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Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2019
481 Gnutzmann Küster Schramm
10,2 ISSN 0932-6936 www.periodicals.narr.de www.narr.de Themenschwerpunkt: Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik K aren S chramm , m arK B echtel Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ........................................................... 3 D eniS W eger Professional Vision - State of the art zum Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Lehrer(innen)bildung ........................................................... 14 r alf g ie ß ler Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Englischlehrpersonen ......................... 32 m arK B echtel , c hriStoph o liver m ayer Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen - ein Projekt in der Lehrer(innen)bildung im Fach Französisch ....................................... 50 m iroSlav J aníK , v ě ra J aníKová Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) mittels einer videobasierten Online-Plattform (DaF-VideoWeb) .............................. 63 m arta D aviDoWicz Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos ............................................................................................. 84 m anuela W ipperfürth Oberflächliche Unterrichtsanalysen: Wie handlungsleitendes Wissen in Unterrichtsnachbesprechungen verhandelbar wird ............................................................. 103 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) 48. Jahrgang (2019) · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Claus Gnutzmann, Lutz Küster und Karen Schramm Themenschwerpunkt: Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik koordiniert von Mark Bechtel und Karen Schramm FLuL 48. Jahrgang (2019) · 1 2019-1_Umschlag.indd 1-3 13.02.2019 10: 14: 31 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgeber: Claus Gnutzmann (Braunschweig) · Lutz Küster (Berlin) · Karen Schramm (Wien) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Claus Gnutzmann, TU Braunschweig, Englisches Seminar, Abteilung Englische Sprache und ihre Didaktik, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, eMail: c.gnutzmann@tu-bs.de Prof. Dr. Lutz Küster, Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, eMail: lutz.kuester@ rz.hu-berlin.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, eMail: karen.schramm@univie.ac.at Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz- Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Daniela Elsner (Frankfurt) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 62,- (print) bzw. € 72,- (print + online), Vorzugspreis für private Leser € 46,-, das Einzelheft € 36,-. (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, eMail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1992 - 2019) 21 (1992): Idiomatik und Phraseologie (hrsg. von Ekkehard Zöfgen) 22 (1993): Fehleranalyse und Fehlerkorrektur (koord. von Gert Henrici und Ekkehard Zöfgen) 23 (1994): Wörterbücher und ihre Benutzer (koord. von Ekkehard Zöfgen) 24 (1995): Kontrastivität und kontrastives Lernen (koord. von Claus Gnutzmann) 25 (1996): Innovativ-alternative Methoden (koord. von Gert Henrici) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): ` Neokommunikativer A Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von C. Gnutzmann, F.G. Königs, L. Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) 46.2 (2017): Frühes Fremdsprachenlernen (koord. von Heiner Böttger) 47.1 (2018): Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koord. von Lutz Küster und Jochen Plikat) 48.1 (2019): Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik (koord. von Mark Bechtel und Karen Schramm) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt Beiträge zu Forschung und Unterricht aus allen für den Fremdsprachenunterricht relevanten Bereichen sowie zum Fremdsprachenlehren/ -lernen im Ausland. Grundlage für jeden Beitrag sollte eine ausreichende wissenschaftliche Fundierung mit unmittelbarer oder mittelbarer Relevanz des Gegenstandes für die fremdsprachenunterrichtliche Tätigkeit an der Hochschule sein. Beiträge, die den schulischen Fremdsprachenunterricht zusätzlich zur Reflexionsgröße erheben, sind gleichermaßen willkommen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. 2019-1_Umschlag.indd 4-6 13.02.2019 10: 14: 31 (Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: Vi d e o b a s i e rt e Le hr e i n d e r F r e m d s pr a c h e n di d a ktik Koordination: Mark B ECHTEL , Karen S CHRAMM K AREN S CHRAMM , M ARK B ECHTEL Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ....................................................... 3 D ENIS W EGER Professional Vision - State of the art zum Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Lehrer(innen)bildung ....................................... 14 R ALF G IEßLER Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Englischlehrpersonen ...................... 32 M ARK B ECHTEL , C HRISTOPH O LIVER M AYER Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen - ein Projekt in der Lehrer(innen)bildung im Fach Französisch .................................. 50 M IROSLAV J ANÍK , V ĚRA J ANÍKOVÁ Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) mittels einer videobasierten Online-Plattform (DaF-VideoWeb) ........................ 63 M ARTA D AWIDOWICZ Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos ................................................................................................ 84 M ANUELA W IPPERFÜRTH Oberflächliche Unterrichtsanalysen: Wie handlungsleitendes Wissen in Unterrichtsnachbesprechungen verhandelbar wird .............................................. 