit die Zunahme von Ungewissheit - oder in der Sprache der Soziologie: das Kontingenzproblem - als zentrale Herausforderungen benennt. Ausgehend von dieser Gegenwartsanalyse müsste man hoffen, dass der produktive Umgang mit Ungewissheit im Sinne der Anerkennung von Hybridität als unhintergehbare Bedingung jeglicher Identitätskonstruktion zu individuellen und kollektiven Aushandlungsprozessen in diskursiven dritten Räumen führt (vgl. z.B. B HABHA 1994). Stattdessen scheint aber die faktisch vorhandene Komplexität eher den breiten Wunsch nach Schließung von Ungewissheit und damit Vereinfachung auszulösen. Dies hat in den letzten Jahren insbesondere in Nordamerika und Europa zu einer erheblichen Zunahme populistischer Stimmen und Parteien geführt, die für viele der schwierigen Fragen vorgeblich einfache Erklärungen liefern, in ihrer Grundhaltung allerdings antipluralistisch und antidemokratisch sind (vgl. M ÜLLER 2016: 19). Von dieser Zustandsbeschreibung gehen wir aus und fragen mit Michael W IMMER : Was sind die Aufgaben jedweder Pädagogik, die in der krisenhaften Entwicklung der Neuzeit mit einem zunehmend unbestimmten Zukunftsbezug konfrontiert ist (vgl. W IMMER 2014: 45)? Und wir fragen in deren Konkretisierung: Was muss der Fremdsprachenunterricht in diesem Kontext beitragen und wie kann er das leisten? Im Vorgriff auf die zu diskutierenden empirischen Ergebnissen scheinen uns social skills und Reflexivität gleichermaßen gefordert. 2. Überfachliches Lernen zwischen skill-Orientierung und Reflexivität Auf gesellschaftlicher Ebene ist soziale Teilhabe vermutlich die stärkste Antwort auf die oben skizzierte Problemlage. Sie ist als allgemeines Menschenrecht und nachfolgend in vielen Verfassungen verankertes Grundrecht der menschenwürdigen Partizipation in einem die materiellen und kulturellen Rechte des Individuums schüt- Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 27 47 (2018) • Heft 1 zenden Gemeinwesen verbrieft. Zum einen wird darunter die Möglichkeit zur Zugehörigkeit zur Gesellschaft verstanden, die über eine rein materielle und rechtliche Gleichstellung hinausgehen muss (vgl. A LICKE / L INZ -D INCHEL 2012). Zum anderen ist damit der Begriff der Partizipation eng verknüpft, der als aktive Mitgestaltung der Gesellschaft durch das Einbringen eigener Ideen in einen demokratischen Diskurs verstanden wird (vgl. N ULLMEIER 2010: 32). Dementsprechend kommt dem Schul- und Bildungswesen die Aufgabe zu, als Übungsstätte für demokratisches Handeln zu fungieren, in der „die Normen der Gleichbehandlung und der gleichberechtigten Partizipation als legitime Erwartungen sozialisiert“ werden (F END 2008: 79). Diese Zielvorgabe gilt auch für den Fachunterricht, und sie findet sich folgerichtig in institutionellen Vorgaben. So fragt z.B. der GeR, wie „Sprachenlernen ihre [der Sprachlernenden; Anm. AB/ EB D P] persönliche und kulturelle Entwicklung als verantwortungsbewusste Bürger in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft am besten fördern kann“ (E UROPARAT 2001: Einleitung Kapitel 4). Darauf verweist auch das Konzept der Lernerautonomie. Deren Ziel bestimmt B ENSON (2001: 14) mit Bezug auf das CRAPEL-Projekt des Europarats als „the need to develop the individual’s freedom by developing those abilities which will enable him to act more responsibly in running the affairs of the society in which he lives“. In einem ersten Schritt verstehen wir somit überfachliches Lernen als Entwicklung einer Form von Lernerautonomie, die zu sozialer Teilhabe befähigt. Lernerautonomie aber hat - und dies weiterhin mit B ENSON (2001: 19) gesprochen - zwei „Gesichter“. Sie kann als Frage nach den für individualisiertes Lernen beim Individuum notwendigen sozialen und selbstbezogenen Fertigkeiten und Strategien aufgefasst werden. Sie muss aber auch, und dies wird von wachsender Ökonomisierung des Bildungssystems zunehmend unterdrückt (vgl. ebd.: 20), als reale Ermächtigung der Lernenden verstanden werden, ihr Lernen und späterhin ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die erste Sichtweise werden wir im Folgenden als skill-Orientierung bezeichnen. Sie entspricht vom Ansatz her dem aktuell dominanten psychologisch orientierten Kompetenzdiskurs mit seiner Trias aus kognitiven, selbstbezogenen und sozialbezogenen Kompetenzen (vgl. K LIEME / H ARTIG 2007: 20) und bezieht sich besonders auf die beiden letztgenannten Fähigkeiten der Trias. Die zweite Sichtweise schließt unmittelbar an die einführende Gesellschaftsanalyse an und argumentiert, dass schulische Bildung nicht als schlichte Weitergabe existierender kultureller (Wissens-)Bestände verstanden werden kann. Stattdessen muss sie als intergenerationelle Interaktion (vgl. P EUKERT 1998) aufgefasst werden, in der erwachsene und nachwachsende Generationen Lösungen für bestehende Probleme entwickeln. Normativ müsse dies in einer Haltung „praktischer Solidarität“ (ebd.) geschehen, in der die erwachsene Generation nicht mit einer Defizitperspektive handelt, sondern zunächst davon ausgeht, dass die von der nachwachsenden Generation entwickelten Ideen funktional sind. Dazu müsse der institutionelle Rahmen, in dem sich derartige Inszenierungen vollziehen, reflexiv eingeholt werden, indem Lehrer/ -innen und 28 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 Schüler/ -innen gemeinsam soziale Regeln und Bewertungsformen aushandeln. Dies deckt sich mit der Zielbeschreibung für Lernerautonomie, nämlich „the development of a capacity for reflection and analysis, central to the development of learner autonomy“ (L ITTLE 1996, zitiert nach B ENSON 2001: 14). 3. Wege zu überfachlichem Lernen Damit ist das Zielspektrum überfachlicher Lernziele des Englischunterrichts zwischen skill-Orientierung und der Entwicklung von Reflexivität benannt. Wie kann Englischunterricht zu diesen überfachlichen Lernzielen beitragen? Inhaltlich ließe sich argumentieren, dass Reflexion über Sprache, der Umgang mit Literatur oder auch die Auseinandersetzung mit kulturellen Gehalten Beiträge zu den oben genannten überfachlichen Lernzielen liefern. Da dies andernorts bereits geschehen ist (z.B. F AIRCLOUGH 2014, D ECKE -C ORNILL 2007), möchten wir an dieser Stelle einen bislang wenig beleuchteten Aspekt betrachten und die unterrichtliche Interaktion selbst thematisieren, insbesondere den Aspekt der Kooperativität. Dies deckt sich mit dem oben verfolgten Ansatz von Lernerautonomie, denn B ENSON (2001) hält mit Bezug zu L ITTLE (1996) fest, dass kooperatives Arbeiten den Lernenden ermögliche, die eigene Reflexivität durch Internalisierung der von Kooperationspartner/ -innen gegebenen Rückmeldungen zu entwickeln. In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise darauf, in welchen Bereichen Kooperatives Lernen (KL) förderlich für diese Fähigkeiten ist. Wir werden nacheinander referieren, welchen Beitrag KL zum Erwerb von skills und Reflexivität leistet und welche Rolle Ungewissheit dabei spielt. Beim Erreichen sozialer Ziele sind insbesondere die Arbeiten von J OHNSON / J OHNSON (1994, 2003, 2015) von Bedeutung. Deren eigene, sozialpsychologisch ausgerichtete und mit dem Konstrukt der sozialen Interdependenz (vgl. auch W ÜRFFEL 2007) gerahmte Untersuchungen sowie von ihnen durchgeführte Metaanalysen bringen folgende auf soziale Interaktion und soziale Kompetenzen bezogene Effekte zu Tage. Metaanalytisch belegt ist, dass Schüler/ -innen durch KL ein erhöhtes Vertrauen innerhalb der Interaktionssituation erlangen (vgl. J OHNSON / J OHNSON 1994: 53f.) und dass sich soziale Unterstützung erhöht (hierzu wie auch zum Folgenden vgl. ebd.: 62-69). Mit zahlreichen Einzelstudien belegt ist, dass KL soziale Kompetenz generell und insbesondere die Fähigkeit der Perspektivübernahme signifikant erhöht. Zwei weitere Studien stellen eine Förderung der sozialen Entwicklung fest. Auf dieser Basis ließe sich schlussfolgern, dass KL zum Erreichen überfachlicher Lernziele beiträgt - mittelbar, indem es Lernende emotional und durch gegenseitige Unterstützung öffnet und ihnen so hilft, in intensive Interaktion zu treten. Darin kann die für das Zustandekommen von Lernerautonomie zentrale Internalisierung von Feedback erfolgen. Unmittelbar trägt KL dazu bei, indem soziale Kompetenzen, insbesondere die Fähigkeit der Perspektivübernahme gefördert werden. Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 29 47 (2018) • Heft 1 Im Bereich der auf das Selbst gerichteten Ziele ist das Zustandekommen eines positiven allgemeinen und fachbezogenen Selbstkonzepts metaanalytisch belegt (vgl. ebd.: 67). Mehrere Studien zeigen, dass sich durch KL die positive Einstellung zum Fach und die Lernmotivation erhöhen (vgl. ebd.: 58). Dies sind wesentliche Aspekte von Lernerautonomie, denn aus ihnen konstituiert sich die in der pädagogischen Psychologie für autonomes Lernen vorausgesetzte Fähigkeit zur Selbstregulation (vgl. z.B. S CHÜTTE / W IRTH / L EUTNER 2010). Diese Fähigkeit wird auch insgesamt weiterentwickelt, da sich Lehrer/ -innen - so W ÜRFFEL (2007: 3) mit Bezug auf S CHWERDTFEGER (2001) - die Möglichkeit biete, „stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden einzugehen, d.h. konsequent eine Binnendifferenzierung vorzunehmen und die Selbststeuerungskompetenz der Lernenden zu fördern“. In Bezug auf Ungewissheit scheint KL in zwei Richtungen zu wirken. Zum einen dürfte jegliche Öffnung des Unterrichts zu einer Erhöhung von Ungewissheit führen. So konstatieren H ELSPER et al. (2003: 147): „[...] die Ersetzung der Lehrerzentrierung durch eigengesteuerte Schüler-Schüler-Kooperation mindert nicht die Ungewissheit, sondern fügt eine zusätzliche Komplexitätsebene hinzu, die auch als Ungewissheitssteigerung verstanden werden kann“. Darüber hinaus wirkt tatsächlich realisierte Kooperativität unterstützend, so dass KL als Lerngelegenheit für den produktiven Umgang mit Ungewissheit betrachtet werden kann. Ungewissheitstoleranz ist aber nicht nur Ergebnis, sondern auch Voraussetzung von KL, denn von ihr hängt der Kompetenzerwerb in kooperativen Lernumgebungen ab (H UBER et al. 1992). Ähnliches gilt für die Lehrpersonen. Da sie mit dem Technologiedefizit von Unterricht konfrontiert sind, entscheidet ihre Ungewissheitstoleranz mit darüber, wie offen sie ihren Unterricht anlegen (vgl. z.B. D ALBERT / R ADANT 2010). Aus diesen Überlegungen ergeben sich die Fragen, inwieweit kooperative Lernumgebungen im Englischunterricht zum Erwerb von als skills verstandenen überfachlichen Kompetenzen führen, inwieweit sie zu Reflexivität beitragen und welche Rolle dabei die Ungewissheit der kooperativen Settings spielt. Diese Fragen werden wir nun empirisch betrachten. 4. Empirische Betrachtung: Überfachliche Lerngelegenheiten durch Kooperatives Lernen im Englischunterricht Wir haben in den letzten Jahren mehrere Projekte durchgeführt, in denen wir die peer-to-peer-Interaktion beforscht haben. Trotz ihrer fachdidaktischen Schwerpunkte ist in allen Projekten die überfachliche Seite prominent hervorgetreten. Für den vorliegenden Aufsatz haben wir diese überfachlichen Ergebnisse erstmals verknüpft. Die Klammer bilden die oben herausgearbeiteten drei Elemente überfachlichen Lernens (social skills, Reflexivität, Umgang mit Ungewissheit), die wir nachfolgend anhand von empirischen Daten aus drei unterschiedlichen Forschungsprojekten betrachten. Um die drei Projekte knapp in ihren wesentlichen Parametern beschreiben zu können, verwenden wir die Unterscheidung zwischen Aufgaben- 30 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 struktur (academic task structure, ATS) und Partizipationsstruktur (social participation structure, SPS), so wie sie von E RICKSON (1982) vorgeschlagen wurde und in der Mathematikdidaktik (K RUMMHEUER 1997) und der Englischdidaktik (z.B. B ONNET 2004, 2012, B RACKER 2012) zur Anwendung gekommen ist. Für jedes der drei Projekte werden wir angeben, wie stark ATS und SPS vorstrukturiert waren, da sich zeigen wird, dass diese Vorstrukturierung ein wesentliches Kriterium dafür ist, welche Prozesse in den Lernumgebungen ablaufen. Aus Platzgründen stellen wir lediglich zwei Projekte ausführlich und eines summarisch vor. 4.1 Projekt 1: Kooperatives Lernen im Englischunterricht Wir steigen in den empirischen Teil mit einer Untersuchung ein, die vier Englischlehrer/ -innen dabei begleitete, wie sie in den Schuljahren 5 bis 7 KL in ihren Englischunterricht integrierten. Die Rolle der wissenschaftlichen Begleitung bestand darin, die Professionalisierungsprozesse der Lehrer/ -innen mit Interviews (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014) und den Unterricht per Videographie zu rekonstruieren, so dass die tatsächlich zustande gekommene Kooperativität systematisch bestimmt werden konnte. Die ATS nahm in ihrer Komplexität bis zur Klasse 7 stetig zu, war aber durch das Formulieren von Teilaufgaben immer klar vorstrukturiert. Die SPS war im ersten Jahr ebenfalls stark vorstrukturiert, da v.a. Mikromethoden wie z.B. Gruppenpuzzle oder Placemat zum Einsatz kamen. Im zweiten Jahr wurde die SPS offener, da komplexere Makromethoden - darunter auch ein Projekt - zum Einsatz kamen, in denen die Lernenden sich stärker selbst organisieren mussten. Die Videographien von Gruppenarbeiten verdeutlichen, dass sich die sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen der Schüler/ -innen im Laufe der Jahre merklich verändern. Im ersten Projektjahr finden sich noch zahlreiche wenig produktive Interaktionen. Als Grund dafür lässt sich plausibel ein Mangel an sozialen Fähigkeiten der Schüler/ -innen annehmen. Ein typischer und immer wieder auftretender Konfliktgrund in den kooperativen Kleingruppen ist das sog. Trittbrettfahren. Nicht selten sind es einzelne Schüler/ -innen, die den überwiegenden Teil der Arbeit machen, während sich der Rest der Kleingruppe ausklinkt. Regelmäßig wird dies auch thematisiert, so wie in dieser Gruppe in Klasse 5: Cf: soll ich übersetzen (.) ihr habt Spaß ihr lacht Bf: wir lachen ( ) Df: ihr quatscht Af: und du bist die Arbeiterin die ihre Arbeit macht Df: ((stöhnt, fasst sich an den Kopf)) (Eng5SB: 658-662) Die Gruppe bewegt sich nahezu über die gesamte für die Aufgabe zur Verfügung stehende Zeit in folgendem Konflikt: In erster Linie Df und in zweiter Linie auch Cf machen die Arbeit, Af und Bf hingegen beschäftigen sich anderweitig oder behindern sogar das Vorankommen. Die Lehrerin interveniert zwei Mal in der Gruppe, Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 31 47 (2018) • Heft 1 und erst die dritte Intervention zeigt Wirkung: „This is also a test for girls working in groups and if it doesn’t work then we can’t do that again“ (Eng5SB: 650-651). Auf den ersten Blick ist damit zu Beginn des Projekts deutlich, dass ein gewichtiger Anteil der Lernprozesse im sozialen Bereich liegt. Während die Lehrerin hier situativ droht, finden an anderer Stelle auch systematische Reflexionen über produktives Agieren in Gruppen statt. Derartige Sequenzen sind in den Gruppenphasen des letzten Jahres hingegen die Ausnahme. Dort finden sich in der Mehrzahl komplexe und produktive Aushandlungsprozesse. Die dort sichtbaren sozialen und selbstbezogenen skills bestehen darin, dass die Schüler/ -innen sehr stringent und ritualisiert ihre Arbeit organisieren (z.B. verteilen Gruppen immer wieder mit dem Fingerspiel „Schere-Stein-Papier“ ihre Gruppenrollen), ihre Interaktion strukturieren (z.B. gemeinsam einen nächsten Arbeitsschritt beraten), sich gegenseitig relevante Wissensbestände weitergeben (z.B. im Wörterbuch recherchierte Wortbedeutungen austauschen), ihre Interessen artikulieren (z.B. darauf hinweisen, dass man mit einer bestimmten Arbeitsverteilung nicht zufrieden ist) und produktiv mit Konflikten umgehen (z.B. Missfallen äußern und Kompromisse finden). Man kann insgesamt feststellen, dass die Schüler/ -innen über die drei Projektjahre deutlich an sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen gewinnen. Die Entwicklung der sozialen und selbstbezogenen skills der Lernenden in diesem Projekt lenkt den Blick darauf, dass derartige Fähigkeiten einerseits ein mögliches Produkt von KL im Englischunterricht, andererseits aber auch auf niedrigerer Stufe dessen notwendige Voraussetzung darstellen. 4.2 Projekt 2: Chemie im bilingualen Unterricht Weitere relevante soziale Fähigkeiten wurden im zweiten Projekt (B ONNET 2004) rekonstruiert. In einer experimentellen Lernumgebung mit gesteigerter Ungewissheit ließen sich insgesamt vier überfachliche skills aus dem Datenmaterial herausdestillieren, die sich als unmittelbar relevant für die erfolgreiche Arbeit in den Gruppen erwiesen haben: Etablierung einer partizipatorischen SPS, produktive Konfliktlösung, elaborierte inhaltliche Argumentation und Reflexion des Arbeitsprozesses. Der Vergleich der beiden Studien legt nahe, dass Ungewissheit als Eigenschaft der Lernumgebung einen wesentlichen Einfluss auf die zu erwartenden Lern- und Bildungsprozesse der Lernenden hat. Daher wenden wir uns abschließend einem Setting zu, in dem Ungewissheit im Vergleich zu den bisher referierten Untersuchungen nochmals gesteigert wird. 4.3 Projekt 3: Literatur im Englischunterricht In dem Projekt zu literarischer Anschlusskommunikation im Kontext von Irritation durch Verfremdung an sechs Hamburger Schulen (B RACKER 2015) wurden sowohl die inhaltliche als auch die interaktionale Struktur geöffnet: Schüler/ -innen der GyO 32 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 wurden gebeten, den zuvor individuell rezipierten deutungsoffenen Text „Girl“ von Jamaica K INCAID (1978) in Kleingruppen miteinander zu diskutieren. Sie erhielten lediglich den Impuls „Please talk about the text“. Im Vergleich zu den oben vorgestellten Projekten findet sich hier nochmals eine gesteigerte Offenheit der ATS und der SPS. Die ATS musste von den Schüler/ -innen selbst konstruiert werden. Die SPS wurde ebenfalls offengehalten, indem die Zusammensetzung der Gruppen per Losverfahren erfolgte und es keine Vorstrukturierung der Interaktion gab. Wie im Projekt im bilingualen Chemieunterricht wirken in dem offenen Setting selbstbezogene und soziale skills als Einflussfaktoren auf den inhaltlichen Ertrag der Gespräche. Allerdings zeigt sich in diesem Projekt, dass die gesteigerte Ungewissheit des Settings die zentrale Herausforderung ist, zu der sich die Gruppen je unterschiedlich verhalten. Diese Ungewissheit zeigt sich v.a. zu Beginn der Gespräche: Die Schüler/ -innen tragen erste Deutungsvorschläge des gelesenen Textes vor, die meist formelhaft sind und zu einer Komplexitätsreduktion auf der inhaltlichen Ebene führen. Lesarten werden zögerlich zur Disposition gestellt. Die Schüler/ -innen sind sich nicht sicher, wie sie ihr Vorgehen organisieren sollen und an wen sie ihr Sprechen überhaupt richten. Af: okay (.) so (.) ehm (.) so far as I have understand (.) understood the text it’s about somebody talking to a girl (.) who is so bent on becoming a slut Bf: yeah (.) I agree with you; I think the text is about how to be a good woman (.) yeah. (HG 272: 5-8) Einige Gruppen finden auch im weiteren Verlauf der Diskussion in keine organisierte Interaktion. Bei ihnen führt die Ungewissheit zu sprunghaften Themenwechseln und vorschnellen Schließungen, die einer fundierten Aufgabenbearbeitung abträglich sind. Es lässt sich insgesamt eine ‚Verlorenheit‘ innerhalb der Situation rekonstruieren. Andere Gruppen nutzen die Ungewissheit des Settings zur Sabotage der fachlichen Aufgabenbearbeitung. Sie greifen den literarischen Text zwar auf, verwenden ihn jedoch als assoziatives ‚Sprungbrett’, um durch ironische Provokation bis hin zum Tabubruch den Rahmen der Aufgabe und damit auch den schulischen Rahmen herauszufordern bzw. in kritische Distanz zu ihm zu treten. Wieder anderen Gruppen gelingt es im Diskussionsverlauf, die Offenheit auf der Ebene der SPS zu organisieren und sie damit produktiv für sich zu gestalten. In diesen Gruppen kommt es zu inhaltlichen Auseinandersetzungen mit dem Text. Sie akzeptieren das schulische Regelwerk, indem unterrichtliche Gesprächsregeln in den Gruppen entweder implizit reproduziert oder explizit festgelegt werden. So beginnt die Schülerin einer Gruppe die Diskussion wie folgt: Af: We can go like this: Everyone can say one sentence about the text and then we’re going to say what it is for the group. (LHG 285: 3). Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 33 47 (2018) • Heft 1 Die Schüler/ -innen strukturieren die komplexe Situation, indem sie die SPS und ATS bestimmen und die Aufgabe für sich bearbeitbar machen. Es ist ihnen so möglich, in einen partizipatorischen Aushandlungsprozess zu treten, der zum Teil zu produktiven Sinnkonstruktionen führt: Bf: like before she does something she can’t decide she cannot see the situation and then decide what to do. she has to do follow these patterns and just ja like we were trained to do in the abitur. - Am: like a robot. (LHG 285: 232-234) Den Schüler/ -innen gelingt es nach einem intensiven Aushandlungsprozess, den wir an dieser Stelle nicht wiedergeben können, die literarische Figur sinnstiftend auszugestalten und deren Situation reflexiv auf die eigene zurückzuführen. Im Prozess vom erfolgreichen Organisieren des interaktionalen Vorgehens bis zur Bedeutungsaushandlung wirken in den Gruppen soziale und selbstbezogene skills. Im Rahmen des Projekts zeigt sich, dass die Ungewissheit des Settings verschiedene Umgangsweisen eröffnet. Einerseits führt sie zu einer ‚Verlorenheit‘ in der Situation, in der sinnstiftende Bedeutungsaushandlung nicht möglich ist. Andererseits bietet sie Gelegenheit zur Sabotage der fachlichen Auseinandersetzung. Nicht zuletzt eröffnet sie die Möglichkeit einer konstruktiven Bearbeitung. Wie die Schüler/ -innen mit der Ungewissheit umgehen, hängt zentral davon ab, ob soziale und selbstbezogene skills zum Tragen kommen. 4.4 Diskussion Damit ergibt sich im Fallvergleich der drei Untersuchungen in pseudo-längsschnittlicher Perspektive folgendes Ergebnis: Es ist einerseits klar zu erkennen, dass der in den Klassen 5-7 durchgeführte kooperative Englischunterricht zu einem deutlichen Zuwachs an sozialen und selbstbezogenen Kompetenzen geführt hat. In der Terminologie B ENSONS (2001: 20) wäre dies ein soziales und selbstbezogenes Lernen im Bereich von skills und Strategien. In den beiden anschließend resümierten Untersuchungen hat sich gezeigt, dass derartige Kompetenzen notwendig sind, um das Lern- und Bildungspotenzial kooperativer Lernumgebungen mit gesteigerter Ungewissheit ausschöpfen zu können. Im Vergleich der drei Untersuchungen zeigt sich außerdem, dass die Ungewissheit kooperativer Inszenierungen in Zusammenhang mit ihrem Bildungspotenzial steht: In dem am meisten strukturierten Setting in Klasse 5-7 sind keine Reflexionen auf den organisational-institutionellen Rahmen zu finden. Im inhaltlich und interaktional deutlich ungewisseren Setting in Klasse 10 thematisieren die Schüler/ -innen hingegen diesen Rahmen, um ihr Verhalten und ihre Vorschläge zu begründen. Sie erzeugen somit implizite Reflexionen (vgl. B OHNSACK 2014: 44). In den peer-to-peer-Interaktionen zu Literatur, dem Setting mit der größten Ungewissheit durch maximale Offenheit, kommen auch die am weitesten führenden Reflexionen zustande: Die Schüler/ -innen erlangen Bewusstheit in Bezug auf den sie 34 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 umgebenden Rahmen und positionieren sich implizit und explizit zu ihm. Für uns erscheint es plausibel, diese kritische Distanznahme als Akt der Emanzipation zu verstehen, mit dem die Schüler/ -innen sich zu ihrem Schüler/ -innensein verhalten und damit ihr Selbst- und Weltverhältnis in der organisational-institutionellen Struktur Schule reflektieren. Durch diese gesteigerte Bewusstheit wird es ihnen möglich, verantwortungsbewusster in der Gesellschaft zu handeln, in der sie leben (vgl. B ENSON 2001: 11). In der Definition nach B ENSON haben sie damit den auf Reflexivität gerichteten Anteil von Lernerautonomie erlangt. Ist gesteigerte Ungewissheit, die für die Schüler/ innen ja auch die Gefahr der ‚Verlorenheit‘ birgt, nun aber notwendig, um den Rahmen selbst reflexiv zugänglich zu machen, oder ist dies auch dadurch möglich, dass der Rahmen, z.B. das eigene Handeln als Schüler/ -innen, explizit in einer interaktional geschlossenen Inszenierungsform thematisiert wird? 4.5 Ergänzung: Die Lehrerperspektive Wir blicken dazu noch einmal auf die erste Untersuchung, dieses Mal mit besonderem Fokus auf die Teilstudie zur Professionalisierung (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014). Aus Sicht der Lehrerin Silke Borg sind große Zweifel geboten, ob eine explizite Behandlung des Rahmens und damit die Herbeiführung eines Bildungsprozesses durch explizite Thematisierung auf inhaltlicher Ebene möglich ist. Sie äußert sich im Interview frustriert darüber, dass schon deutlich weniger reflexive von ihr beabsichtigte Lernprozesse nicht stattfinden, weil die Schüler/ -innen die intendierte Reflexionshöhe und Komplexität unterlaufen. Schon im Eingangsinterview benennt sie als Problem, „dass die Schüler sehr darauf geschult sind, gefüttert zu werden mit Informationen und sehr genau gesagt bekommen wollen, was sie zu tun haben“ (SB1, 688-690). Obwohl sie im Laufe der zwei Projektjahre sehr angetan davon ist, dass die Schüler/ -innen selbständiger werden (z.B. in der Wörterbucharbeit und in der eigenen Arbeitsorganisation), verändert sich eine Tatsache nicht. So sagt sie im Abschlussinterview: Die sind noch sehr stark ähm projektorientiert, produktorientiert. So wir machen jetzt ein Projekt und dieses Projekt wird dann kooperativ aussehen und da muss ein Produkt sein, was ich irgendwie messen kann. (SB4, 443-446) Die Lehrerin schreibt hiermit den Schüler/ -innen eine umfassende und auf Bewertung fokussierte Produktorientierung zu, welche die von ihr eröffneten Räume für eigene Kreativität, produktive Umwege und Komplexität schließt. Sie beklagt damit, dass Schüler/ -innen in einem Orientierungsrahmen der Benotung bleiben, deshalb keine den Vorstellungen der Lehrerin entsprechende inhaltliche Komplexität bewerkstelligen und aus ihrer Sicht auch nicht individuell bedeutsame Produkte erzeugen. Dies ist jene Haltung, die B REIDENSTEIN (2006) in seinen Unterrichtsethnographien als konstitutiv für den „Schülerjob“ rekonstruiert. Mit ihrem nächsten Satz macht die Lehrerin allerdings klar, dass nicht nur die Schüler/ -innen, sondern Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 35 47 (2018) • Heft 1 auch die Lehrer/ -innen gemeint sind, denn sie äußert: „Wir haben ja ständig diese Messbarkeitsphobie“ (SB4, 446). Detaillierte Analyse und sequenzieller Vergleich (vgl. B ONNET / H ERICKS 2014) ergeben, dass sie die kooperative Praxis in ihrer Klasse in einem Orientierungsrahmen permanenter Bewertung erlebt. Im weiteren Interview reflektiert sie implizit, dass sie selbst diesen Rahmen (re-)produziert. Genauso deutlich wie diese Verantwortlichkeit der Lehrerin für die Habitualisierung des Rahmens ist aber auch, dass sie selbst diesen Rahmen als kritikwürdig, ja: nimmt man den Begriff der Messbarkeitsphobie ernst, sogar als krankhaft erlebt. Dennoch haben ihre Schüler/ -innen und sie diesen Rahmen in den drei Jahren des Projekts letztlich nicht verlassen. Silke Borg zieht nach Ende des Projekts das Fazit, dass sie KL zukünftig nur insoweit durchführen wird, als es in diesem Rahmen der Bewertung von allen durch alle möglich ist. Sehr pointiert: Mikromethoden mit Bewertung durch die Lehrerin ja, Makromethoden und Selbst- oder peer-Bewertung nein. 5. Zukünftige Chancen überfachlichen Lernens Empirisch hat sich gezeigt, dass KL im Englischunterricht mit dem überfachlichen Ziel sozialer Teilhabe eine Herausforderung sowohl für die Schüler/ -innen als auch die Lehrer/ -innen darstellt. Die empirischen Befunde weisen darauf hin, dass diese Herausforderung vor allem im Umgang mit Ungewissheit liegt, welche kooperativen Settings in unterschiedlicher Ausprägung eigen ist. Für die produktive Bewältigung von Ungewissheit scheinen wiederum soziale und selbstbezogene skills sowie Reflexivität zentral. Besonders interessant ist, dass sich empirisch zwei Formen von sozialem und selbstbezogenem Kompetenzerwerb unterscheiden lassen. Einerseits haben wir es mit sozialem und selbstbezogenem Lernen im engeren Sinne zu tun, wenn Schüler/ -innen ohne den sie umgebenden Rahmen zu reflektieren Fertigkeiten und Strategien entwickeln, mit denen sie peer-to-peer-Interaktion produktiver gestalten können. Diese Fähigkeiten lassen sich in kooperativen Lernformen erwerben, deren Ungewissheit zunächst sehr niedrig ist und dann über mehrere Lernjahre langsam gesteigert wird. Diese Fähigkeiten erweisen sich andererseits als Voraussetzung dafür, mit gesteigerter Ungewissheit produktiv umzugehen. Diese gesteigerte Ungewissheit wiederum scheint die Voraussetzung dafür, dass der institutionell-organisationale Rahmen selbst ins Blickfeld gerät und die Schüler/ -innen damit Reflexivität entwickeln können. In der Diktion der transformatorischen Bildungstheorie könnte man zwischen einerseits sozialem und selbstbezogenem Lernen und andererseits sozialer und selbstbezogener Bildung unterscheiden. Ersteres lässt sich zunächst mit der schulisch verankerten umfassenden Bewertungspraxis vereinbaren. Kooperative Settings mit eingeschränkter Ungewissheit entziehen sich nicht zwingend der je habitualisierten Bewertungspraxis. Im Sinne einer klaren Produktorientierung lassen sich 36 Andreas Bonnet, Elisabeth Bracker da Ponte 47 (2018) • Heft 1 Mikromethoden, die entlang der Basiselemente kooperativen Lernens inszeniert werden, in den Fremdsprachenunterricht integrieren, ohne dass Lehrer/ -innen und Schüler/ -innen dabei den habitualisierten Rahmen verlassen müssen. Die in diesem Rahmen erwerbbaren sozialen Fertigkeiten sind hilfreich, vermutlich sogar notwendig, um später unter den Bedingungen gesteigerter Ungewissheit handlungsfähig zu werden. Offen hingegen bleibt die Frage nach der Ermöglichung von sozialen bzw. selbstbezogenen Bildungsprozessen unter der Voraussetzung gesteigerter Ungewissheit im Unterricht. Die Herausforderung derartiger Inszenierungen liegt darin, dass sie den Rahmen der Bewertungslogik überschreiten bzw. sich ihm widersetzen und sich jenem didaktischen Denken entziehen, das auf Planung, Vergewisserung und Schließung ausgerichtet ist (vgl. H ELSPER et al. 2003: 11). Ermöglichen Lehrer/ -innen derart offen und ungewiss inszenierte Settings, wird der organisationalinstitutionelle Rahmen selbst reflexiv infrage und damit zur Disposition gestellt. Da die Akteure per Subjektivation (B UTLER 2001) aus diesem Rahmen auch ihre bisherige Subjektposition als Lehrer/ -innen bzw. Schüler/ -innen gewinnen, ist dieser Schritt der Emanzipation ein potenziell Angst erzeugender Aufbruch ins Ungewisse. Umfassende Lernerautonomie, mit ihr schulische Teilhabe und die Befähigung zu gesellschaftlicher Partizipation sind aber ohne diese Infragestellung nicht möglich. Wenn der institutionelle Rahmen, in dem überfachliches Lernen und Bildung geschehen sollen, genau dies nur eingeschränkt ermöglicht, dann ist Englischunterricht erst dann allgemeinbildend, wenn er diesen Rahmen zur Disposition stellt und - falls notwendig - zumindest situativ suspendiert. Dazu sehen wir drei Wege. Aus den theoretischen Gedanken im Anschluss an Peukert ergibt sich die erste Option, nämlich Englischunterricht als intergenerationelle Kommunikation durch umfassende (weil den institutionell-organisationalen Rahmen einbeziehende) Bedeutungsaushandlung zu gestalten. Methodische Möglichkeiten dazu haben wir andernorts bereits angedeutet (B ONNET / B REIDBACH 2007). Die zweite Option begreift die ablehnenden, ironisierenden oder assoziativen Äußerungen der Schüler/ -innen als ernst gemeinte Zurückweisung bzw. Subversion des gesetzten Rahmens. Darin liegt ein für die „Entwicklung einer autonomen, originären Identität“ (G RUEN 2012) notwendiger Ungehorsam (G RUEN 2014), der jenen Rahmen zerstört, welcher die Anknüpfung an die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, sensu Entwicklungsaufgaben, verhindert. Damit treten überfachliches Lernen und Bildung in ein dialektisches Verhältnis zum institutionellen Rahmen. Zugespitzt: Erst durch dessen Zerstörung wird das möglich, was dieser Rahmen eigentlich herbeiführen soll. Indem die Schüler/ -innen sich dieses Rahmens bemächtigen, gelangen sie auf Augenhöhe mit den Lehrer/ -innen, die bislang diesen Rahmen allein verantwortet haben. Dadurch entsteht Teilhabe, aus der sich laut J OHNSON / J OHNSON (2003: 138f.) „ownership“ und daraus wiederum „motivation“ entwickeln. Diesem Gedanken folgend entstünde Autonomie als Fähigkeit zur Teilhabe gerade dadurch, dass die Teilhabe an einem Unterricht, den man als nicht bedeutsam erlebt, aufgekündigt wird. Überfachliches Lernen durch Ungewissheit? 37 47 (2018) • Heft 1 Die dritte Option setzt ebenfalls an jenen Äußerungen der Lernenden an, welche die größte Nähe zu ihren lebensweltlichen Erfahrungen aufweisen. Man kann diese Äußerungen nicht nur als Zurückweisung des Rahmens lesen. Man kann sie auch als Versuch interpretieren, jenseits der didaktischen Intentionen der Lehrer/ -innen kognitiv, emotional und mit Bezug zu ihrer Lebenswelt an die verhandelten Inhalte anzuknüpfen, indem sie nicht den literarischen Text deuten, sondern selbst literarisch aktiv werden: Poetry slam statt Analyse. Anstatt gegenüber dem Text analytisch auf Distanz zu bleiben, treten die Schüler/ -innen in dessen Modus des Fiktionalen ein und produzieren selbst Literatur. Der Ausgang dieses Experiments ist wie bei jedem kreativen Prozess offen. Ob es dabei zu schema refreshment à la C OOK oder Karneval à la B ACHTIN (vgl. D ECKE -C ORNILL 2007: 248f.) oder wozu auch immer kommt, ist offen und muss offen sein. Folgende Anschlussfragen ergeben sich für uns: Ist das, was wir hier gefunden haben, nicht einfach die Grenze jeden pädagogischen Tuns, dessen Ziel es sein muss, sich selbst überflüssig zu machen (vgl. B LANKERTZ 1982)? Und wenn das so ist, bedeutet die Tatsache, dass die Schule dies nicht tut, dass sie eben gar nicht auf Befähigung zur Teilhabe aus ist, sondern vielleicht doch nur auf „lernbezogene Menschenhaltung“ (C ARUSO 2011)? Um dies herauszufinden, müssen die Überlegungen zu Ungewissheit und Englischunterricht theoretisch vertieft und dann empirisch gewendet werden. Dies muss für den Unterricht als Interaktionsgeschehen, für die Schülerperspektive und aus Lehrersicht erfolgen. Erste Ansätze dazu (vgl. z.B. B ONNET / H ERICKS 2014) legen nahe, dass das im Fremdsprachenunterricht sehr bedeutungsvolle Lehrbuch Strukturzwänge besonders zur Geltung bringt und dass Spracherwerbsprozesse von den Lehrer/ -innen als in besonderer Weise komplex und ungewiss wahrgenommen werden. Die Bedeutung von Ungewissheit für Bildungsprozesse und die Grenzen des Handelns von Lehrer/ -innen (und Schüler/ -innen) zwischen agency und Strukturdeterminiertheit muss weiter ausgelotet werden. Anschließend daran stellt sich auch die Frage, inwieweit Kompetenzorientierung in ihrer aktuellen Form zur Teilhabe bildet oder dies gerade verhindert. Literatur A LICKE , Tina / L INZ -D INCHEL , Kathrin (2012): Inklusive Gesellschaft - Teilhabe in Deutschland. Grundlagen und theoretischer Hintergrund. Online unter: http: / / www.iss-ffm.de/ lebenswelten/ inklusion/ m_98) (14.7.2017). B ECK , Ulrich (1986): Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ M: Suhrkamp. B ENSON , Phil (2001): Teaching and Researching Autonomy in Language Learning. Harlow: Pearson Education Limited. B HABHA , Homi K. (1994): The location of culture. London u.a.: Routledge B LANKERTZ , Herwig (1982): Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: Büchse der Pandora. 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Moreover, it will fail to prepare students for situations where Intercultural Competence is mostly needed, namely for conflicts. This paper examines this basic problem of intercultural learning and proposes the concept of Evolutionary Humanism as an ethical framework for (inter-)cultural learning in the foreign language classroom. 1. Problemstellung „Papa jette une bombe et va en prison“ („Papa wirft eine Bombe und kommt ins Gefängnis“) - als die belgische Übersetzerin Catherine Lemaire im Mai 2017 ihrem irakischen Gast Raad bei den Hausaufgaben half und dabei in seinem Französisch- Lehrbuch diesen und ähnliche Sätze entdeckte, traute sie ihren Augen nicht. Ausgerechnet in Unterrichtsmaterialien, die in einem Integrationskurs für Geflüchtete eingesetzt wurden, war ein Satz zu den Nasallauten zu finden (“bombe”, “prison”), der die Väter der Lernenden pauschal als potentielle Bombenleger verunglimpfte. Das musste im besten Fall als äußerst geschmackloser Scherz, im schlimmsten Fall als offen rassistische Entgleisung gewertet werden (vgl. RTBF 2017). Lemaire machte ihrem Unmut zunächst auf ihrer Facebook-Seite Luft. Schnell wurden nationale und internationale Medien auf den Fall aufmerksam. Angesichts der dann folgenden allgemeinen Schelte (vulgo: shitstorm) gelobte die für die Materialien verantwortliche Einrichtung, diese zu überarbeiten. Die meisten Lehrkräfte dürften die Einschätzung teilen, dass der oben genannte Beispielsatz zu den französischen Nasallauten als unethisch zu werten ist. Dies wirft * Korrespondenzadresse: Dr. Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik des kulturellen Lernens, digitale Medien, Kompetenzentwicklung im Bereich der Lexik. Der Evolutionäre Humanismus 41 47 (2018) • Heft 1 jedoch die Frage auf, nach welchen Kriterien im Fremdsprachenunterricht überhaupt zwischen ethisch und unethisch unterschieden werden kann. Schließlich wird in der Postmoderne jeder Art von Orientierung bietenden Metaerzählungen (grands récits, vgl. L YOTARD 1983) die Existenzberechtigung abgesprochen. Hierdurch wird nicht nur der Wahrheitsbegriff radikal in Frage gestellt, sondern es wird auch unmöglich, einen ethischen Standpunkt zu formulieren, der nicht durch eine beliebige Zahl anderer ethischer Standpunkte ersetzbar wäre. Die postmoderne Forderung nach einer radikalen Pluralität von Diskursen macht es unter anderem unmöglich, beispielsweise rassistische oder sexistische Diskurse zu verurteilen. Die wichtige Frage nach einem ethischen Standpunkt ist in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht auf mindestens drei Ebenen zu reflektieren. Die Überlegungen dieses Beitrags betreffen alle drei Reflexionsebenen: • Die erste Ebene ethischer Reflexion betrifft die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen fremde Sprachen gelehrt und gelernt werden. In dieser Hinsicht kann etwa die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, die von Deutschland 2009 ratifiziert wurde, als Versuch gesehen werden, in den Mitgliedsstaaten Lebensbedingungen anzustreben, unter welchen die Menschenwürde aller Menschen stärker beachtet wird. Die hierzulande unter dem Stichwort Inklusion bekannten Bildungsreformen der vergangenen Jahre gehen unmittelbar auf Art. 24 dieser Konvention zurück und sind somit tief in einer Ethik der allgemeinen Menschenrechte verwurzelt. • Die zweite Ebene ethischer Reflexion müsste die interpersonalen Beziehungen im Klassenraum in den Blick nehmen, vor allem den Umgang von Lehrkräften mit Lernenden, da sich erstere in einer Machtposition befinden. In diesem Bereich liegen bereits Ansätze für verbindliche Handlungsprinzipien vor. So formuliert etwa S OCKETT (1993) fünf Kardinaltugenden, welche ethisch vorbildliche Lehrkräfte aufweisen sollten: Ehrlichkeit, Mut, Fürsorge, Fairness und praktische Weisheit (honesty, courage, care, fairness, practical wisdom, vgl. S OCKETT 1993, M ANGUBHAI 2007: 179f.). Ferner wären der Umgang von Lehrkräften untereinander, der von Lernenden untereinander sowie der von Lernenden mit Lehrkräften zu thematisieren. • Auf der dritten Ebene müssten die im Fremdsprachenunterricht behandelten Materialien und Inhalte aus einer ethischen Perspektive reflektiert werden. Die KMK-Bildungsstandards geben dem Fremdsprachenunterricht im Bereich der interkulturellen Kompetenzen Ziele vor, welche unter anderem die Bedeutung von Werten und Normen unterstreichen. Diese Ziele weisen somit eine ethische Dimension auf. In den Standards für die Sekundarstufe I heißt es etwa: Interkulturelle Kompetenzen sind mehr als Wissen und mehr als eine Technik. Sie sind auch und vor allem Haltungen, die ihren Ausdruck gleichermaßen im Denken, Fühlen und Handeln und ihre Verankerung in entsprechenden Lebenserfahrungen und ethischen Prinzipien haben (KMK 2003: 16). 42 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 In ähnlicher Weise wird in den Bildungsstandards für das Abitur die Bedeutung von Werten und Normen für das interkulturelle Lernen unterstrichen (vgl. KMK 2012: 22). In dem Dokument wird hervorgehoben, dass die Lernenden nicht nur verschiedene Werte- und Normsysteme kennenlernen, sondern auch „verschiedene Perspektiven vergleichen und abwägen“ (ebd.: 71) sollen. Es liegt auf der Hand, dass hierfür auch die Behandlung und Reflexion nicht-trivialer Inhalte notwendig ist. Aber selbst alltagsbezogene und vordergründig unverfängliche Themen des Fremdsprachenunterrichts wie Familie oder Freundschaft können schnell Fragen mit Konfliktpotential aufwerfen, und zwar spätestens dann, wenn man sich an die Ränder gängiger Normvorstellungen begibt (Beispiel: Umgang mit Homosexualität). Die Reflexion gesellschaftlicher Normen und, auf einer höheren Stufe, die Reflexion der Reflexion haben das Potential, fremdsprachliches Lernen mit dem Ziel einer critical language awareness (vgl. F AIRCLOUGH 1992) anzubahnen. Der Fremdsprachenunterricht hat hier die Gelegenheit, einen wichtigen Beitrag zum schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu leisten. Auch wenn dieser näher zu definieren ist, kann das Anliegen gleichwohl von keinem vermeintlich „neutralen“, kulturrelativistischen Standpunkt aus gelingen. Einen solchen Standpunkt legen wichtige Stimmen der philosophischen Postmoderne jedoch nahe (vgl. L YOTARD 1983). Auf den folgenden Seiten wird der so genannte Evolutionäre Humanismus als ethische Rahmung für den schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag vorgeschlagen, insbesondere für den Fremdsprachenunterricht. Die Wahl fällt auf diesen Ansatz, weil er einerseits mit der Erklärung der Menschenrechte hoch kompatibel ist, andererseits jedoch auch dort Orientierung bietet, wo es zu Konflikten zwischen verschiedenen Artikeln dieser Erklärung kommen kann. Hierfür werden zunächst am Beispiel der savoirs von Michael B YRAM und des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (im Folgenden: GeR) zwei Probleme des aktuell dominierenden Modells interkultureller Kompetenz umrissen, nämlich dass ihm einerseits eine notwendige ethische Rahmung fehlt und dass es andererseits eine harmonistische Schieflage aufweist. Anschließend wird argumentiert, dass eine Diskussion dieser Probleme insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Religion(en) notwendig ist. Auf dieser Grundlage wird anhand des Euthyphron-Dialogs von P LATON die Position entwickelt, dass die Suche nach einer normativen Ethik auch die Auseinandersetzung mit vorhandenen religiösen Positionen erfordert, dass diese Ethik jedoch selbst nicht religiös begründet werden kann. Schließlich wird der Evolutionäre Humanismus als normative Setzung für die umrissenen drei Reflexionsebenen des Fremdsprachenunterrichts vorgeschlagen. Der Evolutionäre Humanismus 43 47 (2018) • Heft 1 2. Interkulturelle kommunikative Kompetenz - ein Konzept für harmonisch ablaufende Begegnungen? Das den Fremdsprachenunterricht in Europa bis heute dominierende Modell interkultureller Kompetenz ist die so genannte Intercultural Communicative Competence (ICC), die Michael B YRAM 1997 in einer Monographie mit demselben Titel vorstellte (vgl. zu diesem Abschnitt P LIKAT 2017: 177-191). B YRAM beschreibt ICC dort als Zusammenwirken von insgesamt fünf Schwerpunkten, die er als savoirs bezeichnet: savoirs (über soziokulturelles Orientierungswissen verfügen), savoir comprendre (Bezüge zwischen Dokumenten und Ereignissen der fremden und eigenen Kultur herstellen können), savoir être (eine Haltung einnehmen, die es erlaubt, sich auf Fremdes einzulassen), savoir apprendre/ faire (in interkulturellen Situationen handeln können, auch als Vermittler/ in) sowie savoir s'engager (Phänomene der eigenen und fremden Kultur unter Bezugnahme auf explizite oder implizite Wertvorstellungen kritisch beurteilen können) (vgl. B YRAM 1997: 34, 55-63, 73). Von den fünf genannten Schwerpunkten nimmt für B YRAM savoir s'engager eine zentrale Stellung ein. Er betont, dass der Fremdsprachenunterricht in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung leisten könne - ein Begriff, den er in deutscher Sprache zitiert und als „education for citizenship“ und „education for democracy“ verstanden wissen möchte (ebd.: 55). Als ethische Bezugsnorm für politische Bildung im Fremdsprachenunterricht empfiehlt B YRAM die Menschenrechte. Diese Empfehlung fällt allerdings eigentümlich zurückhaltend aus (vgl. ebd.: 44f.), obwohl es um eine Norm geht, die zumindest formal von den aktuell 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens und der Konfliktlösung anerkannt wird. An anderer Stelle in B YRAM s Überlegungen erscheinen selbst die Menschenrechte als austauschbar mit anderen Bezugsnormen, wie z.B. Sozialismus, Christentum oder Islam (vgl. ebd.: 64). Entscheidend für die Ausbildung von ICC sei lediglich, dass der intercultural speaker sich seiner kulturell bedingten Vorannahmen bewusst sei („aware of their own ideological perspectives and values“, ebd.). Dies könnte aber bedeuten, dass auch ein Mafioso, ein Stalinist oder ein fundamentalistischer Christ ein kompetenter intercultural speaker sein kann, solange er sich der eingeschränkten Gültigkeit seiner eigenen Position bewusst ist und allen anderen Menschen zugesteht, eine andere Position zu vertreten. Somit wird den verschiedensten Weltansichten der gleiche Geltungsanspruch eingeräumt, solange sie jeweils liberal ausgelegt und vertreten werden (vgl. P LIKAT 2017: 188). Dies wirft jedoch mindestens zwei erhebliche Probleme auf: Erstens müsste eine solche Setzung ausführlich begründet werden; zweitens zeichnen sich manche Weltansichten gerade dadurch aus, dass sie eine liberale Auslegung explizit ausschließen, bis hin zur Androhung grausamer Strafen für alle, die sich nicht an diese Vorgabe halten. Ein zweiter diskussionswürdiger Aspekt in B YRAMS Überlegungen ist die Tatsa- 44 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 che, dass er von zwar komplexen, jedoch grundsätzlich günstigen Bedingungen für interkulturelle Kommunikation ausgeht - ohne diese Einschätzung jedoch näher zu begründen: „This [...] is intended to be a comprehensive and rich description of what is required in the most complex and also the most favourable circumstances of intercultural communication (ebd.: 5).“ B ACH (2010) unterstreicht jedoch zu Recht, dass interkulturelle Kommunikation selbst unter ausgesprochen günstigen Bedingungen schnell scheitern kann. Byrams Sichtweise ist harmonistisch, denn sie lässt jene kulturellen Konflikte außer Acht,die unter ungünstigen Bedingungen auftreten. Dem könnte die unausgesprochene Hoffnung zugrunde liegen, dass es in interkulturellen Begegnungen gar nicht zu ernsthaften Konflikten kommen soll. B YRAM stünde mit dieser Hoffnung nicht alleine. So notiert F ORST (2003: 12) in seiner umfangreichen Studie zum Thema Toleranz lakonisch: „[...] Konflikte, die sich als nicht lösbar herausstellen, gehören offenbar ebenso zum menschlichen Zusammenleben wie der Wunsch, es möge sie nicht geben.“ Dieser Wunsch weist angesichts schwerer, auch extrem gewalttätiger kulturell bedingter Konflikte, die in Geschichte und Gegenwart zu beklagen sind, einen nur geringen Realitätsbezug auf. Er ist daher als Grundlage für einen interkulturellen Fremdsprachenunterricht, der (auch) einen nennenswerten Beitrag zur politischen Bildung leisten möchte, denkbar ungeeignet. Ähnlich wie B YRAM beziehen die Autorinnen und Autoren des GeR zunächst ebenfalls deutlich Stellung zugunsten der Demokratieerziehung im Fremdsprachenunterricht. So heißt es in Kapitel 1.2: Der zweite Gipfel [der Staatsoberhäupter] erklärte die Vorbereitung auf eine demokratische Staatsbürgerschaft zum vorrangigen Bildungsziel und verlieh dadurch einem weiteren Anliegen Nachdruck, das in neueren Projekten verfolgt wird, nämlich: Methoden des modernen Sprachunterrichts zu fördern, die die Unabhängigkeit des Denkens, des Urteilens und des Handelns zusammen mit sozialen Fähigkeiten und Verantwortungsbewusstsein stärken (E UROPARAT 2001: 16). Der gewünschte Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur Förderung interkultureller Kompetenzen wird in Kapitel 5.1 unter der Überschrift „Allgemeine Kompetenzen“ beschrieben. Diese sind eng an B YRAMS Modell für ICC angelehnt. Hier wäre nun unter anderem zu erwarten, dass näher auf den Schwerpunkt savoir s‘engager eingegangen würde, vielleicht sogar, dass die oben beschriebenen Defizite - eine fehlende ethische Rahmung und eine harmonistische Schieflage - behoben oder zumindest reflektiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar werden nahezu alle savoirs aus B YRAMS Modell genannt und ausführlich erklärt, aber einen Abschnitt zu savoir s'engager sucht man vergeblich. Vielmehr deuten die Autorinnen und Autoren an, dass beim interkulturellen Lernen ein kulturrelativistischer Standpunkt geboten sei (vgl. ebd.: 107). Wir haben es im GeR also mit dem bemerkenswerten Umstand zu tun, dass im selben Dokument die demokratische Staatsbürgerschaft zum vorrangigen Bildungsziel erklärt wird, dass jedoch anscheinend gleichzeitig kulturelles Lernen ohne eine ethische Rahmung gelingen soll. Dieser Widerspruch hat bei den Autorinnen und Der Evolutionäre Humanismus 45 47 (2018) • Heft 1 Autoren des Dokuments offensichtlich ein Unbehagen verursacht, das in einer Formulierung durchscheint: „Wie kann Kulturrelativismus mit ethischer und moralischer Integrität in Einklang gebracht werden? “ (ebd.) Immerhin wird diese Frage gestellt, wenn auch nicht in dem genannten Kapitel zu den Allgemeinen Kompetenzen, in dem man sie erwarten würde. Eine Antwort bleibt der GeR allerdings schuldig.Sowohl bei B YRAM als auch im GeR lässt sich somit eine auffallende Zurückhaltung feststellen, wenn es um das Bekenntnis zu einer ethisch-politischen Rahmung für die Förderung interkultureller Kompetenzen geht. Diese Zurückhaltung kann auf die - in der Tat sehr schwierige - Frage zurückgeführt werden, ob kulturenübergreifend gültige Kriterien für die ethische Bewertung kulturspezifischer Diskurse und Praktiken gefunden werden können. Ist jedoch der Kulturrelativismus, der bei B YRAM als Unterströmung zu erkennen ist und auf den im GeR explizit verwiesen wird, wirklich als Bezugsnorm für die wertende Beurteilung kultureller Phänomene geeignet? Es lassen sich mindestens drei gewichtige Einwände formulieren: • Der erste Einwand lautet, dass der Kulturrelativismus potentiell im Gegensatz zu den allgemeinen, auch gesetzlich vorgegebenen Bildungszielen deutscher Schulen steht. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelten hier als nicht verhandelbare Prinzipien des Zusammenlebens. Deutschland ist ihnen aus historischen Gründen in besonderem Maße verpflichtet. Da diese Prinzipien nicht vorausgesetzt werden können, sondern in jeder Generation neu erlernt und eingeübt werden müssen, obliegt diese Aufgabe in erster Linie den Bildungseinrichtungen (vgl. H ONNETH 2013). • Zweitens weist der Kulturrelativismus einen inhärenten Widerspruch auf. Dieser Widerspruch liegt darin, dass er einerseits normative Setzungen mit einem Kulturen übergreifenden Geltungsanspruch ausschließt, selbst aber auf einer eben solchen Setzung basiert (vgl. P LIKAT 2017: 87-91). Mit anderen Worten: Die Forderungen „Keine weltanschauliche Norm darf universelle Gültigkeit beanspruchen! “ und „Alle Kulturen sind gleich wertvoll und sollen sich gegenseitig respektieren und tolerieren! “ können nicht gleichzeitig erhoben werden, ohne dass man sich dabei in einen eklatanten logischen Widerspruch verstrickt. • Drittens liegt dem Kulturrelativmus ein Kulturverständnis zu Grunde, das auf H ERDER s Kugelmodell zurückgeführt werden kann. In diesem Verständnis werden Kulturen als nach außen abgrenzbare und nach innen homogene Einheiten aufgefasst. In aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen wird jedoch davon ausgegangen, dass Kulturen hybride, dynamische Phänomene sind, die sich wechselseitig durchdringen und beeinflussen (vgl. K ÜSTER 2005, W ELSCH 2010). Die Grundfrage, welche sich ein dem schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag verpflichteter Fremdsprachenunterricht stellen muss, lautet somit, welche ethische 46 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Rahmung jenseits des Kulturrelativismus gefunden werden kann. Diese Rahmung müsste unabhängig von den kulturellen Phänomenen, die im Unterricht verhandelt werden, Gültigkeit beanspruchen können. Zu diesem Problem gibt es mehrere Standpunkte, von denen mir hier drei als relevant erscheinen. Deren erster ist der bereits umrissene kulturrelativistische Standpunkt, bei dem die Möglichkeit transkulturell gültiger ethischer Normen kategorisch ausgeschlossen wird. Anfangs ein deskriptiver Ansatz der amerikanischen Anthropologie, erhielt er ab Mitte des 20. Jahrhunderts einen normativen Charakter und wurde später durch den Pluralitätsdiskurs der Postmoderne philosophisch unterfüttert. Der zweite Standpunkt ist ein universalistischer Standpunkt, der seinen wichtigsten Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden hat (vgl. UN G ENERAL A SSEMBLY 1948). Er steht für die Überzeugung, dass Menschen vor bestimmten Diskursen und Praktiken immer zu schützen sind, ganz unabhängig davon, wie ihr jeweiliger kultureller Hintergrund beschaffen ist. Man denke hier beispielsweise an Folter, Sklaverei, die Verstümmelung der Genitalien von Kindern etc. (vgl. S ANDKÜHLER 1996, M ENDE 2011). Von einem Menschenrechtsstandpunkt aus sind sie weltweit zu ächten und zu bekämpfen. Sowohl der kulturrelativistische als auch der menschenrechtsbasierte Standpunkt kommen ohne Bezugnahme auf göttliche Wesen aus. Ganz anders der dritte hier relevante Standpunkt, der als theonom bezeichnet wird (vgl. B AYERTZ 2014: 76-81). Hier wird davon ausgegangen, dass der Mensch unmöglich selbst zwischen Gut und Böse unterscheiden könne. Dafür benötige er vielmehr eine über-menschliche Instanz - Gott. In den großen Weltreligionen, insbesondere im Christentum, im Judentum und im Islam, werden ethische Normen daher jeweils aus einer als göttliche Offenbarung angenommenen heiligen Schrift abgeleitet und als direkte und verbindliche Anweisungen an die Menschen verstanden (vgl. ebd.: 76). Nicht die menschliche Vernunft, sondern einzig und allein die ewige Weisheit Gottes, Jahves bzw. Allahs komme als Quelle für die Unterscheidung zwischen ethisch und unethisch, zwischen gut und böse in Frage. Da zumindest Christentum und Islam davon ausgehen, dass idealerweise die gesamte Menschheit die Gebote des jeweils verehrten Gottes befolgen soll, sind die auf diesen Religionen fußenden Positionen auf ihre eigene Weise ebenfalls als universalistisch einzustufen. Der Ansatz erscheint zunächst verlockend: Wäre es nicht wunderbar, die so schwierige Suche nach allgemeinen Regeln für ein ethisch vorbildliches Leben beenden zu können, indem man sie den Offenbarungen eines allwissenden, allmächtigen und allgütigen Wesens entnimmt? Es ergeben sich allerdings mindestens zwei erhebliche Probleme: Erstens sind die so genannten heiligen Schriften der großen Buchreligionen in sich voller Widersprüche. So zeigt sich beispielsweise der Gott der Christen einerseits als liebend und nachsichtig, andererseits - entgegen einer weit verbreiteten Überzeugung nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament - als kleinlich, eitel, rachsüchtig und extrem grausam: Der Evolutionäre Humanismus 47 47 (2018) • Heft 1 Einen Gott, der Eroberungskriege inklusive der ausdrücklich angeordneten Hinschlachtung von Kindern, Frauen und Greisen befiehlt, der eine inhuman grausame Blutjustiz immer wieder eindringlich fordert [...] als höchstes absolutes Vorbild und Verhaltensmodell zu propagieren, scheint (mir) schwer zu rechtfertigen (B UGGLE 2004: 62; zu den ähnlich gelagerten Problemen des Koran vgl. W ARRAQ 2004: 185-187). Eine theonome Ethik müsste eine klare Antwort finden auf die Frage, welche Empfehlungen denn nun zu befolgen seien: die des liebenden oder die des zornigen Gottes. Wie auch immer die Antwort ausfällt, müsste zudem gleichzeitig aus der Schrift selbst heraus begründet werden, warum man nicht zum genau entgegengesetzten Ergebnis kommen sollte. Zweitens steht bei jeder theonomen Ethik die Frage im Raum, ob etwas gut ist, weil es Gott als gut bewertet, oder ob umgekehrt Gott es als gut bewertet, weil es inhärent gut ist. 1 Diese Frage wurde bereits vor über 2400 Jahren von Sokrates diskutiert. Der Verlauf der Diskussion ist von P LATON im Euthyphron-Dialog überliefert. Im nächsten Abschnitt wird zunächst die Zurückhaltung problematisiert, die in fremdsprachendidaktischen Beiträgen dem Thema Religion gegenüber allgemein zu beobachten ist. Anschließend wird der Euthyphron-Dialog vorgestellt, um zu zeigen, dass eine theonome Ethik keine Antwort auf die Frage nach einer Meta-Ethik für die Schule sein kann. 3. Das eigentümliche Schweigen um den Stellenwert von Religion(en) für kulturelles Lernen In der aktuellen fachdidaktischen Diskussion wird häufig ein auffallend großer Bogen um jenes Thema gemacht, das für (inter-)kulturelles Lernen und vor allem für dessen ethische Dimension nicht unberücksichtigt bleiben kann: die Bedeutung von Religionen. Dies ist umso überraschender, als außerhalb der Fachdidaktik ethische Positionen häufig in ganz erheblichem Maße religiös begründet und anschließend in Paragraphen gegossen werden - man denke etwa an die Haltung der katholischen Kirche zu den Themen Homosexualität oder Abtreibung, die aktuell in Polen oder in manchen lateinamerikanischen Staaten als Blaupause für Gesetzestexte dient (zur Homosexualität als „schlimme Abirrung“ vgl. D ER H EILIGE S TUHL 1997). In fremdsprachendidaktischen Beiträgen ist das Schweigen über das Thema Religion bisweilen so beredt, dass man unweigerlich an den sprichwörtlichen Elefanten im Raum denken muss, von dem alle so tun, als gebe es ihn nicht. In einem Beitrag für die Zeitschrift Les Langues Modernes zum Schwerpunkt Ethik im Fremdsprachenunterricht etwa berichtet die Gymnasiallehrerin Nathalie F ARENEAU über eine Unterrichtsreihe zum Thema Meinungsfreiheit (Liberté d'expression), die sie unter dem Eindruck der im Januar und November 2015 in Paris verübten radikalislami- 1 Im Euthyphron-Dialog wird auch mit den Begriffspaaren fromm vs. ruchlos, (von den Göttern) geliebt vs. von ihnen gehasst, Recht vs. Unrecht operiert. 48 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 schen Anschläge durchführte. Erstaunlicherweise werden diese jedoch nicht etwa als solche benannt. Vielmehr umschreibt die Autorin den Anlass für die Unterrichtsreihe knapp und euphemistisch mit „évènements dramatiques“ (F ARENEAU 2015: 65). Wer die Hintergründe nicht kennt, erfährt nicht, dass Paris an den besagten Tagen nicht etwa von einer Naturkatastrophe oder einer Epidemie heimgesucht wurde, sondern dass es die schwersten terroristischen Anschläge seit 1961 erleiden musste. Diese richteten sich im Januar 2015 gezielt gegen die Redaktion einer satirischen Zeitschrift und die Kunden eines jüdischen Supermarktes, im November desselben Jahres gegen Fußballfans sowie die Besucherinnen und Besucher verschiedener Bars und Cafés. Im gesamten Beitrag von F ARENEAU tauchen jedoch weder die Begriffe Religion/ religiös, Islam/ islamisch/ islamistisch, Mohammed, Prophet, Karikatur, Terrorismus, Charlie Hebdo, Bataclan noch andere auf, die zu erwarten wären. Der schwere weltanschauliche Konflikt, welcher in der Frage steckt, ob religiöse oder säkulare Normen höher zu werten sind - im Falle des Charlie Hebdo-Anschlags das Abbildungsverbot einer Religionsgemeinschaft oder die Freiheit von Karikaturisten, den Propheten ebendieser Religionsgemeinschaft zu zeichnen -, wird mit keiner Silbe erwähnt. Aktuelle fremdsprachendidaktische Leitdokumente halten sich beim Thema Religion(en) ebenfalls auffallend zurück, z.B. der GeR. Zwar tauchen hier die Begriffe religiös bzw. Religion insgesamt zehn Mal auf. Auch im GeR wird jedoch vollständig offengelassen, wie mit Konflikten zwischen religiösen und säkularen Wertesystemen umgegangen werden kann, ja, es scheint als könnten diese konfliktfrei koexistieren. Offensichtlich hat auch hier der Wunsch Pate gestanden, es mögen immer günstige Bedingungen herrschen oder es möge bestimmte Konflikte gar nicht geben. Das Verharmlosen, Leugnen oder vollständige Verschweigen des Zusammenhangs zwischen orthodoxem Islam und politischem Terror (im genannten Beispiel aus Les Langues Modernes sogar das Verschweigen der Gewaltakte selbst) ist nicht nur in der Fremdsprachendidaktik zu beobachten. Dabei sind es bezeichnenderweise häufig gemäßigte Muslime, die auf ihn aufmerksam machen. Mit deutlichen Worten etwa gab im August 2017 der Islamgelehrte Kyai Haji Yahya Cholil Staquf, Vertreter eines gemäßigten Islam und Generalsekretär der größten muslimischen Organisation Indonesiens, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Protokoll, dass er in den Diskussionsbeiträgen zum Terrorismus häufig einen erheblichen blinden Fleck wahrnimmt: Westliche Politiker sollten aufhören, zu behaupten, Extremismus und Terrorismus hätten nichts mit dem Islam zu tun. Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Fundamentalismus, Terror und Grundannahmen der islamischen Orthodoxie. So lange wir darüber keinen Konsens erzielen, werden wir keinen endgültigen Sieg über die fundamentalistische Gewalt des Islam erreichen (FAZ 2017). Auf vielen Ebenen ist somit zu beobachten, dass die Diskussion um den Umgang säkularer Gesellschaften mit den Ansprüchen religiöser Gruppierungen aktuell ver- Der Evolutionäre Humanismus 49 47 (2018) • Heft 1 mieden wird. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, dass ethische Normen in einer pluralistischen und damit religiös heterogenen Gesellschaft nicht aus einer bestimmten Religion heraus begründet werden können. Dass dies jedoch selbst in einer religiös homogenen Gesellschaft problematisch wäre, lässt sich sehr anschaulich am antiken Euthyphron-Dialog nachvollziehen, um den es nun gehen soll. 4. Euthyphron und das Problem einer theonomen Ethik Bei jedem Versuch, eine theonome Ethik zu etablieren, ist das oben genannte Dilemma zu berücksichtigen, „das sich für jeden Versuch einer Rückführung der Moral auf eine göttliche Autorität ergibt“ (B AYERTZ 2014: 82). Bereits Sokrates formuliert es im Euthyphron-Dialog, dessen Verlauf hier in knapper Form rekonstruiert wird. In Platons Überlieferung beginnt der Dialog, als sich Sokrates und Euthyphron in der Halle des Basileus begegnen. Dem Ort entsprechend entzündet sich die Diskussion an zwei Rechtsfällen: Einerseits an der damals bereits anhängigen Klage gegen Sokrates, dem vorgeworfen wird, dass er „die Jugend verderbt“ (P LATON / S CHLEIERMACHER 1957: 179); andererseits diskutieren Sokrates und Euthyphron jedoch vor allem über die Klage, die letzterer gegen seinen eigenen Vater eingereicht hat - ein in Athen unerhörter Vorgang. Hintergrund ist, dass der Vater einen Tagelöhner in eine Grube werfen und verenden lassen hatte. Allerdings hatte der Tagelöhner zuvor seinerseits in trunkenem Zustand einen Sklaven erschlagen. Es geht nun um die Frage, ob Euthyphrons Klage gegen seinen Vater gerechtfertigt sei oder nicht. Euthyphron rechtfertigt seine Klage, indem er gegenüber Sokrates auf eine Art göttlichen Präzedenzfall verweist: Auch Zeus habe sich gegen seinen eigenen Vater gewandt, als dieser Unrecht getan habe, und daher sei es nur recht und billig, wenn er, Euthyphron, sich Zeus zum Vorbild nehme: „Nämlich die Menschen halten ja selbst den Zeus für den trefflichsten und gerechtesten aller Götter, und von diesem gestehen sie doch, daß er seinen eignen Vater gefesselt, weil der seine Söhne verschluckt ohne rechtlichen Grund“ (ebd.: 183). Sokrates möchte sich jedoch von dem konkreten Fall lösen und Euthyphron eine allgemeine Definition des „Guten“ entlocken - angeblich mit dem Ziel, sich dann auch selbst endlich gottgefällig verhalten zu können. Tatsächlich geht es ihm jedoch darum, eventuelle Widersprüche in Euthyphrons Argumentation nach und nach ans Licht zu bringen. Dabei geht er nach der von ihm geprägten „Hebammenkunst“ (Mäeutik) vor. Zunächst stellt Sokrates den olympischen Präzedenzfall in Frage: Es gebe doch gerade unter den Göttern Streit und sogar Krieg darüber, was gut und was böse sei - wie könne man sich also in dieser Frage auf die Götter berufen? „Dasselbige also, wie es scheint, wird von den Göttern gehaßt und auch geliebt, und dasselbe also wäre gottgehässig und gottgefällig? “ (ebd.: 185) Angesichts dieses Widerspruchs 50 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 zieht sich Euthyphron auf die Position zurück, dass zumindest das als gut angesehen werden müsse, was allen Göttern gefällig sei (vgl. ebd.: 187). Sokrates gibt sich jedoch auch mit dieser Definition noch nicht zufrieden, denn sie sage noch nichts über die Beschaffenheit des Guten oder Frommen selbst aus, und eben daran sei er brennend interessiert. Er leitet nun zur zentralen Frage des Dialogs über: „Bedenke dir nämlich nur dieses, ob wohl das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist? “ (ebd.: 188) Um diese Frage zu beantworten schlägt er vor, zwischen dem „Gottgefälligen“ und dem „Frommen“ bzw. „Guten“ zu unterscheiden - und das Fromme, insistiert Sokrates, „werde deshalb geliebt, weil es fromm ist, nicht aber, weil es geliebt wird, sei es fromm“ (ebd.: 189). Euthyphron stimmt der Aussage zu und erkennt somit an, dass das Fromme eine inhärente Qualität aufweise. Durch dieses Zugeständnis schnappt die von Sokrates gestellte argumentative Falle zu. Euthyphron hatte nämlich zu Beginn argumentiert, seine Klage gegen seinen Vater sei gerechtfertigt, weil sie offensichtlich gottgefällig sei: Zeus selbst habe genauso gehandelt. Nun räumt er allerdings ein, dass zwischen dem Frommen und dem Gottgefälligen unterschieden werden muss. In gespielter Verwunderung bedrängt Sokrates Euthyphron ein letztes Mal, ihm doch zu verraten, was das Fromme sei, denn Euthyphron müsse dies doch wissen: „Denn kenntest du nicht ganz bestimmt das Fromme und das Ruchlose: so hättest du auf keine Weise unternommen, um eines Tagelöhners willen einen betagten Vater des Totschlages zu verklagen [...]“ (ebd.: 195). So in die Enge gedrängt, beendet Euthyphron unter einem Vorwand die Diskussion und verlässt die Halle. Sokrates wirft im Euthyphron-Dialog die zentrale Frage ethischer Reflexion auf, nämlich ob Ethik religiös zu begründen ist oder ob ethische Normen vielmehr unabhängig von religiösen Vorstellungen formuliert werden sollten. […] Socrates has established something important, not just about piety, or goodness, but about morality itself, by suggesting that goodness, and hence morality, should have an objective existence independent of either gods or humans (M ALIK 2015: 23). Im polytheistischen Weltbild der griechischen und römischen Antike waren Konflikte zwischen den Göttern an der Tagesordnung - und mit ihnen war jede theonome Ethik von Anfang an in die geschilderten Probleme verstrickt. Diese Probleme wurden von den großen monotheistischen Religionen nicht gelöst, sondern lediglich verlagert. Sie lauten heute: • Wie kann man in einer globalisierten Welt wissen, welchem der vielen Angebote auf dem Marktplatz der Religionen, welchem der vielen Götter und damit auch welcher Ethik der Vorzug zu geben ist? • Wie kann man trotz zutiefst widersprüchlicher Anweisungen innerhalb mancher religiöser Denksysteme möglichst widerspruchsfreie ethische Prinzipien formulieren? • Wie können pluralistische Gesellschaften mit den unvermeidlichen Spannungen zwischen religiöser und säkularer Ethik umgehen? Der Evolutionäre Humanismus 51 47 (2018) • Heft 1 Der evolutionäre Humanismus bietet eine Antwort zumindest auf die dritte Frage an, da er ein klares Plädoyer zugunsten einer säkularen Ethik formuliert. Um ihn geht es im nächsten Abschnitt. 5. Evolutionärer Humanismus Der Evolutionäre Humanismus geht zurück auf den britischen Biologen, Humanisten und ersten Präsidenten der UNESCO, Julian H UXLEY . In Deutschland vertritt die Giordano-Bruno-Stiftung unter Vorsitz des Philosophen Michael S CHMIDT -S ALO - MON den Ansatz und entwickelt ihn weiter (vgl. H UXLEY 1964, S CHMIDT -S ALOMON 2006). Der Evolutionäre Humanismus entsteht historisch unter dem Schock des 2. Weltkriegs. Technologischer Fortschritt hatte zu bis dahin unvorstellbaren Zerstörungen und Millionen Toten geführt. Dafür, dass es so weit kam, war in den beiden großen ideologischen Lagern - Faschismus und Kommunismus - ein kollektiver Glaube an eine höhere Bestimmung und die Missachtung des Individuums entscheidend. Der Evolutionäre Humanismus stellt daher erneut den Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen, nicht eine wie auch immer definierte Gruppe oder eine angebliche historische Notwendigkeit. Auch der in der abendländischen Philosophie tief verwurzelte Dualismus zwischen Leib und Seele, zwischen Natur und Mensch, wird aufgegeben (vgl. D AMASIO 2007). Menschen werden vielmehr als Wesen gesehen, die nicht von einem allmächtigen Schöpfergott geschaffen wurden, sondern sich in einer langen Evolution entwickelt haben (vgl. S CHMIDT -S ALOMON 2006: 15). Daher seien auch ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle und ihr Verhalten Ergebnisse der Evolution. Dies gelte für alle Menschen - unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Rasse oder ihrer Kultur. Daher sei es möglich, eine für alle Menschen gültige Minimalethik zu formulieren. Was die Menschen vor allem auf einer tiefen Ebene verbinde, sei ihre Fähigkeit zu leiden. Aus dieser Beobachtung wird eine universelle Ethik hergeleitet. Folgt man dem Evolutionären Humanismus, sind einzelne Wertvorstellungen oder auch Moralsysteme grundsätzlich unter dem Kriterium zu beurteilen, ob sie individuelles Leid vergrößern oder vermindern. Diskurse und Praktiken seien zwar als kulturelle Phänomene zu sehen, seien aber - anders als der Kulturrelativismus dies fordert - nicht mehr in jedem Fall zu respektieren oder gar zu bewundern. Vielmehr lassen sie sich aus ethischer Perspektive durchaus beurteilen: Wir müssen einsehen, dass Traditionen keinen Wert an sich besitzen, dass sie nicht unbedingt erhaltenswert sind, sondern einer Evolution unterliegen, die von uns selbst gesteuert werden kann und muss. Für evolutionäre Humanisten ist es selbstverständlich, dass alle Traditionen einem kritischen Eignungstest unterzogen werden müssen. Der entscheidende Maßstab für die Beurteilung muss dabei sein, ob und inwieweit eine Tradition zu einer Humanisierung der Verhältnisse beitragen kann bzw. inwieweit sie dieser im Wege steht (ebd.: 34). 52 Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 So sorgen die in vielen Wertesystemen enthaltene Ablehnung von Homosexualität und darauf fußende gesetzliche Bestimmungen ohne Zweifel für erhebliches individuelles Leid und wären somit als inhuman zu bewerten. Die Kritik dieser Wertvorstellungen und die Abschaffung solcher Verbote würden individuelles Leid ohne Zweifel verringern und wären somit als Beitrag zu einer Humanisierung der Verhältnisse zu bewerten. Der Evolutionäre Humanismus versteht sich als dezidiert areligiös, ohne jedoch das Prinzip der Religionsfreiheit in Frage zu stellen (vgl. ebd.: 139). Abzulehnen seien lediglich jene religiös begründeten Diskurse und Praktiken, die zu individuellem Leid führen, beispielsweise die Unterdrückung von Frauen oder Andersgläubigen, die Verstümmelung der Genitalien von Mädchen etc. Wenn man die Verringerung von Leid ins Zentrum ethischer Überlegungen stellt, dann liegt es nahe, nicht an der Grenze unserer Spezies, also des homo sapiens, innezuhalten. Schließlich sind auch nicht-menschliche Lebewesen leidensfähig, allen voran die nächsten Verwandten des Menschen im Tierreich, die Primaten. Eben diesen Gedanken vollzieht auch der Evolutionäre Humanismus. Er erlaubt es somit, Leiden verursachende Praktiken zu hinterfragen, wie z.B. grausame Tierversuche für die Entwicklung von Kosmetika, die Massentierhaltung für unseren Fleischkonsum oder das Einsperren von Tieren mit komplexem Sozialverhalten in zoologische Gärten: „‚Füge nichtmenschlichen Lebewesen nur so viel Leid zu, wie dies für den Erhalt deiner Existenz unbedingt erforderlich ist! ‘, ließe sich die tierethische Maxime des evolutionären Humanismus in etwa umschreiben“ (ebd.: 124). In historischer Perspektive ist interessant, dass auch die Menschenrechte eine solche Entwicklung der allmählichen Ausweitung ihres Geltungsbereichs durchlaufen haben und somit evolutionär sind. So bezogen sich etwa die amerikanischen und französischen Erklärungen von 1776 bzw. 1789 zunächst explizit nur auf Männer bzw. männliche Staatsbürger. Schon 1791 nahm aber Olympe de Gouges das Dokument zum Vorbild, um die ersten Frauenrechte zu formulieren. Aus den „Droits de l’homme et du citoyen“ wurden die „Droits de la femme et de la citoyenne“ - ein Gründungsdokument des Feminismus. Evolutionär ist der Evolutionäre Humanismus somit in doppeltem Sinne: Einerseits, weil er die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich betont. Andererseits ist er es auch, weil er die menschliche Erkenntnis als vorläufig und somit als einer Entwicklung unterworfen ansieht. Während eine postmoderne Beliebigkeit strikt abgelehnt wird, ist der Evolutionäre Humanismus in dieser Hinsicht anschlussfähig an postmoderne Diskurse, welche die Begrenztheit und Vorläufigkeit menschlicher Erkenntnis betonen. 