103 48. Jahrgang (2019) • Heft 1 Herausgeber: Claus G NUTZMANN (Braunschweig), Lutz K ÜSTER (Berlin), Karen S CHRAMM (Wien) © 2019 Narr Francke Attempto Verlag www.periodicals.narr.de/ index.php/ flul 48 (2019) • Heft 1 Nicht-thematischer Teil M ARCUS B ÄR Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik - Ein subjektiver Blick zum state of the art für die Zeit von 2008 bis 2018 ................................... 123 Buchbe s pre chung en • Re ze nsionsartikel Agustín C ORTI , Johanna W OLF (Hrsg.): Romanistische Fachdidaktik. Grundlagen - Theorien - Methoden. Münster: Waxmann 2017 (C ORINNA K OCH ) .................................. 133 Götz S CHWAB , Sabine H OFFMAN , Almut S CHÖN (Hrsg.): Interaktion im Fremdsprachenunterricht. Beiträge aus der empirischen Forschung. Münster: LIT 2017 (M ARTA G ARCÍA G ARCÍA ) .................................................................................................. 135 Dominik R UMLICH : Evaluating Bilingual Education in Germany. CLIL Students’ General English Proficiency, EFL Self-Concept and Interest. Frankfurt/ M.: Lang 2016 (P ETRA B URMEISTER ) ................................................................................................ 138 Carsten R ÖVER , Aek P HAKITI : Quantitative Methods for Second Language Research. A Problem-Solving Approach. New York/ London: Routledge 2017 (N ICOLE M ARX )........ 140 Hermann F UNK , Manja G ERLACH , Dorothea S PANIEL -W EISE (Hrsg.): Handbook for Foreign Language Learning in Online Tandems and Educational Settings. Frankfurt/ M: Lang 2017 (L ARS S CHMELTER ) .............................................................................. 143 Daniela C ASPARI , Friederike K LIPPEL , Michael K. L EGUTKE , Karen S CHRAMM (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr 2016 (B ARBARA H INGER ) .......................................................................................... 145 Info • Vorschau 148 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 K AREN S CHRAMM , M ARK B ECHTEL * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 1. Problemaufriss: Funktionen von Videoaufnahmen in der Lehrer(innen)bildung Inspiriert von der videobasierten Lehrer(innen)bildung in anderen Fächern, insbesondere der Mathematik- und Physikdidaktik (z.B. K RAMMER / R EUSSER 2005; K RAMMER et al. 2006; S EIDEL / P RENZEL 2007; D IGEL / S CHRADER 2013; S ONN - LEITNER et al. 2018), exploriert die Fremdsprachendidaktik derzeit Chancen und Grenzen des Videoeinsatzes in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrpersonen (s. einführend K LIPPEL 2016a, K URTZ 2016). Diese Forschungsanstrengungen sind eingebunden in ein neu erwachtes Interesse an der Professionsforschung, das im Zusammenhang mit der Meta-Meta-Analyse von H ATTIE (2008) und seinen Befunden zur Bedeutung der Lehrpersonen für den Erfolg von Unterricht steht. Aktuelle Publikationen zur Professionsforschung wie die von K LIPPEL (2016b), L EGUTKE / S CHART (2016) und B URWITZ -M ELZER / R IEMER / S CHMELTER (2018) dokumentieren die anhaltende intensive Auseinandersetzung der Fremdsprachendidaktik mit erfahrungsbasiertem, reflexivem und forschendem Lernen in der Lehrer(innen)bildung; diese erhält nicht zuletzt auch durch politische Initiativen wie die Qualitätsoffensive Lehrerbildung in Deutschland Aufwind. Innerhalb dieses Rahmens entwickelt sich eine zunehmend auch empirisch verankerte Diskussion speziell zum Videoeinsatz in der fremdsprachendidaktischen Lehrer(innen)bildung, die im Zentrum dieses Themenschwerpunkts stehen soll. Die Funktionen, die Videoaufnahmen fremden und eigenen Unterrichts in der Lehrer(innen)bildung erfüllen können, sind vielfältig (vgl. S CHRAMM 2016). Erstens sind Illustrationen methodischer Verfahren in Lehrfilmen und Beispielausschnitten * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Karen S CHRAMM , Universität Wien, Institut für Germanistik, Porzellangasse 4, A-1090 W IEN . Email: karen.schramm@univie.ac.at Arbeitsbereiche: DaF-Didaktik; DaF-Unterrichtsdiskurs; DaF-Lehrer(innen)bildung; DaF-Curriculumforschung. Prof. Dr. Mark B ECHTEL , Universität Osnabrück, Institut für Romanistik/ Latinistik, Neuer Graben 40, 49074 O SNABRÜCK . Email: mark.bechtel@uni-osnabrueck.de Arbeitsbereiche: Didaktik der romanischen Sprachen; Fremdsprachenlehrer(innen)bildung; Unterrichtsforschung; Interkulturelles Lernen. Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik 4 Karen Schramm, Mark Bechtel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 48 (2019) • Heft 1 zur Ausbildung einer Berufssprache im Rahmen von Input-Phasen wie z.B. Vorlesungen zu nennen. Zweitens spielt die Schulung der professionellen Wahrnehmung an fremden Unterrichtsaufnahmen mittels Beobachtungs- und Transkriptanalyseaufgaben eine wichtige Rolle. Drittens kann die Selbstreflexion auf der Grundlage von Mitschnitten eigener Fremdsprachenlehre in individuellen Formaten (z.B. Praktikumsbericht) oder sozialen Interaktionen (z.B. Präsenz- oder virtuelle Videoclubs) initiiert werden. In Anlehnung an P AULI / R EUSSER (2006: 792f.) unterscheiden wir im Folgenden den Einsatz von Videos als Referenzobjekte, als Grundlage der professionellen Reflexion des Lehrerhandelns und als ‚Fälle’; darüber hinaus schneiden wir auch kurz die Funktion von Videos als Grundlage von Evaluation an. Unabhängig von der Funktion erscheinen uns mindestens vier weitere Aspekte für eine entsprechende Typologie zentral, die im Folgenden bei der Diskussion der Funktionen jeweils angerissen werden sollen. • Analysegrundlage - Wird das Video mittels Beobachtung oder Transkriptanalyse ausgewertet? • Kommunikationspartner(innen) - Wird das Video allein oder gemeinsam mit anderen ausgewertet? • Schriftlichkeit/ Mündlichkeit - Wird das Video in schriftlicher oder mündlicher Form ausgewertet? • Kommunikationsmedium - Wird das Video in analoger oder digital vermittelter Kommunikation ausgewertet? 1.1 Videos als Referenzobjekte Wenn Videos als Referenzobjekte Einsatz finden, steht die Verbindung zwischen abstraktem theoretischen Konzept und konkretem unterrichtspraktischen Beispiel zu Zwecken der Illustration im Zentrum. Diese Verbindung wird in Input-Phasen von Expert(inn)en auf der Train-the-Trainer-Ebene wie Hochschullehrenden, Lehrbuchautor(inn)en oder Weiterbildner(inne)n hergestellt und in Übungsphasen von den teilnehmenden Lehrpersonen selbst. Prototypische Beispiele sind im Rahmen eines instruktivistischen Vorgehens wie einer Vorlesung oder eines Lehrbuchs in der ersten Phase der Lehrer(innen)bildung zu finden, in denen die Filmausschnitte genutzt werden, um theoretische Konzepte am konkreten Beispiel auf induktive oder deduktive Weise besser verständlich zu machen. Auch bei Beobachtungsaufgaben, die darauf abzielen, Tiefenstrukturen des Unterrichts zu erkennen und fachterminologisch zu benennen, ist diese Funktion als Referenzobjekt zentral. Der Einsatz von Videos als Referenzobjekte kann... • ... mit oder ohne Transkript erfolgen: Für Makrostrukturen wie z.B. Unterrichtssequenzen eignen sich Transkripte weniger als für Mikrostrukturen wie z.B. die Interaktion bei der mündlichen Fehlerkorrektur. • ... als Selbstlernangebot (z.B. geschlossene Beobachtungsaufgaben mit Lö- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 sungsschlüssel) oder in sozialer Interaktion (z.B. gemeinsame Transkriptanalyse) ausgestaltet werden. • ... mündlich (z.B. in Vorlesungen) oder schriftlich (z.B. in didaktischen Einführungswerken) geschehen. • ... in Präsenzveranstaltungen (z.B. Einführungsseminaren) und/ oder digital vermittelter Lehre (z.B. Webinaren) erfolgen. 1.2 Videos als Grundlage der professionellen Reflexion des Lehrerhandelns und als Fälle Werden Videos als Grundlage der professionellen Reflexion des Lehrer(innen)handelns oder als Fälle betrachtet, geht es um mehr als das bloße Erkennen und terminologische Benennen der Tiefenstrukturen, das für den Einsatz von Videos als Referenzobjekte charakteristisch ist. Vielmehr spielt bei der Interpretation einer Videoaufnahme über das wissenschaftliche Wissen hinaus auch das praktische Handlungswissen der teilnehmenden Lehrpersonen eine wichtige Rolle. Wie N ITTEL (1997) mit Blick auf die (nicht videobasierte) Fallarbeit in der Fort- und Weiterbildung von Erwachsenenbildner(inne)n festhält, gilt als Ziel solcher interpretativen Prozesse der Aufbau von Professionswissen: Wissensverwendung auf Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen bedeutet, daß das höhersymbolische Fortbildungswissen nicht in einem Eins-zu-eins-Verhältnis bei den TeilnehmerInnen ankommt, sondern filigranen Reinterpretationsprozessen ausgesetzt wird. Teils wird es mit berufspraktischen Erfahrungen kontrastiert und in eine produktive Beziehung gebracht, teils wird es aber auch umfunktioniert oder abgespalten. Auszugehen ist also von komplexen Transformationsprozessen, die keineswegs einer simplen Rationalität folgen, so daß die weithin unterstellte ‚Transfervariante’ eher als die Ausnahme und nicht als der Regelfall zu gelten hat. [...] Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen nach dem Modell der Interpretationswerkstatt sind prototypische Orte sowohl der Generierung wie der ‚Weitergabe’ von Professionswissen; sie eröffnen einen Raum, wo praktisches Handlungswissen und wissenschaftliches Wissen aufeinander treffen und in Gestalt des Professionswissens in einen anderen Aggregatzustand übergehen (N ITTEL 1997: 144). M ASSLER et al. (2009: 165f.) unterscheiden mit Blick auf den Einsatz von Videos zu solchen Zwecken die folgenden Formate: • Video-Clubs, auch video study groups oder lesson study groups genannt, bieten Lehrenden die Möglichkeit, gemeinsam Videomitschnitte eigenen oder fremden Unterrichts anzusehen. Die Gruppe wird dabei als reflexive Gemeinschaft verstanden. [...] • Video-Analyse-Werkzeuge sind Hypermedia-Programme, die es dem Benutzer erlauben Videomaterial, vorzugsweise sein eigenes, mit Texten (z.B. Transkripten), Bildern oder Kommentaren zu versehen. Ziel ist es, Lehrenden zu einer eigenständigen Analyse des Unterrichts zu verhelfen. [...] • Video-Netzwerke / Videobasierte Lernplattformen binden Software zur Analyse von Unterrichtsvideos in virtuelle Plattformen ein. Dadurch stehen den 6 Karen Schramm, Mark Bechtel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 48 (2019) • Heft 1 Benutzern über Netzwerke und das Internet große Mengen an Videos zur gemeinsamen Sichtung, Kommentierung und Bearbeitung zur Verfügung. [...] J ANÍK / M INAŘÍKOVÁ / N AJVAR (2013) schlagen eine ähnlich gelagerte Typologie vor, in der sie die in diesem Abschnitt behandelten Funktionen von Videos als Intervention charakterisieren. Dabei unterscheiden sie (a) die Intervention in professionelles Sehen, (b) die Intervention in professionelles Wissen und (c) die Intervention in professionelles Handeln. Die videobasierte Analyse fremden Unterrichts kann in stärker didaktisierter Form (z.B. Beobachtungsaufgaben) oder weniger stark gesteuerter Form (z.B. schriftliche Annotation, mündliche Interpretationswerkstätten) erfolgen. Dagegen steht bei der Arbeit mit eigenen Unterrichtsvideos meist die (offene) Selbstreflexion der unterrichtenden Lehrperson im Zentrum, die beispielsweise im Rahmen eines Praktikums oder der Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten eigene Unterrichtserfahrungen dokumentiert und reflektiert. Der Einsatz