6. Fazit und Ausblick Der Beitrag wirft ein Problem auf, dessen Bearbeitung bisher nicht nur in der fremdsprachendidaktischen Diskussion gemieden wird: das bisweilen angespannte Ver- Der Evolutionäre Humanismus 53 47 (2018) • Heft 1 hältnis zwischen einer säkularen Ethik, die sich als universell versteht, und religiös begründeten Wertvorstellungen. Lehrkräfte fremder Sprachen haben in besonderem Maße den Auftrag, Lernende auf den kritischen Umgang mit kulturellen Fremdheitserfahrungen vorzubereiten. Zu diesen gehören auch religiös begründete Wertvorstellungen und somit deren oft schwieriges Verhältnis zum liberalen Verfassungsstaat. Lehrkräfte sind daher in besonderem Maße darauf angewiesen, dass die hier aufgeworfenen Probleme diskutiert werden, damit eine tragfähige ethische Rahmung Eingang in administrative und curriculare Vorgaben für den Fremdsprachenunterricht findet und so eine kritische Bewertung eigener und fremder Diskurse möglich wird. Der Evolutionäre Humanismus stellt eine solche Rahmung mit Kultur(en) und Religion(en) übergreifendem Geltungsanspruch dar. Er wäre auf die drei zu Beginn genannten Reflexionsebenen des Fremdsprachenunterrichts gleichermaßen anwendbar. So würde er es etwa ermöglichen, rassistische Inhalte in Lehrbüchern zu kritisieren, da solche Inhalte für die betroffenen Menschen eine diskriminierende und leidvolle Erfahrung bedeuten. Dies geht aus deutlich aus den Worten von Raad hervor, des irakischen Gastes der eingangs zitierten belgischen Übersetzerin Lemaire. Quand on m'a traduit la phrase, j’ai été surpris. Et ces mots, je ne les ai pas appréciés parce qu’on a beaucoup souffert en Irak. Des bombes... des voitures piégées... tout le monde le sait. Je ne sais vraiment pas quoi dire et je suis vraiment très triste. 2 Literatur B ACH , Gerhard (2010): „Mediating ,Self‘ and ,Other‘ in Intercultural Learning“. In: C ASPARI , Daniela / K ÜSTER , Lutz (Hrsg.): Wege zu interkultureller Kompetenz. Frankfurt/ M.: Lang, 17- 28. B AYERTZ , Kurt ( 2 2014): Warum überhaupt moralisch sein? München: Beck. B UGGLE , Franz (2004): Denn sie wissen nicht, was sie glauben: Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. 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For the field of teaching literature, also marginalised in the scales and descriptors of the CEF, the general competences and especially the so-called “’existential’ competence” are of interest. Assuming this perspective, it is the main aim of the paper to indicate to what extent the use of authentic literary texts in the EFL classroom fosters the development of the general competences of learners. Using learner interviews as a starting point, potentials of aesthetic education and personalgrowth while working with literary texts in the foreign language are under scrutiny. Conclusions derived from this analysis are then used to formulate conditions under which literary learning and personal-growth of learners can be combined successfully. 1. Einführung Literarische Texte spielen im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) so gut wie keine Rolle. Es werden zwar „kreative und ästhetische Aktivitäten“ (E UROPARAT 2001: 61) aufgelistet, eine differenzierende Auseinandersetzung mit literarischen Leseleistungen bleibt allerdings aus (vgl. S TEININGER 2014: 33-39). Genauso fehlt eine Integration literarischer Texte in die Skalen zu den kommunikativen Aktivitäten. Erwähnung finden sie lediglich in der Skala zum allgemeinen Leseverstehen, und dann ausschließlich auf der höchsten Niveaustufe C2 (vgl. ebd.: 74f.). An dieser Marginalisierung ändert auch der als Lippenbekenntnis zu wertende Verweis auf literarische Lehr- und Lerninhalte wenig: „Literarische Studien dienen nicht nur rein ästhetischen, sondern vielen anderen erzieherischen Zwecken - intellektuell, moralisch und emotional, linguistisch und kulturell. Es bleibt zu hoffen, dass Lehrende, die auf allen Stufen mit literarischen Texten arbeiten, in diesem Referenzrahmen möglichst viele für sie wichtige Abschnitte finden, die ihnen helfen, ihre Ziele und Methoden transparent zu machen.“ (ebd.: 62) * Korrespondenzadresse: Dr. Ivo S TEININGER , Vertretungsprofessor, Universität Paderborn, Institut für Anglistik, Didaktik der englischen Sprache, Warburgerstr. 100, 33098 P ADERBORN E-Mail: Ivo.Steininger@upb.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachliche Literaturdidaktik, Sprachbewusstheit, fachdidaktische Kompetenzen Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 57 47 (2018) • Heft 1 „Ziele und Methoden transparent zu machen“ (ebd.) kann aus literaturdidaktischer Perspektive mit dem Wenigen, was man im Referenzrahmen zu literarischen Lese- und Verstehensprozessen findet, schlichtweg nicht gelingen. 1 Eher ist das Gegenteil der Fall: Mit Hilfe von literaturdidaktischen Zielsetzungen kann transparent gemacht werden, was dem GeR zwar konzeptuell zu Grunde liegt, aber innerhalb der Skalen zu den sprachlichen Aktivitäten keine Repräsentation erfährt; nämlich, dass „alle menschlichen Kompetenzen zur Kommunikationsfähigkeit“ beitragen (E UROPARAT 2001: 103). Eine zentrale Rolle nehmen dabei die allgemeinen Kompetenzen ein. Diese umfassen vier Wissensarten, bestehend aus deklarativem Wissen (savoir), Fertigkeiten und prozeduralem Wissen (savoir-faire) sowie persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen (savoir-être) und Lernfähigkeit (savoir-apprendre). Obwohl diese Wissensbestände und dazugehörigen Fähigkeiten und Fertigkeiten dargelegt werden, „gibt es für sie im GER keine Deskriptoren, sodass sie nicht über Skalen fassbar werden“ (H ARSCH 2006: 30). Gerade in Anbetracht der gesellschaftspolitischen Zielsetzung des GeR (vgl. E UROPARAT 2001: 8-14) ist verwunderlich, dass die allgemeinen Kompetenzen lediglich in den Kompetenzbeschreibungen der Sprachverwendenden zum Tragen kommen, spielte doch B YRAMS (1997) ICC-Konzept in den Vorarbeiten des Europarats zum GeR in den Jahren 1996 und 2000 eine tragende Rolle (vgl. B URWITZ -M ELZER 2003: 66-72). Tatsächlich bleiben in den Referenzniveaus und den Skalen zu den kommunikativen Aktivitäten „das interkulturelle Lernen und die plurikulturelle Kompetenz - das Fremdverstehen - ausgeblendet“ (C HRIST 2003: 65). Zu finden sind diese zentralen fremdsprachendidaktischen Aspekte (vgl. B REDELLA 2007, 2010) ausschließlich in den allgemeinen Kompetenzen. Gerade die persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen (savoir-être) sind eine zentrale Domäne der fremdsprachlichen Literaturdidaktik. Unterteilt werden sie im GeR in Einstellungen, Motivation, Wertvorstellungen, Überzeugungen, kognitiver Stil und Persönlichkeitsfaktoren (vgl. E UROPARAT 2001: 106) und werden als „Summe der individuellen Eigenschaften, der Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen verstanden“ (ebd.: 23). Durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten können eben diese persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht 1 Dies ändert sich mit dem 2017 veröffentlichen CEFR Companion Volume with new Descriptors (Provisional Edition) zum GeR (Council of Europe 2017) - allerdings nicht ohne ‚Wermutstropfen‘: Zwar ist die Berücksichtigung literarischer Texte nun in einer Skala zu „reading as a leisure activity“ (ebd.: 64f.) als Ergänzung zu den rezeptiven Aktivitäten zu finden, auch Filme werden berücksichtigt (cf. ebd.: 65f.). Handlungs- und Kommunikationsanlässe mit literarischen Texten werden aber bemerkenswerterweise im Ergänzungsband unter „mediation activities“ (ebd.: 99-128) ausgeführt. Zu finden sind zwei Skalen zu „expressing a personal response to creative texts (including literature)“ (ebd.: 113) sowie „analysis and criticism of creative texts (including literature)“ (ebd.: 114). Eingang finden damit Aspekte des literarischen Rezeptionsprozesses sowie der analytischen und interpretativen Auseinandersetzung mit literarischen Texten. Bezogen auf die Zielsetzungen der fremdsprachlichen Literaturdidaktik aber, diese Prozesse zielsprachlich zu verhandeln, ist die Einordnung als „mediation activity“ m.E. verwunderlich. Da in der vorläufigen Auflage des Ergänzungsbandes die Verbindung zwischen den kommunikativen Aktivitäten und den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen nicht weiter herausgestellt wird, wird für die weitere Argumentation die Fassung des GeR von 2001 verwendet; nicht zuletzt aufgrund dessen Verbreitung, Bekanntheit und Einflusses auf die deutschen bildungspolitischen Dokumente. 58 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 gefördert werden. Sie sind auch zentrale Bestandteile des von Michael B YRAM formulierten ICC-Modells (vgl. 1997: 34ff.). 2. Bezugssystem Mensch: Vom Anspruch auf literarische Texte im Fremdsprachenunterricht Die Tatsache, dass literarische Texte im Fremdsprachenunterricht im Zuge der outcome-Orientierung im Bildungswesen sowohl im GeR als auch in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den Mittleren und den Hauptschulabschluss (KMK 2004, 2005) marginalisiert wurden, stellt nicht nur aus literaturdidaktischer Sicht ein Problem dar. Ausgehend von einem fachlichen wie überfachlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag als Befähigung zum selbstständigen Denken und Handeln, stellen literarische Texte Inhalte für den Unterricht bereit, die das ‚Selbst‘ betreffen. Sie präsentieren also Menschliches, sind dabei auf das Denken der Lesenden angewiesen und leiten im Unterricht Handlungen ein, die fremdsprachlich kommunikativ angelegt sind. Literarische Texte haben demzufolge nicht nur einen ästhetisch-kulturellen Wert, sondern auch einen anthropologischen: Sie handeln von Menschen, sind von Menschen gemacht und an Menschen gerichtet. Um dieses Argument weiter zu verfolgen, sei ein zusätzlicher Gedankengang eingebracht - jener der Narrativität. Die klassische Unterteilung literarischer Gattungen erweiternd, können literarische Texte in Anlehnung an die Texttypologie Seymour C HATMANS (1990: 115) als erzählende Texte gefasst werden. Entweder sind literarische Texte als Erzählungen diegetisch angelegt, wie dies bei Romanen, Kurzgeschichten und Epen als lyrischen Vertretern der Fall ist, oder aber sie sind mimetisch realisiert, wie man es in Dramen, Filmen, Comics oder Graphic Novels finden kann (vgl. ebd.). Diese in der strukturalistischen Erzähltheorie fußende Gliederung, in der das Kriterium für Narrativität vor allem in der dargestellten Veränderung begründet liegt (vgl. S CHMID 2008: 2), kann als Ausgangspunkt dafür genutzt werden, die Begriffe der Narration und Erzählung zu erweitern. Narrativität bzw. erzählende Charakteristika als Konstante literarischer Texte anzuerkennen, zieht literaturdidaktische Zielsetzungen nach sich, die insbesondere auf deren Bedeutung für die Konstruktion von Identität zielen (vgl. S TEININ - GER / B ASSELER 2011: 106f.). Davon ausgehend, dass Erzählen ein menschliches „Muster der Formgebung“ (N EUMANN 2005: 160) darstellt, dass der Mensch ein „story-telling animal“ (M AC I NTYRE 1984: 201) ist, kann die Auseinandersetzung mit Narrativität, mit literarischen Texten per se als Auseinandersetzung mit einer kulturellen Universalie (vgl. B ARTHES 1988: passim) gewertet werden. Durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Unterricht erhält Entsprechung, was in den bildungspolitischen Dokumenten zum Fremdsprachenlernen als persönlichkeitsbildende Komponente angeführt wird (vgl. KMK 2004, 2005, 2012; E UROPARAT 2001). Durch die Beschäftigung mit narrativen Strukturen rückt zudem die Formung menschlicher Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 59 47 (2018) • Heft 1 Erfahrungsbilder durch die Aktualisierung individueller und sozialer Dimensionen des Erzählens in den Blick (vgl. H ARTUNG / S TEININGER / F UCHS 2011: 11ff.): Sowohl für die individuelle als auch die gesellschaftliche Identitätsbildung spielen Erzählungen eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. N EUMANN / N ÜNNING / P ETTERSON 2008). Die Auseinandersetzung mit Erzählungen, mit Erzähltem, mit Narrationen und Narrativität im Fremdsprachenunterricht ist von dieser Warte aus betrachtet eine Auseinandersetzung mit anthropologischen Konstanten. Damit geht die pädagogisch-didaktische Zielsetzung einher, den Lernenden Teilaspekte und Prozesse verstehend zugänglich zu machen und somit deren rezeptive wie produktive Fähigkeiten im Umgang mit Narrationen zu fördern: „Narrative knowing is a fundamental mode of understanding by which people make sense of their own and others‘ actions and life events“ (P OLKINGHORNE 1996: 77). Literarische Texte können als Bindeglied zwischen den eigenen Erfahrungen, Handlungen, Lebensläufen und denen anderer dienen. Durch die Rezeption wird es den Lesenden möglich, den durch literarische Texte eröffneten potentiellen Erfahrungsraum zu erkunden und mit dem eigenen in Bezug zu setzen. Dass dadurch Bildungsprozesse initiiert werden, zeigt sich im unten stehenden Interviewausschnitt. 2 Die ca. 15-jährigen Lernenden wurden nach der Auseinandersetzung mit einer Kurzgeschichte im Englischunterricht danach gefragt, welches Lernpotential in Geschichten steckt: I 3 (zieht Luft ein) Ähm also, Fi-Figuren in der Geschichte, die Handlungen durchleben, ja, meint ihr dass - davon kann man was lernen, wenn man die sich anguckt, wenn man die betrachtet? S 1 Hm, ich denke, man kann immer, wenn man sich irgendwie in andere Personen reinversetzt und dann auch diese Sichtweise vielleicht ein bisschen übernimmt, immer was draus lernen. I Mhm. S 13 Also wegen der Ä-Kultur würd ich sagen, bleibt natürlich ne Geschichte mehr bei hängen, aber ansonsten, über menschliches Verhalten würd ich jetzt gar nichts sagen, nö. I Mhm. S 13 Kann man sich auch so ausdenken. 9: 33 Es ist schwer, weil in ganz vielen Geschichten unterschiedlich gehandelt 2 Der Ausschnitt entstammt den Datensätzen der Studie Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I (S TEININGER 2014; insbesondere 120-202). Im Anschluss an mit der Lehrkraft gemeinsam geplante und videographierte Unterrichtseinheiten mit literarischen Texten wurden ausgewählte Lernende gebeten, an einem retrospektiven Interview teilzunehmen. In den Interviews standen Verstehensprozess und insbesondere die Einsichtnahmen der Lernenden in ihre Verstehensprozesse beim Lesen im Vordergrund. Um eine Metaebene einleiten zu können, wurden die Interviews auf Deutsch geführt (zu den Besonderheiten des Datensatzes siehe S TEI - NINGER 2014: 105f.; 185-195). 3 I = Interviewer - S = Schülerin 60 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 S 15 wird. Man me-sieht zwar auch, die haben jetzt sagen wir mal so gehandelt, und mal so. Aber ich für mich hab jetzt nie gesagt, boah, so wie die jetzt gehandelt hat, so würde ich auch handeln. Das ist - hatte ich eigentlich noch nie so wirklich. I Und das Gegenteil? S 15 Dass ich sage, ich würd nie so handeln? I Ja. S 15 Ja, wenn ich jetzt ne Geschichte lese, zum Beispiel, wo dann, keine Ahnung, ein Freund verraten wird, in so ner Situa-würd ich sagen, oh, das hätte ich jetzt vielleicht net gemacht, oder ich hätt’s anders gemacht. Ja, aber, ähm, das ist jetzt vielleicht nur, wenn man so drüber liest, weil-das war-das stand schon vorher fest, das wurde, eh, net durch die Geschichte erst klar, dass ich das nie tun würde. I Mhm. S 15 Das ist-sind so Prinzipien, die man eigentlich schon vorher hat. S 3 Ja, ich denk mal bei ner Kurzgeschichte ist das immer auch relativ schwierig, also ich find, wenn man nen - Roman liest, oder halt n längeres Buch, ähm, findet man eigentlich fast immer ne Person, mit der man sich identifizieren kann. I Ja. S 15 Das stimmt. S 3 Und so was halt in Geschichte zu finden, find ich - eigentlich mit am Wichtigsten. Weil - man wird dann eigentlich durch ne andere Person in die Situation reinversetzt, in die man selbst eigentlich nie kommen könnte. 9: 35 I Mhm. S 3 Und so kann man halt doch was lernen, denke ich. Tabelle 1: Interviewausschnitt G10 I (9: 32 - 9: 35) Insgesamt äußern sich vier Lernende zu der Frage zum Lernpotential von Erzählungen. S 1 führt explizit einen zentralen literaturdidaktischen Begründungszusammenhang an, indem die Schülerin auf die in Erzählungen enthaltenen Perspektiven zu sprechen kommt. Von ihr als ‚reinversetzen‘ bezeichnet, klingt neben der Perspektivenübernahme auch das Empathievermögen der Schülerin als Leserin an. Interessant ist die diskursive Entwicklung darauf innerhalb der Sequenz. S 13 erwähnt das Textthema 4 als kulturelles Bezugssystem und führt an, dass die kulturellen Themen- 4 Bei dem im Unterricht behandelten Text handelt es sich um die Kurzgeschichte Ta-Na-E-Ka der unter Pseudonym arbeitenden Autorin Mary W ITHEBIRD (1994). Erzählt wird vom Initiationsritus der Kaw-Indianer in den 1940er Jahren. Mary und ihr Cousin Roger müssen mehrere Tage in der Wildnis überleben. Mary befolgt die Regeln nicht, sondern verbringt die Tage in einem Diner. Im Zentrum der Erzählung steht die Verhandlung der Frage, ob Marys Form des Ritus’ von ihrem Großvater als Häuptling des Stammes als ‚moderne‘ Variante akzeptiert wird. Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 61 47 (2018) • Heft 1 bereiche durch die erzählerische Präsentation und Vermittlung - im Vergleich zu einer nicht-literarischen - leichter zugänglich und nachhaltiger seien. Die Aussage von S 13 ist im Kontext der Fragestellung so zu interpretieren, dass die Relevanz der erzählten Handlungen und Erfahrungen weniger verallgemeinernd im ‚menschlichen Verhalten‘ als in den Handlungen im literarisch konstruierten kulturellen Bezugssystem zu finden ist. Dass die erzählerisch vermittelte Erfahrung immer auf das eigene Bezugssystem der Lesenden trifft, dass präsentierte Erfahrungen in Relation zum eigenen Erfahrungshorizont gesetzt werden, wird jedoch von S 15 betont. Von und an literarisch vermittelten Erfahrungen zu lernen, bedeutet demnach auch, dass das eigene Wertesystem sowie ethische Handlungsrichtlinien am Erzählten überdacht werden. Genutzt werden kann die erzählte Erfahrung dafür, neue Blickwinkel auf Situationen zu entdecken (wie in der Aussage von S 1 ), Handlungen in unbekannten Bezugssystemen kennenzulernen (S 13 ) oder den literarisch präsentierten Handlungen durch eigene Wirklichkeitserfahrung bzw. durch Abgleich mit den individuellen Wertvorstellungen zu widerstehen - wobei im Zusammenhang mit der Aussage von S 15 auch die angedeutete Selbstvergewisserung als Bildungsprozess gewertet werden kann. Erweiterung finden diese Aspekte in der Äußerung von S 3 . Die Schülerin gibt zu bedenken, dass in längeren erzählenden Texten mit einem größeren Repertoire an (runden und komplexen) Charakteren die Identifikation leichter falle - worauf auch S 15 zustimmend reagiert. S 3 wertet in der darauf folgenden Anmerkung diese Möglichkeit der literarischen Identifikation als sekundären Erfahrungsraum. In ihrer Aussage scheint auf, dass Lesende durch die erzählerische Vermittlung und durch die Übernahme literarischer Perspektiven Erfahrungen machen können, die ihnen ansonsten nicht zugänglich wären. Dass sie daraus etwas lernen könne, hebt die Schülerin abschließend hervor. Mit der Interviewsequenz kann nur angedeutet werden, wie Schülerinnen und Schüler zu einem mit literarischen Texten arbeitenden Fremdsprachenunterricht stehen. Im Verlauf der Argumentation soll dieser Standpunkt der Lernenden erneut aufgegriffen und mit den in den folgenden Abschnitten untersuchten Bezugssystemen abgeglichen werden. Als Überleitung zum Bereich der ästhetischen Bildung im Fremdsprachenunterricht sei hier angemerkt, dass das von den Lernenden in der Interviewsequenz Angesprochene auf ästhetische Erfahrungen zu beziehen ist. 3. Bezugssystem Ästhetik: Vom Resonanzraum literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht Im Verständnis des philosophischen Pragmatismus’ lässt sich die „ästhetische Erfahrung als eine besondere Phase herausheben“, eine Phase, die es ermöglicht „Freude an der Vollendung, am Ergebnis eines Unternehmens fassen und den dienstbaren Dingen sowie den Teilakten etwas von Lust und Befriedigung mitteilen zu können, die das gelingende Vollbringen durchströmen“ (M EAD 1999: 345). Für John D EWEY 62 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 (1980: 68) ist die ästhetische Erfahrung eine aus der Distanz gemachte, wobei der „Betrachter Schöpfer seiner eigenen Erfahrung sein“ müsse. Für die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist dieser Zusammenhang aus zweierlei Gründen von Interesse. Zum einen kann damit Ästhetik im Sinne der Wissenschaft des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Lebenswelt auch jener bezogen werden, die nicht kunstschaffend tätig sind. Mit D EWEY (ebd.: 59) ist dieser Zusammenhang so zu verstehen, „daß die Ästhetik nicht von außen in die Erfahrung eindringt, weder über eitlen Luxus noch über eine transzendentale Idealität, sondern daß sie die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften ist, die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind“. Damit ist die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht eine Gelegenheit für die Lernenden, auf zielsprachige und zielkulturelle Produkte zu treffen, die über diese verdichteten Eigenschaften verfügen (vgl. hierzu B REDELLA 2002: 164-175). Auf diesem Wege kann die Erfahrung mit literarischen Texten ihr Lernpotenzial entfalten. Für den Literaturunterricht bedeutet dies, die lesende und verstehende Auseinandersetzung mit literarischen Texten holistisch anzulegen. Damit ist gemeint, dass die von M EAD formulierten Teilakte im Unterricht zu einem Ganzen gefasst werden, indem die Lesenden rezeptiv wie produktiv im Unterricht gefordert werden. Dabei sollte den Lernenden durch die handlungsorientierte Kommunikation erfahrbar gemacht werden, dass sie aufgrund ihrer Schöpfungsakte dazu beitragen, Erfahrung im Sinne ästhetischer Erfahrung entstehen zu lassen; denn ihre Mitwirkung ist integraler Bestandteil für „das gelingende Vollbringen“ (M EAD 1999: 345). Die unten stehende Interviewsequenz ist dem Datensatz derselben Gruppe entnommen, die auch schon im ersten Ausschnitt zu Wort kam. Die Lernenden reagieren auf die Frage, woran man die Glaubwürdigkeit der unterrichtlich behandelten Erzählung festmachen könne. Dabei sprechen sie Themenbereiche an, welche die Natur der ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf Anknüpfungspunkte zu alltäglicher Erfahrung herausstellen. S 22 Es ist bestimmt nicht so passiert, aber es könnte passieren. S 15 Ja es könnte. I Mhm. S 22 Es wäre schon realistisch. S 15 Ja es könnte 9: 28 S 22 Dass sowas mal passiert, aber ich denke jetzt nicht, dass es jetzt irgendwie wirklich passiert ist, dass es dann die Geschichte einfach so noch mal aufgeschrieben ist, wie es einer gemacht hat. I Ja. S 3 Und ich mein, dass man das halt glaubt - gut, das ist halt die Kunst vom Geschichteschreiben, also, wenn man ein Buch schreibt, sollte man das schon können, dass man’s hinkriegt, dass die Leute einem glauben. I Mhm…wie erzählt sie denn, die Mary? Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 63 47 (2018) • Heft 1 S 3 Ja, aus ihrer Sicht halt. I Mhm. S 3 So, dass es halt für den Leser einfacher ist, sich in sie reinzuversetzen, und das dann halt - mitzuerleben. S 13 Sie bringt auch Gefühle rein, am Anfang, dass sie Angst vorm Ta-Na-E-Ka. I Ja. S 13 Und das würde ich - sagen, macht nicht jeder darein. Also, wenn das jetzt - na klar, fiktiv ist es, aber wenn’s jetzt nicht passiert wäre, dann - und das sich einer erfunden hätte, würde nicht sagen, dass der unbedingt so viele Gefühle da rein bringt. I Mhm. S 22 Ja, würd’s auch - wär’s außenstehend geschrieben, so ohne Mary in der Ich-Form, dann wär’s auch nicht so interessant gewesen - 9: 29 I Wär’s nicht so interessant? S 22 Ja, und durch die ganzen Gefühle und so konnte man sich viel besser reinversetzten und so. I Mhm. S 22 Das macht ja keinen Sinn, wenn man dann schreibt, das Mädchen ging in das Restaurant, und - ja, und blieb da: I Mhm. S 22 Das - da denkst du, (betont) ok, ja, dann macht’s das halt. I Mach das. Lachen S 15 Und auch diese Frage, wenn, also kurz bevor sie zurückkehrt, ja, werden sie es merken, was ja, hoffentlich nicht, das - das das kriegt man nicht so aus einer anderen Perspektive hin. Die Perspektive war richtig gewählt in der Geschichte. Tabelle 2: Interviewausschnitt G10 I (9: 27-9: 30) S 22 reagiert als erste auf die Frage und kommt auf die Fiktionalität der Erzählung zu sprechen, die sie als glaubwürdig charakterisiert, indem sie einen Rahmen zum möglichen Erfahrungsgehalt mit Lebensweltbezug aufspannt. S 22 antwortet darauf bestätigend und es kommt mit der Äußerung von S 3 ein Aspekt zur Sprache, der sich auf literarische Produktion bezieht. In Umberto E COS Aufsatz Die ästhetische Botschaft (1999) wird dieser Zusammenhang aus semiotischer Perspektive als Bezug von Erwartungssystem und Code erstellt: Die ästhetische Botschaft (hier: der Erzählung) muss „etwas geschehen lassen, was uns überrascht, etwas, was über unsere Erwartungen hinausgeht“ (ebd.: 405). Und gleichzeitig, „damit dieses Ereignis akzeptiert wird und wir uns mit ihm identifizieren können, muß es, während es unglaublich erscheint, gewissen Bedingungen der Glaubwürdigkeit gehorchen; es muss eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben“ (ebd.). 64 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 Auf die Frage nach der Erzählperspektive spricht S 3 von der Möglichkeit für Lesende, die in der Erzählung präsentierte Erfahrung entlang der durch die Ich- Erzählung eröffneten Innensichten nachvollziehen zu können. S 13 greift dies auf. Die Schülerin führt als weitere Beispiele die durch die Innensicht vermittelten Gefühle an und formuliert mit „wenn’s jetzt nicht passiert wäre“ eine Reaktion auf die Erzählung, die zwar nicht aus ihrer eigenen Realitätserfahrung stammt, die aber dennoch mit ihrem Erwartungssystem zu resonieren scheint. S 15 führt daraufhin an, dass er die Erzählperspektive für die richtige halte, da sie ihm im Zusammenhang mit den anderen im Text entwickelten Perspektiven und den in den Handlungen der Charaktere durchscheinenden Motiven und Beweggründe als einsichtsvoll erscheint. Damit die ästhetische Botschaft Wirkung entfalten kann, muss sie auf eine ästhetische Haltung der Lernenden treffen. Diese zu aktivieren, vorzubereiten und durch unterrichtliche Schritte einzuleiten, ist m.E. die zentrale literaturdidaktische Aufgabe. Die ästhetische Haltung bzw. die ästhetische Einstellung wird von Nelson G OODMAN wie folgt charakterisiert (1999: 569): „Sie [die ästhetische Erfahrung; IS] erfordert feine Unterscheidungen und das Erkennen subtiler Beziehungen, eine Identifizierung von Symbolsystemen, von Zeichen innerhalb dieser Systeme und eine Identifizierung dessen, was diese Zeichen denotieren und exemplifizieren; sie erfordert Interpretation von Werken und Rekonstruktion der Welt von den Werken her und der Werke von der Welt her. Viele unserer Erfahrungen und viele unserer Fähigkeiten kommen hier ins Spiel und werden durch diese Begegnung verändert. Die ästhetische ‚Einstellung‘ ist ruhelos, wißbegierig, prüfend - sie ist weniger Einstellung als vielmehr Handlung: Schöpfung und Neuschöpfung“. Gerade der Aspekt der Schöpfung und Neuschöpfung, die es dann auf das literarische Werk und die eigene Wirklichkeitserfahrung zu beziehen gilt, steht in einem engen Zusammenhang zu den Handlungs-, Produktions- und Kommunikationsanlässen im fremdsprachlichen Unterricht. In der unten stehenden Sequenz sprechen die Lernenden diese Aspekte an und kommen auch auf jene Bereiche zu sprechen, welche die „Freude an der Vollendung, am Ergebnis eines Unternehmens fassen“ (M EAD 1999: 345). 9: 03 I Ähm, jetzt wo ihr gesagt habt (räuspert sich) in dem Restaurant wurd‘ nicht viel erzählt, das war ja eine Schreibaufgabe, gell, dass man weiter die - Erlebnisse der Mary schreiben sollte...War das gut? Fandet ihr-konntet ihr da selber noch einen Aspekt in die Geschichte einbringen? S 3 Ja, also die Geschichte ist ziemlich dankbar für die Englischlehrer, weil viele Schreibaufgaben, weil halt relativ wenig drin stand, konnten wir halt relativ viel creative writing machen. […] S 15 Aber, es war - man konnt schöne Sachen schreiben, vor allem weil alles offen war. Auch das Thema an sich, dieses Überleben im Wald und dieses ganze Ritual, das ließ viele Möglichkeiten offen. 9: 04 Ich fand‘s auch interessant. Also, so weiterschreiben finde ich immer ziemlich Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 65 47 (2018) • Heft 1 S 22 spannend, so. Das gefällt mir immer richtig gut eigentlich, und dann ja, kann man sich gut austoben. I Kannst du sagen, warum dir das gut gefällt? S 22 Hm - weil es einfach interessant ist, wenn man das Ende noch nicht weiß und dann selbst erst mal ein Ende schreibt, und dann erst - richtig das erfährt, was passiert ist. Dann am Schluss, wenn man dann die Geschichte fertig liest. S 3 Ja, wobei ich bei der Geschichte jetzt halt auch fand, von dem - wir haben ja dann immer weiter geschrieben und dann wurden die Ergebnisse ja in der Klasse präsentiert - I Ja. S 3 Die fand ich immer ziemlich gut, und dann war ich - wo wir dann - die Geschichte gekriegt haben, wie es wirklich weitergeht, fand ich es immer ein bisschen enttäuschend. I Ja (unverständlich) S 3 Weil die Ideen insgesamt viel besser waren als, als - wie die Geschichte wirklich geschrieben war. Tabelle 3: Interviewausschnitt G10 I (9: 03-9: 05) Auf die Frage, wie die Lernenden die Schreibaufgabe zu den im Text enthaltenen Leerstellen im Unterricht erlebt haben und retrospektiv einordnen, reagiert S 3 als erstes. In der Äußerung der Schülerin scheint ihre Erfahrung mit Unterricht durch, bezeichnet sie doch die Leerstellen als „ziemlich dankbar für die Englischlehrer“, da man sie als Schreibanlässe nutzen könne. S 15 äußert sich dazu und geht in seiner Aussage als Begründung für das Gelingen der Schreibaufgabe auf die Offenheit und die thematischen Anknüpfungspunkte im literarischen Text ein. Darauf reagiert S 22 , indem sie in ihrer Aussage den Ausgangstext mit der eigenen Schreibhandlung bzw. die fortgeführte Narration mit den im literarischen Text enthaltenen Strukturen in Verbindung setzt. Sie stellt dabei heraus, dass die eigene Produktionsleistung das Rezeptionsverständnis beeinflusse und das Interesse intensiviere. Die Schülerin S 3 nimmt dies zum Anlass, auf die in der Klasse präsentierten Lernertexte zu sprechen zu kommen. Sie hebt hervor, dass ihr viele der Texte gefallen haben und dass sie gerade die eigene Schöpfung im Verhältnis zur Rezeption als Reibungspunkt erfahren habe, da ihr etliche der präsentierten Narrationen besser gefallen hätten als der Ausgangstext. Von der Schülerin implizit angesprochen, kommt hier die Haltung eines an den Schöpfungs- und Rekonstruktionsleistungen der Lernenden interessierten Unterrichts zur Sprache. Die Lernertexte wurden gewürdigt und von der Klasse bzw. vom Kurs als Interpretationsgemeinschaft in die sinnstiftenden Zusammenhänge einbezogen, aufgegriffen und mit dem Bezugstext abgeglichen. Solche ästhetische Erfahrungen sind im Unterricht darauf angewiesen, dass es den Lernenden ermöglicht wird, dem Text im Sinne einer angemessenen sprachlichen und literarischen Auseinandersetzung (vgl. C ASPARI / S TEININGER 2016) auf Augenhöhe zu begegnen. Auf diese Weise wird ihnen zugetraut, die eigenen Produktionsleistungen 66 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 in einen literar-ästhetischen Kontext zu stellen und dazu Stellung zu nehmen. Erfahren können Lernende dadurch die Wirkmechanismen und -richtungen der ästhetischen Erfahrung, die einen grundlegenden Bestandteil ästhetischer Bildungsprozesse darstellen. 4. Bezugssystem Kommunikation: Fremdsprachlicher Literaturunterricht als kommunikativer Lernort Aus dem bereits Ausgeführten kann der Eindruck entstehen, dass Schülerinnen und Schüler die Auseinandersetzung mit Literatur im Unterricht grundsätzlich als positiv erachten. Dass es allerdings auch kritische Aspekte gibt, die insbesondere mit der unterrichtlichen Gestaltung, mit der Lenkung durch die Lehrkraft sowie mit dem Verständnis von Lesen und Verstehen in Verbindung stehen, soll an dieser Stelle ebenfalls thematisiert werden. Die folgende Sequenz stammt aus demselben Forschungsprojekt und ist dem Interview mit einer weiteren gymnasialen Lerngruppe entnommen (vgl. S TEININGER 2014: 225-242). In ihm reagieren die Lernenden auf die Frage, wie sie Lesen in der Schule erfahren haben und inwieweit sich die Unterrichtseinheit mit literarischen Texten im Englischunterricht, auf die sich das Interview retrospektiv bezieht, von den anderen im Unterricht gesammelten Erfahrungen mit literarischen Texten unterscheidet. S 15 Ja, ich find auch immer, weil die so ein bisschen aufgezwungen werden, also, weil man die ja halt lesen (betont) muss, und dann - hat man immer weniger Lust, die zu lesen. Ich weiß auch nicht, (lacht) bei mir ist das immer so. I Ja. S 12 unverständlich, S 17 redet schon S 17 Ich find, dass man-dass man jede Kleinigkeit irgendwie so zerschneiden muss, die dann - S 15 Ja. S 17 Im Grunde schon klar ist. S 25 Ja. S 17 Also, das macht irgendwie die ganze Geschichte - so, dass man die dann irgendwie so zerlegt, und dann hat man diese. S 12 Wie beim Essen. S 17 (unverständlich) vor sich. Unverständlich 10: 05 S 17 Dann hat man so kleine Teile und dann ist die Story total auseinander. I Findet ihr, das haben wir hier besser gemacht? Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 67 47 (2018) • Heft 1 S 17 Ja. S 12, S 15, S 25 nicken S 9 Eigentlich schon. S 25 Da konnte sich jeder aber auch erst mal, äh - eigens drauf konzentrieren, und musste nicht äh, sich nach dem richten, was der Lehrer sagt, im Prinzip. I Mhm. S 12 Ja, wir konnten unsere eigene Meinung und eigenes Bild dazu bilden, aber, normalerweise, wenn wir das jetzt die ganze Zeit durchgekaut hätten, hätten wir ja ein Bild aufgeschwatzt bekommen. S 25 Ja. Tabelle 4: Interviewausschnitt G10 II (10: 04-10: 05) Deutlich herausgestellt wird gleich in der ersten Äußerung der Schülerin S 15 , dass Lesen in der Schule keine freiwillige Veranstaltung ist. Der Schüler S 17 greift dies auf und kommt auf die ‚zerlegende‘ Arbeitsweise im Unterricht zu sprechen. Kritisch merkt er an, dass eine Überbetonung des close reading im Unterricht dazu führen könne, dass das integrierende Ganze aus dem Blick verloren geht. Auf die Frage, ob das in der beobachteten Einheit besser umgesetzt worden sei, reagieren die Lernenden zustimmend. In den Äußerungen des Schülers S 25 und der Schülerin S 12 scheint durch, dass die im Unterricht vordergründigen Handlungs- und Kommunikationsanlässe, die Hypothesenbildung zum weiteren Verlauf der Geschichte, die Koordination von Perspektiven, das Füllen von Leerstellen, das imaginierende Hinzufügen von Vor- und Nachgeschichte sowie das Einnehmen von Innensichten dazu geführt habe, eine eigene Lesart der Geschichte zu etablieren. Und die Formulierung „nicht sich nach dem richten, was der Lehrer sagt“, und eben kein „Bild aufgeschwatzt bekommen“ zu haben, deutet gerade darauf, dass die Lernenden sich als Lesende im Unterricht ernst genommen sehen. Verbunden ist dies mit der Konstruktivitätshypothese (vgl. K ARCHER 1996: 118) vom Lesen, die nicht darauf abzielt, einem Text „‘vorgedachte‘ Informationen des Autors“ (ebd.) zu entnehmen bzw. Lesarten der Lehrkraft zu rekonstruieren, sondern das Textverständnis der Lesenden im Unterricht durch inhaltliche Auseinandersetzung (im Unterricht gemeinsam) entstehen zu lassen. Als zentral erachten die hier zitierten Lernenden dabei die Möglichkeit, eigene Lesarten auszuprobieren, sie mit denen anderer abzugleichen und Sinnstiftung im gemeinschaftlichen Austausch herzustellen. Darauf kann dann die für den Fremdsprachenunterricht so wertvolle Kommunikationsabsicht der Lernenden aufbauen, denn es entsteht etwas, zu dem man sich äußern möchte, zu dem man etwas zu sagen (bzw. zu schreiben) hat, über das es sich zu kommunizieren lohnt. 