von Videos als Grundlage der professionellen Reflexion des Lehrerhandelns und als Fälle kann... • ... mit oder ohne Transkript geschehen. • ... nach vorgelagerter eigenständiger Interpretation am besten in der sozialen Interaktion vorgenommen werden. Eine entsprechende pragmalinguistische Erforschung der Gespräche über videographierten Unterricht hat inzwischen eingesetzt (z.B. A RYA / C HRIST / C HIU 2014; D OBIE / A NDERSON 2015). • ... im mündlichen Gespräch oder in schriftlichen Reflexionen bzw. Fallanalysen durchgeführt werden. • ... in Präsenzveranstaltungen (Interpretationswerkstätten, Videoclubs) und/ oder digital vermittelter Kommunikationsform (bzw. Blended Learning) erfolgen. Aufgrund des hohen Entwicklungsaufwands von Unterrichtsvideotheken liegt die Kooperation über digitale Netzwerke (z.B. Fall-Laboratorium der AG Videofallarbeit 1 ; Portal der Uni Münster „ProVision“ 2 ) besonders nahe und entwickelt sich derzeit zu einem Forschungsschwerpunkt der videobasierten Lehrer(innen)bildung. 1.3 Videos als Evaluationsgrundlage Eine weitere Einsatzmöglichkeit von Videos in der Lehrer(innen)bildung besteht im Bereich der Evaluation. In dem richtungsweisenden Projekt Lernen aus Unterrichtsvideos (LUV) stand die Kompetenzmessung auf der Grundlage von Video-Ratings im Zentrum (z.B. S EIDEL / P RENZEL 2007). Ebenso können Videoaufnahmen eigenen Unterrichts zur Evaluation und entsprechende Videoportfolios zur Dokumentation der eigenen Lehrkompetenzentwicklung dienen. 1 Vgl. http: / / www.videofallarbeit.de/ . 2 Vgl. https: / / www.uni-muenster.de/ ProVision/ . Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 Der Einsatz von Videos als Evaluationsgrundlage... • ... ist nach unserer Kenntnis bisher nur auf der Grundlage von Videoaufnahmen (ohne Transkripte) erfolgt. • ... ist in der Tradition akademischer Einzelprüfungen in diesem Format besonders naheliegend; grundsätzlich ist aber auch das videobasierte Testen in sozialer Interaktion denkbar. • ... ist bisher vor allem in digitaler Weise und auf schriftlicher Grundlage erfolgt; grundsätzlich erscheint der Einsatz in traditionellen mündlichen und schriftlichen Prüfungen ebenso möglich. 2. Umsetzungen in der fremdsprachendidaktischen Lehrer(innen)bildung 2.1 Videos als Referenzobjekte in der Fremdsprachendidaktik Videoaufnahmen wurden in der Fremdsprachendidaktik bereits in den 1980er und 1990er Jahren auf eindrückliche Weise als Referenzobjekte in didaktisch-methodischen Lehrfilmen realisiert. Als prominente Beispiele aus der Englischdidaktik seien hier der Lehrfilm Airport. Ein Projekt für den Englischunterricht in Klasse 6 aus dem Jahre 1983 und die von Larsen-Freeman kommentierten Methoden-Illustrationen aus dem Jahre 1990 genannt. Der Film zum Airport-Projekt erläutert das Lernen in Projekten; ein professionelles Filmteam hat eine authentische Klasse im Unterricht und bei einem Ausflug zum Frankfurter Flughafen begleitet, die Aufnahmen geschnitten und als Lehrfilm mit entsprechenden voice-overs mit Informationen zum methodischen Vorgehen aufbereitet (vgl. auch L EGUTKE 2006). Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den von Larsen-Freeman in Zusammenarbeit mit dem U.S. Information Agency erstellten Videos aus dem Jahre 1990 um Studioillustrationen von Methoden. 3 Die didaktische Kommentierung erfolgt durch Larsen-Freeman, die in einem kurzen Vorspann Charakteristika der Methode benennt und die Zuschauer(innen) auf bestimmte Ereignisse aufmerksam macht. Deutlich später entwickelte sich in der Fremdsprachendidaktik der Einsatz von Beobachtungsaufgaben, bei denen die (angehenden) Lehrpersonen Tiefenstrukturen des aufgenommenen Unterrichts erkennen sollen. Als Beispiel soll hier das Programm Deutsch Lehren Lernen des Goethe-Instituts dienen, in dem zahlreiche Einführungsbände erschienen sind, die mit Videoillustrationen und Beobachtungsaufgaben arbeiten (vgl. L EGUTKE / R OTBERG 2018). Viele dieser Beobachtungsaufgaben zielen darauf ab, dass die Leser(innen) Konstrukte, die im Lehrbuch vorgestellt werden, in den Unterrichtsmitschnitten wiedererkennen. Charakteristisch dafür sind geschlossene Formate, wie sie das Beispiel der Aufgabe in Abbildung 1 (  S. 8) zu verschiedenen Typen der mündlichen Fehlerkorrektur zeigt. 3 Vgl. https: / / www.youtube.com/ watch? time_continue=6&v=Pz0TPDUz3FU. 8 Karen Schramm, Mark Bechtel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 48 (2019) • Heft 1 Abb. 1: Beispiel für geschlossene Video-Aufgabe in „Deutsch Lehren Lernen 4“ (F UNK et al. 2014: 79) 2.2 Videos als Reflexionsgrundlage und als Fälle in der Fremdsprachendidaktik Der Einsatz von Videos als Reflexionsgrundlage oder als Fälle (z.B. B IRNBAUM / K UPKE / S CHRAMM 2016; D IENER 2016; I MGRUND 2013; N IESEN 2017) knüpft in der Fremdsprachendidaktik an eine lange Tradition der Reflexion von Unterricht an (vgl. F ARRELL 2015). Abbildung 2 (  S. 9) zeigt eine offene Video-Transkript- Aufgabe, die als Beispiel für einen videobasierten Reflexionsimpuls gelten kann. Die in diesem Themenschwerpunkt vorgestellten Studien von B ECHTEL / M AYER , G IEßLER und J ANÍK / J ANÍKOVÁ zeigen entsprechende fremdsprachendidaktische Seminarkonzeptionen, bei denen die Autor(inn)en das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung (s. dazu einführend W EGER in diesem Heft) in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 Abb. 2: Beispiel für offene Video-Transkript-Aufgabe aus „Deutsch Lehren Lernen 15“ (F EICK / P IETZUCH / S CHRAMM 2013: 59) Was die Arbeit mit eigenen Videos betrifft, so sind als Pionierarbeiten in der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik insbesondere die Arbeiten von W IPPERFÜRTH (s. Beitrag in diesem Heft) anzuführen, die einen Videoclub von Englisch-Lehrpersonen initiierte und erforschte, der sich auf der Grundlage von Transkripten über Ausschnitte eigenen Unterrichts austauschte (zu einem ähnlichen Vorgehen vgl. auch S CHWAB 2014); eine weiterführende Analyse der Aufnahmen aus diesem Videoclub stellt sie in diesem Themenschwerpunkt vor. D AWIDOWICZ et al. (2017) erläutern eine Konzeption für ein internationales DaF-Lehrpersonen- Netzwerk zum Extensiven Lesen, das sich per social video software austauscht. Auch die in diesem Themenschwerpunkt vorgestellte Studie von D AWIDOWICZ fokussiert das Lernen aus eigenen Videos in einem internationalen und digital vermittelten Kommunikationsrahmen. 2.3 Videos als Evaluationsgrundlage in der Fremdsprachendidaktik Uns sind keine Erfahrungen mit der Evaluationsfunktion von Videos in der fremdsprachendidaktischen Lehrer(innen)bildung bekannt, aber erfreulicherweise wird an der Universität Bielefeld derzeit im Rahmen des Projekt DazKom-Video 4 ein solches Instrument entwickelt. 4 Vgl. https: / / www.uni-bielefeld.de/ erziehungswissenschaft/ ag4/ projekte/ dazkom-video.html. 10 Karen Schramm, Mark Bechtel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 48 (2019) • Heft 1 3. Fragestellungen und Beiträge dieses Themenschwerpunkts Vor diesem Hintergrund präsentieren wir in diesem Themenschwerpunkt Studien aus der sich aktuell entwickelnden fremdsprachendidaktischen Forschungslandschaft zu diesen Themenfeldern. Die ausgewählten Beiträge, die im Vorfeld auf einem Symposium an der Universität Osnabrück mit dem Titel „Videoeinsatz in der fremdsprachlichen LehrerInnenbildung“ auf Einladung von Mark B ECHTEL in Zusammenarbeit mit Karen S CHRAMM präsentiert und diskutiert wurden, fokussieren insbesondere folgende Fragenstellungen: • Aufgabenformate in der videobasierten Lehrer(innen)bildung: Welche Aufgabenformate (z.B. Beobachtung, Annotation, Transkriptanalyse) eignen sich zur Entwicklung bestimmter Fremdsprachenlehrkompetenzen? Welchen Prinzipien folgen die jeweiligen Aufgabenformate? • Blended Learning in der videobasierten Lehrer(innen)bildung: Welche Blended-Learning-Formate erweisen sich als geeignet für die videobasierte Fremdsprachenlehrer(innen)bildung? • Gesprächsführung in der videobasierten Lehrer(innen)bildung: Welche pragmalinguistischen Einsichten in die diskursive Beschaffenheit gelingender Gespräche über videographierten Fremdsprachenunterricht liegen vor? Welche Empfehlungen lassen sich auf dieser Grundlage für das Arrangement entsprechender Lernsettings in der Fremdsprachenlehrer(innen)bildung ableiten? Der erste Beitrag von D ENIS W EGER verfolgt den Begriff der professionsspezifischen Wahrnehmung (professional vision) von seinem Ursprung in der linguistischen Anthropologie in die aktuelle Lehrer(innen)bildungsdiskussion. Er zeigt auf, dass das Konstrukt sich in aktuellen Untersuchungen zur videobasierten Lehrer(innen)bildung als Indikator für professionelle Kompetenz etabliert hat und gibt einen fremdsprachendidaktisch motivierten Überblick über Studien zur Förderung der professionsspezifischen Wahrnehmung. Auf dieser Grundlage fokussieren die Beiträge von R ALF G IEßLER (am Beispiel der Englischdidaktik), M ARK B ECHTEL und C HRISTOPH M AYER (am Beispiel der Französischdidaktik) sowie von M IROSLAV J ANÍK und V ĚRA J ANÍKOVÁ (am Beispiel der DaF-Didaktik) die Arbeit mit fremden Videoaufnahmen in der ersten Ausbildungsphase von Fremdsprachenlehrpersonen. In einer Mehrfachfallstudie untersucht G IEßLER die Eignung verschiedener schriftlicher Aufgabenformate für die Erfassung und Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung im Bereich der Wortschatzarbeit. Im Zentrum seiner inhaltsanalytischen Auswertungen steht die Frage, welcher Grad an Strukturiertheit von Beobachtungsprompts für bestimmte Ziele vielversprechend erscheint. Nach einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Konstrukten der professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Selbstreflexion untersuchen B ECHTEL / M AYER in einer Einzelfallanalyse inhaltsanalytisch, wie schriftliche Beobachtungs- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 11 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0001 aufgaben professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion im Bereich des Hörverstehens anregen. J ANÍK / J ANÍKOVÁ untersuchen die Eignung einer selbst entwickelten videobasierten Online-Plattform für die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Studierenden im Bereich der Aufgabenstellung, der Vermittlung kommunikativer Fertigkeiten sowie sprachlicher Mittel. In ihrer im Prä-Post-Design angelegten Vorstudie werten sie inhaltsanalytisch aus, inwiefern sich die professionelle Unterrichtswahrnehmung entwickelt und welchen Einfluss dabei die Gelenktheit der Beobachtung hat. Die letzten beiden Beiträge fragen nach dem Potenzial von Gesprächen über eigene Videos. In einer emischen Studie nutzt M ARTA D AWIDOWICZ den Referenzrahmen von VAN E S (2012) für die Entwicklung von Lehrer(innen)-Lerngemeinschaften in einem Videoclub, um Gelingensbedingungen für Gespräche über eigene Unterrichtsvideos zu untersuchen. Auf der Basis von Interviews und schriftlichen Reflexionen arbeitet sie insbesondere heraus, welche Merkmale von videobasierten Gesprächen DaF-Lehrende als (nicht) lernförderlich betrachten. M ANUELA W IPPERFÜRTH fragt in ihrem Beitrag nach den verschiedenen Wissensarten, die bei Videoclub-Gesprächen von erfahrenen Lehrpersonen zusammenfließen; dabei betont sie besonders die Unterschiede zu Ausbildungssituationen von angehenden Lehrpersonen. An einem Transkriptbeispiel zeigt sie auf, wie diese verschiedenen Wissensarten in der Interaktion sprachlich verhandelt werden, und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis von ko-konstruktivem Wissensaufbau in der Lehrer(innen)bildung. Somit stellt dieser Themenschwerpunkt den Versuch dar, ein in der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik aktuell entstehendes Praxis- und Forschungsfeld der Lehrer(innen)bildung in ersten Umrissen abzubilden und auf diese Weise Orientierungspunkte für die derzeit in größerem Umfang einsetzende Diskussion zu bieten. Literatur A RYA , Poonam / C HRIST , Tanya / CHIU, Ming Ming (2013): „Facilitation and teacher behaviors. An analysis of literacy teachers’ video-case discussions“. In: Journal of Teacher Education 65.2, 111-127. 