68 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 5. Fazit: Der fremdsprachliche Literaturunterricht als persönlichkeitsbildender Lernort Abschließend sei an die Definition der persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen im GeR erinnert: Die kommunikative Tätigkeit der Sprachverwendenden/ Lernenden wird nicht nur durch ihr Wissen, ihr Verständnis und ihre Fertigkeiten beeinflusst, sondern auch durch individuelle, ihre jeweilige Persönlichkeit charakterisierende Faktoren wie Einstellungen, Motivationen, Werte, Überzeugungen, kognitive Stile und Persönlichkeitstypen, die zu ihrer Identität beitragen (E UROPARAT 2001: 106). Dass Lernende im Fremdsprachenunterricht ihre Persönlichkeit mitbringen und im Laufe ihrer Entwicklung die eigene Identität entwerfen und formen, ist zunächst einmal eine eher banale Feststellung. Unerwähnt bleibt in der zitierten Passage allerdings, wie diese Zielbereiche im Fremdsprachenunterricht zur Entfaltung gebracht werden können. Wie im Laufe der Argumentation herausgearbeitet wurde, ermöglicht die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht den Lernenden, Einstellungen, Werte und Überzeugungen in schriftlicher wie mündlicher Textproduktion zu artikulieren. Damit diese Aspekte im Unterricht Wirkung entfalten können, ist die fremdsprachliche Literaturdidaktik m.E. in der Pflicht zu hinterfragen, inwieweit „die Persönlichkeitsentwicklung ein explizites Erziehungs- und Bildungsziel sein“ kann (ebd.: 107). Mit Blick auf die anderen den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen zugeordneten Teilbereichen sollen an dieser Stelle drei Gelingensbedingungen formuliert werden, denen der fremdsprachliche Literaturunterricht verschrieben sein sollte, damit literar-ästhetische Bildungs- und Erziehungsziele der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung der Lernenden zuarbeiten. Gelingensbedingung 1: Forschende Grundhaltung der Lehrenden Nicht ohne Grund wurden im Beitrag Ausschnitte von Schülerinterviews als Ausgangspunkt für die Diskussion der Bezugssysteme gewählt. Die fremdsprachliche Literaturdidaktik ist gut beraten, die Stimmen der Lernenden forschend zugänglich zu machen. Nur dadurch können die Perspektiven derer elizitiert und untersucht werden, die von zentralem Interesse sind; nur dadurch wandelt sich die Rolle der Lernenden von unterrichteten Objekten zu sich bildenden Subjekten. Insbesondere die metareflexive Situation stellt dabei einen Gewinn dar. Und zwar deshalb, weil danach gefragt werden kann, welche Einstellungen zum lesenden Fremdsprachenunterricht vorliegen, was Lernende motiviert (instrumentell/ integrativ; vgl. E UROPARAT 2001: 106), welche Rolle das „menschliche Kommunikationsbedürfnis“ (ebd.) im Austausch über Lesarten spielt, welche Wertvorstellungen und Überzeugungen (vgl. ebd.) in den Texten zu finden sind und wie diese im Erfahrungsraum der Lernenden resonieren. Literarisches Lesen und ästhetische Resonanz 69 47 (2018) • Heft 1 Gelingensbedingung 2: Angemessenheit als Kriterium der Textauswahl Gelingt es, für den Unterricht angemessene literarische Texte auszuwählen, dann können Komponenten angesprochen werden, die zu den bereits erwähnten auch dem kognitiven Stil (vgl. ebd.) der Lernenden Rechnung tragen. Angemessenheit lässt sich auf sprachliche, formale und ästhetische Aspekte beziehen (vgl. C ASPARI / S TEININGER 2016) und meint „die Passung zwischen einem Text und einer bestimmten Lerngruppe bzw. bestimmten Leserinnen und Lesern“ (ebd.: 43). Herzustellen ist dies durch eine in Bezug auf das Sprachniveau sorgfältige Auswahl der Texte, die auch inhaltlich bzw. thematisch angemessene Punkte der Auseinandersetzung eröffnen sollen - und zwar abgestimmt auf die jeweilige Lerngruppe, auf die jeweiligen Leserinnen und Leser mit ihren sprachlichen und literarischen Vorerfahrungen. Ist dies der Fall, dann können vermeintlich einfache Texte dafür genutzt werden, thematisch komplexe Gegenstandbereiche sprachlich adressatengerecht zu behandeln. Gelingensbedingung 3: Lenkungsfunktion Text und Unterricht Grundlegend für eine die Lernenden bereichernde Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht ist die Art und Weise, wie im Unterricht die Interaktion zwischen Lesenden und Text sowie zwischen Lesenden und Lesenden eingeleitet wird, wobei die Lehrkraft in diesem Zusammenhang auch als Leserin bzw. Leser verstanden werden sollte. Ausgehend von den die Lenkungsfunktion des Textes bestimmenden thematischen und strukturellen Elementen, gilt es eine Textbegegnung anzubahnen, die es den Lernenden ermöglicht, dem Text und den Lesarten aller Beteiligten auf Augenhöhe zu begegnen. Es geht darum, den Lernenden die Bedeutung der eigenen Konstruktionsleistungen für das lesende Verstehen bewusst zu machen. Dafür sollten die Lernenden im Unterricht durch die Handlungs- und Kommunikationsanlässe angeregt werden, ihre Leseeindrücke zu kommunizieren, Perspektiven zu koordinieren und Dargestelltes zu hinterfragen. Dazu gehört auch, Ausgelassenes produktiv hinzuzufügen und im Wechselspiel des literarischen und des aus der eigenen Erfahrung stammenden Bezugssystems Neues zu entdecken sowie Bekanntes zu relativieren. So können die Lernenden kulturelle Lernerfahrungen sammeln, die sich auf den kritischen Umgang mit jedweder Art von Text übertragen lassen. Wenn alle drei Bedingungen erfüllt werden, dann stehen die Chancen gut, dass der fremdsprachliche Literaturunterricht tatsächlich zum persönlichkeitsbildenden Lernort wird. Literatur B ARTHES , Roland (1988): Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. B REDELLA , Lothar (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr. B REDELLA , Lothar (2007): „Die welterzeugende und die welterschließende Kraft literarischer Texte. Gegen einen verengten Begriff von literarischer Kompetenz und Bildung“. In: 70 Ivo Steininger 47 (2018) • Heft 1 B REDELLA , Lothar / H ALLET , Wolfgang. (Hrsg.): Literaturunterricht, Kompetenzen und Bildung. Trier: WVT, 65-86. B REDELLA , Lothar (2010): Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva (2003): Allmähliche Annäherungen. Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. 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Although metacognition has developed a well-established research tradition over the past decades, there is still surprisingly little consensus about the relevance of reflective learning as a metacognitive resource in the context of foreign language acquisition. Providing an insight into this unclear relation is the aim of the following paper. By example of the language domains “language awareness” (Sprachbewusstheit) and “language learning” (Sprachlernkompetenz) the significance and the function of reflective learning for foreign language teaching will be analysed and compared with the role of reflection skills for the educational mandate according to the German National Curriculum (Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife). Reflective learning appears, thus, to function as the trait d’union between foreign language teaching and broader educational goals. 1. Einleitung Sucht man in den aktuellen Handbüchern zur Fremdsprachendidaktik und in der Literaturdatenbank des „Fachportals Pädagogik“ nach den Begriffen „Reflexion“, „Reflexivität“, „reflexives Lehren bzw. Lernen“ oder „Reflexionskompetenz“, so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Während im 386 Textseiten umfassenden Handbuch Fremdsprachendidaktik (H ALLET / K ÖNIGS 2013) zu diesen Begriffen im Index 17 Erwähnungen plus Mehrfacherwähnungen im Artikel 72 „Spracherwerb und Sprachenlernen“ zu finden sind, führt das 658 Textseiten umfassende Handbuch Fremdsprachenunterricht (B URWITZ -M ELZER et al. 2016) nur fünf Einträge auf. Im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (S URKAMP 2017) gibt es keinen eigenen Eintrag zu diesen Begriffen und auch die Trefferquote bei einer Abfrage zu den Begriffen „Reflex*“ und „Fremdsprachen*“ im Fachportal Pädagogik im Oktober 2017 ergab mit 47 Einträgen verteilt über die Jahre 1997 bis 2014 im Vergleich zu anderen Suchbegriffen außerordentlich wenige Titel. Offenbar besteht in der fremdsprachendidaktischen Diskussion keine Einigkeit über die Bedeutung der reflexiven Dimension des Fremdsprachenlehrens und -lernens, selbst wenn M YCZKO 2010 * Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. Daniela C ASPARI , Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14197 B ERLIN E-Mail: caspari@zedat.fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Lehrerforschung, Kompetenzorientiertes Fremdsprachenlernen Reflexives Fremdsprachenlernen 73 47 (2018) • Heft 1 einen Sammelband mit dem Titel Reflexion als Schlüsselphänomen der gegenwärtigen Fremdsprachendidaktik herausgegeben hat. Ein 2015 von ihr verfasster Zeitschriftenbeitrag ist denn auch vorsichtiger formuliert: „Wie viel Reflexion braucht der Fremdsprachenlerner? “ (M YCZKO 2015). Dieser Befund überrascht, denn die sog. metakognitive Wende, d.h. die Erkenntnis, dass Lernen auch durch individuelle Einsicht und Beurteilung der eigenen kognitiven Prozesse beeinflusst wird, hat seit Ende der 1970er Jahre in der Fremdsprachenforschung bzw. -didaktik eine breite Resonanz gefunden (vgl. N ERLICKI 2014: 186). So wurde „Metakognition“, das Wissen über die eigenen kognitiven Zustände und Prozesse sowie die Fähigkeit, diese regulieren zu können (vgl. S CHRAMM 2017: 251), ein zentraler Bestandteil der seit den 1990er Jahren durchgeführten Forschungen zur Lernerautonomie sowie zum Erwerb von Lernstrategien und -techniken. Um Stellenwert und mögliche Funktionen „reflexiven Lernens“ im Kontext von Fremdsprachenunterricht zu diskutieren, werden im Folgenden zunächst unterschiedliche Konzepte und Aspekte aus der pädagogischen Lernforschung vorgestellt. Danach werden anhand der Kompetenzbereiche Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz Ziele und Funktionen von Reflexion für das Fremdsprachenlernen und den Fremdsprachenunterricht aus fremdsprachendidaktischer Sicht erörtert. Sie werden mit der Bedeutung von Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) verglichen, bevor abschließend der Beitrag reflexiven Lernens für überfachliche Lern- und Bildungsprozesse skizziert wird. 2. Reflexives Lernen - Annäherungen an ein Konzept „Reflektieren“ abgeleitet aus dem Lateinischen „reflectere“ (re- = wieder, zurück und flectere = biegen, beugen) „seine Gedanken auf etwas hinwenden“ (Duden online, 24.10.2017), bezeichnet eine besondere Art des Denkens, das sich durch eine hohe Intensität und eine spezielle Haltung auszeichnet, die es ermöglicht, „Dinge von einem anderen Standpunkt oder einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten“ (H ILZENSAUER 2008: 2). Reflexion ist in verschiedenen Wissenschaften ein zentraler Begriff. In Bezug auf das Lernen zeichnet H ILZENSAUER (2008) eine Reihe unterschiedlicher pädagogischer Konzeptionen nach und stellt sie einander gegenüber. Theorie/ Modell und Vertreter Beieinflusst von/ durch Kernaussagen Pragmatismus und kommunikative Interaktionspädagogik. John Dewey (1859-1952) Chicagoer Schule des Pragmatismus mit Charles Sanders Peirce 1389-1914) und William James (1842- 1910) Lernen setzt Handeln voraus, primäre Erfahrungen werden (maßgeblich durch Reflexion) in sekundäre Erfahrungen übertragen 74 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 Theorie/ Modell und Vertreter Beieinflusst von/ durch Kernaussagen Kritische Psychologie und Subjekttheorie, Klaus Holzkamp (1927-1955) Marxistische Position der Philosophie (die Umwelt bestimmt das Sein) sowie Konstruktivismus Wandel vom Bedingungsdiskurs hin zum Begründungsdiskurs. Subjekt als Zentrum seiner Interessen und Handlungen. Expansives Lernen vs. Defensives Lernen Erfahrungslernen (Experiential Learning), David A. Kolb (geb. 1939) John Dewey (1859-1952) und Jean Piaget (1896- 1980) Learning Cycle: konkrete Erfahrung (1) werden reflektiert (2), danach generalisiert (3) und übertragen (4) bevor sie wieder in konkretes Handeln (1) münden. The reflective practicioner, Donald A. Schön (1930- 1997) John Dewey (1859-1952) und später auch David Kolb (geb. 1939) Reflection in Action (Reflexion im aktuellen Handlungszusammenhang) - Reflection on Action (nachträgliche Reflexion vergangener Situationen). Reflection: Turning experience into Learning, David Boud. Rosemary Keogh, David Walker John Dewey (1859-1952), David Kolb (geb. 1939) Konkrete Erfahrungen - Reflexiver Prozess (Trennung von Erfahrung und Gefühl) - Neue Perspektive über die gemachten Erfahrungen Reflective Cycle, Graham Gibbs (Universität Oxford) Inspiriert von Dewey, und v.a. Kolbs Learning Cycle Sechs Schritte zur Reflexion: (1) Description, (2) Feelings, (3) Evaluation, (4) Analysis, (5) Conclusion, (6) Action Plan Selbstreflexion als Reflexion zweiter Ordnung, Horst Siebert (geb. 1939) Konstruktivismus, v.a. systemisch konstruktivistische Didaktik Selbstreflexion - Problemreflexion - Gruppenreflexion. Reflexives Lernen als Lernhaltung, weniger als Methode. Tabelle 1: Überblick über Reflexionsmodelle und Konzepte (H ILZENSAUER 2008: 8) Wesentliche Unterschiede der dargestellten Konzepte bestehen vor allem in der zugrunde liegenden Lerntheorie, im Gegenstand der Reflexion (Lerngegenstand, Lernprozess, lernendes Ich), in der Bedeutung von Misserfolgen, in der Berücksichtigung von Emotionen sowie im Einbezug der Gruppe. Außerdem wird der Reflexionsprozess unterschiedlich modelliert. Wesentliche Gemeinsamkeiten der Konzepte hingegen, so Hilzensauer (vgl. 2008: 8), bestehen in der Bedeutung der Erfahrung als Grundlage für Reflexion sowie in einem zyklischen Ansatz, d.h., „dass die fortlaufende Kontinuität reflexiver Handlungen von wesentlicher Bedeutung ist“ (ebd. 8). Das von ihm skizzierte Reflexionsmodell (vgl. ebd.: 9-10) unterscheidet folgende drei Ebenen: • Reflexion über den Lerngegenstand, d.h. das „Nachdenken über die Lerninhalte zum Zwecke der weiteren Lernaktivitäten“ (ebd.: 9), das jedem Menschen bis zu einem gewissen Grade vertraut und bereits in den Lehrplänen der Grundschule verankert sei (ebd.). Reflexives Fremdsprachenlernen 75 47 (2018) • Heft 1 • Reflexion über die Lernhandlung, d.h. die organisationalen und situativen Elemente des Lernprozesses. Dies beinhalte Lernplanung und Organisation, Lernmethoden und Strategien, Lernsetting, Vorwissen und soziale Eingebundenheit. Diese Reflexion stelle die Frage, „wie erfolgreich die geplanten Lernschritte und Methoden in Bezug auf das Lernziel waren und welche Änderungen für die Erreichung der Ziele notwendig sind“ (ebd.). • Reflexion über das Lernvermögen, d.h. die „Fähigkeit […], sich seiner eigenen Lernprozesse bewusst zu sein und diese durch Reflexion positiv beeinflussen zu können. Es wird als Synonym für die ‚Reflexion über das Lernen‘ verwendet“ (ebd.: 10). Im gleichen Heft der Zeitschrift Bildungsforschung unterscheidet J ENERT (2008) die zweite und dritte Ebene anhand des jeweiligen Reflexionsgegenstandes: Bei der „problemorientierten Reflexion“ liege der Reflexionsgegenstand außerhalb der eigenen Person (externes Problem), notwendig dafür sei metakognitives Wissen im Sinne von „Wissen über das eigene (deklarative) Wissen“. Auf der „übergeordneten Ebene“ gehe es dagegen darum, das eigene Lernverhalten zu reflektieren und ggf. zu verändern. Für diese Reflexionsebene, die er als „lern- und verhaltensbezogene Reflexion“ bezeichnet, benötige man epistemisches (Meta-)Wissen über eigene kognitive Strategien und Vorstellungen (J ENERT 2008: 8). W EBER (1999) dagegen nimmt in seinem breit gefassten Konzept reflexiven Lernens keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen vor: „,Reflexives Lernen‘ nennt man jenes Lernen, bei dem der Lernende über das eigene Lernen nachdenkt, d.h. so er von einer kognitiven Metaebene aus über die Absichten, Inhalte und Aufgaben, über den Sinn und Zweck, die Vorgehensweisen und Strategien, aber auch über die Ergebnisse, die Kontrolle, Korrektur und Weiterführung seines Lernens reflektiert“ (ebd.: 65). In der von ihm skizzierten Theorie des „bildenden Lernens“ stellt das „kognitive und reflexive Lernen“ eine von vier Dimensionen dar: „Diese Dimension […] umfasst das Denken und Erkennen, den Aufbau kognitiver Strukturen und Wissensstrukturen, das gedankliche Erfassen von Sachverhalten und Sachzusammenhängen, von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen, das Problemlösen durch Einsicht aber auch durch Reflexion über das kognitive Lernen (= metakognitives Lernen) und die Selbstreflexion des Lernenden (z.B. Selbstkontrolle des Lernens). ‚Bildendes Lernen‘ ist auf die Qualität des anspruchsvollen, kognitiven und reflexiven menschlichen Lernens angewiesen“ (ebd.: 64-65). Seiner Ansicht nach gewinnen solche selbstbildenden Lernprozesse mit dem Jugendalter an Bedeutung. S CHMELTER (2004) bezieht sich in seinem Konzept der „Reflexion“ bzw. des „reflexiven Denken“ auf den Psychologen O PWIS (1998). In seiner Studie über das Fremdsprachenlernen im Tandem geht S CHMELTER davon aus, dass Reflexion „verstanden als die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln steuern, kontrollieren und überwachen zu können […] zum Selbstverständnis des Menschen“ (ebd.: 293) 76 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 gehört. Wichtiger Bestandteil des reflexiven Denkens sei die „Betrachtung und Gewichtung alternativer Handlungsoptionen“ (ebd.: 293). Dafür benötige der Mensch neben der Fähigkeit zur Introspektion ein internes oder externes „Protokoll“ seines Vorgehens, z.B. in Form von Tagebuchaufzeichnungen, bearbeiteten Aufgaben oder Rückmeldungen der Lernpartner/ innen, um von seinen unmittelbaren gedanklichen Überlegungen zurücktreten und die Betrachtungsebene wechseln zu können. Um Modifikationen des eigenen Handelns vornehmen und neue Strategien entwickeln zu können, müsse der Mensch zudem auf vorhandene Wissensbestände, auch in Form von Erfahrungen, zurückgreifen können. Wie S CHMELTER (vgl. 2010: 34-35) in einem Aufsatz zu Fremdsprachenlernen auf der Primarstufe in Anlehnung an H ASSELHORN (2004) ausführt, beginnen Kinder zwischen acht und zehn Jahren immer mehr über sich, über ihr eigenes Wissen sowie über ihr eigenes Lernen nachzudenken. Am Ende der Grundschulzeit seien sie dann in der Lage, von sich aus und bewusst Lernstrategien anzuwenden, auch wenn diese oft noch nicht effizient sind. Im Alter von ungefähr elf bis zwölf Jahren komme es dann zu einem deutlichen Anstieg der systemischen metakognitiven Funktionen und zu einer zunehmend selbstständigen und kompetenten Strategienutzung. M ARTINEZ (2005: 76) ergänzt für ihre Studie zu Lernerautonomie die sozio-interaktive Perspektive: „LA. [Lernerautonomie] […] beruht auf einem erweiterten Verständnis von Fremdsprachenlernen, das (individuell) konstruktiv, reflexiv und soziointeraktiv ist. […] Sie hängt von der Fähigkeit des Lerners ab, die Komponenten des Lernprozesses zu steuern und von der Unterstützung der Kompetenz- und Autonomieerfahrungen der Lernenden durch die soziale Umgebung - sei es im Klassenzimmer, sei es im Rahmen selbstgesteuerten Fremdsprachenlernens“. Aus den dargestellten Konzepten können folgende Aspekte für die nähere Bestimmung von „reflexivem Lernen“ abgeleitet werden: Grundlage für reflexives Lernen sind Erfahrungen, die vom Lerner bzw. der Lernerin auf einer kognitiven Meta- Ebene, zumeist in einem zyklischen Prozess, überdacht werden. Gegenstand der Reflexion können die Lerngegenstände, das eigene Wissen und die eigenen Lernvorgänge incl. der damit jeweils verbundenen Gefühle sein. Ziel des reflexiven Lernens ist die positive Beeinflussung der Lernprozesse und -ergebnisse. Notwendig sind dafür je nach Reflexionsgegenstand Sachwissen und metakognitives Wissen. Für Prozesse des reflexiven Lernens, für die in der Sekundarstufe I i.d.R. die notwendigen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen bestehen, kann die Unterstützung durch „Protokolle“ der Lernhandlungen und Lernergebnisse sowie durch andere Gruppenmitglieder hilfreich sein. Unklar ist, ob Reflexion über Misserfolge oder über erfolgreiches Lernen zielführender ist. Reflexives Fremdsprachenlernen 77 47 (2018) • Heft 1 3. Bereiche und Beiträge reflexiven Lernens im Fremdsprachenunterricht In den 1970er Jahren begann sich die Fremdsprachenforschung anlässlich der Hinwendung zum Lerner vermehrt mit dessen Kognitionen zu beschäftigen. Parallel dazu wandelte sich im kommunikativen Ansatz die Auffassung von der Rolle des Lerners hin zu einem aktiven, sein Lernen mitgestaltenden Individuum. Diese Auffassung vom Lerner wurde seit den 1990er Jahren durch die Forschungen zu Lernertypen, Lernstrategien und -techniken sowie im Zuge der Lernerorientierung und Autonomieförderung bestärkt und ausdifferenziert. Ebenfalls in den 1990er Jahren entwickelte sich das Konzept interkulturellen Lernens für den Fremdsprachenunterricht, das mit Perspektivenwechsel bzw. -übernahme und Perspektivenkoordination vom Lerner ein hohes Maß an Selbstreflexivität verlangt, ähnlich wie der seit den 1970er Jahren diskutierte hermeneutische Ansatz in der Literaturdidaktik, der vom Leser u.a. eine Revision der ersten, subjektiven Leseeindrücke erwartet. In den 1990er Jahren erschienen die ersten einflussreichen Aufsätze zu language awareness bzw. Sprachbewusstheit/ Sprachlernbewusstheit (vgl. u.a. L UCHTENBERG 1995, G NUTZMANN 1997, K NAPP -P OTTHOFF 1997), d.h. zu den Konzepten, die gegenwärtig vermutlich am deutlichsten und nachdrücklichsten die Notwendigkeit von Reflexion einfordern. So konzentriert sich auch der oben bereits angesprochene Aufsatz von M YCZKO (2015) auf die Förderung von Sprach-, Sprachlern- und Kulturbewusstheit. 3.1 Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz in der Fremdsprachendidaktik Das Ziel der 32. Frühjahrskonferenz, deren Beiträge unter dem Titel Sprachenbewusstheit im Fremdsprachenunterricht veröffentlicht wurden, bestand im Ausloten der „Möglichkeiten und Grenzen der Kognitivierung im Rahmen von Spracherwerb und Sprachvermittlung“ (B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM 2012: 7). Dabei spielen die Konzepte Sprachenbewusstheit 1 und Sprachlernbewusstheit eine zentrale Rolle. B URWITZ -M ELZER (2012: 27-30) unterscheidet enge und weite Konzepte von Sprachenbewusstheit. Während sich engere Ansätze mit nur einem Ausschnitt von Sprachenbewusstheit befassten (z.B. grammatikalischem Wissen als Basis für die Fehleridentifikation und -korrektur), favorisiert sie wie viele andere Autorinnen und Autoren des Sammelbandes weite Ansätze, die sich an die britische Tradition der language awareness anlehnen. Sie favorisiert die Definition von G NUTZMANN (1997), die deutlich mache, dass Sprach(en)bewusstheit nicht als isolierte Teilkom- 1 K LIPPEL (2012: 68) weist darauf hin, dass in der heutigen Welt und insbesondere in Kontexten des Fremdsprachenlernens Menschen mehr als eine Sprache zur Verfügung steht, so dass eine Unterscheidung von Sprachbewusstheit und Sprachenbewusstheit nicht erforderlich sei. 78 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 petenz, sondern transversal zu fast allen anderen Kompetenzbereichen des Fremdsprachenunterrichts angelegt ist. Damit folge G NUTZMANN der im language awareness-Ansatz vertretenen holistischen Auffassung von Sprache, sprachlichem Wissen, Sprachverwendung und Sprachenlernen. Auf dieser Basis unterscheidet er verschiedene Domänen der Sprachbewusstheit: eine affektive, eine soziale, eine politische, eine kognitive sowie eine Performanz-Domäne (ebd.: 232-235). 2 S CHRAMM (2012: 199-201) greift diese weite Auffassung auf und erarbeitet daraus ein Modell, das alle diese Domänen bzw. Dimensionen umfasst. Es basiert auf der Auffassung, dass es sich bei „Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit um Bereiche expliziten metakognitiven Wissens“ (ebd.: 199) handelt, die in allen Dimensionen mit kognitivierenden Verfahren erarbeitet werden können: „Die sprachbezogene Metakognition beinhaltet im deklarativen Bereich (metakognitives) Wissen über Sprach(n) und sprachliches Handeln und im prozeduralen Bereich das (metakognitive) Können, also die Exekutive (Kontrolle und Steuerung) des sprachlichen Handelns. [Dabei] […] stellt explizites Wissen über Sprach(n) und sprachliches Handeln einen wesentlichen Aspekt der Metakognition dar, der jedoch auch durch implizite Metakognitionen ergänzt wird“ (ebd.: 199). Die Konzepte Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit bzw. Sprachlernkompetenz 3 weisen zwar unterschiedliche Schwerpunkte auf, sind aber nicht klar voneinander abzugrenzen. Sprachenbewusstheit fokussiert in erster Linie auf deklaratives und prozedurales Wissen über Sprache, sprachliche Strukturen und Sprachgebrauch. Sprachlernbewusstheit fokussiert auf Wissen über Aneignungsprozesse von Sprache, die sich u.a. im Wissen über und im Gebrauch von Sprachlernstrategien niederschlagen. Dabei greift Sprachlernbewusstheit auf Sprachenbewusstheit zurück: „Sprachbewusstheit setzt sprachliches Wissen voraus und generiert neues sprachliches Wissen […]. Sprachbewusstheit (language awareness) [....] speist Sprachlernbewusstheit (learning awareness) und beeinflusst die Verwendung von Lernstrategien“ (M EHLHORN 2012: 121). M EIßNER (2012: 137) weist auch auf den umgekehrten Effekt hin: „Wenn z.B. ein Vorschulkind bemerkt, dass man etwas nicht so, sondern anders sagt und dieses Andere benennt, so zeigt es sowohl sprachlich-prozeduales Wissen als auch Wissen über dieses. […] Stellt es nun eine Frage zur sprachlichen Disambiguierung, so steht hinter dieser eine mögliche Sprachhypothese und - wie angeklungen - der Wunsch nach Erweiterung der eigenen Sprachlernkompetenz.“ Fremdsprachenforschung und Fremdsprachenunterricht fokussieren traditionell auf den Aspekt des Erwerbs und der Anwendung von sprachlichem Wissen, wie sich 2 Um die soziale und politische Dimension des Konzepts stärker hervorzuheben und der häufig zu beobachtenden Reduktion von Sprachbewusstheit auf die explizite Kenntnis von grammatischen Regeln zu begegnen, favorisiert S CHMELTER (2012: 189) die Bezeichnung „kritische Sprachbewusstheit“ bzw. critical language awareness. 3 In den Beiträgen des Sammelbandes werden beide Begriffe meiner Beobachtung nach unterschiedslos verwendet. In den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) wird der Begriff Sprachlernkompetenz benutzt, der sich m.E. in den letzten Jahren durchgesetzt hat. Reflexives Fremdsprachenlernen 79 47 (2018) • Heft 1 auch in den Beiträgen des Sammelbandes zeigt. M EIßNER (ebd.: 136) dagegen plädiert vehement für eine stärkere Berücksichtigung der Sprachlernkompetenz: „Kompetenzentwicklung? Ja, aber nicht nur über sprachliches Wissen und Sprachenbewusstheit, sondern über Sprachlernbewusstheit“. Institutioneller Fremdsprachenunterricht weist der Vermittlung von explizitem sprachlichen, insb. grammatikalischem Wissen nach wie vor einen großen Raum zu, ohne dass bislang geklärt ist, ob bzw. in welchem Maße der Erwerb von (meta-) sprachlichem Wissen den Sprachlernprozess tatsächlich unterstützt. Es gebe, so G NUTZMANN (2012: 43-44), keine gesicherten Ergebnisse darüber, dass explizites, bewusstes Sprachwissen in implizites, automatisiertes Wissen überführbar sei, zudem lasse sich dieser Prozess empirisch auch nur schwer nachweisen (vgl. ferner die widersprüchlichen Befunde in M EIßNER 2012: 133-134). Das Gleiche gilt für die Förderung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz: „Man könnte […] den Schluss ziehen, dass es sich bei sprachlichem Wissen und bei der Sprach(en)bewusstheit um ein Prinzip handele, das dem fremdsprachlichen Aneignungsvorgang zu Grunde liegt: Es ist per se [Hervorhebung im Original] lernfördernd, wenn man ihm den nötigen Raum zur Entfaltung gibt, also den Unterricht so organisiert, dass Lernende die Gelegenheit erhalten, ihr Wissen über Sprache, Sprachen und (Fremdsprachen-) Lernen zu reflektieren und zu systematisieren. Ganz so eindeutig ist dieser Befund allerdings bei näherem Hinsehen nicht […]“ (K ÖNIGS 2012: 77). K ÖNIGS weist im Folgenden, ebenso wie S CHRAMM (2012: 203-205) und K LIPPEL (2012: 69-71), darauf hin, dass die „lernerseitige Reflexion nicht automatisch lernfördernd ist“ (K ÖNIGS 2012: 78). Selbst im Bereich von Lernstrategien und Lerntechniken, deren lernförderliche Wirksamkeit erwiesen sei (vgl. S CHMIDT 2010: 863), gebe es keine Erfolgsgarantie (vgl. das Beispiel in K ÖNIGS 2012: 78). Notwendig seien vielmehr entsprechende Dispositionen auf Lernerseite, die auch lernertypenabhängig sind, sowie geeignete unterrichtliche Verfahren: „Sprachliches und sprachlernbezogenes Wissen, so lässt sich folgern, stellen damit kein automatisch lernwirksames Prinzip dar, sondern entfalten ‚nur‘ unter bestimmten Bedingungen eine lernfördernde Wirkung“ (K ÖNIGS 2012: 78). Während Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz vor allem als Mittel zum Sprachenlernen diskutiert werden, heben insb. K RUMM (2012), K ÜSTER (2012) und S CHRAMM (2012) weitere Ziele hervor. K RUMM (2012) führt als Lernziele für das „Curriculum Mehrsprachigkeit“ neben funktionalen Zielen u.a. an, dass die Schülerinnen und Schüler „Fragen der (gesellschaftlichen) Vielsprachigkeit und der (persönlichen) Mehrsprachigkeit in einer fachlichen Weise“ bearbeiten, dass sie „ein Bild von der Sprachenvielfalt in Österreich gewinnen“ und ihre persönliche Sprachenbiographie „mit der Geschichte ihrer Familie sowie ansatzweise mit sprachengeographischen und sprachsoziologischen Gegebenheiten in Verbindung bringen“ können (ebd.: 89). S CHRAMM (2012: 199-201) nimmt in ihrem umfassenden Modell „Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit als explizite Metakognition“ in das Feld der Kognition ebenfalls „Mathematik“ und „mathematisches Lernen“ auf. Damit 80 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 deutet sie an, dass Sprache(n) und Sprach(en)lernen wie andere Kognitionen (hier als Beispiel Mathematik und mathematisches Lernen) Gegenstand entsprechender metakognitiver Wissensbereiche sein können. Obwohl sie die Förderung sprachlichen Könnens nach wie vor als zentral erachtet, sieht sie in der expliziten Metakognition dennoch ein lohnenswertes Ziel des Fremdsprachenunterrichts. Denn die Förderung von Sprach(en)bewusstheit stelle einen „genuinen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur Bildung des einzelnen [sic] dar, dem im Gesamtmosaik der Lehr- und Lernziele des Fremdsprachenunterrichts neben übergreifenden Zielen wie Team-, Reflexions- oder Kritikfähigkeit durchaus eine wichtige Bedeutung zukommt“ (ebd.: 201). K ÜSTER (2012) geht noch weiter. Er stellt dar, dass language awareness, die er am Übergangsbereich zwischen Kognition, die sich auf die Gegenstände des Lernens richte, und - zumindest in der Erweiterung um language learning awareness (vgl. R AMPILLON 1997) - Metakognition ansiedelt, neben kognitiven auch affektive und attitudinale Aspekte von Sprachenlernen und Sprachgebrauch umfasst. Insofern könne man von einer „auf die jeweils individuelle Anverwandlung von Sprache(n) gerichtete Erkenntnis- und Reflexionstätigkeit sprechen“ (ebd.: 93). Falls Lehrpersonen das Prinzip der Reflexivität an geeigneten Stellen immer wieder zur Geltung brächten, könne sich auf Seiten der Lernenden eine reflexive Haltung ausbilden, „die dann in einer weitgefasste[n] Awareness“ münde (ebd.: 94). Sie impliziere „dass sich der/ die Lernende auch der persönlichen Relevanz des Lernens und seiner Inhalte bewusst“ werde (ebd.: 94). K ÜSTER stellt diese Zielsetzung von language awareness gegen Ansätze, die das Reflektieren über Sprache und Sprachenlernen selbst in Diskursen zur Lernerautonomie in erster Linie als „instrumentelle Orientierung von Selbststeuerung und Metakognition“ betrachteten, wodurch die „emanzipatorische Perspektive von Lernerautonomie im Sinne einer möglichst umfassenden Selbstbestimmung“ verloren gehe (ebd.: 94). Er plädiert stattdessen für eine weite Zielsetzung, die pragmatische Ziele zwar einschlösse, jedoch über sie hinausginge und Metakognition und Reflexivität als Beitrag zur Bildung im Sinne einer unabschließbaren Klärung des Selbst- und Weltbezugs betrachte (vgl. ebd.: 94f.). Besonders relevant erscheinen ihm hier „Verbindungen zwischen den Identitätskonstruktionen der Lerner und deren Wissen um eigene Entwicklungsaufgaben und Bildungsverläufe“ (ebd.: 94f.). Darüber hinaus verweist K ÜSTER darauf, dass Fremdsprachenlernen nicht vorrangig ein individueller Prozess sei, sondern ein „in interaktiven Kontexten eingebettetes und komplex-interdependentes soziales Geschehen“ (ebd.: 96), für das soziale Partizipation unabdingbar sei. Beim Nachzeichnen der wichtigsten Aspekte der Diskussion um Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz wird deutlich, dass - allerdings in sehr unterschiedlicher Gewichtung - alle vier Bereiche der Allgemeinen Kompetenzen nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (E UROPARAT 2001: 22-24) zum Tragen kommen: Wissen (savoir), Können (savoir-faire), persönlichkeitsbezogene Kompetenzen (savoir-être) und Lernfähigkeit (savoir apprendre). Reflexives Fremdsprachenlernen 81 47 (2018) • Heft 1 3.2 (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife 4 Wie in einigen zu Beginn zitierten didaktischen Kompendien sucht man auch in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) vergebens nach dem Begriff „Reflexionskompetenz“. Eine genaue Lektüre der Modellierung der einzelnen Kompetenzbereiche und der jeweiligen Standards zeigt jedoch, dass der (Selbst-)Reflexion in vielen Bereichen eine wichtige Bedeutung zukommt. Dies gilt zum einen für den Bereich der Sprachbewussheit (im Folgenden KMK 2012: 21), definiert als „Sensibilität für und Nachdenken über Sprache und sprachlich vermittelte Kommunikation“. Sie zielt auf den Erwerb von „Einsichten in Struktur und Gebrauch der Zielsprache und anderer Sprachen“, was ein Nachdenken über „die Rolle und Verwendung von Sprachen in der Welt, z.B. im Kontext kultureller und politischer Einflüsse“ einschließt. Sprachbewusstheit soll dazu führen, „die Ausdrucksmittel und Varianten einer Sprache bewusst zu nutzen“ und „mündliche und schriftliche Kommunikationsprozesse sicher zu bewältigen“. Differenzierter wird die Rolle der (Selbst-)Reflexion im Kompetenzbereich „Sprachlernkompetenz“ dargestellt. Dort heißt es: „Sprachlernkompetenz beinhaltet die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Sprachenlernen selbstständig zu analysieren und bewusst zu gestalten, wobei die Schülerinnen und Schüler auf ihr mehrsprachiges Wissen und auf individuelle Sprachlernerfahrungen zurückgreifen. Sprachlernkompetenz zeigt sich erstens im Verfügen über sprachbezogene Lernmethoden und in der Beherrschung daraus abgeleiteter, konkreter Strategien. Sie zeigt sich zweitens in der Beobachtung und Evaluation der eigenen Sprachlernmotivation, -prozesse und -ergebnisse sowie drittens in der Bereitschaft und Fähigkeit, begründete Konsequenzen daraus zu ziehen. Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz haben überdies einen eigenen Bildungswert, sowohl im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung der jungen Erwachsenen als auch auf Berufs- und Wissenschaftspropädeutik. Die Schülerinnen und Schüler können ihre sprachlichen Kompetenzen und ihre vorhandene Mehrsprachigkeit (Erstsprache, ggf. Zweitsprache, Fremdsprachen) selbstständig und reflektiert erweitern. Dabei nutzen sie zielgerichtet ein breites Repertoire von Strategien und Techniken des reflexiven Sprachenlernens“ (KMK 2012: 22). Interessant scheint mir, dass die (Selbst-)Reflexion zwar in erster Linie instrumentell gefasst ist, d.h. als Hilfsmittel zum Sprachenlernen betrachtet wird. Darüber hinaus wird ihr jedoch explizit ein „eigener Bildungswert“ zuerkannt, und zwar sowohl für die „Persönlichkeitsbildung“ als auch als Teil der „Berufs- und Wissenschaftspropädeutik“ (ebd.: 22). Implizit zeigt sich ein Bildungswert zudem darin, dass das Reflektieren über das eigene (Sprachen-)Lernen eine wichtige Voraussetzung für Lernerautonomie ist, eines der zentralen Bildungsziele der deutschen Schule. Aber auch in anderen Kompetenzbereichen wird Reflexionsfähigkeit gefordert. Weniger in den funktionalen kommunikativen Kompetenzen, obwohl die Formulie- 4 In diesem Abschnitt stütze ich mich auf eine Analyse, die ich für eine Tagung der Klett-Akademie Französisch am 28./ 29.11.2016 unternommen habe. 82 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 rungen wie „ein adressatengerechtes und situationsangemessenes Gespräch in der Fremdsprache führen“ (Kompetenzbereich Sprechen, ebd.: 16), „Schreibprozesse selbstständig planen, umsetzen und reflektieren“ (Kompetenzbereich Schreiben, ebd.: 17) oder „Informationen adressatengerecht und situationsangemessen in der jeweils anderen Sprache zusammenfassend wiedergeben“ bzw. „interkulturelle Kompetenz und entsprechende kommunikative Strategien einsetzen, um adressatenrelevante Inhalte und Absichten in der jeweils anderen Sprache zu vermitteln“ (Kompetenzbereich Sprachmittlung, ebd.: 18) deutlich machen, dass für ein Gelingen (selbst-)reflexive Prozesse vonnöten sind. Ein größerer Raum kommt der (Selbst-)Reflexion in den komplexeren Kompetenzbereichen „Interkulturelle Kompetenz“ und „Text- und Medienkompetenz“ zu. Dort wird u.a. dargelegt, dass interkulturelle Kompetenz nicht nur das Verfügen über Wissen verlangt, sondern ebenfalls das Verfügen über Einstellungen und Bewusstheit: „Dazu zählen insbesondere die Bereitschaft und Fähigkeit, anderen respektvoll zu begegnen, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen und beim eigenen Sprachhandeln sprachliche und inhaltliche Risiken einzugehen. Im Prozess interkulturellen Verstehens und Handelns spielt außerdem Bewusstheit eine wichtige Rolle. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln die Fähigkeit und Bereitschaft, ihr persönliches Verstehen und Handeln zu hinterfragen und mit den eigenen Standpunkten Unvereinbares auszuhalten und in der interkulturellen Auseinandersetzung zu reflektieren“ (ebd.: 19). Konkretisiert werden diese Aspekte u.a. in der Standardformulierung „[Die Schülerinnen und Schüler können] ihre Wahrnehmungen und (Vor-)Urteile erkennen, hinterfragen, relativieren und ggf. revidieren“ und „[sie können] einen Perspektivenwechsel vollziehen sowie verschiedene Perspektiven vergleichen und abwägen“ (ebd.: 20). Auch bei „Text- und Medienkompetenz“ ist die (Selbst-)Reflexion sowohl in der Erläuterung des Kompetenzbereiches als auch in Standardformulierungen enthalten: „Text- und Medienkompetenz ermöglicht das Verstehen und Deuten von kontinuierlichen und diskontinuierlichen - auch audio- und audiovisuellen - Texten in ihren Bezügen und Voraussetzungen. Sie umfasst das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion [sic.] des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses“ (ebd.: 20). U.a. sollen sich die Schülerinnen und Schüler „mit den Perspektiven und Handlungsmustern von Akteuren, Charakteren und Figuren auseinandersetzen und ggf. einen Perspektivenwechsel vollziehen“ (ebd.: 20), „ihr Erstverstehen kritisch reflektieren, relativieren und ggf. revidieren“ (ebd.: 21) und, auf erhöhtem Niveau, „die von ihnen vollzogenen Deutungs- und Produktionsprozesse reflektieren und darlegen“ (ebd.: 21). Insgesamt spielt die (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife eine wichtige Rolle. Sie wird in allen Kompetenzbereichen aufgeführt, wobei im Bereich der sprachlich-funktionalen Kompetenzen die instru- Reflexives Fremdsprachenlernen 83 47 (2018) • Heft 1 mentelle Funktion überwiegt. In den anderen Kompetenzbereichen wird dagegen auch die bildende Dimension von (selbst-)reflexiven Prozessen als Ziel genannt. Vergleicht man die fremdsprachendidaktische Diskussion um Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz sowie die Bedeutung von (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards mit den in Abschnitt 2 zusammengestellten Aspekten aus den pädagogischen Konzepten, so kann eine große Übereinstimmung konstatiert werden. Möglicherweise wird in den - neueren - fremdsprachenbezogenen Publikationen die Bedeutung von prozeduralem Wissen höher gewichtet, ferner scheint weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass Reflexion neben der kognitiven und performativen Dimension eine affektive, eine soziale und eine sprachkritische Dimension beinhaltet. Damit kommt Bildungszielen in den fremdsprachenbezogenen Texten eine tendenziell größere Bedeutung zu. 4. Reflexivität als Beitrag zur überfachlichen Bildungszielen Wie oben bereits dargelegt wurde, sind die Bereitschaft zu und der Erfolg bzw. Gewinn von (selbst-)reflexiven Lernformen stark von den Akteuren des Fremdsprachenunterrichts abhängig. K LIPPEL (2012: 70-71) z.B. verweist in ihrem Beitrag auf die hohe Bedeutung der individuellen Lernerfaktoren: Die Fähigkeit und Bereitschaft zu Reflexion über Sprache und Sprachenlernen sowie die Notwendigkeit für erfolgreiches Fremdsprachenlernen seien individuell höchst verschieden. Sie schlussfolgert: „Ist die gegenwärtige undifferenziert positive Einschätzung jeglicher ‚awareness‘ tatsächlich angebracht, wenn viele Lernprozesse unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen und somit der Reflexion gar nicht zugänglich sind? “ (ebd.: 70f.). Dazu kommt, dass es vielen Schülerinnen und Schülern gerade in der Mittelstufe nicht nur als „Zeitverschwendung“, sondern auch als mühsam und teilweise unangenehm erscheint, sich mit den Prozessen und Ergebnissen ihres Lernens auseinanderzusetzen. Dies gilt gerade für stark ergebnisorientierte Lerner und solche mit einer Tendenz zur Fremdattribuierung oder der Angst vor Gesichtsverlust. Auch von den Lehrerinnen und Lehrern verlangt der Einsatz solcher Instrumente nicht nur die Bereitschaft, dafür Unterrichtszeit bereitzustellen, und die Fähigkeit, solche Prozesse sensibel zu unterstützen, sondern vor allem die generelle Bereitschaft, sich auf die Schülerinnen und Schüler als Individuen einzulassen und sie als Experten für ihr eigenes Lernen ernst zu nehmen. Zudem ist eine offene, lernförderliche und wertschätzende Atmosphäre im Klassenzimmer unbedingte Voraussetzung dafür, damit selbstreflexive Prozesse und der Austausch darüber gelingen können. Angesichts des großen Potenzials reflexiver Prozesse halte ich es trotz dieser Einwände und Herausforderungen für notwendig, (selbst-)reflexives Lernen zu einem durchgängigen Prinzip modernen Fremdsprachenunterrichts zu erheben. Gerade angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler und der daraus erwachsenden Anforderungen an differenziertes Lernen und Lehren ist es unumgänglich, dass Lerner mit Hilfe ihrer Lehrpersonen die Lehr- und Lern- 84 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 verfahren herausfinden, die für ihr individuelles Lernen besonders förderlich sind. Auch wenn es wie ein Widerspruch klingen mag, ist es angesichts der notwendigen Individualisierung genauso notwendig, dass die Lehrperson zusammen mit ihrer Lerngruppe herausfindet, welche Lehr- und Lernformen für gemeinsames Lernen jeweils besonders günstig sind, denn schulisches Lernen bedeutet immer auch soziales Lernen und gerade Fremdsprachenunterricht muss Gelegenheiten zu vielfältiger Kommunikation mit- und untereinander bereitstellen. Ein m.E. genau so wichtiger Grund, warum aktueller Fremdsprachenunterricht das Nachdenken über Sprache(n) und Sprachenlernen als durchgängiges Prinzip betrachten sollte, liegt in der sprachlichen Vielfalt im Individuum und im Klassenzimmer. Zwar wird im Zuge der „Durchgängigen Sprachbildung“ inzwischen gefordert, dass die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler in jedem Fachunterricht zu berücksichtigen sei, jedoch ist der Fremdsprachenunterricht neben dem Fach Deutsch der einzige schulische Ort, an dem die „gesamte Sprachlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler bewusst gemacht, gewürdigt und funktional für weiteres Sprachenlernen nutzbar gemacht werden kann. Damit kommt dem Fremdsprachenunterricht m.E. die zentrale Funktion in der Förderung der gesamtsprachlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in Hinblick auf eine mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz zu (vgl. im Folgenden C ASPARI 2017: 210ff). Ein noch zu entwerfendes Modell mehrsprachiger und mehrkultureller Kompetenz (vgl. auch Hallet/ Königs 2013a: 305-306) beruht auf der Vorstellung, dass die sprachliche Kompetenz jedes Individuums dessen Kompetenzen in allen Sprachen und sprachlichen Varietäten umfasst und dass durch das Zusammenwirken der Sprachen spezifische Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet werden, die beim konkreten Gebrauch von Sprache(n) sowie beim Lernen von (weiteren) Sprachen angewendet werden können. Diese spezifischen Elemente betreffen vor allem das Wissen über Sprache im Allgemeinen und über Einzelsprachen im Vergleich sowie übertragbare Strategien des Spracherwerbs bzw. Sprachenlernens und des Sprach(en)gebrauchs. In einem solchen Modell käme der Sprachbewusstheit und der Sprachlernkompetenz und damit der Reflexivität eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Rolle zu. Ein so verstandener Fremdsprachenunterricht, der in und mit der Förderung der Zielsprache ebenfalls die Ausbildung der mehrsprachigen und mehrkulturellen Kompetenz eines Individuums unterstützt, schlägt nicht nur die Brücke zu anderen schulischen Fächern und stellt den m.E. spezifischen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur „Durchgängigen Sprachbildung“ dar (vgl. C ASPARI 2017). Er verbindet darüber hinaus auf ideale Weise Fachlichkeit und Bildungsauftrag der Schule, weil er in der Erfüllung des fachlichen Ziels einen grundlegenden Beitrag zur (Selbst-)Bildung der Schülerinnen und Schüler zu leisten vermag. Mit einer solchen Zielstellung geht „reflexives Lernen“ deutlich über die in Abschnitt 2 dargestellten pädagogischen Ansätze hinaus, es greift vielmehr die über eine instrumentelle Funktion hinausgehenden fremdsprachendidaktischen Ansätze in Abschnitt 3.1 auf und fokussiert sie. Ob die in Abschnitt 3.2 wiedergegebenen Ausschnitte aus den Reflexives Fremdsprachenlernen 85 47 (2018) • Heft 1 Bildungsstandards für die Abiturprüfung (KMK 2012) mit der skizzierten Vorstellung der Förderung der gesamtsprachlichen und -kulturellen Bildung eines Individuum kompatibel sind, kann erst nach der Entwicklung eines entsprechenden fachdidaktischen Modells beurteilt werden. Zumindest enthält das Dokument Passagen, die mit einer entsprechenden Zielvorstellung vereinbar wären. Und sollte die skizzierte Vorstellung von Fremdsprachenunterricht weiter entwickelt und verbreitet werden, dürften die Begriffe „Reflexion“ oder „reflexives Lernen“ in zukünftigen Ausgaben der eingangs genannten fremdsprachendidaktischen Einführungen und Lexika womöglich doch häufiger im Index erscheinen. Literatur B URWITZ -M ELZER , Eva (2012): „Sprachenbewusstheit als Teilkompetenz des Fremdsprachenunterrichts“. In: B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM (Hrsg.), 27-39. 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Following Nancy, the article argues that democracy as a way of being with each other (Mit-ein-ander) ontologically precedes all communication and all institutions. Following Humboldt’s theory of Bildung and the concepts of alienation and of not-understanding, language education can be defined as communication (Mit-teilung) between one’s own and the foreign. In this sense, a challenge for foreign language teaching would be to offer openness for expeausitions (Nancy) and experiences of foreignness, which can express themselves in a system of verbal symbols as well as in expressions of the lived body. Negative experiences - disappointment, irritation, failure - can thus unfold productive meaning for processes of teaching and learning. 1. Problemaufriss Die Demokratie ist in der Krise. Diese Diagnose scheint sich von links wie von rechts angesichts des wachsenden Populismus, Nationalismus und Protektionismus durchzusetzen. Sie hat sich in eine Postdemokratie verwandelt. Die Postdemokratie - so die vielfach diskutierte These von Colin C ROUCH - legitimiert vor der Fassade demokratischer Institutionen eine neoliberale Elite, die den Staat mittels PR-Kampagnen im Interesse globaler Unternehmen und Verbände kolonisiert (vgl. C ROUCH 2008). Dies führe zu einer epidemischen Entpolitisierung in der Bevölkerung. Im Zuge der sich daran anschließenden Debatte (vgl. A GAMBEN 2012; Bundeszentrale für politische Bildung 2011) hat die amerikanische Politologin Wendy B ROWN (2012: 57-63) fünf Prozesse identifiziert, die zu einer „Entdemokratisierung“ der liberalen bürgerlichen Demokratie des Westens führten: (1) Herrschaft des Kapitals * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Malte B RINKMANN , Humboldt-Universität zu Berlin, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Institut für Erziehungswissenschaft, Unter den Linden 6, 10999 B ERLIN . E-Mail: malte.brinkmann@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Bildungs-, Lern-, Übungstheorien, videographische Unterrichtsforschung, Phänomenologische Erziehungswissenschaft Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 89 47 (2018) • Heft 1 über die Politik; (2) Ablösung der demokratischen durch die neoliberale Rationalität, die sich nunmehr an Effizienz und Effektivität statt an Diskursen und Argumenten orientiert; (3) Erosion der nationalstaatlichen Souveränität durch die Globalisierung; (4) Verrechtlichung der Politik durch zunehmende gleichsam legislative Macht von nationalen und internationalen Gerichten sowie (5) Erosion der nationalstaatlichen Souveränität durch die Globalisierung. Auch die Schule steht aktuell unter dem Titel „Inklusion“ als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Funktionen und Formationen sowie aufgrund ihrer exkludierenden Struktur in der Kritik (vgl. A HRBECK 2016). Die Apologien der Schule, die mittlerweile auftauchen (vgl. M ASSCHELEIN / S IMONS 2013; R EICHENBACH 2013), richten sich gegen aktuelle Tendenzen, die sie als Delegitimierung und Entprofessionalisierung der öffentlichen Schule beschreiben und die mitgängig zur medial inszenierten Schulkritik und Schulreform formuliert werden (vgl. P RECHT 2013). Reformpädagogisch orientierte Versuche, demokratische Strukturen, Gleichheit und Partizipation in der Schule einzuführen, geraten in das Spannungsgefüge zwischen der selektiven Ordnung einer meritokratischen Gesellschaft und den auf Emanzipation und Autonomie ausgerichteten Zielen pädagogischen „Handelns“. So kommen in empirischen Studien die strukturellen Paradoxien einer „inszenierten Mitbestimmung“ (B UDDE 2010) von demokratischen Verfahren wie jener des Klassenrates (vgl. DE B OER 2006) oder der Schülerselbstverwaltung (vgl. H ELSPER 1996) in den Blick, Verfahren mithin, die selbst unbeabsichtigte Effekte wie Exklusion und Selektion erzeugen können. Im Gefüge dieser Spannung geraten traditionelle normative Konzepte wie Partizipation und Inklusion in die Gefahr, zur feiertagsrednerischen Beschwörungsformel zu verkommen. Bleiben sie auf der Ebene der „Pathosformeln“ (vgl. R IEGER -L ADICH 2002), können sie weder die Komplexität schulischen Unterrichts noch das Verhältnis von Schule, Staat und Gesellschaft angemessen einfangen. Dazu bedarf es einer genaueren pädagogischen Bestimmung der Relation von Bildung und Politik. 2. Bildung und Politik Die grundlagentheoretische Reflexion auf das Verhältnis von Schule, Staat, Gesellschaft und Individuum, das heißt auf der Relation von Pädagogik und Politik, hat frühe Wurzeln. Wilhelm von H UMBOLDT entwirft in seiner im Jahr 1792 verfassten Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1960a) die grundlegenden Gedanken, dass Bildung weder durch Herkunft oder Anlagen determiniert noch einseitig auf die politischen Ziele des Staates oder die gesellschaftlichen Funktionen der Gesellschaft orientiert werden dürfe. An die Stelle des zuvor dominierenden Duals von Mensch und Bürger bzw. Einzelnem und Staat tritt bei Humboldt das komplexe Verhältnis bürgerlicher Gesellschaften zwischen Individuum, Staat, Gesellschaft und Nation (vgl. B ENNER 1995). Bildung 90 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 wird als Transformation bestimmt und maßgeblich an die Sprache als Medium und Stoff der Bildung gebunden. H EGEL kann an diese Gedanken anschließen und den Transformationscharakter pädagogischen Handelns in der Schule genauer bestimmen (vgl. zum Folgenden: B RINKMANN 2017a). In seinen Nürnberger Schulreden bestimmt er die Schule als „Mittelsphäre“ (H EGEL 1986: 349), die zwischen der „Familie und der wirklichen Welt“ (ebd.: 348) steht. Die besondere Sphäre der öffentlichen Institution Schule zwischen Familie und Gesellschaft hat ihre eigene Handlungslogik hervorzubringen. Diese besteht darin, familiale und gesellschaftliche Fragen des Rechts, der Ökonomie, der Geschlechter, der Religion und der Kunst in pädagogische Fragen zu transformieren. Denn die Schule hat in der bürgerlichen Gesellschaft eine staatliche Aufgabe zu erfüllen, nämlich in die „wirklichen Verhältnisse“ (ebd.) pädagogisch einzuführen. Schulische Inhalte sind abstrakte Symbolsysteme, Kulturtechniken, Wissensformen und Reflexionsweisen wie etwa Schriftsprache, Mathematik, naturwissenschaftliche Grundkenntnisse, Geschichte oder Fremdsprachen und auch sozialer Umgang. Diese lassen sich gerade nicht im unmittelbaren Gebrauch und Umgang erlernen (vgl. B ENNER 2003). Die Schule bringt daher ihre eigene natürlich-künstliche Lebenswelt hervor. Als Sphäre zwischen Kind, Familie und Gesellschaft sind ihre Akteure, die Lehrpersonen wie auch die Lehrmittel, „Amphibien“ (L ANGEVELD 1966: 53). Unterricht hat demzufolge einen künstlichen, inszenatorischen Charakter. Zu unterrichten bedarf einer besonderen Kunst der Vermittlung dieser Differenz zwischen Lebenswelt und künstlicher Schulwelt (vgl. B RINKMANN 2017a). Bildung, Politik, Staat und Schule stehen so gesehen in einem nicht-teleologischen und nicht-hierarchischen Verhältnis zueinander. Sie müssen ohne Rückgriff auf absolute und transzendentale Begründungsfiguren legitimiert werden, wobei diese Legitimationen selbst geschichtlich und kulturell unter Bedingungen von Relativität und Pluralität ausfallen. Mit dem „Einbruch der Geschichte“ (F OUCAULT 1974) wird die Erfahrung in der Moderne und Postmoderne von Kontingenz, Relativität und Pluralität bestimmt. Es müssen jeweils neue, vorläufige Legitimationen für Bildung, Gesellschaft, Gemeinschaft und Unterricht gefunden werden. Die wissenschaftliche Pädagogik als eigenständige Disziplin kann sich nicht mehr auf aus anderen Disziplinen „importierte“ oder politisch verordnete Vorgaben verlassen. Sie muss selbst bestimmen, was als pädagogisch gilt und welche Ziele pädagogisches Handeln erreichen soll. Damit kommt die Eigenlogik und Eigenständigkeit pädagogischen Handelns und pädagogischer Institutionen in den Blick. Die freiheitliche Demokratie ist die einzige unter den bekannten Staatsformen, deren Prinzipien es nicht zulassen, Lebensformen von Menschen zu normieren und Pädagogik durch normative Setzung von Erziehungszielen zu einem angewandten Teil der Politik zu machen (vgl. B ENNER 2001). Pädagogisches Handeln muss daher von anderen gesellschaftlichen Praxis- und Wissensformen unterschieden und in ein reflexives Verhältnis gesetzt werden. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass sich Bildung und Erziehung zur Demokratie nicht auf Kenntnisse des politischen Systems, ja noch nicht einmal Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 91 47 (2018) • Heft 1 auf politische Bildung beschränken lassen. In der Postmoderne treten dezentrierende Erfahrungen der Fremdheit, Andersheit, des Miss-Verstehens und des Konflikts in den Mittelpunkt. Zu fragen ist daher zum einen, wie diese Differenzen im Sinne einer postdemokratischen Theorie einzufangen sind und zum anderen, wie diese im Medium der Sprache und des Leibes erfahren und pädagogisch fruchtbar gemacht werden können. Mit N ANCY (1988, 2000, 2004, 2012) möchte ich zeigen, dass Demokratie als Weise des Mit-ein-ander-seins ontologisch aller Kommunikation, allen gesellschaftlichen Institutionen und Praxen vorausliegt. Wird das Pädagogische als Teil des Sozialen gesehen und von anderen gesellschaftlichen Praxen und Wissensformen unterschieden, können neue Perspektiven auf Bildungsprozesse erzeugt werden. Mit H UMBOLDT s (1960a, b, c, 1963) Theorie der sprachlich fundierten Bildung und den Begriffen der Entfremdung und des Nicht-Verstehens lässt sich Sprachenbildung als Mitteilung im Anspruch vom Anderen sowie im Gegenanspruch des Anderen bestimmen. Mit der Öffnung hin zum sprachlich und leiblich Fremden kann eine „Erweiterung der Weltansicht“ (H UMBOLDT ) stattfinden. Für die Sprachenbildung möchte ich im Folgenden zeigen, dass gerade der Doppelaspekt von Sprache als gesprochener Sprache, die sich auf ein Zeichensystem bezieht, einerseits und leiblich exponierender Ausdruck andererseits durchaus produktiv ist. Im Fremdsprachenerwerb fordert der leiblich wie zeichenhaft geäußerte Anspruch des Fremden das Eigene in Antworten heraus. Ich werde zunächst die grundlagentheoretischen Überlegungen von Wilhelm von H UMBOLDT zum elementaren Zusammenhang von Bildung, Sprache und Denken darstellen (Abschnitt 2). Danach werde ich aus der Perspektive aktueller subjektkritischer und sozialtheoretischer Positionen in der Erziehungswissenschaft zwei Abgrenzungsbewegungen zu H UMBOLDT s idealistischer Perspektive thematisieren, die sich mit den Konzepten von Autonomie, Mündigkeit und Negativität verbinden (Abschnitt 3). Im daran anschließenden zweiten Teil des Beitrags wird zunächst die radikale Demokratietheorie Jean-Luc N ANCY s vorgestellt, die das Mit-sein der Gemeinschaft als Mit-teilung und Ausgesetztsein bestimmt (Abschnitt 4). Schließlich wird der Versuch unternommen, (Fremd-)Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremden demokratietheoretisch zu bestimmen (Abschnitt 5). 3. Bildung und Sprache bei Wilhelm von H UMBOLDT H UMBOLDT reagiert mit seiner Bildungstheorie auf den Wandel von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft (vgl. H UMBOLDT 1960c). Die Grundlagen der Bildungstheorie Wilhelm von H UMBOLDT s liegen in den Pluralitäts- und Kontingenzerfahrungen der Moderne. Alle überkommenen Bestimmungen des Menschen, sowohl individuelle wie allgemeine, sind hinfällig geworden. Es gibt keinen universalen Maßstab von Bildung (vgl. H UMBOLDT 1960b: 234f.). Der Mensch muss sich vielmehr seine Bestimmung selbst geben: Bildung ist damit zuerst Selbstvergewisserung und Selbstbildung. Grundkategorie von H UMBOLDT s dynamisiertem Men- 92 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 schen- und Weltbild ist die Wechselwirkung. Menschliche Spontaneität steht in Wechselwirkung mit seiner Empfänglichkeit (vgl. ebd. 235f.). Der Mensch muss sich mithin Ziel und Sinn seines Lebens selbst suchen. Er kann diese Aufgaben übernehmen, weil er bildsam ist, das heißt, er kann sich in Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität entwerfen, sich Ziele geben und Welt aneignen, mit anderen Worten: sich bilden. Bildung ist damit prinzipiell unabschließbar und offen, teleologisch unbestimmt. In ihr kann weder das Subjekt mit sich selbst identisch werden, noch das Subjekt mit der Welt zusammenfallen, da sonst die prinzipielle Unterschiedenheit von Selbst und Ich, von Mensch und Welt eingeschliffen wäre. Bildung ist nach H UMBOLDT die „höchste und proportionirlichste“ Entfaltung aller menschlichen Kräfte (H UMBOLDT 1960a: 64) unter der Voraussetzung, dass eine „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ stattfindet (H UMBOLDT 1960b: 235f.). Kriterium der bildenden Wechselwirkung ist der Begriff von Entfremdung. Weil sich der Mensch bildend in die Welt entäußert und sich Welt aneignet, läuft er Gefahr, sich „in dieser Entfremdung zu verlieren“ (H UMBOLDT 1960b: 64f.). Bildung ist daher negativ bestimmt. Sie ist notwendig Entfremdung in und durch die Welt und zugleich Rückgang aus der Entfremdung. In diesem Rückgang konstituiert sich das autonome Individuum, indem es sich das Fremde bildend aneignet und es damit zu einem Teil des Selbst werden lässt. Das autonome Individuum ist somit Fundament und zugleich Ziel des Bildungsprozesses. Aber die Ent-Entfremdung ist nicht grundsätzliche Aufhebung der Entfremdung. Denn bildend kann nur etwas wirken, was fremd und unbekannt, ungewiss und unverfügbar ist, was den Menschen aus sich selbst herausführt. In bloßer Identität mit sich selbst könnte sich der Mensch nicht bilden, könnte nicht nach seiner Bestimmung fragen. In reiner Identität mit der Welt könnten keine Erfahrungen gemacht werden (vgl. B ENNER 2003: 104). Bildung ist also Neu-Erfahrung durch Aneignung von Welt und zugleich fortschreitende Entfremdung in die Welt. H UMBOLDT s Bildungstheorie ist aufs Engste mit seiner Sprachtheorie verbunden. Die bildende Wechselwirkung als Bildungsbewegung ist vornehmlich geprägt von und durch Sprache. Menschliche Welt und menschliches Weltverhältnis sind sprachlich bedingt. Es gibt daher für die Menschen keine außersprachliche Position. Sprache ist ergon (als Stoff und Material) und zugleich energeia (Kraft, Vollzug, Tätigkeit) (vgl. Menze 1980: 31). In jeder Sprache liegt „eine eigentümliche Weltansicht“ (H UMBOLDT 1963: 433f.). In jeder sprachlichen Mitteilung wird daher nicht nur etwas Bestehendes durch Sprache reproduziert und reaktualisiert; es kommt auch etwas Individuelles - des Sprechers, der Nation, der Ethnien - hinzu. Das Verhältnis des Menschen zur Sprache ist dabei ambivalent, indem die „Gewalt des Menschen“ über die Sprache der „Macht der Sprache“ über ihn entgegengestellt wird (H UMBOLDT 1963: 438f.). Sprache als Weltansicht hat nach H UMBOLDT eine subjektive (a), eine intersubjektive und differenzielle (b) und eine Perspektive für die Sprachenbildung (c). Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 93 47 (2018) • Heft 1 a. H UMBOLDT s Sprachtheorie findet sich verdichtet in der Einleitung zu seinem Werk über das Kawi, eine der Hochsprachen Javas, mit dem Titel Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (H UMBOLDT 1963: 368-756). Dort schreibt er: „Sprache ist das bildende Organ des Gedankens (…) Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Objekt […] Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüber versetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Das vermag nur die Sprache […]“ (ebd. 428f.). Im Denken stellen sich Vorstellungen dem Subjekt als Subjekt gegenüber. Das gelingt nur durch Sprache, weil in der Artikulation der Laute diese vom Subjekt vernommen werden können und so zu ihm zurückkehren können. Diese sprachlich bedingte und leiblich fundierte Reflexivität ist die Bedingung der Möglichkeit des Denkens, ein Apriori, das noch „vor aller Kommunikation“ erscheint (vgl. K OLLER 2003: 523). Das Sprechen der Sprache konstituiert damit einen Welt- und Mitbezug. Die Sprache ist damit als „historisches Apriori“ (F OUCAULT ) des menschlichen Welt-, Mit- und Selbstzugangs zu bezeichnen (vgl. B ENNER 2003: 128). In diesem bildenden Welt-, Mit- und Selbstverhältnis sind die Sinne nicht nur rezeptiv. Sie formen das Aufgenommene schöpferisch um und bringen es als Äußerung vor sich selbst. Denken ist inneres Sprechen und Sprache äußeres Denken (vgl. M ENZE 1980: 30). Sprechen lässt sich damit weder auf Informationsweitergabe reduzieren, noch ist Sprache universell. Sie ist vielmehr nur als individuelles Sprechen in actu möglich. H UMBOLDT erteilt damit abbildtheoretischen und nominalistischen Sprachtheorien eine Absage (vgl. B ENNER 2003: 127). b. Die intersubjektive Dimension der Sprache als bildendem Medium und Ausdruck einer Weltansicht kommt dann zum Tragen, wenn H UMBOLDT sein Gedankenexperiment in die empirische Wirklichkeit überträgt. „In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde widertönt“ (H UMBOLDT 1963: 429). Die Objektivierung der subjektiven Vorstellung gelingt nicht nur dadurch, dass das Subjekt sie artikuliert. Sie gelingt auch und vor allem dadurch, dass die Vorstellung von einem Anderen ausgesprochen wird und durch ihn zum Subjekt zurückkehrt. Selbst-Verstehen und Fremd-Verstehen stehen also in einem Wechselwirkungsverhältnis. Im Fremd-Verstehen ereignet sich eine Entfremdung der subjektiven Objektivierungen. Gerade weil jeder seine eigene Sprache spricht und seine eigene Weltansicht artikuliert, ist „alles Verstehen […] immer zugleich ein Nicht-Verstehen“ (ebd. 439). Gerade das 94 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Nicht-Verstehen ist also die Bedingung der Möglichkeit von Verstehen (vgl. K OLLER 2003: 524). Selbst-Verstehen wird so nur über den Umweg des Fremd-Verstehens möglich. c. Diese differenzielle Dimension des Sprechens und der Sprachbildung im Horizont von Fremd-Verstehen und Entfremdung bedeutet nicht Assimilation oder Identifizierung von fremden und anderen Sprachen, Weltansichten und Menschen, sondern die „Kultivierung und das Fruchtbarmachen der Differenz“ (ebd. 527). Sprachenbildung bedeutet daher insbesondere das Erlernen „einer fremden Sprache als Gewinnung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht“ (H UMBOLDT 1963: 434) und damit die Transformation der eigenen Welt- und Selbstbezüge. Der Mensch lernt damit nicht nur einen neuen Stoff (die fremde Sprache), sondern er erhält damit auch eine neue Weise des Welt- und Selbstzugangs. Sprachenlernen im Sinne H UMBOLDT s als Erwerb einer neuen Weltansicht hat daher nicht nur für eine Theorie der interkulturellen Bildung große Bedeutung (vgl. K OLLER 2003). H UMBOLDT s Bildungstheorie kann auch und vor allem der (Fremd-)Sprachenbildung eine bildungstheoretische Grundlage geben. 4. Das Subjekt der Bildung: Negativität und Sprache Mit dem in der Postmoderne radikalisierten Transformationsgedanken gehen im aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs zwei folgenreiche Abgrenzungsbewegungen gegenüber traditionellen Vorstellungen von Bildung und Erziehung einher: Zum einen sind die Ziele Emanzipation und Autonomie problematisch geworden. Statt „monarchistisch“ geleiteter Selbstvorstellungen wird von einem pluralistischen, differenten und dezentrierten Selbst ausgegangen (R EICHENBACH 2001: 443), das wesentlich von Fremdheit und Andersheit bestimmt ist (vgl. L IPPITZ 2007). Bildungstheorien müssen reflektieren, dass das Selbst weder seine Fundamente in einer allumfassenden, logozentrischen Vernunft noch in einer humanistischen Tradition oder seiner eurozentrischen Geschichte finden kann. Emanzipation und Mündigkeit werden zu „Pathosformeln“ (R IEGER -L ADICH 2002), Autonomie zur Illusion (vgl. M EYER -D RAWE 2000). Bildung darf daher weder Andere und Fremde noch die eigenen, pluralen und differenten Teile des Selbst im Zeichen einer identifizierenden Vernunft kolonisieren (vgl. R EICHENBACH 2001: 443). Zusammen mit der Kritik an den metaphysischen Grundlagen des traditionellen Bildungskonzepts - dem Konzept einer universalen bzw. transzendentalen Vernunft, einer universalen „Idee der Menschheit“ sowie des Menschlichen (vgl. B RINKMANN 2017b) - wird Kritik an dessen individualistischen Fundamenten laut. Traditionelle Bildungstheorien können - darin besteht weitgehend Einigkeit im Diskurs der Bildungstheorie und -philosophie - die sozialen und gesellschaftlichen Grundlagen nicht angemessen erfassen (vgl. B RINKMANN 2016a). So findet momentan in der Er- Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 95 47 (2018) • Heft 1 ziehungswissenschaft eine Verschiebung von der individualtheoretischen zu einer sozialtheoretischen Orientierung statt. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur voneinander oder vom Anderen etwas gelernt wird, sondern auch vor Anderen etwas voneinander gelernt wird - auch wenn diese nur imaginär anwesend sind (vgl. B EDORF 2010; R ICKEN 2013; B RINKMANN 2016b). Macht, Anerkennung, Subjektivierung und Andersheit werden zu wichtigen Begriffen im Diskurs aktueller Bildungstheorie (vgl. B RINKMANN 2016a). Bildung ist damit nicht mehr am Begriff der Identität (im Sinne von Selbigkeit und Einheitlichkeit) zu denken. Stattdessen kommen Brüche, Irritationen und Enttäuschungen im Prozess der Bildung und des Lernens in den Blick. Die widerständigen und passiven Aspekte werden in neueren Lern- und Bildungstheorien unter dem Titel „negative Erfahrungen“ verhandelt. Sie gelten als konstitutive Momente von Bildungs- und Lernprozessen. Negativität ist hier nicht im landläufigen Sinn als etwas Schlechtes, Lästiges oder Gefährliches zu verstehen. Durch Irritationen, Enttäuschungen, Missverstehen, Scheitern und durch Fehler wird vielmehr ein Suchen, Fragen, Probieren oder Forschen angeregt (vgl. B ENNER 2005). Negative Erfahrungen sind daher bedeutsame Anlässe für Lernen und Umlernen (vgl. M EYER -D RAWE 2008; R ÖDEL 2017). Ein nicht gelöstes Problem, eine nicht beantwortete Frage, ein irritiertes Wundern und Staunen kann das schon vorhandene „positive“ Wissen und Können herausfordern. Nach B UCK (1989) kann es in der negativen Erfahrung zu einer Umwendung und Umstrukturierung des Erfahrungshorizontes und damit zu einer bildenden Erfahrung kommen. Als Krisenerfahrungen sind sie zudem ein wichtiges Element in biographischen Bildungsprozessen, in denen Selbst- und Weltverhältnisse transformiert werden (K OLLER 2012). Trotz der m.E. berechtigten Kritik an H UMBOLDT s individualistischer Bildungstheorie und ihren anthropologisch-normativen Grundlagen (vgl. K OLLER 2012) lassen sich in grundlagentheoretischer Perspektive für das Verhältnis von Bildung und Negativität wichtige Einsichten ableiten: Entfremdung im Bildungsprozess und Nicht-Verstehen sind, wie gezeigt, bei H UMBOLDT wichtige Grundzüge. Als negative Erfahrungen gelten hier nicht nur jene, die im Sprachenlernen „gemacht“ werden, weil etwas nicht gewusst oder gekonnt wird. Die negative Erfahrung im Sinne von Entfremdung ist vielmehr die apriorische Bedingung der Möglichkeit von subjektivem Verstehen als Selbst-Verstehen und objektivem Verstehen als Fremd-Verstehen, weil alle Vorstellungen zum einen durch die Sinne und zum anderen durch Andere objektiviert werden müssen. Die Veränderung des Entäußerten durch das schöpferische „Einlegen von Sinn“ durch die Sinne und durch den Anderen bedeutet, dass Verstehen immer von einer Differenz begleitet wird, in der und mit der das Gesagte und Gedachte verfremdet wird. Das Verstehen ist auf das Nicht-Verstehen geradezu angewiesen, weil es nicht in Identifizierung, Kolonisierung und Universalisierung umschlagen darf. Daher ist Sprachenbildung vorzüglich auf die Mitteilung angewiesen, das heißt auf den je individuellen Austausch von Zweien oder mehreren. In der Hinwendung zum Anderen und im Anspruch vom Anderen sowie im Gegenanspruch des Anderen geschieht die Öffnung hin zum Fremden und damit das 96 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Durchbrechen der Isolation des Subjekts. Nur so kann eine Erweiterung der Weltansicht gelingen. H UMBOLDT s bildungstheoretische Grundlegung kann daher auch als Grundlage einer Sprachenbildung und einer Bildungsgemeinschaft im Horizont von Sprache, Differenz und Heterogenität gelesen werden. Letzterer Punkt macht H UMBOLDT s Sprachtheorie für eine Theorie der pädagogischen Gemeinschaft und der demokratischen Bildung interessant. 1 Im Folgenden soll zunächst die Perspektive auf den Zusammenhang von Gemeinschaft und Demokratie mit dem französischen Philosophen Jean-Luc N ANCY vertieft werden. N ANCY gilt als einer der profiliertesten Vertreter einer an D ERRIDA und H EIDEGGER orientierten dekonstruktiven Philosophie, die sich dem durch totalitären Gebrauch belasteten Begriff der Gemeinschaft widmet und einen radikalen Versuch unternimmt, Demokratie neu zu denken. Danach werde ich wieder H UMBOLDT aufgreifen und versuchen, Sprachenbildung bildungstheoretisch und demokratietheoretisch als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem zu bestimmen. 5. Singulär plural sein - Gemeinschaft und Demokratie bei N ANCY Die Kritik am Individuum und Subjekt mit dem Befund der Risshaftigkeit, Brüchigkeit und Pluralität des Subjekts sowie die Kritik an Identität, Autonomie und Emanzipation sind auch Ausgangspunkte aktueller sozialwissenschaftlicher und postdemokratischer Diskurse (vgl. L ACLAU / M OUFFE 2000; N ANCY 2004, 2008; R ANCIÈRE 2002; für die Erziehungswissenschaft vgl. R ICKEN 2006; S CHÄFER 2012; B IESTA 2009). Das Konzept des dezentrierten Subjekts lässt auch das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft radikal anders erscheinen. Das Subjekt wird nicht mehr wie in traditionellen Sozialisationstheorien der Gesellschaft gegenübergestellt und als Rollenträger identifiziert (vgl. F END 2006). Vielmehr wird eingestanden, dass das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst immer im Horizont des Sozialen stattfindet. Von den Anderen und dem Sozialen, von den Dritten und dem Dritten her, ergibt sich der Rahmen, in dem das Subjekt nach sich selbst fragt, sich konstituiert und unter dessen Bedingungen es wahrnimmt, handelt und urteilt. In den gesellschaftlichen Ansprüchen wird das Subjekt konventionalisiert, normalisiert und subjektiviert. Zugleich aber geht es in diesen Konventionalisierungen, Normalisierungen und Subjektivationen nicht auf. Es bleibt ein Moment der „Singularität“ (R ICKEN 2013: 29), in der sich die Differenz zwischen dem Individuum und dem Sozialen als ein Zwischenraum anzeigt. Das Subjekt antwortet auf Ansprüche und Normen des Sozi- 1 Bisher wurde H UMBOLDT s Bildungs- und Sprachtheorie entweder hermeneutisch (M ENZE 1965), transzendentalphilosophisch (B ENNER 2003) oder differenztheoretisch (K OLLER 2003) ausgelegt. Arbeiten zum Verhältnis von Bildung und Politik beschränken sich bisher auf die politischen und bildungspolitischen Schriften H UMBOLDT s (vgl. B ENNER 2003: 47-76; M ENZE 1975). Die politische Bedeutung der Sprachenbildung bei H UMBOLDT unter den Bedingungen von Differenz und Negativität wurden bisher noch nicht thematisiert. Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 97 47 (2018) • Heft 1 alen, ohne dass diese Antworten vollständig in diesem aufgingen, ohne dass sich eine bruchlose „soziale Identität“ konstituierte. Gesucht wird in diesen sozialtheoretischen Diskursen nicht nur nach neuen Konzepten, mittels derer sich diese Erfahrungen des Subjekts erfassen ließen - Subjektivation, Anerkennung, Responsivität -, gesucht wird auch nach Konzepten, mittels derer sich das Soziale diesseits des Gegensatzes von Gesellschaft und Gemeinschaft erfassen ließe. Jean-Luc N ANCY hat in seiner Philosophie die Gemeinschaft als jenes Zwischen bzw. als jene Differenz beschrieben, die das Mit-einander-sein als singulär-pluralsein mitkonstituiert. Das Wie der Gemeinschaft in Staat, Volk, Nation, Klasse und Schule wird aus der Entgegensetzung zur Gesellschaft herausgeholt, ohne Gemeinschaft romantisch, idealistisch oder totalitär misszuverstehen (vgl. S CHÄFER 2012: 125). Gemeinschaft wird zunächst dekonstruktiv als „entwerkte (désoeuvrée)“ Gemeinschaft gesehen, womit eine Kritik an romantischen Vorstellungen von Gemeinschaft (R OUSSEAU ), an den an Produktion orientierten „totalen“ Vorstellungen des Kommunismus wie auch an den rassistischen Vorstellungen der Volksgemeinschaft verbunden ist (N ANCY 2015: 54f.; 59f.). N ANCY s in Anlehnung an H EIDEGGER entwickelte Ontologie des Mit-seins versucht das Mit, in dem mitgeteilt wird, im Gemeinschaftlichen des „Kommunismus (commune)“ „wiederzufinden“ (N ANCY 1988: 11). Mit-sein erhält eine existenziale bzw. ko-existenziale Bedeutung: „Die Dinge sind nicht nur nebeneinander, sondern treten in eine Beziehung; es bildet sich ein Sinnzusammenhang, der freilich keine konkrete Gestalt und keine Autonomie hat, aber es findet eine Zirkulation statt zwischen den Elementen“ (N ANCY 2015: 62). Das Commune des Mit- und Gemeinsam-seins wird gegen Harmonie, Einheit und Totalität abgegrenzt. Gemeinschaft ist daher nichts Festes, Vorliegendes, Bestehendes, sie ist „weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunikation [...], sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung, des Draußen, des Außer-Sich-Sein(s)“ (N ANCY 1988: 45). Gemeinschaft ist also ein Zwischen: das, was das Subjekt individualisiert und zugleich im Mit-sein der Individuen das Soziale konstituiert. Pluralität und Singularität sind in diesem Geschehen zwei Momente einer Differenz. Sie konstituieren sich gegenseitig, ohne dass sie einen Ursprung, eine Einheit oder eine Identität vorweisen könnten. In diesem Zwischen konstituiert sich eine „plurale Ontologie“ (N ANCY 2004: 12), in der das Sein „nur als mit-ein-ander-seiend sei, wobei es Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko- Existenz zirkuliert“ (N ANCY 2004: 21, Herv. i.O.). Das Mit-sein konstituiert sich performativ in der Mit-teilung, die auch als exponierende Antwort auf die gesellschaftliche „Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung“ zu verstehen ist (N ANCY , 1988: 33). N ANCY bestimmt die Singularität in der Mit-teilung als „Expeausition“ - ein Wortspiel, das sowohl die Haut (peau) als auch Position beinhaltet und auf den körperlich-leiblichen Charakter des Mit-seins als ontologischem Fundament verweist (vgl. N ANCY 2000/ 2014: 36; 147). Mit der Expeausition des Subjekts im Mit-sein kommen so Affizierbarkeit, Berührbarkeit 98 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 und Verletzlichkeit der Körper in den Blick - eine Perspektive, die N ANCY in leibphänomenologischer Tradition thematisiert (vgl. B RINKMANN 2017d) und die sich mit B UTLER s ebenfalls ontologischem Begriff der Prekarisierung verbinden lässt (vgl. M AGYAR -H AAS 2016: 123). Demokratietheoretisch wird bei N ANCY der Begriff der Demokratie auf die Gemeinschaft, auf das Mit-sein, ausgeweitet und ontologisiert. 2 Politik wird unter die Maßgaben des Gemeinschaftlichen gestellt und damit ihre Reichweite und ihre „Gewalt“ eingeschränkt (N ANCY 2012: 88). Politik darf nicht andere Praxen des Zusammenlebens homogenisieren und kolonisieren. Vielmehr hat sie diese Praxen zu ermöglichen: „Die Politik muss die Form des Zugangs zu einer Öffnung der anderen Form bereitstellen. […] Sie muss unentwegt neue Möglichkeiten zur Entstehung von Formen oder Ordnungen des Sinns schaffen. Dafür darf sie sich selbst nicht […] als Form herausbilden: Die anderen Formen oder Ordnungen umfassen nämlich Zwecke, die Selbstzwecke darstellen (Künste, Sprache, Liebe, Denken, Wissen [und so kann man ergänzen: Bildung, MB]“ (N ANCY 2012: 87f.). In einer Demokratie lassen sich pädagogische Ziele daher nicht aus - für sich genommen legitimen - Ansprüchen anderer gesellschaftlicher Praxen und Systeme (Ökonomie, Kunst, Medien, Religionen, Politik) ableiten (vgl. F INK 1970). Bildung und Pädagogik müssen vielmehr als eigenständige Praxis- und Wissensbereiche von anderen gesellschaftlichen Praxis- und Wissensbereichen unterschieden werden. Bildung und Schule dürfen nicht durch normative Setzungen von Unterrichtszielen aus dem Politischen, Ökonomischen, Ästhetischen oder Religiösen zu einem angewandten Teil der Politik gemacht werden (H UMBOLDT 1960a; B ENNER 2001). Vielmehr muss die Eigenlogik pädagogischen Denkens und Handelns herausgestellt und nach seinem spezifischen sozialen Mit-einander-seins gefragt werden. Demokratiebildung lässt sich daher nicht in Bezug auf eine Staatsform oder deren Kenntnisse und auch nicht in Bezug auf eine Lebensform (vgl. D EWEY 2004) legitimieren, deren kleinste Einheit die Schule wäre (die sog. „Embryonic Society“ nach D EWEY ). Vielmehr liegt Demokratie als Weise des Mit-ein-ander-seins ontologisch allen Kommunikationen, allen gesellschaftlichen Institutionen und Praxen voraus, indem sie sowohl das Singuläre als auch das Soziale aus einer Differenz entstehen lässt. N ANCY kommt damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie schon H UMBOLDT vor ihm: Bildung und Erziehung zur Demokratie können sich daher nicht auf Kenntnisse des politischen Systems und nicht auf politische Bildung beschränken. Das Modell des dezentrierten Subjekts lässt konventionelle Versprechen der Pädagogik (vgl. S CHÄFER 2012) und ambitionierte Programme fragwürdig erscheinen, die auf der „Versöhnung“ von Individuum und Gemeinschaft, auf „Vermittlung“ von kulturellem Wissen, sozialen Normen und sozialer Identität, auf „Vorbereitung“ der Edukanden für eine ungewisse und kontingente Zukunft im Schonraum des 2 Dieses Politik- und Demokratie-Verständnis hat N ANCY auch viel Kritik eingebracht, vgl. M AGYAR - H AAS 2016: 21; B USCH 2012: 239. Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 99 47 (2018) • Heft 1 Pädagogischen zielen. Das Pädagogische als Teil des Sozialen zu sehen und darin die Konstitution von Subjektivität als gebrochenes und fragiles Verhältnis zu sich selbst im Angesicht und in Antwort auf Andere und Anderes zu sehen - das ermöglicht eine neue Perspektive auf Subjektivierungsprozesse, die weder in Unterwerfung noch in Befreiung und Reflexion aufgehen, das heißt auf die Relationen dieser Konstitutionsprozesse innerhalb des Sozialen. Damit kommt das Soziale der pädagogischen Ordnung ebenso in den Blick wie das Singuläre der antwortenden, sich exponierenden Subjekte. 6. Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem Mit der Perspektive auf Leiblichkeit und Körperlichkeit wird Sprache nicht nur sprachtheoretisch als Symbolsystem, sondern als Ausdruck menschlicher Existenz thematisch. Sprache als „Weltansicht“ (H UMBOLDT ) meint sowohl den gesprochenen als auch den sinnlichen Ausdruck (vgl. B RINKMANN 2016b, 2017c). Das historische Apriori der Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Selbst-, Mit- und Welt- Bezug wird damit radikalisiert: Die sprachlich bedingte und leiblich fundierte Reflexivität wird aus den transzendentalphilosophischen und anthropologischen Legitimationszusammenhängen H UMBOLDT s gelöst. Das hat zunächst eine Differenzierung zur Folge: Sprache als Ausdrucksmedium des Leibes, als Medium des In-der- Welt-seins und der Mit-teilung muss systematisch von der Sprache in Symbolsystemen unterschieden werden (vgl. B RINKMANN 2017c). Die phänomenologische Theorie des leiblichen, kinästhetischen Ausdrucks, die sich auf H EIDEGGER und M ERLEAU -P ONTY beruft, und die auch N ANCY zitiert (vgl. N ANCY 2000: 58f.), geht von einer doppelten Konnotation aus. Die Zeichenhaftigkeit des Sprechens (und Denkens sensu H UMBOLDT ) kann so von der Ereignishaftigkeit des Leiblichen (in der Expeausition der Mit-teilung sensu N ANCY ) unterschieden werden. Leiblicher Ausdruck, etwa im Zeigen, und sprachlicher Ausdruck, im Sprechen, gehören unterschiedlichen Registern an. Der Ausdruck des Leibes im Sinne der Expeausition rückt erstens die Sozialität der Mit-teilung im Angesicht von Anderen und zweitens mögliche Verletzlichkeiten, Irritationen und Miss- und Andersverstehen in den Vordergrund. Letztere sind Ereignisse, die die Normalisierungen des Sozialen unterlaufen. Leibliche Äußerungen setzen zwar ein kulturelles Symbolsystem voraus, in das sie sich einfügen. Der Körper und seine Materialität sind damit in die Normalisierung gesellschaftlicher und sozialer Ordnungen eingespannt. In der Singularität der Expeausition, im leiblichen Ausdruck ereignet sich aber etwas, das sich sowohl der symbolischen und diskursiven Dekodierung als auch der gesellschaftlichen Normalisierung entzieht, sich aber in der leiblichen Geste und in der Antwort des oder der Anderen darauf zeigt. 3 3 Ich habe unlängst versucht, diese ambivalente Struktur des Ausdrucks zwischen Sagen und Zeigen bzw. zwischen der Materialität des Körpers (im Zeichen gesellschaftlicher Normierungen, Symbolsys- 100 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Mit N ANCY und unter kritischer Aufnahme der bildungstheoretischen Einsichten H UMBOLDT s lässt sich ein anderer Blick auf Sinnverstehen und Sinnproduzieren (als Mit-teilen) und im Verhältnis von Fragen, Zeigen, Antworten und Exponieren im Unterricht werfen (vgl. B RINKMANN 2017c). Das Singuläre im Unterricht ließe sich als existenzielle bzw. koexistenzielle, zunächst nicht verbalisierbare, ereignishafte Erfahrung in einer pädagogischen Ordnung sehen, ohne diese Relation aber als „Widerstand“, „Opposition“ oder „Subversion“ identifizieren zu müssen. Vielmehr ist sie ein Teil des Sozialen und damit Teil des Unterrichts, der sich wie das Subjekt nicht mehr auf eine Einheit zurückführen lässt. Heterogenität ist damit nicht nur als Ansammlung von Unterschiedlichkeiten zu verstehen, sondern als dezentrierendes Moment eines Sozialen, das sich im Zwischen von Singulärem und Sozialem, zwischen Inklusion und Exklusion konstituiert. Dieses Zwischen als Zwischen der Körper und der Mit-teilungen wird im Unterricht als Antwortgeschehen zwischen Anspruch und Antwort kenntlich (vgl. B RINKMANN 2016b). Damit wird das Fremde als Nicht-Identifizierbares in den Antworten deutlich (vgl. W ALDENFELS 2006). Eine Weise der Erfahrung des Fremden ist das Nicht-Verstehen und Missverstehen. Die Negativität der Mit-teilung kommt so in den Blick - und damit die produktiven Chancen für Lernen und Bildung. Gerade in den Momenten der Singularität könnte sich ein Ereignis manifestieren, in dem eine bildende Erfahrung möglich wird, eine Erfahrung, die das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zu Anderen betrifft (vgl. B RINKMANN 2017c). Für die Sprachenbildung wäre also gerade der Doppelaspekt von Sprache als gesprochener und zeichenhafter Sprache einerseits und leiblich exponierendem Ausdruck andererseits durchaus produktiv. Im Fremdsprachenerwerb wird durch das Fremde der Fremdsprache das Eigene herausgefordert. Auf der Grundlage dieser Verschränkung von Eigenem und Fremdem lassen sich für eine Didaktik des Fremdsprachenverstehens zusammenfassend drei bildungs- und sozialtheoretische Perspektiven nennen: Fremdheit im Sprachverstehen wäre erstens in der anderen, sprachlich vermittelten Weltansicht aufzusuchen (sachliche Ebene), zweitens in der bildenden Entfremdungserfahrung im Prozess des Spracherwerbs (subjektive Ebene) und schließlich im leiblich-kommunikativen Antwortgeschehen im Unterricht (soziale Ebene). Auf allen drei Ebenen artikulieren sich negative Erfahrungen auf je unterschiedliche Weise: als Nicht-Verstehen oder Anders-Verstehen (sachliche Ebene), als Entfremdung (subjektive Ebene), als Expeausition und Ereignis (soziale Ebene). Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts wäre es, auf allen drei Ebenen Offenheiten für Mit-teilungen, Expeausitionen und Ereignisse zu bieten. Das erfordert Sensibilität und Achtsamkeit auf Seiten der Lehrpersonen für Brüche und Fremdheitserfahrungen, die sich nicht nur sprachlich, sondern auch leiblich, nicht nur individuell, sondern auch vor Anderen äußern (wie etwa in der Scham vor Anderen). Überhaupt können aus dieser Perspektive negative Lernerfahrungen - Enttäuteme und Dekodierungen) und seiner Performativität (des Leibes als Exposition und Ereignis) für eine pädagogische Theorie des Verstehens im Unterricht fruchtbar zu machen (vgl. B RINKMANN 2017c). Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 101 47 (2018) • Heft 1 schungen, Irritationen, Scheitern im Nicht-Wissen und Nicht-Können - eine produktive Bedeutung für Lehr-Lern-Prozesse entfalten. Über die vielbeschworene Fehlerkultur hinaus können sie auf der sachlichen, subjektiven und sozialen Ebene als konstitutiv für bildende Lernprozesse gelten, weil ohne sie eine Transformation des Eigenen im Angesicht des Fremden nicht möglich ist. Sie ermöglichen damit ein Fragwürdig-Werden des Eigenen, ein Staunen, ein Wundern, ein Fragen und ein Zweifeln. Sprechen im Horizont einer fremden Weltansicht wird so als andere, nicht identifizierbare und nicht-homogenisierbare Äußerung sichtbar. Diese lässt sich nicht „vermitteln“ und auch nicht „herstellen“. Sie lässt sich vielmehr anerkennen und - im oben dargestellten Sinne - verstehen. 4 (Fremd-)Sprachenunterricht aus sozial- und demokratietheoretischer Perspektive zu sehen bedeutet mit N ANCY , dass neben den Ergebnissen, dem Wissen und Können, die Prozesse und Erfahrungen im Unterricht bedeutsam werden. Unter Bedingungen von Kontingenz, Pluralität und Relativität kann Vermittlung anders bestimmt werden, nämlich als „Vermittlung eines gemeinsamen Suchens“ (F INK 1970: 147). Gemeinsam-Lernen als Mit-teilen wird damit als Fragen und Forschen wichtig. Am Anfang einer Verständigung über die gemeinsam erfahrene Situation oder über die vor Anderen sich ereignende Expeausition steht im Unterricht das Problem, dass Lernen nicht geradewegs beginnt oder stattfindet. Eine negative Erfahrung kann zwar durch Fragen und Zeigen, mit Unterrichtsmaterialien und in Aufgabenstellungen gezielt inszeniert werden (vgl. B RINKMANN 2012), sie bleibt aber an die Unverfügbarkeit der singulären Erfahrung gebunden. (Fremd-)Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem kann so als demokratisches Mit-ein-ander-sein bestimmt werden, in dem sprachliches und leibliches Missverstehen, Nicht-Verstehen und Anders-Verstehen Anfang gemeinschaftlichen Lernens werden kann. Literatur A GAMBEN , Giorgio / B ADIOU , Alain / Ž IŽEK , Slavoj / R ANCIÈRE , Jacques / N ANCY , Jean-Luc / B ROWN , Wendy / B ENSAÏD , Daniel / R OSS , Kristin (2012): Demokratie? Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp. A HRBECK , Bernd ( 3 2016): Inklusion - Eine Kritik. 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Research on the teaching and learning of German as a foreign language (GFL) during the past decade has mainly focused on six fields: (1) reception-production-interaction; (2) project- / task-based learning and learner autonomy; (3) phonetics-lexis-grammar; (4) literature-(inter-) cultural learning; (5) textbooks-(digital) media; (6) teacher education-teaching profession. In this time span, GFL research on teaching and learning has continued its tradition of being soundly grounded in linguistics and literature/ culture studies and has gained new momentum by increasingly relying on regional and on empirical approaches. For the future, more GFL research on school contexts seems desirable. 1. Zur Eingrenzung des Gegenstands Wenn im Folgenden versucht wird, einen Überblick über die Forschungsbeiträge zur didaktischen Diskussion im Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) der letzten zehn Jahre zu geben, dann ist vorauszuschicken, dass die Anzahl einschlägiger Arbeiten erfreulicherweise so groß ist, dass sie sich in diesem Rahmen nur in Auswahl darstellen lässt. Diese Auswahl zu treffen, ist eine Herausforderung im Hinblick auf die fließenden Grenzen zwischen DaF und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sowie auch zwischen DaF-Didaktik und DaF-Linguistik bzw. DaF-Literatur-/ Kulturwissenschaft. Da in dieser Zeitschrift ein eigenständiger Überblicksartikel über die DaZdidaktische Forschung der vergangenen zehn Jahre geplant ist, liegt der Schwerpunkt hier auf Studien zum Deutschlernen außerhalb des deutschen Sprachraums - mit einzelnen Ausnahmen, die die Übergänge von sogenannten Bildungsausländern an Hochschulen im deutschen Sprachraum betreffen. Bei den ausgewählten Studien * Korrespondenzdresse: Prof. Dr. Karen S CHRAMM , Universität Wien, Institut für Germanistik, Porzellangasse 4, A-1090 W IEN . E-Mail: karen.schramm@univie.ac.at Arbeitsbereiche: DaF-Didaktik; DaF-Unterrichtsdiskurs; DaF-Lehrer(innen)bildung; DaF-Curriculumforschung. 1 Ich danke Karin Aguado, Frank G. Königs und Michael Schart für ihre hilfreichen Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 106 Karen Schramm 47 (2018) • Heft 1 stehen Fragen des Lehrens und Lernens im Zentrum der jeweiligen Untersuchung, aber selbstverständlich ließe sich in einem umfassenderen Rahmen auch die didaktische Relevanz vieler hier aus Platzgründen nicht berücksichtigter linguistischer Untersuchungen zu Fragen interkultureller Kommunikation und literatur-/ kulturwissenschaftlicher Studien zu Aspekten einer interkulturellen oder transnationalen Germanistik aufzeigen. Auch wurde angesichts weltweiter DaF-Forschung in verschiedenen Sprachen bei dieser Auswahl dahingehend eine Eingrenzung vorgenommen, dass nur Monographien und Sammelbände von Verlagen im deutschen Sprachraum erfasst wurden. Wichtige Orientierungspunkte waren dabei die Auswahlbibliographien des Jahrbuchs Deutsch als Fremdsprache und die Liste von Qualifikationsarbeiten der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung. Des Weiteren boten facheinschlägige Reihen wichtige Grundlagen für die Recherche. Aus der Vielzahl der Buchpublikationen kristallisierten sich sechs Themenfelder heraus, die im Folgenden in der gebotenen Kürze umrissen werden: „Rezeption - Produktion - Interaktion“, „Projektarbeit - Autonomie“, „Phonetik - Lexik - Grammatik“, „Literaturdidaktik - (inter)kulturelles Lernen“, „Lehrwerke - Medien“ und „Lehrer(innen)bildung - Professionsforschung“. Ein eingehender Abgleich von Einzelergebnissen muss anderen Darstellungen vorbehalten bleiben; an dieser Stelle soll durch thematische und methodische Kurzcharakterisierungen eher ein überblicksartiges Mosaik der DaF-didaktischen Forschung zusammengestellt werden. 2. Themenfeld „Rezeption - Produktion - Interaktion“ Das erste (besonders umfassende) hier genannte Themenfeld umspannt DaF-didaktische Arbeiten zur Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Besonders rege Forschungsaktivitäten sind im Bereich der Schriftlichkeit zu verzeichnen. Zur Rezeption liegen hier Studien vor, die sich grob unter den Stichworten Metakognition und Kontrastivität gruppieren lassen. Metakognition beim Lesen in DaF spielt in den Dissertationen von S OHRABI (2012) zur Rezeption von Hypertexten bzw. zu Strategietraining bei iranischen DaF-Lernenden, von G ROßMANN (2014) zum inkongruenten Verstehen beim Lesen wirtschaftswissenschaftlicher Fachtexte und von C HAIWAN (2015) zum kritischen Lesen bei thailändischen Studierenden eine wichtige Rolle. Kontrastive Aspekte finden besondere Berücksichtigung in folgenden Untersuchungen, die die Mehrsprachigkeit der Lernenden als Ausgangspunkt nutzen: Es sind dies K AEWWIPAT s (2007) auf introspektiven Forschungsdaten basierende Dissertation zur Rezeption von Nominalstil seitens thailändischer Studierender, die viel beachteten „sieben Siebe“ beim Lesen germanischer Sprachen in dem von H UFEISEN / M ARX (2007) herausgegebenen Sammelband zu EuroComGerm, die auf grammatikalische Schwierigkeiten ausgerichteten Studien von K AISER / P EYER (2011) zu französisch- und italienischsprachigen DaF-Lesenden und K URSIŠA s (2012) Untersuchung subjektiver Theorien von Schüler(inne)n zur Arbeit mit Lesetexten im Anfangsunterricht Deutsch als Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) in Lettland. In Bezug auf Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion 107 47 (2018) • Heft 1 die schriftliche Produktion lässt sich ein deutlicher Schwerpunkt bei Studien zum wissenschaftlichen Schreiben ausmachen: S TEZANO C OTELO (2008) legt eine funktionalpragmatische Analyse von Seminararbeiten ausländischer Studierender an einer deutschen Hochschule vor. S ORRENTINO (2012) untersucht an einem umfangreichen Korpus zur Textsorte Tesina finale studentisches Schreiben in Italien und N ARDI (2017) fokussiert ebenfalls am Beispiel der Tesina das erklärende Handeln. V ÖLZ (2015) präsentiert eine Fallstudie zu acht internationalen Studierenden und ihrer Entwicklung im Bereich der Textorganisation und der lexikalischen Textgliederung. Am Beispiel brasilianischer und deutscher Studierender fokussiert M ATIAS (2017) auf der Grundlage von Daten lauten Denkens kontrastive Aspekte des Formulierens beim Schreiben wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Texte. Kontrastiv angelegt sind auch die Untersuchungen von S KIBA (2009) zum Argumentieren chinesischer Germanistik-Studierender, von H ARTING (2010) zu Bitten in Emails japanischer Deutschlernender und K ÄRCHNER -O BER s (2009) Longitudinalstudie im Bereich der Tertiärsprachenforschung zum Schreiben in drei Sprachen in Malaysia. In Bezug auf die schriftliche Interaktion ist eine Forschungslücke zu konstatieren. Im Vergleich zur Schriftlichkeit ist die Zahl der Studien zur Erforschung der Mündlichkeit im DaF-Unterricht geringer. Zur mündlichen Rezeption liegt eine quasi-experimentelle Feldstudie von T HEODOROU (2016) zum Einfluss von Arbeitsgedächtnistraining auf die Hörverstehenskompetenz von Jugendlichen an der Deutschen Schule Athen vor. Die mündliche Produktion steht in R EINIGER s (2008) Dissertation zum biographischen Erzählen im DaF-Unterricht im Mittelpunkt. Zur mündlichen Interaktion (genauer: Beratungsgespräch und Diskussion) legt W ANG (2007) eine qualitative Lernersprachenstudie in der Tradition eines Selinker’schen Untersuchungsdesigns zu chinesischen DaF-Lernenden in China und in Deutschland im Vergleich zu L1-Sprecher(inne)n des Deutschen und des Chinesischen vor, die auf Gambits, kommunikative Strategien und Diskursstrategien fokussiert. L ALAYAN (2013) untersucht die deutschsprachige Unterrichtsinteraktion in der universitären Hochschulkommunikation in Armenien. H OFFMANN (2013) erforscht in ihrer Habilitationsschrift auf umfangreicher Datenbasis (Videodaten, Intro- und Retrospektion, Sprachstandserhebungen) die Rolle des (un-)bewussten Lernens im Hinblick auf Lernfortschritt, Leistung und (expansives oder defensives) Lernverhalten bei erwachsenen DaF-Lernenden in Italien. Darüber hinaus hat sich ein interessanter Themenschwerpunkt zu Fragen der gesprochenen Sprache im DaF-Unterricht herausgebildet, dem zahlreiche Beiträge, vor allem Materialanalysen und Unterrichtsvorschläge, in den Sammelbänden von H ANDWERKER / B ÄUERLE / S IEBERG (2016) und R EEG / G ALLO / M ORALDO (2012) gewidmet sind. Weitere Themen, die im Feld Rezeption-Produktion-Interaktion erforscht wurden, sind u.a. Sprache und Fach (z.B. H AATAJA / W ICKE 2015), studienvorbereitender und -begleitender Deutschunterricht (z.B. K OREIK / U ZUNTAS / H ATIPOĞLU 2014), Fachsprachendidaktik (z.B. I LSE 2011) und Deutsch für den Beruf (z.B. K ATEL - HÖN / C OSTA / DE L IBERO / C INATO 2013). 108 Karen Schramm 47 (2018) • Heft 1 3. Themenfeld „Projektarbeit - Autonomie“ Eng verknüpft mit dem Themenfeld der sprachlichen Aktivitäten ist die Projektarbeit, die in diesem Abschnitt zusammen mit der Autonomie behandelt werden soll. Der Projektarbeit sind vier Dissertationen gewidmet: H OFFMANN (2008) verbindet bei der Erforschung von DaF-Projektarbeiten in Italien einen emischen Zugang zu Lerntagebüchern und Interviews mit der Analyse videographischer Aufnahmen. P EUSCHEL (2012) untersucht Radioproduktionen erwachsener DaF-Lernender aus soziokultureller Perspektive, um Partizipationsmöglichkeiten zu modellieren. W ICKE (2012) diskutiert das Konzept des Projektunterrichts vor dem Hintergrund des kommunikativen Ansatzes und des aufgabenorientierten Lernens und beleuchtet es an Beispielen aus kanadischen und tschechischen Schulen. F EICK (2016) untersucht die Entscheidungs- und Mitbestimmungsstruktur in einem Handyvideoprojekt erwachsener DaF-Lernender in Mexiko. Die lebhaften fremdsprachendidaktischen Diskussionen um Fragen der Autonomie finden auch im DaF-Diskurs ihre fachspezifische Ausprägung. Zwei frühe Arbeiten lassen sich der individualbezogenen Perspektive auf das Konstrukt Autonomie zuordnen: C HUDAK (2007) fragt danach, inwieweit die entsprechenden Konzeptionen insbesondere in Form von Strategietraining Eingang in aktuelle überregionale DaF-Lehrwerke gefunden haben und C LAUßEN (2009) legt eine qualitative Longitudinalstudie zu Lernstrategien(training) und Lernberatung für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen vor. In einer viel beachteten theoretischen Studie arbeitet S CHMENK (2008) unter dem Schlagwort Sloganisierung des Autonomiebegriffs verschiedenartige Konzeptionen heraus und kritisiert die häufig anzutreffende Verengung des Begriffs, die der Unaufhebbarkeit des dialektischen Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie nicht gerecht wird. M EJIA C ASAS (2014) untersucht die Aushandlung von Lernendenrollen im Spannungsfeld instruktivistischer Lerntradition und konstruktivistischer Lernangebote im kolumbianischen Kontext. Die Dissertationen von K ONTOSTATHI (2012) und B ALLWEG (2015) leisten empirische Beiträge zur Portfolioarbeit. Auch die Dissertation von G ROSSMANN (2011) lässt sich - in einem weiteren Sinne - diesem Themenfeld zuordnen: Sie vergleicht mündliche und schriftliche Arbeitsanweisungen und analysiert Gruppenarbeiten, die auf der Grundlage von zwei mündlichen Arbeitsanweisungen durchgeführt wurden. 4. Themenfeld „Phonetik - Lexik - Grammatik“ In diesem Themenfeld fällt die Vielzahl der Arbeiten auf, die die mehrsprachige Ausgangssituation von DaF-Lernenden in unterschiedlichsten Regionen untersuchen: C HAUDURI (2009) am Beispiel der Grammatikvermittlung in Indien, K ÄRCHNER -O BER (2009) am Beispiel des Schreibens in Malaysia, A GOYA -W OT - SUNA (2012) am Beispiel von phonetischem und grammatikalischem Transfer keni- Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion 109 47 (2018) • Heft 1 anischer DaF-Lernender, S HARGHI -L IEBECK (2015) am Beispiel von interlingualem Transfer bei Kollokationen seitens persischer DaFnE-Lernender sowie auch B AS - SOCK (2010) und K ENNE (2014) am Beispiel der Mehrsprachigkeit im kamerunischen DaF-Unterricht. Aspekte der Phonetikvermittlung fokussieren P ARK (2013) in ihrer Untersuchung koreanischsprachiger DaF-Lernender, W ILD (2015) in ihrer quasi-experimentellen Längsschnittstudie zum Wortakzenterwerb englischsprachiger DaF-Lernender (und speziell zu rhythmisch-musikalischen Übungen) und M ORGRET (2015) in ihrer Arbeit zum Einsatz von Musik bei arabischsprachigen DaF-Lernenden auf A2- Niveau. Die explizite Wortschatzvermittlung untersuchen B RZEZINSKA (2009) am Beispiel des Artikellernens mithilfe von Mnemotechniken, N EZHAD M ASUM (2012) am Beispiel von Vokabellerntechniken sowie M ONTAG (2014) am Beispiel der Abtönungspartikeln in Bezug auf Erlernbarkeit, Methoden und Wirksamkeit von Erklärungen. In Bezug auf die Grammatikvermittlung liegen sowohl konzeptionelle Studien als auch empirische Untersuchungen vor. Konzeptionell ausgerichtet sind A LLMAYER s (2008) Überlegungen zur Grammatikvermittlung mit Popsongs und P IMINGSDORFER s (2013) Didaktikkonzeption zum elementaren Gebrauch von definitem, indefinitem und Null-Artikel. Auf der Grundlage metapherntheoretischer Analysen im Rahmen der Kognitiven Linguistik unterbreitet B ELLAVIA (2007) didaktische Vorschläge zu Lernproblemen bei Präpositionen und (un-)trennbaren Verben und S TEINHOFF (2011) erarbeitet basierend auf einer Lehrwerkanalyse ein neues didaktisches Konzept zur Vermittlung des Passivs. Die empirischen Untersuchungen zur Grammatikvermittlung nutzen unterschiedlichste methodische Zugänge: C HOU (2015) trianguliert Videodaten, Grammatiktests und Befragungen von Lehrenden und Lernenden, um in Bezug auf den DaF-Unterricht in Taiwan problematische Rahmenbedingungen, Lernprobleme und didaktische Probleme herauszukristallisieren. M ISSING (2016) legt eine interaktionsanalytische Studie zur Rezeption von Konnektoren seitens Lernender auf DSH-Niveau vor. Lernersprachlich ausgerichtet ist die Längsschnittstudie von F EKETE (2016), die auf der Basis schriftlicher Erzählungen zu Bildergeschichten in der Jahrgangsstufe 9 des ungarischen DaF-Unterrichts insbesondere nach syntaktischen Erwerbsverläufen fragt. Und M ÜLLER (2017) untersucht mittels einer Online-Expertenbefragung Möglichkeiten der Formfokussierung im dramapädagogischen Unterricht. Des Weiteren liegen mit den Dissertationen von O HTA (2015) und K LEMM (2017) zwei aufschlussreiche empirische Untersuchungen zur Wirkung schriftlicher Fehlerkorrekturen vor. 110 Karen Schramm 47 (2018) • Heft 1 5. Themenfeld „Literaturdidaktik - (inter-)kulturelles Lernen“ Die erfassten literaturdidaktischen Studien sind in der Regel konzeptionell ausgerichtet. 2 Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und DaF mit klarem Didaktik-Bezug werden in den Beiträgen in E WERT / R IEDNER / S CHIEDER - MAIR (2011) und A LTMAYER / D OBSTADT / R IEDNER / S CHIER (2014) vorgelegt. Thematische Schwerpunktsetzungen sind charakteristisch für die von E HLICH / L AMBERT / R IEDNER / S CHIEDERMAIR (2010) herausgegebene Festschrift für Dietrich Krusche, bei der der Aufbruch in die Fremde im Zentrum literaturdidaktischer Überlegungen steht, und für die Beiträge in H ILLE / L ANGER (2013), die literarische Texte über Groß- und Kleinstädte im DaF-Unterricht fokussieren. K ANJO (2013) untersucht mit Blick auf didaktisch-methodische Implikationen für eine interkulturelle Textarbeit deutschsprachige Literatur des postkolonialen Diskurses. Regionale Schwerpunktsetzungen kennzeichnen D IALLO s (2013) Überlegungen zu einer interkulturellen Literaturwissenschaft im Senegal und die Beiträge in M AYANJA / H AMANN (2014) zum Einsatz von literarischen Texten im Bereich German Studies im östlichen Afrika. 3 L Ü (2011) entwirft in ihrer Dissertation Unterrichtsvorschläge für den Einsatz von literarischen Kurztexten zu Zwecken interkulturellen Lernens im chinesischen DaF-Kontext; A HN (2010) fragt am Beispiel des koreanischen DaF-Unterrichts nach einem geeigneten literarischen Kanon. Zahlreiche Untersuchungen beziehen sich auf das Konstrukt interkultureller Kompetenz 4 ; dies gilt insbesondere für Studien im koreanischen und chinesischen DaF-Kontext. So arbeitet H YUN (2010) Kulturunterschiede zwischen Deutschen und Koreaner(innen) heraus, um auf dieser Grundlage didaktische Vorschläge für adressatenspezifisches, interkulturelles Lernen zu unterbreiten, und S TEIDELE (2016) plädiert am Beispiel der Lehr- und Lernsituation in Korea und Taiwan für intellektuell herausfordernde interkulturelle Lehrinhalte. Y ANG (2007) entwickelt auf der Grundlage von Lernenden-/ Lehrenden-Befragungen und Unterrichtsbeobachtungen ein Modell zur Vermittlung interkultureller Kompetenz und illustriert dies an einem DaF-Kurs in China (vgl. auch L I 2007, 2011). P AN (2008) formuliert auf der Grundlage von leitfadengestützten Interviews mit chinesischen und deutschen Führungskräften Empfehlungen zur interkulturellen Ausbildung von Germanistikstudierenden in China und Y U (2008) plädiert für eine interkulturelle Vorbereitung chinesischer Studienbewerber auf ein Studium in Deutschland. Unter dem Rahmenthema ‚Wahrnehmung des urbanen Raumes‘ stellen C ERRI / J ENTGES (2015) Beiträge zu auf interkulturelles Lernen ausgerichteten Unterrichtskonzeptionen aus einem europäischen Projekt vor. 2 Vgl. aber T EEPKER s (2009) empirische Untersuchung zur vermeintlichen Kulturspezifik des literarischen Lesens in einer Fremdsprache. 3 Vgl. auch einige Beiträge zu interkulturellen Ansätzen in der Literaturwissenschaft mit Bezug auf den DaF-Unterricht in der Region Subsahara-Afrika in D ALMAS / E ICHINGER / S TEINLE (2014). 4 Vgl. die Beiträge in S CHULZ / T SCHIRNER (2008); L OREY / P LEWS / R IEGER (2008); R EEG / G ALLO (2009). Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion 111 47 (2018) • Heft 1 Mit Fremdbildern beschäftigen sich zwei Dissertationen: M ATIYUK (2012) entwickelt am Beispiel des Diskurses zur Ukraine in der deutschen Presse ein diskursbasiertes Modell zum Einsatz authentischer Texte im DaF-Unterricht und W ITTE (2014) untersucht auf Grundlage von Fragebögen und Interviews das Deutschlandbild mexikanischer Studierender sowie auch die beiden Einflussfaktoren ‚DaF- Unterricht‘ und ‚Deutschlandaufenthalt‘. Die Relevanz des Konzepts Erinnerungsort vertieft F ORNOFF (2016) in seiner empirischen Untersuchung einer Lehrveranstaltung zum Thema Nationalsozialismus und D EMMIG / H ÄGI / S CHWEIGER (2013) präsentieren Beiträge unter dem Stichwort DACH-Landeskunde, die das Konzept in Bezug auf Materialien, Curricula und Positionen von Fachverbänden und Mittlerorganisationen ausleuchten. 6. Themenfeld „Lehrwerke - Medien“ DaF-Lehrwerke haben im untersuchten Zeitraum deutliche Entwicklungen in den Bereichen Multimedialität, kulturelles Lernen und Fach-/ Berufssprache durchlaufen, sodass mit Bezug auf diese Bereiche möglicherweise von einer Vorreiterrolle der DaF-Didaktik für andere Fremdsprachendidaktiken gesprochen werden kann. Mit der ‚Arbeitsstelle für Lehrwerkforschung und Materialentwicklung‘ an der Universität Jena ist auch die institutionelle Verankerung dieses hochgradig praxisrelevanten Forschungsbereichs vorangeschritten. Betrachtet man die Forschungen zur Lehrwerkanalyse, erscheint u.a. die Vielfalt der im letzten Jahrzehnt eingesetzten methodischen Zugänge bemerkenswert. Dass die DaF-Tradition der kriteriengeleiteten Lehrwerkanalyse auf hohem Niveau fortgesetzt wird, illustriert C HUDAK s (2007) Untersuchung von Lernenden-Autonomie fördernden Inhalten in ausgewählten DaF-Lehrwerken für Erwachsene. V ENOHR (2007) führt auf der Basis eines umfassenden Vergleichs ausgewählter Textsorten im Deutschen, Französischen und Russischen eine textlinguistische Lehrwerkanalyse multinationaler, französischer und russischer DaF-Lehrwerke durch. Zur Frage regionaler Lehrwerke legt T ICHY (2010) eine Untersuchung am Beispiel DaF in Ungarn vor, die mittels Befragung und Beobachtung zu Aussagen hinsichtlich der Verwendung und Wahrnehmung regionaler (vs. multinationaler) Lehrwerke gelangt; auch C HABABY (2009) nutzt die Methode der Beobachtung, um den Einsatz des im westafrikanischen Kontext entwickelten Lehrwerks „Ihr und wir“ im DaF-Unterricht auf Madagaskar und den Komoren zu erforschen und um auf dieser Grundlage landeskundliche und grammatische Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. S EO - N AM (2011) untersucht an DaF-Lehrwerken aus Südkorea und Deutschland die Funktion von Bildern mit Blick auf die Vermittlung sprachlicher Fertigkeiten. G LÜCK s (2013) historische Betrachtungen zur Kulturgeschichte in Lehrbüchern der Aufklärung, der Klassik und der Romantik illustrieren einen bisher wenig beschrittenen, inspirierenden Zugang zu DaF-Lehrwerken vergangener Jahrhunderte. Schlussendlich sind noch drei Lehrwerkanalysen anzuführen, die spezifische lin- 112 Karen Schramm 47 (2018) • Heft 1 guistische Phänomene fokussieren: S TEINHOFF (2011) untersucht die Passivdarstellung und -vermittlung in DaF-Lehrwerken, M ONTAG (2014) fragt nach der Behandlung von Abtönungspartikeln und W INZER -K IONTKE (2016) nach Frequenz, Verteilung und didaktischer Aufbereitung von Routineformeln in Grundstufenlehrwerken. Zur Mediendidaktik stellt C HUDAK (2013) Beiträge vorrangig aus der polnischen DaF-Szene zusammen, bei denen Fragen des Medieneinsatzes im Landeskundeunterricht, der Medienkompetenz von DaF-Lehrpersonen und der Nutzung als Kommunikations- und Lernmedien im Zentrum stehen. In der Diskussion visueller Medien werden methodische Vorschläge mit Bezug auf Konstrukte wie visual literacy oder multimodales Verstehen theoretisch verortet. Der von H IERONIMUS (2014) herausgegebene Sammelband beleuchtet u.a. im Zusammenhang mit Comics, bewegten Bildern und Apps die Einsatzmöglichkeiten visueller Medien im DaF- Unterricht. 