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This article traces professional vision from its first conception in linguistic anthropology to its adaptation for teacher education and gives an overview of essential findings and current trends in research conducted on the topic. The article concludes with some considerations for future research on preand in-service teachers’ professional vision within the context of their professional development. All vision is perspectival and lodged within endogenous communities of practice. (G OODWIN 1994: 607) 1. Einleitung Ein zentrales Ziel der Lehrer(innen)bildung ist die bestmögliche Vorbereitung und Unterstützung angehender bzw. bereits berufstätiger Lehrpersonen im Hinblick auf ihre diversen beruflichen Anforderungen (vgl. R UTSCH et al. 2017: 10). Die wohl wichtigste Anforderung ist dabei die Gestaltung von Unterricht, „der hohe Qualität aufweist und somit zu guten Lernerfolgen der Schülerinnen und Schüler führt“ (K UNTER et al. 2011: 59). Als wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung eines solchen qualitativ hochwertigen Unterrichts gilt innerhalb des Kompetenzparadigmas eine gut ausgebildete professionelle Kompetenz, die sich aus affektiv-motivationalen Komponenten wie Überzeugungen und Wertehaltungen sowie aus kognitiven Komponenten des professionellen Wissens zusammensetzt (vgl. B AUMERT / K UNTER 2011: 32; B LÖMEKE 2011: 15). 1 Mit der Frage, wie eine solche professionelle Kom- * Korrespondenzadresse: Denis W EGER , Universität Wien, Zentrum für LehrerInnenbildung, Arbeitsbereich Sprachlehr- und -lernforschung, Porzellangasse 4-6, 1090 W IEN , Österreich. E-Mail: denis.weger@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Lehrer(innen)bildung, Sprachlehr-/ -lernforschung, Mehrsprachigkeit. 1 Auf die Diskussionen rund um diverse Kompetenzmodelle im Kontext der Lehrer(innen)bildung kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Am einflussreichsten scheinen zur Zeit aber das Kompetenzmodell von COACTIV (B AUMERT / K UNTER 2011) und von TEDS-LT (B LÖMEKE 2011) zu sein. Ein Modell professioneller Kompetenz spezifisch für Fremdsprachenlehrer(innen) legen L EGUTKE / S CHART (2016: 16-18) vor, einen Überblick über unterschiedliche theoretische Zugänge zur Professionalität von Fremdsprachenlehrer(inne)n geben R OTERS / T RAUTMANN (2014). Professional Vision 15 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 petenz in der Lehrer(innen)bildung besonders mittels Verwendung von Videos 2 (weiter-)entwickelt werden kann, hat sich in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Forschungsarbeiten befasst (für einen Überblick vgl. G AUDIN / C HALIÈS 2015). Ein besonderes Augenmerk vieler dieser Arbeiten lag dabei auf dem Konstrukt der Professional Vision, also der professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden oder bereits berufstätigen Lehrpersonen, gilt diese doch vielen als Vorstufe zu und Indikator für professionelle Handlungskompetenz und Expertise (vgl. D IENER 2016: 140; F RANZ 2017: 188). In die Fremdsprachendidaktik findet das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung erst in den vergangenen Jahren zunehmend Eingang, was besonders im Hinblick auf die lange Tradition videographischer Verfahren in der fremdsprachendidaktischen Forschung verwundert. So nehmen etwa weder S CHRAMM / A GUADO (2010) noch K URTZ (2016) in ihren jeweiligen Überblicksbeiträgen zur Videographie in der fremdsprachendidaktischen Forschung Bezug auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung. Erste fremdsprachendidaktische Studien mit explizitem Bezug zur professionellen Unterrichtswahrnehmung liegen mit den Arbeiten von W IPPERFÜRTH (2015) und M INAŘÍKOVÁ et al. (2015) erst seit 2015 vor. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung und zeigt einige zentrale Entwicklungen sowie weitere Forschungsdesiderata auf. Dazu wird in einem ersten Teil das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung vorgestellt, das in seinen Ursprüngen Mitte der 1990er Jahre für jegliche Art von Profession entwickelt und Anfang der 2000er Jahre auf die Lehrer(innen)bildung übertragen wurde. In einem zweiten Teil wird die professionelle Unterrichtswahrnehmung im Kontext der kompetenzorientierten Lehrer(innen)bildung genauer betrachtet, um darauf aufbauend in einem dritten Teil zentrale Erkenntnisse aus der bisherigen fachdidaktischen und bildungswissenschaftlichen Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen darzustellen. Am Ende des Beitrags stehen all dies zusammenfassend einige Überlegungen zu zukünftigen fremdsprachendidaktischen Forschungen zur professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen. 2. Von der Professional Vision zur professionellen Unterrichtswahrnehmung - Entstehung des Konstrukts und Übertragung auf den Lehrberuf Das Konstrukt der Professional Vision, also einer professionsspezifischen Wahrnehmung, geht auf den US-amerikanischen linguistischen Anthropologen Charles G OODWIN (1994) zurück. G OODWIN beschreibt anhand zweier Beispiele - archäologi- 2 Mit dem Begriff „Videos“ werden in diesem Beitrag videographierte Unterrichtssequenzen von eigenem und fremdem Unterricht unterschiedlicher Länge bezeichnet. 16 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 scher Ausgrabungen und eines Gerichtsprozesses -, wie Angehörige einer bestimmten Profession durch diskursive Prozesse und Praktiken einen professionstypischen Blick auf Aspekte ihres professionellen Gegenstandsbereiches erschaffen und reproduzieren. Die Konstruktion und Reproduktion der professionsspezifischen Wahrnehmung durch Mitglieder einer bestimmten Profession erfolgten nach G OODWIN durch drei Praktiken. Diese drei Praktiken sind (1) die Anwendung von professionstypischen Deutungsmustern (coding schemes) zur systematischen Interpretation von Ereignissen und Beobachtungen, (2) das Hervorheben (highlighting) spezifischer professionsrelevanter Elemente einer wahrgenommenen Situation und (3) die Entwicklung materieller Repräsentationen des Wahrgenommenen (material representations) wie etwa Skizzen und Modelle. Die Anwendung dieser drei Praktiken führt zu einer professionsspezifischen, sozial organisierten Art der Betrachtung und des Verstehens von professionsrelevanten Ereignissen und wird im Zuge beruflicher Sozialisation erlernt (vgl. ebd.: 606-615). Die Mathematikdidaktikerin Miriam Gamoran S HERIN (2001) überträgt G OOD - WINS (1994) Konstrukt der Professional Vision auf die Lehrer(innen)bildung, wobei sie sich vor allem auf die Praktiken des Hervorhebens lernrelevanter Unterrichtselemente und deren Interpretation auf der Grundlage professionstypischer Deutungsmuster konzentriert. Zentral ist für S HERIN (2001) dabei die Fähigkeit von Lehrpersonen, Äußerungen ihrer Lernenden wahrnehmen, darin für den aktuellen Lernprozess relevante Elemente erkennen und diese im Hinblick auf den Lernprozess interpretieren zu können, um darauf aufbauend Entscheidungen zum weiteren Unterrichtsverlauf zu treffen (vgl. S HERIN 2001, 2007; S HERIN / VAN E S 2009; VAN E S et al. 2017; VAN E S / S HERIN 2002). Entsprechend wird die professionsspezifische Wahrnehmung von Lehrpersonen, ihre professionelle Unterrichtswahrnehmung, in Anlehnung an G OODWINS (1994) Praktiken des Hervorhebens und der Anwendung von professionstypischen Deutungsmustern als ein aus zwei Komponenten bestehendes Konstrukt gesehen. Die beiden Komponenten sind dabei (1) die selektive Wahrnehmung (selective attention oder noticing) von lernrelevanten Unterrichtselementen sowie (2) die wissensgesteuerte Verarbeitung (knowledge-based reasoning) dieser wahrgenommenen Unterrichtselemente (vgl. M ESCHEDE et al. 2017: 160; S CHÄFER / S EIDEL 2015: 37-39; S EIDEL / B LOMBERG / S TÜRMER 2010: 297; S HERIN / VAN E S 2009: 22; S TÜRMER / S EIDEL 2017: 139). Die selektive Wahrnehmung bezeichnet die Fähigkeit von Lehrpersonen, lernrelevante Unterrichtskomponenten identifizieren zu können (vgl. S EIDEL et al. 2010: 296; S TÜRMER / K ÖNINGS / S EIDEL 2014). Diese Identifikation relevanter Unterrichtskomponenten ist die Voraussetzung für die zweite Komponente, die wissensgesteuerte Verarbeitung und Interpretation der als lernrelevant identifizierten Unterrichtsinhalte (vgl. S EIDEL et al. 2010: 297). Neuere Studien berücksichtigen neben dem Einfluss des professionellen Wissens auch den Einfluss der Überzeugungen und Wertehaltungen auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung (vgl. M ESCHEDE et al. 2017), wodurch sie die bisher sehr enge Fokussierung besonders der deutschsprachigen Lehrer(innen)bildungsforschung auf das Wissen (vgl. N EUWEG 2015: 378) um weitere zentrale Facetten der Professional Vision 17 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 professionellen Kompetenz von Lehrer(inne)n ergänzen. Die beiden Komponenten der professionellen Unterrichtswahrnehmung, die selektive Wahrnehmung und die wissensgesteuerte Verarbeitung, laufen weder eindeutig getrennt voneinander noch nacheinander ab, sondern sind vielmehr innerhalb eines dynamischen zirkulären Prozesses gegenseitiger Beeinflussung zu sehen (vgl. S HERIN / R USS 2015: 17). Die Begriffsverwendung in der Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung ist teilweise uneinheitlich. In manchen Artikeln übernehmen S HERIN und VAN E S die Bezeichnung professional vision von G OODWIN (1994) als Überbegriff für das gesamte Konstrukt, die Teilkomponenten bezeichnen sie manchmal als selective attention und knowledge-based reasoning (vgl. S HERIN 2007: 384; S HERIN / R USS 2015: 4; S HERIN / VAN E S 2009: 22) bzw. als noticing und interpreting classroom interactions (vgl. S HERIN et al. 2008: 29). In manchen Texten wiederum wird noticing als Überbegriff für das gesamte Konstrukt verwendet (vgl. VAN E S / S HERIN 2008: 245), das dann wiederum unterteilt wird in „the ability to attend to noteworthy features of instruction, to reason about what is observed in meaningful ways, and to decide how to respond” ( VAN E S et al. 2017: 167; ähnlich auch in VAN E S / S HERIN 2008: 245). In der deutschsprachigen Forschung scheinen sich die Bezeichnungen professionelle Wahrnehmung bzw. professional vision für das Gesamtkonstrukt sowie selective attention und noticing für die erste sowie knowlegde-based reasoning für die zweite Teilkomponente durchgesetzt zu haben (vgl. M ESCHEDE et al. 2017: 160; S TÜRMER / S EIDEL , 2017: 139; S UNDER / T ODOROVA / M ÖLLER 2016: 340f.; W IPPERFÜRTH 2015: 77-79). Da die Bezeichnung professional vision im Gegensatz zu noticing zudem explizit auf den Aspekt der professionsspezifischen Wahrnehmung verweist, wird in diesem Text - angepasst an die deutsche Rechtschreibung - der Begriff Professional Vision bzw. professionsspezifische Wahrnehmung für das Gesamtkonstrukt nach G OODWIN (1994) verwendet. Für die professionsspezifische Wahrnehmung von Lehrer(inne)n im Hinblick auf Unterricht hat sich in der deutschsprachigen Diskussion die Bezeichnung „professionelle Unterrichtswahrnehmung“ etabliert (vgl. G IEßLER 2016: 146; J AHN et al. 2014: 171; S TÜRMER / S EIDEL / K UNINA - H ABENICHT 2015: 346). Diese Terminologie wird auch im vorliegenden Beitrag übernommen. 