5 Aus dem schulischen und hochschulischen DaF-Unterricht in Italien versammeln R EEG / G ALLO / S IMON (2016) ebenfalls zahlreiche Beiträge zu Einsatzmöglichkeiten visueller Darstellungen. Als besonders praxisnah - und gleichzeitig theoretisch klar verortet - sind die unterrichtsmethodischen Vorschläge zu charakterisieren, die B ADSTÜBNER -K IZIK (2007) zum Einsatz von Bild- und Musikkunst vorlegt. X U (2015) entwirft mit Blick auf den chinesischen Kontext Einsatzmöglichkeiten für Filme bei der Entwicklung einer kreativen Medienkompetenz; W ELKE / F AISTAUER (2015) stellen in einem Sammelband Beiträge zum Einsatz von Filmen im DaF/ DaZ-Unterricht zusammen. Auch in G RUCZA (2013), B ERNSTEIN / L ERCHNER (2014) und H AASE / H ÖLLER (2017) finden sich neben Vorschlägen zum Einsatz von Literatur und Theater Beiträge zu Bildender Kunst, Musik, Film u.a. im DaF-Unterricht. L I (2007) fokussiert speziell den Einsatz von Werbung in einem möglichst teilnehmer- und situationsbezogenen universitären DaF-Unterricht in China. Digitale Medien, erstaunlich häufig noch immer als „neue“ Medien bezeichnet, werden selbstverständlich auch mit Blick auf ihre Einsatzmöglichkeiten im DaF- Unterricht intensiv erforscht. S CHLICKAU (2009) legt eine umfassende Monographie vor, die im Themenfeld „Pragmatik - Didaktik - Interkulturelle Kommunikation“ - so der Untertitel - angesiedelt ist und sich vor allem theoretisch mit der Instruktions-, der Informations- und der Kommunikationsfunktion digitaler Medien auseinandersetzt, aber auch einen umfassenden empirischen Teil zu video- und videokonferenzbasierter interkultureller Kommunikation enthält. Die Instruktionsfunktion digitaler Medien steht bei S CHELLER s (2009) und K ANAPLIANIK s (2016) Untersuchungen des Potenzials von Computeranimationen bei grammatikalischen Erklärungen sowie bei T ODOROVA s (2009) Evaluation eines Sprachlernprogramms (www. uni-deutsch.de) im Zentrum. Auch M ITSCHIAN s (2010) Ausführungen zu Apps in seinem umfassenderen Werk zum M-Learning sind diesem Bereich zuzuordnen. 5 Vgl. auch einzelne Beiträge in N IERADKA / S PECHT (2009) und speziell zum Einsatz historischer Quellen im DaF-Unterricht - darunter auch viele (audio-)visuelle - den Sammelband von H IERONIMUS (2012). Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion 113 47 (2018) • Heft 1 B ÄRENFÄNGER (2014) fragt in seiner Habilitationsschrift nach Modellen des Blended Learning im DaF-Unterricht. Der Informationsfunktion zuzuordnen ist die Arbeit von S UÑER M UÑOZ (2011) zum Einsatz graphischer Übersichten in Hypertexten. Der Kommunikationsfunktion widmet sich M ARQUES -S CHÄFER (2013), sie untersucht fremdsprachliche und interkulturelle Aushandlungen im Chat-Raum des Projekts „JETZT Deutsch lernen“. B IEBIGHÄUSER (2014) fragt in einer Studie zum landeskundlichen Lernen in Second Life u.a. nach der Zusammenarbeit in Gruppen, dem Umgang mit den Aufgabenstellungen und der Rolle der Avatare für Begegnungen in virtuellen Welten (vgl. auch R ÖSLER / W ÜRFFEL 2010 zu Online-Tutorien). Im Vergleich der Untersuchungsschwerpunkte ‚digitale‘ vs. ‚nicht-digitale Medien‘ fällt auf, dass bei Studien zu digitalen Medien der empirische Zugang zum Unterrichtsgeschehen stärker ausgeprägt ist als bei Beiträgen zu nicht-digitalen Medien, die häufiger inhaltliche Analysen oder Unterrichtskonzeptionen präsentieren. 7. Themenfeld „Lehrer(innen)bildung - Professionsforschung“ Im Fach DaF hat W ARNEKE schon 2007 mit ihrer Dissertation zu Aktionsforschung im Studium bzw. Praktikum wichtige Grundlagen für die inzwischen lebhafte Diskussion um Erfahrungsbasiertheit und Reflexion geschaffen (vgl. dazu auch die Beiträge in S CHART / H OSHII / R AINDL 2013). Drei Publikationen beleuchten die DaF- Lehrer(innen)bildung in Mittelosteuropa: M ARCHWACKA (2010) erarbeitet auf der Grundlage einer umfassenden Befragung von DaF-Lehramtsstudierenden, Unternehmer(innen) und Germanistik-Dozent(inn)en in Polen Vorschläge zu einer Integration von Aus- und Weiterbildungsinhalten in den Bereichen Interkulturelle Kompetenz und Wirtschaftsdeutsch in die polnische DaF-Lehrer(innen)bildung. F ELD -K NAPP (2014) untersucht in Ungarn den Wandel der Einstellung von DaF- Lehrer(inne)n zu ihrem Fach und ihrem Beruf, die Motivationsgründe bei der Berufswahl und das individuelle Berufsprofil mit Fokus auf den Werdegang sowie das Aufgaben- und Rollenverständnis. F ELD -K NAPP / B OÓCZ -B ARNA (2016) stellen unter dem Titel „DaF-Lehrerausbildung in Mittel-Osteuropa“ Beiträge zusammen, die insbesondere die Situation in Ungarn ausleuchten, aber auch über Entwicklungen in elf weiteren Ländern berichten. 6 Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten in diesem Feld lässt sich im Bereich von digitalen Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten ausmachen. R ÖS - LER / W ÜRFFEL (2010) fragen in Bezug auf Online-Tutor(inn)en nach wünschenswerten Kompetenzprofilen und nach Möglichkeiten, diese in der Lehrer(innen)ausbildung im Rahmen eines sogenannten elektronischen Praktikums in Verbindung mit entsprechenden Reflexionsangeboten für die angehenden Lehrpersonen zu entwickeln. W ÜRFFEL / P ADRÓS (2012) stellen Beiträge zu den Potenzialen von Blended 6 Einzelne Beiträge zur DaF-Lehrer(innen)bildung in der Region Subsahara-Afrika finden sich in D ALMAS / E ICHINGER / S TEINLE (2014). 114 Karen Schramm 47 (2018) • Heft 1 Learning in der Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenlehrenden zusammen, bei denen Themen wie Filmmaterial, Online-Tutoring und Online-Aufgaben in der Lehrer(innen)bildung behandelt werden. 8. Fazit Abschließend bleibt nach diesem Versuch einer konzisen Bestandsaufnahme insbesondere die thematische Ausdifferenziertheit hervorzuheben, mit der das Lehren und Lernen von DaF inzwischen erforscht wird. Sie ist Ausweis für die erfolgreiche Konsolidierung der vergleichsweise jungen DaF-Didaktik und erscheint auch deshalb besonders bemerkenswert, weil es diese an vielen linguistisch und literaturwissenschaftlich gut aufgestellten Germanistikabteilungen weltweit noch auf- oder auszubauen gilt und weil an deutschsprachigen Universitäten viele Kräfte der DaF/ DaZ- Fachcommunity in diesem Zeitraum mit der Bewältigung gesellschaftlicher DaZ- Herausforderungen gebunden waren. Als erste charakteristische Stärke dieser DaF-didaktischen Forschung ist im Vergleich zur internationalen Englisch als Fremdsprache-Forschung die enge Anbindung an die Linguistik und die Literatur-/ Kulturwissenschaft - wie sie auch andere fremdsprachendidaktische Diskurse in deutscher Sprache kennzeichnet - zu nennen. Wie beispielsweise an den Themenfeldern ‚Rezeption - Produktion - Interaktion‘ oder ‚Lehrwerke - Medien‘ gut erkennbar ist, ermöglicht die enge Anbindung an die Philologien diese didaktische Ausdifferenzierung. Insbesondere sind hier auch die substanziellen Forschungen zu DFnE zu nennen, die für die Entwicklung von Tertiärsprachenforschung und Mehrsprachigkeitsdidaktik auch mit Bezug auf andere Zielsprachen wichtige Impulse setzen konnten. Zweitens fallen regionale Aspekte bei den skizzierten DaF-didaktischen Forschungsaktivitäten stärker ins Gewicht als früher, wie sich insbesondere an der Vielzahl von Studien aus dem (fernost-)asiatischen Raum oder der zunehmenden Erforschung des afrikanischen und des lateinamerikanischen DaF-Kontexts 7 zeigt. Drittens wurde in diesem Überblick deutlich, dass das empirische Methodenspektrum zur Erforschung von DaF-Unterricht im vergangenen Jahrzehnt erweitert und fachspezifisch konkretisiert wurde. 8 Dazu gehört insbesondere die Zunahme von Studien, die Beobachtungs- (insb. Video-) mit Befragungsdaten (häufig introspektiver Art) triangulieren, um emische Perspektiven nachzuzeichnen; quantitative Befragungen, (Quasi-) Experimente und Longitudinalstudien sind dagegen vergleichsweise selten. Anlass zur fachlichen Selbstreflexion erkenne ich darin, dass dem hochschulischen DaF-Bereich deutlich mehr Studien gewidmet werden als dem schulischen, in dem J ULIUS / L UCKSCHEITER (2013) zufolge jedoch 7 Vgl. auch H ERZIG / P FLEGER / P UPP S PINASSÉ / S ADOWSKI (2014). 8 Dies verdeutlichen auch zahlreiche forschungsmethodische Beiträge zur DaF-Didaktik, die hier aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden konnten. Deutsch als Fremdsprache - Ausgewählte Schwerpunkte der didaktischen Diskussion 115 47 (2018) • Heft 1 88% der DaF-Lernenden weltweit zu verzeichnen sind; hier erscheint mir eine entsprechende Verlagerung der Forschungsaktivitäten als dringend angezeigt. Literatur A GOYA -W OTSUNA , Catherine N. (2012): Die Sprachsituation Kenias als Voraussetzung für die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache. Münster: Waxmann. A HN , Eun Young (2010): Literarischer Kanon und Lesen in der Fremdsprache - am Beispiel von Korea. München: iudicium. A LLMAYER , Sandra (2008): Grammatikvermittlung mit Popsongs im Fremdsprachenunterricht. Sprache und Musik im Gedächtnis: Zum kognitionspsychologischen Potential von Strophenliedern für die Grammatikvermittlung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Saarbrücken: Südwest-deutscher Verlag für Hochschulschriften. A LTMAYER , Claus / D OBSTADT , Michael / R IEDNER , Renate / S CHIER , Carmen (Hrsg.) 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Eine Festschrift für Dietrich Krusche. München: iudicium. E WERT , Michael / R IEDNER , Renate / S CHIEDERMAIR , Simone (Hrsg.) (2011): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München: iudicium. F EICK , Diana (2016): Autonomie in der Lernendengruppe. Entscheidungsdiskurs und Mitbestimmung in einem DaF-Handyvideoprojekt. Tübingen: Narr. F EKETE , Olga (2016): Komplexität und Grammatikalität in der Lernersprache. Eine Längsschnittstudie zur Entwicklung von Deutschkenntnissen ungarischer Muttersprachler. Münster: Waxmann. F ELD -K NAPP , Ilona (2014): Universitäre DaF-Lehrerausbildung in Ungarn im Spannungsfeld von Traditionen und neuen Herausforderungen. München: iudicium. F ELD -K NAPP , Ilona / B OÓCZ -B ARNA , Katalin (Hrsg.) (2016): DaF-Lehrerausbildung in Mittel- Osteuropa. München: iudicium. F ORNOFF , Roger (2016): Landeskunde und kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. 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Entwicklung von Unterrichtsmodulen für die interkulturelle und handlungsorientierte Vorbereitung chinesischer Studienbewerber auf das Studium in Deutschland. München: iudicium. © 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Sabine D OFF , Andreas G RÜNEWALD : Wechsel-Jahre. Wandel und Wirken in der Fremdsprachenforschung. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2015, 220 Seiten [26,00 €] Der Sammelband gibt die Diskussionen einer Tagung wieder, die unter demselben Titel im Herbst 2014 an der Universität Bremen stattfand. 17 Beiträger/ -innen versuchen aus unterschiedlichen Perspektiven Antworten auf die Frage zu liefern, ob der Umstand, dass in der letzten Dekade eine große Anzahl von Professuren in der Fremdsprachendidaktik neu besetzt wurde, „zu einem grundlegenden Wandel geführt hat, und wenn ja, auf welchen Ebenen der Disziplin sich dieser widerspiegelt“ (S. 1). Insgesamt liegt hier ein facettenreiches Ensemble von Analysen und Argumentationen vor, die versuchen, das Selbstverständnis der Fremdsprachendidaktik kritisch zu fassen, und eine Reihe von Fragen fokussieren, welcher sich die Disziplin in Zukunft annehmen sollte. Die Beiträge sind in zwei thematische Blöcke gegliedert und auf drei Argumentationsebenen angesiedelt: Unter der Überschrift „Außenperspektive“ werden institutionelle Zusammenhänge erörtert (institutionelle Ebene). Der zweite Block, die „Innenperspektive auf die Disziplin“, versammelt sowohl Beiträge zur Makroebene des Fachs (zweite Ebene), seinen Strukturen, als auch zur Mikroebene (dritte Ebene), den Inhalten und Ideen, die das Fach markieren. Jede dieser drei Ebenen wird durch einen Impulsbeitrag konturiert und durch ausgewählte Einzelbeiträge vertieft, ergänzt oder differenziert. In ihrem Impulsbeitrag aus der nordamerikanischen Außenperspektive fokussiert Barbara S CHMENK mehrere Entwicklungsstränge, die die „Wechseljahre“ der Fremdsprachendidaktik bestimmt und ihre institutionelle Verortung tangiert haben: PISA-Schock und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit haben die Lehrerbildung in den Fokus bildungspolitischen Interesses gerückt und zu einer Aufwertung der Didaktik geführt. Zugleich hat die Veröffentlichung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens Schulen und Hochschulen nicht nur Möglichkeiten internationaler Kooperation eröffnet, sondern diese auch unter einen neuen Zwang zur Messbarkeit und internationalen Vergleichbarkeit gestellt. Als dritte Parallelentwicklung wird der Bologna-Prozess mit der Möglichkeit, neue Modelle der Lehrerbildung zu entwickeln, herausgestellt. Während diese Entwicklungen einer wachsenden Internationalisierung geschuldet seien, erscheine die Fremdsprachendidaktik von außen als isoliert deutsche Erfindung, die allerdings wesentlich zu einer systematischen und wissenschaftlich fundierten Lehrerbildung beiträgt. Als forschungsstarke Disziplin an den Schnittstellen von akademischen, hochschulpolitischen und erzieherischen Wirkungsfeldern sei sie aufgerufen, die Früchte ihrer Arbeit deutlicher zu dokumentieren und international wahrnehmbar in Erscheinung zu treten. Andreas G RÜNEWALD und Katharina V IERRE präsentieren Ergebnisse einer Umfrage von 2014 zur Stellensituation und Ausstattung der Fremdsprachendidaktik an deutschen Hochschulen, die zeigt, dass sich die Situation zwar insgesamt deutlich verbessert hat, dass dies jedoch nicht für die Statusgruppe des Mittelbaus zutrifft, deren Arbeitsbedingungen als lamentabel zu bezeichnen sind. Die folgenden zwei Beiträge thematisieren die Einführung der W-Besoldung und ihre Auswirkung auf die Fremdsprachendidaktik. Nicole M ARX und Birgit S CHÄDLICH bestätigen die erkennbare Aufwertung der Disziplin, kritisieren jedoch zugleich die geringe Wertschätzung, die diese von Seiten der Hochschulleitungen erfährt. Britta V IEBROCK erörtert das Verhältnis der Fremdsprachendidaktik zur „Erfolgsorientierung“ der W-Besoldung unter Schlüsselbegriffen wie „Wertschätzung“, „Wettbewerb“, „Work-Life- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 123 47 (2018) • Heft 1 Balance“ und „Wahnsinn“. Julia S ETTINERI macht sich für eine forschungsmethodische Fundierung empirischer Forschungstätigkeit stark, die in einer systematischen forschungsmethodologischen Ausbildung ihren Ausdruck finden muss. Grundlage ihrer Argumentation bildet eine umfangreiche Inventarisierung forschungsmethodischer Trends sowie vorhandener Angebote forschungsmethodologischer Ausbildung. Eine solide Ausbildung müsse durch inter- und intrauniversitären Austausch von Expertise vorangetrieben werden. Mark B ECHTEL situiert seinen Beitrag zur Bestimmung des disziplinären Selbstverständnisses im Kontext praxisnaher und praxisbegleitender Projekte, in denen Hochschullehrende, Studierende und Lehrkräfte in Forscherteams Fragestellungen aus der Lehr-/ Lernpraxis untersuchen. Solche Netzwerke würden helfen, Forschungskompetenz von Studierenden zu entwickeln, dienten der Nachwuchsförderung und seien produktive Elemente einer forschungsbasierten Aus- und Fortbildung. Die letzten beiden Beiträge dieses ersten Blocks befassen sich am Beispiel Nordrhein-Westfalens mit den Folgen des Praxissemesters. Corinna K OCH argumentiert, dass die „gleichberechtigte Parallelisierung der Förderung theoretischer Reflexionsfähigkeit und des Einübens unterrichtspraktischen Handelns“ (S. 93) die professionelle Kompetenzentwicklung deutlich befördern könne. Markus K ÖTTER hält dagegen, dass die Mängel der Einführung des Praxissemesters vor allem angesichts der begrenzten Stundenkontingente der Fachdidaktik zur Beeinträchtigung fachdidaktischer Lehre und ihrer Inhalte führe. Im zweiten thematischen Block mit einer „Innenperspektive“ auf die Disziplin werden sowohl Strukturen (Makro-Ebene) als auch Ideen und Inhalte (Mikro-Perspektive) erörtert. Der Impulsbeitrag von Helmut Johannes V OLLMER fokussiert das Selbstverständnis der Fremdsprachendidaktik in Bezug auf ihre Etablierung, Institutionalisierung und öffentliche Anerkennung, die von ihrer ausgewiesenen Forschungsleistung als Handlungswissenschaft abhängt. V OLLMER beleuchtet u.a. die Forschungsdokumentation, die Forschungs- und Nachwuchsförderung, die Publikationsformen, die Bedeutung der Fachgesellschaften sowie den prägenden Einfluss einzelner Personen und Personengruppen. Trotz erkennbarer Profilierung des Faches müsse die Disziplin die eigenen Forschungsleistungen umfassender darstellen und über Einzelforschungen hinaus in größeren Verbünden forschend tätig werden. Claudia R IEMER mahnt in ihrem Beitrag „Welche Forschung in der Fremdsprachenforschung? “ an, kritisch zu reflektieren, dass der Forschungsgegenstand nicht zu sehr auf den Bereich des Lehrens und Lernens im Kontext Schule eingeengt wird, sondern alle institutionellen Kontexte auf allen Altersstufen unter Berücksichtigung der Zweitsprachen umfassen müsse. Ferner weist sie auf die Notwendigkeit hin, empirisch praxisnahe und praxisbegleitende Forschung, die sich aus der Reform der Lehrerbildung ergibt, in größere Forschungsverbünde einzubringen, damit auch grundlagenforschungsorientierte Fragen verfolgt und die Forschungsentwicklung selbst vorangetrieben werden können. Solche Vernetzung und Forschungskooperation mit Nachbardisziplinen verlange nicht nur nach wissenschaftlicher Verortung, sondern auch nach forschungsmethodischer Qualifizierung, die mit großem Nachdruck vorangetrieben werden sollte. Sabine D OFF untersucht Qualifikationsschriften im deutschsprachigen Raum 2007-2013 (thematische Trends und Methodologie). Ihre Analyse bestätigt die Zunahme empirischer Arbeiten gegenüber konzeptuell-theoretischer. Ferner stellt sie eine Diversifizierung der untersuchten Fremdsprachen fest (Deutsch als Fremd-/ Zweitsprache, Spanisch und Französisch als Fremdsprache). Zwei Beiträge thematisieren das Verhältnis der Fremdsprachendidaktik zu Nachbardisziplinen. Michaela S AMBANIS versucht eine Brücke zu den Neurowissenschaften zu schlagen. Barbara H INGER zeigt auf der Basis einer umfangreichen empirischen Studie zum schulischen Spanischunterricht, wie im Zusammenspiel von Sprachlehr-, Sprachtest und Spracherwerbsforschung Einsichten in die Lernwirksamkeit von Unterricht 124 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 gewonnen werden können. Lena H EINE plädiert für eine sprachtheoretische und linguistische Fundierung der Fremdsprachendidaktik, die sich in einer neuen Generation von Einführungswerken in der Disziplin niederschlagen müsse. Bernd T ESCH diskutiert die Produktivität der fachdidaktischen „Inter“-Konzepte (Interlanguage und Interaktion) für interdisziplinäre Forschungsvorhaben. Den Abschluss dieses Blocks und damit des gesamten Werks bildet der Beitrag von Christiane F ÄCKE , in dem sie den Verlauf zweier fachdidaktischer Diskurse nachzeichnet (interkulturelles Lernen und Kompetenzorientierung) und verdeutlicht, wie diese in gesellschaftspolitische Kontexte eingebettet und in „Verquickung mit anderen Wissenschaftsdisziplinen geführt“ werden (S. 211). Sie schließt in Thesenform mit Wünschen für die Zukunft der Fremdsprachendidaktik, die auch in anderen Beiträgen angesprochen werden: flächendeckend personelle Ausstattung durch Professuren mit angemessenem Mittelbau, institutionelle Förderung des Nachwuchses, Vernetzung und interdisziplinäre Fundierung der Forschung. Was die Publikation auszeichnet und damit wohltuend von üblichen Sammelbänden abgrenzt, ist das durchgängig erfolgreiche Bestreben der Autor(inn)en, ihre individuellen Beiträge auf die Beiträge anderer zu beziehen. Dies hilft dem/ der Leser/ in, Einzelaspekte in größere Zusammenhänge einzuordnen und auf zentrale Fragen möglichen Wechsels zu beziehen bzw. als Argumente der Selbstverständigung zu verstehen. Dennoch hätten die gut strukturierten Wechseljahre mit anregenden Einzelbeiträgen an Qualität gewonnen, hätte sich das Herausgeberteam zu einer Bilanzierung der Tagung entschlossen und es nicht bei einer knappen Einleitung im Vorwort belassen. Entwicklungsdimensionen und vor allem offene Fragen, die die weitere Diskussion in der Fremdsprachendidaktik als einer forschungsstarken Disziplin leiten sollten, hätten über den Einzelbeitrag hinaus gebündelt und perspektiviert werden können. So ist beispielsweise bemerkenswert, dass die Frage nach internationaler Repräsentation und Rezeption der Disziplin, die von Barbara S CHMENK pointiert angesprochen und von Helmut Johannes V OLLMER mit dem Verweis auf splendid isolation (S. 121) aufgenommen wurde, in den Beiträgen keine Rolle spielt und offenbar auch nicht als Zukunftsaufgabe wahrgenommen wird. Internationale Forschungskooperation findet keine Erwähnung, obwohl sie durchaus in der Fremdsprachendidaktik vertreten ist (z.B. in EU-Projekten im Rahmen von Erasmus). Trotz des Mangels an Bilanz lohnt es sich, in die Beiträge einzutauchen, denn sie vermitteln als Einzelbausteine und in ihrem Bezug aufeinander das Bild einer vielfältigen und höchst lebendigen Disziplin. Gießen M ICHAEL L EGUTKE Tamara Z EYER , Sebastian S TUHLMANN , Roger Dale J ONES (Hrsg.): Interaktivität beim Fremdsprachenlehren und -lernen mit digitalen Medien. Hit oder Hype? Tübingen: Narr 2016 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 288 Seiten [58,00 €] Das Fremdsprachenlernen und -lehren mit digitalen Medien widerspiegelt in zunehmendem Maße unsere im stetigen Wandel begriffene Mediengesellschaft, aus der Interaktivität als vielbemühtes Schlagwort nicht mehr wegzudenken ist. Der vorliegende Sammelband widmet sich der im Untertitel formulierten Frage, ob es sich im Kontext des Fremdsprachenlehrens und -lernens bezüglich des eher diffus verwendeten Interaktivitätskonzeptes und dessen praktischer Umsetzung um einen „Hit oder Hype“ handelt. Elf Beiträge aus der Fremdsprachenforschung Deutsch und Englisch erörtern und hinterfragen linguistische, sprachlehr- / lerntheoretische, methodisch-didaktische sowie empirische Perspektiven auf das Phänomen Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 125 47 (2018) • Heft 1 der Interaktivität. Dieses wird von den Herausgeber/ -innen zu Recht innerhalb eines Panoramas zwischen verheißungsvollem Werbeversprechen und erwiesenem Qualitätsmerkmal des Fremdsprachenlehren und -lernens verortet (vgl. S. 11). So bemühen sich Roger D. J ONES , Sebastian S TUHLMANN und Tamara Z EYER im ersten Beitrag des Bandes um eine terminologische Aufarbeitung und Präzisierung des Interaktivitätsbegriffs. Dessen Schärfung vollziehen sie unter Einbezug der medien- und lerntheoretischen Auseinandersetzung mit den Begriffen der Interaktion und der Kommunikation im Zusammenspiel mit den Aspekten Zielpublikum, interpersonelle Beziehungen und Multimodalität. Weiterhin diskutiert das Autor(inn)enteam Teilmengen der Interaktivität, wobei insbesondere auch die Funktionen von lernförderlicher Interaktivität herausgearbeitet werden. Insgesamt lässt die Begriffsanalyse leider eine klare Abgrenzung zum oft parallel verwendeten Konzept der Digitalität vermissen. Die Autor(inn)en des Bandes bauen auf dem von Z EYER , S TUHLMANN und J ONES herausgearbeiteten Verständnis von Interaktivität auf oder präzisieren sprachlernbezogen weiterführende Versionen, wie im Falle des Beitrags von Sebastian K ILSBACH . Anhand vergleichender etymologischer und lexikographischer Betrachtungen sowie Frequenzanalysen in alltags- und fachsprachlichen Korpora zeigt er auf, dass die steigende Nutzungsfrequenz des Wortfeldes „interaktiv“ immer mit einer definitorischen Reflexion der Termini (so z.B. zum „Scheinpendant“ Interaktion) einhergeht. Dementsprechend kann er vorerst keine „Sloganisierung“ des Interaktivitätsbegriffs konstatieren. Dietmar R ÖSLER greift in seinem Beitrag die in der Fremdsprachendidaktik maßgeblichen Konzepte „Computer Assisted Language Learning“ (CALL) und „Computer Mediated Communication“ (CMC) auf. Erstgenanntes bezieht die sich auf die sprachlernbezogene Interaktivität zwischen Mensch und Computer, während CMC die sprachlernförderliche computervermittelte Interaktion zwischen Menschen umfasst. Nach einem Überblick über prototypische Aufgaben- und Übungsformen für CALL und CMC stellt R ÖSLER die zunehmende Durchmischung beider Ansätze am Beispiel komplexer digital-interaktiver Lern- und Interaktionsformen wie Serious Games oder virtueller Sprachlerncommunities dar. Überzeugend legen die Ausführungen unter Verweis auf die zunehmende Selbststeuerung des Fremdsprachenlernens und -lehrens nahe, dass sich das Zusammenspiel von medienvermittelter Interaktivität und Interaktion in digitalen Lernumgebungen zukünftig weiterhin der Frage nach der Spezifik und Qualität der (virtuellen) Lehrendenrolle stellen muss. Im Bereich der CMC ist die Online-Interaktionsstudie von Christine B ECKER zu asynchronen Diskussionsforen im universitären Landeskundeunterricht angesiedelt. Die Verfasserin belegt durch die Analyse von Foreneinträgen unter Hinzuzug von retrospektiven Lernendeninterviews vielfältige Interaktionsmuster sowie von der intendierten Aufgabenstellung abweichende individuelle Ziele der Forennutzung. Die initiale These, dass bei genuiner Interaktion (3-schrittig: A-B-A) der Lernmehrwert am höchsten sei, ließ sich nicht bestätigen, da in den Online-Daten darüber hinaus gehende Lernformen bzw. -anlässe bei der Forennutzung ersichtlich wurden. Hierbei scheint die präzise Forumsaufgabenkonstruktion essentiell für die Verwendung von Beiträgen zum Zwecke der Lösung bzw. Bedeutungsaushandlung von sprachlernbezogenen Problemen oder zu einer wissenskonstruierenden Replik auf eine initiale (landeskundedidaktisch motivierte) Textbearbeitung zu sein. Katrin B IEBIGHÄUSER nähert sich theoriereflexiv den Konzepten der Interaktivität und Interaktion am Beispiel der virtuellen Figuren der (nutzergesteuerten) Avatare und Agenten (z.B. in Form von vorprogrammierten Lernbegleitern). Dabei zeigt sie konzeptuell fundiert unter Rückgriff auf den Immersionsbegriff auf, welche unterschiedlichen Potenziale Avatare und Agenten zum Fremdsprachenlernen bereithalten. Einen besonderen Mehrwert schreibt 126 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 B IEBIGHÄUSER dabei Agenten mit hoher Adaptivität sowie Avataren mit hoher didaktischer Interaktivität zu. Einen auf der digitalen Spieltheorie basierenden Modellierungsversuch von interaktiven Medien zum Fremdsprachenlernen und -lehren unternimmt Roger Dale J ONES in seinem Beitrag. Hierfür betont er die interaktive Wechselseitigkeit der Lernenden als Spielende mit den sie umgebenden Sprachlernwelten und deren jeweils inhärenten (Spiel-)Regeln. Spielbasierte, aber auch traditionelle digitale Formen des Wortschatzlernens untersucht Susanne K RAUS am Beispiel von Glossaren, Nachschlagwerken, Vokabeltrainern und Übungssammlungen. Sie stellt, nach einer gelungenen wortschatzlerntheoretischen Verortung, deren Interaktivität auf den Prüfstand. Dabei verwendet sie die Metapher des „interaktiven Knotens“ und visualisiert sieben Schritte der digitalen Wortschatzarbeit in einer Art dreidimensionalem Flussdiagramm. Die drei Dimensionen Reaktivität, Proaktivität und Adaptivität beim Einsatz der o.g. digitalen Ressourcen können somit nachvollzogen und bewertet werden. Um die Perspektive der Rezipienten eines interaktiven A1-Grammatiklernangebots erweitert Tamara Z EYER ihre Mediennutzungsstudie. Besonders überzeugt hier die lernendenseitige Reflexion und Evaluation der Lernförderlichkeit bestimmter interaktiver Elemente und Interaktionsformen der Software. Diese basiert im Gegensatz zu den bisher meist behavioristisch angelegten digitalen Grammatiklernangeboten auf den Prinzipien des entdeckenden Lernens. Inke S CHMIDT und Carolyn B LUME widmen sich in ihrem Beitrag der Sprechfertigkeit und deren Förderpotenzialen am Beispiel der drei Sprachlernprogramme Babbel, Busuu und Scoyo. Mittels des gewählten Playtesting-Ansatzes stellen sie fest, dass in keinem der Fälle das Werbeversprechen des Sprechfertigkeitstrainings der Hersteller/ -innen eingelöst wird. Vielmehr handelt es sich bei den angebotenen Sprechaktivitäten um Aussprachetrainings ohne überzeugende Feedbackfunktionen. Weniger ernüchternd beurteilen Simon F ALK und Sandra G ÖTZ die Ergebnisse ihrer Onlineumfrage zur Interaktion und Interaktivität unter Nutzer/ -innen der Sprachlernapp Duolinguo. Hier scheinen die multimodalen, interaktiven, personalisierenden und communitybasierten Elemente der auf Grammatik-Übersetzungs-Prinzipien fundierenden Software zu einer positiven Bilanz der selbsteingeschätzten Effektivität des Sprachenlernens zu führen. Schließlich eruieren Nora B ENITT und Torben S CHMIDT im letzten Beitrag des Bandes das Interaktivitätspotenzial von Videokonferenzen innerhalb eines Blended Learning-Seminars in der Englischlehrer(innen)ausbildung. Dabei stellt sich heraus, dass das Konferenzsystem zwar Interaktionsräume für den Dialog zwischen den beteiligten Akteuren eröffnet, dies aber von den Befragungsteilnehmenden nicht als interaktives Instrument im Sinne der Mensch- Maschine-Interaktion wahrgenommen wird. Daher plädieren B ENITT und S CHMIDT folgerichtig im Hinblick auf Videokonferenzen für die Erweiterung des Interaktivitätsbegriffes im Sinne der computervermittelten Interaktion zwischen Menschen. Der Mehrwert von Videokonferenzsystemen in der Lehrer(innen)ausbildung wird dementsprechend vor allem in der Ermöglichung eines Raumes der Begegnung zwischen Studierenden und Praktiker/ -innen verortet. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Band die interaktivitätsbezogene Vielfalt in der Grauzone zwischen „hit und hype“ angemessen ausleuchtet. Das Problem der uneinheitlichen Verständnisse und konzeptuellen Vermischung von Interaktion und Interaktivität wird dabei nicht vollständig auflöst, sondern vielmehr an einer Facette von Studien und theoretischen Reflexionen illustriert. So ist das wesentliche Verdienst der Publikation, die verschiedenen Ausprägungen von bzw. Sichtweisen auf Interaktivität theoretisch weiter auszudifferenzieren, mit empirischen Befunden zu belegen und damit auch konsequent vorhandene Grenzen auf- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 127 47 (2018) • Heft 1 zuzeigen sowie hinsichtlich didaktisch-methodischer Konsequenzen weiterzuentwickeln. Der Band stellt sowohl für Wissenschaftler/ -innen und Studierende als auch für Lehrpersonen einen inspirierenden Einblick in den Stand der fremdsprachenspezifischen digitalen Medienforschung dar. Auckland D IANA F EICK Jochen P LIKAT : Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt/ M.: Peter Lang Verlag 2017, 336 Seiten [75,95 €] Bei der Dissertationsschrift von Jochen P LIKAT handelt es sich um eine theoretische Arbeit, die einen Beitrag zur fremdsprachendidaktischen Theoriebildung leisten möchte. Ausgangspunkt für die Studie ist ein in Kapitel 1 ausführlich begründetes Unbehagen in Bezug auf existierende Konzepte von Interkulturalität innerhalb der Fremdsprachendidaktik. Hauptkritikpunkte betreffen „überholte Kulturvorstellungen“ (S. 38) sowie ein Theoriedefizit im Hinblick auf das Dilemma von Relativismus und Universalismus. Vor diesem Hintergrund bearbeitet der Autor drei Forschungsfragen: 1. Wie sind ausgewählte Ansätze interkultureller Fremdsprachendidaktik hinsichtlich verschiedener Kulturverständnisse zu beurteilen? 2. Wie sind ausgewählte Ansätze interkultureller Fremdsprachendidaktik hinsichtlich des Dilemmas von Universalismus und Kulturrelativismus zu beurteilen? 3. Wie könnte ein Zielkonstrukt für den Fremdsprachenunterricht beschaffen sein, das sowohl ein zeitgemäßes Kulturverständnis als auch einen reflektierten Umgang mit dem Dilemma von Universalismus und Kulturrelativismus anbahnt? (S.38) Bei der Bearbeitung dieser Fragen geht der Autor folgendermaßen vor: Im Hinblick auf die erste Forschungsfrage stellt er in Kapitel 2 zunächst verschiedene Kulturbegriffe dar, wobei er sich stark an den Arbeiten von Andreas R ECKWITZ orientiert und die Frage in den Mittelpunkt rückt, inwieweit bei den verschiedenen Konzepten von Kultur die Kontingenz kultureller Phänomene transparent gemacht wird. In einem Exkurs geht der Autor auch auf das Konzept der Transkulturalität ein, wobei er sich hier in besonderer Weise auf die Theorien von Wolfgang W ELSCH bezieht. Im Hinblick auf Forschungsfrage 2 folgt eine kritische Auseinandersetzung mit kulturrelativistischen Positionen, die nach P LIKAT sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch der Fremdsprachendidaktik häufig zugrunde gelegt, aber theoretisch ungenügend bearbeitet wurden.Auf der Basis dieser theoretisch-kulturwissenschaftlichen Erörterungen analysiert der Autor dann in Kapitel 3 ausgewählte Theorieansätze zu interkulturellem Lernen und interkultureller Kompetenz, so wie sie in fremdsprachendidaktischen Kontexten vorgelegt wurden. Dies sind a) die im Gießener Graduiertenkolleg entwickelte Didaktik des Fremdverstehens, b) das Konzept der Thirdness und der Symbolic Competence von Claire K RAMSCH , und c) der Theorieansatz der Intercultural Communicative Competence von Michael B YRAM . Dies geschieht durchgängig im Hinblick auf die Frage, inwieweit in den vorliegenden Ansätzen nach Ansicht des Autors akzeptable Kulturkonzepte zugrunde gelegt werden bzw. inwieweit das Dilemma von Universalismus und Kulturrelativismus reflektiert bzw. angemessen gelöst wird. Als Ergebnis dieser kritischen Analyse konstatiert der Autor, dass keine dieser Positio- 128 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 nen im Hinblick auf die Forschungsfragen als zufriedenstellend bezeichnet werden kann. In Kapitel 4 folgt dann die Beschäftigung mit Forschungsfrage 3, also der Frage, wie ein Zielkonstrukt für den Fremdsprachenunterricht beschaffen sein kann, das sowohl ein zeitgemäßes Kulturverständnis als auch einen reflektierten Umgang mit dem Dilemma von Universalismus und Kulturrelativismus anbahnt. Der Autor wählt dafür als zentrales Konzept das Konzept Diskurs, von dem er annimmt, dass es die beschriebenen Unzulänglichkeiten des Kulturkonzepts zu überwinden in der Lage ist. Auch hier erfolgt nun zunächst eine ausführliche Darstellung verschiedener Diskurstheorien, wobei der Autor vor allem an die sozialphilosophischen Diskurstheorien von M. F OUCAULT und N. F AIRCLOUGH anschließt. Daneben wählt er - in kritischer Abgrenzung zum Konzept der Kompetenz - den Ansatz von Awareness, so wie er in der language awareness-Tradition entwickelt wurde. Das somit sich herauskristallisierende Konstrukt der Diskursbewusstheit wird darüber hinaus an die Theorie der transformatorischen Bildung nach Hans-Christoph K OLLER angebunden. Die Studie schließt mit kurzen Überlegungen zur Empiriefähigkeit und zur didaktischen Umsetzung des Konstrukts „Diskursbewusstheit“ sowie mit einem knapp gehaltenen Fazit, in dem „Fremdsprachliche Diskursbewusstheit“ visuell in Form eines Modells dargestellt wird (S. 299) und in dem die Bedeutung der Menschenrechte als normative Grundlage noch einmal besonders betont wird. Insgesamt gesehen handelt es sich bei dieser Studie um eine gründlich durchdachte und kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Interkulturalität an sich und vor allem mit der Art und Weise, wie dieses Konzept in fremdsprachendidaktischen Kontexten aufgegriffen und implementiert wurde. Der Autor zieht eine beeindruckende Menge an Literatur heran, die er in der Regel ausgesprochen detailliert darstellt und analysiert. Allerdings überrascht, dass er sich bei der Kritik am Kulturkonzept (Kapitel 2.1.) fast ausschließlich auf die Positionen von Andreas R ECKWITZ und Wolfgang W ELSCH stützt und teilweise m.E. unkritisch deren Darstellungsweisen übernimmt, wie etwa den ahistorischen Umgang mit J.G. H ERDER , der im Übrigen kaum im Original zitiert wird und der nur zu wiederholten Malen als der Vertreter essentialisierender Kulturkonzepte herhalten muss. Es ist von Anfang an klar, dass die Darstellungen kulturorientierter Ansätze in einer grundsätzlich kritischen Haltung erfolgen. Der Leser ist sich bewusst, dass der Autor seine Analysen perspektivisch anlegt und entsprechend den Forschungsfragen spezifische Aspekte in den Mittelpunkt rückt, andere aber eher ausblendet. Dies führt u.a. dazu, dass etwa die historische Perspektive, d.h. die (Weiter-)Entwicklung fremdsprachendidaktischer Leitkonzepte - gerade durch interkulturelle Ansätze! - weniger Würdigung erfährt. Einflussreiche und international breit aufgegriffene Konzepte (wie z.B. das Konzept der Communicative Intercultural Competence von Michael B YRAM ) werden kaum in ihrer generellen Bedeutsamkeit für die fremdsprachendidaktische Theoriebildung und Unterrichtspraxis in den Blick genommen, sondern vielmehr unter einer sehr spezifischen Fragestellung kritisch analysiert. Der Autor geht selbst kurz auf diese Problematik ein, wenn er sagt: „Bei aller Kritik sind jedoch die Verdienste des cultural turn in der Fremdsprachendidaktik zu nennen. Interkulturalität als Zielkonstrukt fremdsprachlichen Lernens hat dazu geführt, dass frühere landeskundliche Ansätze hinterfragt und allmählich durch komplexere Ansätze ersetzt wurden“ (S. 192). Als jemand, der selbst intensiv zu den hier erörterten Fragen gearbeitet hat (z.B. Hu 1999) und aktives Mitglied des in der Studie erwähnten Gießener Graduiertenkollegs Didaktik des Fremdverstehens war (es ist im Übrigen schade, dass in der Studie die zahlreichen Publikationen des Kollegs auf Lothar B REDELLA beschränkt bleiben), teile ich weitgehend die Kritik an Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 129 47 (2018) • Heft 1 bestehenden Konzepten der Interkulturalität und kann auch die Hinwendung zum Diskurskonzept nachvollziehen. In H U 1999 habe ich mich damals mit kritischen Positionen zur Interkulturalität auseinandergesetzt und ebenfalls das diskursive Element hervorgehoben: „Kulturen in diesem Sinne sind keine vorgefundenen Gegebenheiten, sondern ,diskursive Ereignisse‘ […] Ich würde in diesem Sinne dann von Interkultureller Kommunikation sprechen, wenn sich GesprächspartnerInnen über kulturelle Entwürfe, Abgrenzungen, Werte oder Normen austauschen, streiten oder wenn sie sich selbst innerhalb dieser Entwürfe in ihrer Identität verorten. Entscheidend ist also nicht die ethnische Herkunft der Beteiligten, sondern die Qualität des stattfindenden Diskurses“ (Hu 1999, 298). Dennoch zweifle ich daran, dass das Kulturkonzept im Sprachenunterricht ausgeblendet werden kann. Wie auch immer geartete Vorstellungen von Kultur bzw. Kulturen sowie das Bedürfnis nach kultureller Verortung und Identität sind alltagssprachlich und somit auch in den Köpfen der Schüler/ -innen verankert und müssen reflektiert werden. Auch ist zu befürchten, dass das Diskurskonzept, das wie der Autor selbst schreibt, ausgesprochen vieldeutig und darüber hinaus sehr akademisch ist (S. 194), schwer in der Fremdsprachendidaktik bzw. Unterrichtspraxis implementierbar sein würde. Auch dies konstatiert der Autor selbst, wenn er schreibt: „In der vorliegenden Arbeit wird Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als ein solches Konstrukt entworfen. Die Brauchbarkeit dieses Konstrukts wird erst im Licht zukünftiger Diskussionen und Forschungsbeiträge beurteilt werden können“ (S. 42). Auffällig ist, dass in der vorliegenden Abhandlung Fremdsprachenunterricht in erster Linie als politische Erziehung bzw. Demokratieerziehung verstanden wird. Dies sind in der Tat wichtige Zielsetzungen von sprachlichem Lernen und Lehren, allerdings bleiben andere zentrale Aspekte am Rande. Z.B. thematisiert der Autor die Frage der Sprachkompetenz nicht, die aber für die Arbeit an der Diskursbewusstheit vorausgesetzt werden müsste. Es bleibt offen, ob der vorgelegte Ansatz nur für extrem fortgeschrittene Lerner geeignet wäre. Obwohl es in weiten Teilen der Studie so erscheint, bleibt letztlich unklar, inwieweit der Autor tatsächlich ‚Kultur‘ als Kategorie aus dem Fremdsprachenunterricht verbannen will bzw. inwieweit die Arbeit an der Diskursbewusstheit nicht viel mehr ein Mittel ist, um letztlich zu differenzierten und nicht essentialisierenden Kulturkonzepten zu gelangen: „Das Zielkonstrukt Fremdsprachliche Diskursbewusstheit hätte daher das Potential, ein bedeutungs- und wissenschaftliches Kulturverständnis anzubahnen, ohne dabei mit dem immer wieder zu Missverständnissen führenden Kulturbegriff arbeiten zu müssen“ (S. 220). Insgesamt gesehen handelt es sich bei der Dissertation von Jochen P LIKAT um eine äußert lesenswerte Abhandlung, die einen wertvollen Beitrag zur fremdsprachendidaktischen Theoriebildung leistet. Wichtige Positionen werden kritisch analysiert, und zentrale Fragen interkulturellen Lernens werden gründlich durchdacht. Wichtig wäre es in einem nächsten Schritt, den Bezug zur Schule stärker herzustellen und didaktische Beispiele zu entwickeln, wie die Anbahnung von Diskursbewusstheit bzw. Kulturbewusstheit bei Schüler(inne)n mit zunehmend plurilingualen Repertoires konkret aussehen könnte. Luxemburg A DELHEID H U 130 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 Solveig C HILLA , Karin V OGT (Hrsg.): Heterogenität und Diversität im Englischunterricht. Frankfurt/ M.: Peter Lang 2017 (Kolloquium Fremdsprachenunterricht), 294 Seiten [€ 36,00] Heterogenität und Diversität erhalten vor dem Hintergrund von Inklusion und verstärkter Flüchtlings-Migration eine neue Dimension für jede Art von Unterricht und bieten insbesondere für den Englischunterricht neue Herausforderungen. Der vorliegende, von Solveig C HILLA und Karin V OGT herausgegebene Band versammelt daher eine Reihe von Beiträgen, die sich mit verschiedenen Dimensionen von Heterogenität und Diversität beschäftigen. Dabei wird ein Bogen gespannt, der mit einem Blick auf frühere Erfahrungen mit Heterogenität beginnt (H ERMES ), einen vergleichenden Blick auf die norwegischen felleskole wirft (D OETJES ), Heterogenität interdisziplinär betrachtet (C HILLA und V OGT ) und selbstständiges Lernen als wesentliches Moment der Individualisierung erkennt (S CHUBERT ). Im weiteren Verlauf werden Implikationen für die (Fort-)Bildung von Fremdsprachenlehrkräften erörtert (R ÄDER ), Sprachlernklassen mit ihren Entwicklungsperspektiven diskutiert (R UHM ) und digitale Medien wie die Web 2.0 Tools (E ISENMANN ) geprüft. Die dann folgenden drei Beiträge beschäftigen sich konkret mit Heterogenität in der Primarstufe. Es werden tabletgestützte Lernaufgaben (D AUSEND und N ICKEL ), offene Lernaufgaben für inklusiven Grundschulunterricht (R ECKERMANN ) sowie der Mehrsprachenerwerb im CLIL-Unterricht der Primarstufe (B ELLET ) in den Blick genommen. Den Abschluss macht ein Beitrag zur inklusiven Literaturdidaktik in der Sekundarstufe I (N IERAGDEN ). C HILLA und V OGT weisen auf die starke Forschungsaktivität in der Bildungswissenschaft in Bezug auf Heterogenität und Inklusion hin und formulieren als Ziel des vorliegenden Bandes, die erst beginnende empirische und konzeptionelle Aufarbeitung dieser Herausforderungen für die Fremdsprachendidaktik, insbesondere der Fachdidaktik Englisch, mit der bildungswissenschaftlichen Perspektive zusammenzuführen (S. 7). In den einzelnen Beiträgen wird diese angestrebte Zusammenschau der Perspektiven mit unterschiedlichem Erfolg realisiert. Besonders hervorzuheben sind diejenigen Aufsätze, in denen es gelingt, Theorie und Praxis des Englischunterrichts aufeinander zu beziehen. Für besonders bedeutsam halte ich in dieser Hinsicht den ersten Beitrag von Liesel H ERMES zur „Heterogenität damals und heute“. Ihre kritischen Bemerkungen zur Binnendifferenzierung sind einleuchtend: Wenn von Anfang an nach Leistungsniveau differenziert wird, öffnet sich die Leistungsschere der Schülerinnen und Schüler rasch, weil vor allem „der mündliche Sprachgebrauch, das Üben und Wiederholen eines grundlegend produktiv verfügbaren Vokabulars [...] hinter individuellen schriftlichen Aufgaben“ zurücksteht (S. 20). H ERMES geht auch mit Lehrwerken streng ins Gericht und führt überzeugend aus, dass Lernerautonomie gerade den schwächeren Lernenden keineswegs zugute komme, da das Hörverstehen und die Ausspracheschulung zu kurz kämen (S. 22). Auch der Beitrag von Meike R ÄDER muss gesondert erwähnt werden, da hier Differenzierung und Individualisierung sinnvoll voneinander getrennt werden. Als weniger zielführend erachte ich jedoch ihren Hinweis, dass Grundschullehrkräften die Bedeutung einer Orientierung am Kernlehrplan verdeutlicht werden sollte (S. 126). Sicher ist eine Orientierung am Kernlehrplan wichtig, aber gerade im Grundschulbereich ist er recht vage und stellt m.E. keine überzeugende Orientierung dar. Eine äußerst hilfreiche und dezidierte Begriffsbestimmung des Terminus’ „Heterogenität“ liegt darüber hinaus im Aufsatz von Solveig C HILLA und Karin V OGT vor (vor allem S. 57- 63). Die beiden Autorinnen weisen aus bildungswissenschaftlicher Perspektive auf die verschiedenen Bedeutungskomponenten des Terminus hin und verdeutlichen damit die Relevanz, Heterogenität nicht als diffuses Schlagwort zu verstehen, sondern in jedem konkreten Fall Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 131 47 (2018) • Heft 1 genau zu schauen, welcher Bedeutungsaspekt der Heterogenität in einem konkreten Fall tatsächlich relevant ist. In dieser Hinsicht ist auch das konkrete Beispiel einer stotternden Schülerin und der am ehesten angemessene Umgang mit ihr für den Fremdsprachenunterricht aufschlussreich und wichtig (S. 66f.). Eine sehr gelungene Verknüpfung von Theorie und Praxis liegt auch mit dem Aufsatz zum TET (Teaching English with Tablets) von D AUSEND und N ICKEL vor. Die Autorinnen berichten von einem Projekt, in dem Grundschülerinnen und Grundschüler mit einer Auswahl an story-making Apps arbeiten. Dabei geht es u.a. darum, kleine Videofilme herzustellen, dafür Charaktere und Hintergründe auszuwählen, Texte einzusprechen und damit Geschichten zu erzählen. Es wird aufgezeigt, wie derartige Aktivitäten für starke und schwächere Schülerinnen gleichermaßen geeignet sind (S. 196). Vor allem erscheint mir der Hinweis bedeutsam, dass die Art der Lernaufgabe zentral für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler ist. Lehrkräfte tendieren laut D AUSEND und N ICKEL häufig dazu, sich aufgrund ihrer Strukturiertheit zu sehr auf die jeweilige App zu verlassen und dabei Vorentlastung und Scaffolding zu vernachlässigen sowie eine zu vage Aufgabenstellung zu wählen (S. 198f.). In dieser Hinsicht ist der Beitrag von D AUSEND und N ICKEL erheblich hilfreicher als z.B. die Ausführungen von E ISENMANN über Web 2.0 Tools im vorliegenden Band. Sie führt aus, „der Einsatz von digitalen Medien als binnendifferenzierende und inkludierende Maßnahme in aufgaben- und standardorientierten Lernkontexten kann die Unterrichtsqualität in einer positiven Weise beeinflussen, weil dadurch selbstgesteuertes und kooperatives Lernen sowie der Einsatz von offenen Unterrichtsformen gefördert wird.“ (S. 157). Dazu ist zu sagen, dass der Einsatz digitaler Medien selbst noch keine binnendifferenzierende und inkludierende Maßnahme darstellt. Zudem wird überhaupt nicht deutlich, inwieweit Schülerinnen und Schüler mit Sprachproblemen und/ oder Lernbeeinträchtigungen selbstgesteuert und kooperativ lernen sollten. R ECKERMANN weist daher zu Recht in ihrem Beitrag („Eine Aufgabe - 25 richtige Lösungen“) darauf hin, dass Kindern an vielen Stellen des Unterrichts Offenheit angeboten werde; dennoch müsse die Bearbeitung von Aufgaben strukturiert sein. „Struktur wird durch Transparenz, klare Arbeits- und Verhaltensregeln, genaue Planung, das Einbetten der Aufgabe in einen Kontext und kontinuierliche Begleitung der Lernenden und durch die Lehrperson gewährleistet.“ (S. 220). Es erscheint mir wichtig, dass die an anderer Stelle geforderte Offenheit des Unterrichts und die mehrfach beschworene „Selbststeuerung“ durch die von R ECKERMANN genannten Maßnahmen gerade im inklusiven Unterricht relativiert und dadurch realistischer eingeschätzt werden. In gewisser Weise richtet sich S CHUBERT in ihrem Beitrag zum selbstständigen Lernen gegen die von R ECKERMANN genannte Strukturierung und fordert eine Abkehr vom starren, regelhaft ablaufenden und eng durch die Lehrkraft geführten und kontrollierten Unterricht (S. 87). Auch hier zeigt sich jedoch, dass S CHUBERT s Überlegungen ohne Bezug auf eine konkrete Lerngruppe formuliert werden. Das wird auch in ihren Vorschlägen zum Stationenlernen deutlich, in denen es darum geht, Informationen zu Sehenswürdigkeiten Irlands zu beschaffen und eine Hotelreservierung vorzunehmen (S. 94). Letztere Aufgabe entspricht eher nicht der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern der Altersstufe, von der S CHUBERT hier offenbar ausgeht. Fazit: Insgesamt enthält der vorliegende Band Heterogenität und Diversität im Englischunterricht eine gute Auswahl von Beiträgen, die z.T. recht unterschiedliche Ebenen des modernen Englischunterrichts in den Blick nehmen, eines Unterrichts, der mehr denn je von Heterogenität geprägt und in inklusiven Settings erheblichen Herausforderungen ausgesetzt ist. Besonders positiv hervorzuheben sind die Beiträge, die auf theoretischer Ebene sehr differenziert mit der gegebenen Terminologie arbeiten, sowie die empirischen Untersuchungen, in 132 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 denen konkrete Unterrichtsszenarien analysiert werden. In diesen Aufsätzen nähern sich die Autorinnen und Autoren dem von den Herausgeberinnen formulierten Ziel, bildungswissenschaftliche Perspektiven mit den theoretischen und praktischen Implikationen für den Englischunterricht zu verknüpfen. In einigen wenigen Beiträgen jedoch werden pauschalisierende Forderungen formuliert, die sich letztendlich nicht ohne weitere Spezifizierungen gewinnbringend auf die Praxis beziehen lassen und daher weniger aussagekräftig sind. Köln A NDREAS R OHDE Elizabeth E LLIS : The Plurilingual TESOL Teacher. The Hidden Languaged Lives of TESOL Teachers and why they Matter. Boston/ Berlin: de Gruyter Mouton 2016 (Trends in Applied Linguistics; 25), 313 Seiten [99,95 €] Während der Englischunterricht in Kontinentaleuropa, insbesondere an Schulen, auch heute noch, fast ausschließlich von Nichtmuttersprachlern des Englischen erteilt wird, legte man in anderen Regionen der Welt, z.B. Japan, sehr hohen Wert darauf, dass vor allem Muttersprachler des Englischen die Fremdsprache Englisch unterrichteten. Letzteres gilt größtenteils auch weiterhin für den Englischunterricht als Zweitsprache in den ‚BANA‘-Ländern, d.h. Großbritannien, Australien, Nordamerika. Muttersprachler des Englischen zu sein, war somit eine essenzielle Voraussetzung für diesen Typ Englischlehrer. Die quasi-absolute Priorisierung des Faktors Sprache bedeutete, dass fremdsprachendidaktische Kenntnisse des Englischen als vernachlässigenswert im Vergleich zur englisch-muttersprachlichen Herkunft der Lehrer/ -innen eingeschätzt wurden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass z.B. deutsche Fremdsprachenlehrer/ -innen immer über Kenntnisse in mindestens einer oder mehrerer Fremdsprache/ n verfüg(t)en und somit eigene Fremdsprachenlernerfahrungen und mehrsprachige Kompetenzen vorweisen konnten bzw. können. Der Nachweis von über das Englische hinausgehenden Fremdsprachenkenntnissen ist bekanntlich eine wichtige Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme eines Fremdsprachenstudiums in Deutschland, während dieser Faktor, d.h. Mehrsprachigkeit der Studierenden, auch heute keine wesentliche Rolle in den entsprechenden TESOL-Ausbildungsgängen spielt. Insofern betritt Elizabeth E LLIS mit ihrer Studie zum mehrsprachigen TESOL-Lehrer (Teaching of English to Speakers of other Languages) Neuland, zumindest für die Länder, in denen das Englische als Erstsprache fungiert. Die auf insgesamt elf Kapitel angelegte Monographie beginnt mit einem Einführungskapitel, in dem der sprachbiographische Hintergrund der Verfasserin, das Anliegen und die Ziele des Buches sowie der Adressatenkreis angesprochen werden. Nach einem 1980 in London abgeschlossenen TESOL-Ausbildungsgang, in dem die Mehrsprachigkeit der Lehrer/ -innen als nicht relevant für den Englischunterricht erachtet wurde, begann Ellis unter Bezug auf ihre eigenen Sprach(lern)biographie an der Gültigkeit dieser Auffassung zu zweifeln: Sie hatte Französisch und Deutsch in Sidney studiert und ebenfalls Italienisch und Spanisch gelernt, auch weil sie es herausfordernd und attraktiv fand, „in einer anderen Sprache zu leben“. Sie empfand es deshalb als Widerspruch, dass ihr in der TESOL-Ausbildung vermittelt wurde, dass man keine Fremdsprachenlernkenntnisse benötige, um das Englische als Fremdbzw. Zweitsprache zu lehren. Konsequenterweise verwirft Ellis diesen Ansatz und argumentiert stattdessen, dass mehrsprachige Lehrer eine größere language awareness wie auch language learning awareness besäßen und dass fremdsprachliche Lernerfahrungen zu einer den Unterricht positiv beeinflussenden Lehreridentität beitrügen. Das wiederum stützt auch die zentrale These des Buches, dass die Unterscheidung von mutter- und nichtmuttersprachlichen TESOL- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 133 47 (2018) • Heft 1 Lehrer/ -innen von ihr als nicht sonderlich relevant angesehen wird, sondern dass für den Lehr- und Lernerfolg die wichtigere Unterscheidung die zwischen mehr- und einsprachigen Lehrpersonen sei. Die Überprüfung dieser Annahme gründet sie auf drei Untersuchungen zu ein- und mehrsprachigen Lehrer/ -innen sowie der Analyse der einschlägigen angewandt-linguistischen Literatur zu diesem Thema. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: „[T]eachers who are active learners and users of second languages have greater metalinguistic knowledge, greater awareness of language and a deeper understanding of what learning a second language means, at linguistic, sociolinguistic and emotional levels“ (S. 3). Das Buch wendet sich an in der TESOL-Ausbildung tätige Dozent(inn)en und Studierende wie auch an TESOL-Unterrichtende in der Absicht, dass sie alle die Vorteile mehrsprachiger Lehrer/ -innen erkennen mögen. Kap. 2 („The TESOL profession as a monolingual monolith“) zeigt auf, wie die Einsprachigkeit der TESOL-Lehrenden als ein durchgehendes Prinzip die Ausbildung und Unterrichtspraxis dieser Englischlehrer in allen Ländern mit Englisch als Erstsprache dominiert, mit Ausnahme Neuseelands, wo Fremdsprachenkenntnisse als „wertvoll“ angesehen werden. Im Zentrum des dritten Kapitels („Three studies of TESOL teachers’ linguistic identities“) steht die Vorstellung der drei erwähnten Untersuchungen, die an unterschiedlichen Orten in Australien (vier Großstädte), in sieben über den Globus verteilten Ländern (Japan, Indonesien, Kanada, Südkorea, Schottland, Ecuador, Vereinigte Arabische Emirate) und dem australischen Bundesstaat New South Wales wie auch mit unterschiedlichen Methoden (Unterrichtsbeobachtung, Interview, Online-Befragung) durchgeführt wurden. Insgesamt waren an der über 15 Jahre andauernden Studie 115 Lehrpersonen beteiligt. Die Auswertung der Befragten zu deren sprachlicher Identität ergibt, dass sich die Fremdsprachlernerfahrungen von einsprachig bis in hohem Maße mehrsprachig erstrecken. Allerdings heißt es auch, dass alle Befragten Erfahrungen, wenn auch teilweise sehr geringe, mit Zweitsprachenlernen gemacht hätten und dass es im Kontext der Arbeit angemessener sei, von verschiedenen Arten der Zweitsprachenerfahrung auszugehen, statt eine strikte Kategorisierung in mono- und plurilingual vorzunehmen. Kap. 4 („Bilingualism, plurilingualism and TESOL teachers“) befasst sich mit verschiedenen Definitionen von Bilingualismus, worunter man zunächst vor allem Sprecher verstand, die in gleicher Weise ‚perfekt‘ kompetent in zwei Sprachen waren, z.B. durch zweisprachige Sozialisation im Elternhaus. Da diese Definition aber nur auf eine ganz kleine Minderheit zutrifft, ersetzt E LLIS den Begriff bilingual durch plurilingual und trifft hier eine Unterscheidung zwischen „circumstantial“ und „elective plurilinguals“, wobei erstere ihre Mehrsprachigkeit z.B. durch zweisprachige Sozialisation im Elternhaus und letztere z.B. durch Fremdsprachenunterricht erworben haben. Als „monolinguals“ werden Personen bezeichnet, die entweder gar keine oder eine Fremdsprache zu lernen versucht haben, aber nicht in der Lage sind, in dieser zu kommunizieren. Die Ausführungen von Kap. 5 („Teachers’ identities as learners“) basieren auf den durch Lehrerinterviews und Klassengesprächen gewonnenen Daten. Während einsprachige Lehrer aufgrund ihrer - soweit vorhandenen - Lernerfahrungen das Erlernen einer Fremdsprache als (fast) unüberwindbare Aufgaben ansahen, vertraten mehrsprachige Lehrer eine entspanntere Auffassung und fokussierten auf Fremdsprachenlernen als ein machbares und prinzipiell erfolgreiches Unterfangen, ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten zu ignorieren. Dieser Befund wird in Kap. 8 („Teacher cognititon: understandiing how knowledge and beliefs underpin professional practice“) insoweit wieder aufgegriffen, dass Lehrer/ -innen, die erfolgreich eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt haben, das Lernen von Fremdsprachen als „normal and achievable“ betrachten, wohingegen einsprachige Lehrer/ -innen, ohne entspre- 134 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 chende Erfolgserlebnisse, ein Scheitern ihrer Schüler gleichsam in den Unterricht projizieren. Im 6. Kapitel („The value of language learning“) diskutiert die Autorin die Vorteile des Sprachenlernens auf der individuellen, der intrasozialen und intersozialen Ebene und wendet diese auf die Anforderungen an Lehrer/ -innen des Englischen als Fremdsprache an. Da es deren Aufgabe sei, Lernende zu interkulturell kompetenten Sprechern des Englischen heranzubilden, sei eine solche Zielsetzung nur von mehrsprachigen Lehrern zu leisten, aber nicht von einsprachigen. Im Zentrum von Kap. 7 („Teachers’ knowledge and insights about language and language use“) steht die interviewbasierte Auswertung (von Antworten auf die Frage nach den „main formative influences on their work“, p. 188) des durch Fremdsprachenlernen gewonnenen sprachlichen Lehrerwissens und -handelns. Es stellte sich dabei heraus, dass die Lehrpersonen das eigene Sprachenlernen und den Kontakt mit anderen Kulturen wie auch die eigenen Sprachlernerfahrungen als besonders einflussreich für ihr professionelles Handeln einschätzten. Interessant ist (auch) hier, dass fachwissenschaftliche und -didaktische Lehrveranstaltungen scheinbar keine prägende Wirkung auf die Fremdsprachenlehrer hatten. Während in Kap. 7 die sprachlichen Kenntnisse von Lehrer/ -innen auf deren Professionswissen fokussiert werden, konzentriert sich Kap. 9 („Applying insights about language learning and language teaching from teachers’ own learning experience“) auf die durch das eigene Sprachenlernen und -lehren gewonnenen Einsichten auf diese Dimension des Professionswissens. Auch hier werden, wie dargelegt wird, grundlegende Unterschiede zwischen mehrsprachigen und einsprachigen Lehrer/ -innen deutlich, z.B. sei nur mehrsprachigen Lehrern ein „teaching in different language contexts and plurilingual language use“ möglich. Die in Kap. 10 („A survey of the NSW TESOL profession“) auf einer Online-Befragung von 55 Lehrerinnen in New South Wales, davon 39 mehrsprachig, basierende Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die anderen, vorher erwähnten: Mehrsprachige Lehrerinnen sehen in ihrer Mehrsprachigkeit eine Bereicherung für ihren Englischunterricht; sie schreiben sich eine besondere Empathiefähigkeit für die Lernprobleme der Lernenden zu; ihre ausgeprägte language learning awareness ermöglicht es ihnen, die Lernprozesse der Lernenden besser nachzuvollziehen. Kap. 11 („Rejecting the monolingual monolith - the way forward“) liefert eine Zusammenfassung der Ergebnisse der vorangehenden zehn Kapitel: die eindeutige Ablehnung der Einsprachigkeit und ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit von Englischlehrern mit einem Szenario, wie diese möglicherweise in der Lehreraus-, -fort und -weiterbildung, durch Förderung von lehrerseitiger Mehrsprachigkeit und in der Unterrichtspraxis erreicht werden kann. Während im sprachenpolitischen Kontext Europas das Thema Mehrsprachigkeit in erster Linie als höchst erstrebenswerte Kompetenz von Lernenden betrachtet wird, behandelt Elizabeth E LLIS in ihrer hervorragend recherchierten, sachlogisch aufgebauten und theoretisch wie auch empirisch äußerst fundierten Monographie dieses Thema vor allem aus der Perspektive der lehrerseitigen Voraussetzungen und Implikationen für den Unterricht in Englisch als Zweitsprache in Australien. Auch wenn es sich also um unterschiedliche Lehr- und Lernkontexte handelt, können die Überlegungen und Schlussfolgerungen dennoch wertvolle Anregungen für die europäische Diskussion liefern, z.B. im Hinblick auf die fremdsprachlichen Voraussetzungen von zukünftigen Lehrern und die Überlegung, dass Studierende einer Fremdsprache möglicherweise eine ihnen bis zu Beginn ihres Studiums unbekannte Sprache erlernen. Allerdings sollte man bei möglichen Innovationen nicht außer acht lassen, dass diese zusätzliche Lernzeit erfordern, die letztlich anderswo eingespart werden müsste. Wenn dies auf Kosten der fachdidaktischen und sprachlichen Kompetenzen in der zu unterrichtenden Zielsprache ginge, könnte sich eine solche Erneuerung allerdings schnell als Rückschritt her- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 135 47 (2018) • Heft 1 ausstellen, etwa dann, wenn Schüler/ -innen, z.B. durch ein Auslandsjahr an einer englischsprachigen Schule, über eine höhere Kompetenz in der Fremdsprache verfügen als ihre Lehrer/ -innen. Braunschweig C LAUS G NUTZMANN Bettina A KUKWE , Rüdiger G ROTJAHN , Stefan S CHIPOLOWSKI (Hrsg.): Schreibkompetenzen in der Fremdsprache. Aufgabengestaltung, kriterienorientierte Bewertung und Feedback. Tübingen: Narr 2017 (Studienbücher), 304 Seiten [28,99 €] Die Kompetenz, sich in einer Fremdsprache schriftlich auszudrücken, ist zentral sowohl für die Möglichkeiten eines Menschen, in dieser Sprache kommunikativ erfolgreich zu handeln, wie auch für die Evaluation dieser Kompetenz. Auf der Sekundarstufe wird Schreiben zunehmend zum zentralen und Bildungsziel des Fremdsprachenunterrichts, besonders auch mit Bezug auf Studierfähigkeit und employability im Kontext der Globalisierung. Angesichts dieser thematischen Bedeutung kommt der vorliegende Band wie gerufen. Er ist „das Produkt eines längeren Dialogs“ (S. 12) zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Sprachlehrforschung (primär Rüdiger Grotjahn und Karin Kleppin) und Lehrkräften bzw. Personen aus der Lehrerfortbildung (primär Elke Philipp und Günther Sommerschuh) unter der Moderation von Psychometrikerinnen und Psychometrikern des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB; primär Bettina Akukwe und Stefan Schiplowski). Durch diesen inter-disziplinären und inter-institutionellen Zugang vereint der Band sowohl theoretische als auch praktische Hinweise zu Rahmenbedingungen der Evaluation von Schreibkompetenz in der Fremdsprache. In Kapitel 1 wird eine allgemeine Einführung in das fremdsprachliche Schreiben im Kontext eines kompetenzorientieren Unterrichts geliefert. Kapitel 2 erläutert die Rahmenbedingungen der Evaluation von Schreibkompetenz im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER), der nationalen Bildungsstandards und IQB-Tests. Kapitel 3 fasst verschiedene Typen und Funktionen von Evaluation zusammen (z.B. summativ vs. formativ, kriterienvs. bezugsgruppenorientiert). Die ersten drei Kapitel haben einführenden Charakter, danach steigen Detaillierungsgrad und Anspruchsniveau der geschilderten Inhalte deutlich an. Kapitel 4 hat Gütekriterien bei der Evaluation von Schreibkompetenzen (Objektivität, Reliabilität, Validität, Rückwirkung der Evaluation auf den Unterricht, usw.) zum Thema. Kapitel 5 ist Testkonstrukt und Testspezifikationen gewidmet (z.B. Modelle kommunikativer Kompetenz, psycholinguistische und sozio-kognitive Modelle fremdsprachlichen Schreibens). Kapitel 6 stellt die kriterienorientierte Evaluation von Schreibkompetenzen in den Fokus und in Kapitel 7 wird eine fundierte Einführung in die Erarbeitung von Testaufgaben beim Schreiben vorgelegt. Ab Kapitel 8 ändert sich der Fokus des Bandes: Er geht weg von der Konzeption von Tests und Aufgaben hin zum Umgang mit Schülerleistungen. Kapitel 8 hat die Evaluation von Schreibkompetenzen mithilfe von Beurteilungsrastern zum Thema. Kapitel 9 befasst sich mit Feedback zu schriftlichen Lernerproduktionen, wobei sowohl formative wie summative Aspekte erklärt werden. In Kapitel 10 schließlich wird von aktuellen Trends bei der Leistungsbewertung berichtet, etwa computerbasiertes Testen oder Beurteilung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Wie diese Aufzählung zeigt, legen die Herausgebenden den Fokus ganz klar auf die Evaluation von Schreibkompetenzen sowie das Formulieren von Testaufgaben. Dies ist die größte 136 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 47 (2018) • Heft 1 Stärke dieses Bandes: Er ist ein hervorragendes Kompendium zum Beurteilen fremdsprachlicher Schreibleistungen, in welchem die entsprechenden testtheoretischen Gütekriterien und praktischen Verfahren so ausführlich und verständlich beschrieben werden, dass Lehrpersonen in Aus- und Weiterbildung ein umfassendes Bild des modernen Kenntnisstandes erhalten. Eine zentrale Aufgabe für Lehrpersonen beim Überprüfen von Schreibkompetenzen ist etwa die Festlegung des richtigen Schwierigkeitsgrads von Prüfungsaufgaben, welche die Lernenden weder übernoch unterfordern sollen. Die meisten Lehrkräfte zählen dabei auf ihre Erfahrung: Sie wissen, was Lernende auf einer bestimmten Stufe in etwa leisten und welche Aufgaben ihnen zugemutet werden können. Aus Sicht der Testtheorie ist dieser Grundvorgang des schulischen Arbeitens als spezifische Form von „rater-mediated assessment“ (S. 118) zu betrachten. Die Qualität der Urteilsprozesse hängt dabei von folgenden Faktoren ab: • Merkmale der Beurteilenden (Erfahrung, Fachwissen, beruflicher Hintergrund); • Merkmale der Testsituation (standardisierte Testung vs. informelle Leistungskontrolle); • Merkmale der Beurteilungsskalen (Präzision, Handhabbarkeit der Kriterien); • Schwierigkeit der verwendeten Kriterien (Passung von Aufgabenschwierigkeit und Personenfähigkeit); • Merkmale der Aufgabe (Inputmaterial, Itemformat); • Merkmale der Testpersonen (sprachliche Fähigkeiten, Weltwissen, Vertrautheit mit dem Aufgabenformat) (Kap. 6, S. 119). Der Band liefert theoretische Hintergründe für jeden dieser Bereiche: Bei der Aufgabengestaltung geht es etwa um Authentizität, also den Grad an Übereinstimmung zwischen Merkmalen der Testaufgabe und der zielsprachlichen Verwendungskontexte. Ebenso zu beachten sind curriculare Validität (Passung zum Lehrplan), Konstruktvalidität (Passung der Aufgabe zum dahinterliegenden Konstrukt des Schreibens) sowie konsequente Validität (Rückwirkung des Tests auf den Unterricht). Solches Orientierungswissen soll den Lehrkräften dabei helfen, sich theoretisch mit dem Beurteilungsprozess auseinanderzusetzen und ihre eigene Bewertungspraxis kritisch zu reflektieren (S. 117). Allerdings zeigt die obige Aufzählung auch, wie schwer das für Lehrpersonen in der Praxis konkret zu erreichen ist. Besonders willkommen sind deshalb die im Band enthaltenen konkreten Hilfestellungen. Dazu gehört etwa die Checkliste für die Erstellung von Testaufgaben (S. 171), besonders aber auch die vielen kommentierten Aufgabenbeispiele in Französisch und Englisch (ab S. 172). Für die intendierte Verbesserung der Beurteilungspraxis im Unterricht sind diese Beispiele vermutlich wertvoller als hundert Literaturverweise. Ebenso hilfreich sind die unterschiedlichen Beurteilungsraster für verschiedene Texttypen und Stufen des GER, die teilweise am IQB entwickelt und validiert wurden (Kap. 8). Testtheoretisch umstritten, aber praktisch nützlich sind die Hinweise zur Umrechnung von kriterialen Urteilen in Noten (z.B. S. 193). Von hohem Gebrauchswert für Lehrkräfte werden auch die kommentierten Schülerlösungen sein, die in Kap. 8 für die verschiedenen Aufgabenformate angeboten werden (leider teilweise schlecht lesbar). Anhand authentischer Schülertexte auf verschiedenen Stufen des GER (A2, B1 usw.) wird konkret aufgezeigt, wie Schreibleistungen in Bezug auf Textsorte, Situationsbezug, Angemessenheit sowie linguistische Kriterien wie Kohäsion oder sprachformaler Richtigkeit zu beurteilen sind. Ebenso erhalten Praktiker konkrete Hinweise, wie Beurteilungen in lernförderliches Feedback umgesetzt werden können. In diesem Teil werden die theoretischen Ansprüche an „rater mediated assessment“ für den Schulalltag handhabbar gemacht. Wichtig sind dabei neben der Gesamtbeurteilung von Schreibkompetenzen auch Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 137 47 (2018) • Heft 1 Hinweise für die Weiterarbeit, welche sich aus der Testung ergeben. Die Qualität von Beurteilungen im Schulkontext bemisst sich nicht (alleine) an psychometrischen Gütekriterien, sondern auch an der Nützlichkeit der Testung für die Schülerinnen und Schüler. Diese sollen konkrete Hinweise für ihr weiteres Lernen sowie Motivation für die dafür notwendigen (Schreib-)Arbeiten gewinnen. Dies lässt sich erreichen durch wertschätzendes, adressatenorientiertes Feedback (ab S. 262), insbesondere Hinweise zu den eigenen Stärken (und nicht nur den Schwächen! ) sowie Peer Evaluation (ab S. 274). Denn, um den abgegriffenen Satz nochmals zu zitieren, allein durch Wiegen wird das Schwein nicht fett. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Vorbereitung, Durchführung und Evaluation von Schreibunterricht in der Fremdsprache über jene Aspekte der Leistungsbeurteilung hinausgehen, die in diesem Band schwerpunktmäßig behandelt werden. Dazu gehören etwa detaillierte Kenntnisse der zentralen Genres des fremdsprachigen Schreibens. In modernen, genrebasierten Curricula verläuft die Planung von Lernprozessen über die zunehmende Beherrschung unterschiedlicher kommunikativer Situationen: einfache Briefkorrespondenz, Twitter- Botschaften und Werbebroschüren (Anfänger); Zeitungsartikel, Reportagen und kurze literarische Erzählungen (erweitert), argumentative Essays oder akademische Präsentationen (Fortgeschrittene). Von solchen Themen erfahren die Leserinnen und Leser dieses Bandes relativ wenig, ebenso wenig wie von prozessorientierten Modellen der Schreibdidaktik. Mit Bezug auf das zentrale Genre argumentative essay könnte dies etwa so aussehen: Lernende analysieren einen Mustertext zum Thema bezüglich Makrostruktur, Textorganisation und typisches Vokabular. Sie suchen sich ein eigenes, kontroverses Schreib-Thema und diskutieren ihre Ideen dazu im Klassenverband. Danach schreiben sie einen Entwurf, planen die Gesamtstruktur und ordnen ihre Argumente in einzelnen Paragraphen an. In der Phase der Überarbeitung wird der Text mit Lehrpersonen und Peers ausgetauscht und besprochen. Am Ende verfassen die Lernenden einen bereinigten Text, publizieren diesen in geeigneter Form (Online, Klassenzeitung, usw.) und reflektieren kurz ihre Fortschritte sowie Lernbedarfe beim Schreiben. Für die zweite Auflage des vorliegenden Bandes (welche hoffentlich bald benötigt wird), könnte vielleicht der Titel angepasst werden: „Evaluation von Schreibkompetenzen in der Fremdsprache: Testaufgaben, kriterienorientierte Beurteilung und Feedback“. In diesem Bereich liefert dieser Band die beste, verständlichste und vollständigste Einführung in deutscher Sprache. Aus diesem Grund gehört er in jedes Lehrerzimmer, in jedes Weiterbildungsinstitut und in jede Fachschaftsbibliothek. Das im Titel versprochene, umfassende Überblickswerk zu „Schreibkompetenzen in der Fremdsprache“ muss jedoch erst noch geschrieben werden. Basel S TEFAN D. K ELLER 47 (2018) • Heft 1 I n f o • V o r s c h a u Vorschau auf Jahrgang 47.2 (2018) Der von Torben S CHMIDT (Lüneburg) und Nicola W ÜRFFEL (Leipzig) koordinierte Themenschwerpunkt für Jahrgang 47.2 (2018) trägt den Titel „Digitalisierung und Differenzierung“. Digitale Medien bieten vielfältige Möglichkeiten, fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse zu bereichern und nachhaltig zu verändern. So gibt es ein immer größer werdendes Angebot an fremdsprachenspezifischer digitaler Lern- und Übungssoftware und an digitalen Schulbüchern sowie an nicht fremdsprachenspezifischen Classroom-, Learning- oder Content-Management-Systemen, interaktiven Werkzeugen und internetbasierten, zumeist auf mobilen Endgeräten genutzten Kooperations- und Kommunikationsplattformen. Ein Bereich, in dem digitale Medien fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse besonders nachhaltig verbessern können, ist der Bereich der Differenzierung. Dieses Prinzip des Fremdsprachenunterrichts, das spätestens seit der verstärkten Lernerorientierung als bedeutsam angesehen wird, hat in Zeiten steigender Heterogenität von Lerngruppen und insbesondere im inklusiven fremdsprachlichen Klassenzimmer noch einmal an Bedeutung gewonnen. Digitale Medien können hier auf sehr unterschiedlichen Ebenen einen wertvollen Beitrag leisten und neue Möglichkeiten der Differenzierung schaffen bzw. Prozesse der Differenzierung und Individualisierung von Lernprozessen unterstützen und erleichtern. Das geplante Themenheft wird Potenziale und Herausforderungen der Nutzung verschiedener digitaler Medien, Anwendungen und Werkzeuge für die individuelle Förderung von Lernenden mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Lernpräferenzen und Zielen anhand von Forschungsergebnissen beleuchten. Es wird dafür u.a. Möglichkeiten der Differenzierung durch bestimmte Lernformen und Lernanwendungen wie Mobile Learning, eTandems, Augmented Reality, assistive Technologien und adaptive Anwendungen aufzeigen und diese kritisch diskutieren. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: Torben S CHMIDT (Leuphana Universität Lüneburg), Nicola W ÜRFFEL (Universität Leipzig): Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Annika K OLB (Pädagogische Hochschule Freiburg): Eigenständiges Lesen im Englischunterricht der Grundschule - digital und differenziert? Carolyn B LUME (Leuphana Universität Lüneburg), Nicola W ÜRFFEL (Universität Leipzig): Using assistive technologies for language learning: A chance for all learners Diana Feick (University of Auckland): Differenzierung weiterdenken: Lernortdifferenzierung durch Mobiles Lernen im Fremdsprachenunterricht Jürgen Kurtz (Universität Gießen): Employing augmented reality for adaptive learning in and beyond the EFL Classroom Björn Rudzewitz, Ramon Ziai, Kordula De Kuthy, Detmar Meurers (Universität Tübingen): FeedBook: Ein interaktives Workbook für den Englischunterricht. Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 48.1 (2019) Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik, koordiniert von Karen S CHRAMM