3. Professionelle Unterrichtswahrnehmung im Kontext der kompetenzorientierten Lehrer(innen)bildung Eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung qualitativ hochwertigen Unterrichts ist, wie eingangs schon angeführt, eine gut ausgebildete professionelle Kompetenz, bestehend aus affektiv-motivationalen Komponenten wie Überzeugungen und Wertehaltungen sowie aus kognitiven Komponenten des professionellen Wissens (vgl. B AUMERT / K UNTER 2011: 32; B LÖMEKE 2011: 15). Dem Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung liegt nun die Annahme zugrunde, dass diese professionelle Kompetenz die Wahrnehmung und Interpretation von Unter- 18 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 richtssituationen beeinflusst und die Qualität der Beurteilung von Unterrichtssituationen daher auch als Gradmesser für die professionelle Kompetenz angesehen werden kann (vgl. F RANZ 2017; M ICHALSKY 2014: 215; S EIDEL et al. 2010). Dieser Annahme entsprechen auch neuere theoretische Zugänge, die professionelle Kompetenz sowie deren Umsetzung in der Unterrichtspraxis (Performanz) als zwei sich gegenüber stehende Enden eines Kontinuums sehen, die mittels situationsspezifischer Fertigkeiten wie der Wahrnehmung und Interpretation von und Entscheidungsfindung in konkreten Handlungskontexten miteinander verbunden sind (vgl. B LÖ - MEKE / G USTAFSSON / S HAVELSON 2015: 6f.). In diesem Modell kann, wie in Abb. 1 dargestellt, die professionelle Unterrichtswahrnehmung mit ihren beiden Komponenten der selektiven Wahrnehmung und der wissensgesteuerten Verarbeitung als eine solche situationsspezifische Fertigkeit gesehen werden, die die professionelle Kompetenz von Lehrpersonen mit der Umsetzung dieser Kompetenz in ihrer Unterrichtspraxis verbindet (vgl. M ESCHEDE et al. 2017: 160). Die Erfahrungen in der Unterrichtspraxis und die professionelle Kompetenz können dabei beide auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung einwirken und sich dadurch gegenseitig beeinflussen (vgl. S ANTAGATA / Y EH 2016: 163), wie die Pfeile in Abb. 1 darstellen. Abb. 1: Kompetenz als Kontinuum auf der Basis von B LÖMEKE et al. (2015) 3 Ein solches Verständnis von Kompetenz als Kontinuum entspricht auch der Vorstellung von professioneller Unterrichtswahrnehmung als Indikator für Theorie und Praxis integrierendes Wissen (vgl. S EIDEL / S TÜRMER 2014) bzw. für „usable knowledge“, also für Wissen, das Lehrpersonen im Unterrichtsprozess abrufen und anwenden können (vgl. K ERSTING et al. 2012: 570f.). Diese Vermittlungsfunktion 3 Mit Fokus auf professionellem Wissen, Überzeugungen und professioneller Unterrichtswahrnehmung sowie der von S ANTAGATA und Y EH (2016) angenommenen Bidirektionalität zwischen Dispositionen und Praxiserfahrungen (aus: M ESCHEDE et al. 2017: 161) Professional Vision 19 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 zwischen professioneller Kompetenz und Performanz macht die professionelle Unterrichtswahrnehmung besonders für die fachdidaktische Forschung interessant, kann man das fachdidaktische Wissen doch als praktisches Anwendungswissen sehen, in dem fachliches und pädagogisches Wissen anwendungsorientiert verbunden werden (vgl. B USSE / K AISER 2015: 303). Den beiden Teilkomponenten der professionellen Unterrichtswahrnehmung, d.h. der selektiven Wahrnehmung und der wissensgesteuerten Verarbeitung, werden in der Kompetenzforschung unterschiedliche Funktionen zugeteilt. Die selektive Wahrnehmung gilt dabei als „Anker zur Erfassung professioneller Kompetenz, da bereits in dieser Phase ein Teil der professionellen Anforderungsbewältigung erreicht wird“ (S EIDEL et al. 2010: 296). Die wissensgesteuerte Verarbeitung wiederum ermöglicht Einblicke in die „quality of the preservice teachers’ mental representations of knowledge and the application of those representations to instructional practice“ (S TÜRMER et al. 2014: 38). Für die qualitative Beurteilung dieser wissensgesteuerten Verarbeitung werden meist drei Qualitätsebenen unterschieden: (1) das Beschreiben von Unterricht, (2) das Erklären von für den Unterricht relevanten Ereignissen sowie (3) das Vorhersagen der Wirkung dieser Ereignisse auf Lehr-Lernprozesse (vgl. S TÜRMER / S EIDEL / H OLZBERGER 2016: 295; S TÜRMER et al. 2015: 347; VAN E S / S HERIN 2008: 244). Unterschiede in der Art der Wahrnehmung und Interpretation von Unterricht zwischen weniger erfahrenen (NovizInnen) und erfahreneren Lehrpersonen (ExpertInnen) konnten auch in verschiedenen empirischen Studien festgestellt werden. So beschränken sich Noviz(inn)en oft eher auf eine Beschreibung beobachteter Unterrichtssequenzen, während Expert(inn)en signifikant häufiger auch auf die potentiellen Auswirkungen der beobachteten Sequenz auf die Lernprozesse ihrer Lernenden eingehen (vgl. B ERLINER 2004: 205-208; M ESCHEDE et al. 2017: 167; S EIDEL / P RENZEL 2007: 212f.). Die Forscher(innen) sind sich bei der Untersuchung der professionellen Unterrichtswahrnehmung des Unterschieds zwischen der Analyse authentischer Unterrichtsvideos und der Entscheidungsfindung in der Unterrichtspraxis durchaus bewusst. Sie gehen aber davon aus, dass Personen, die bei der Analyse von Unterrichtsvideos wenig erfolgreich sind, auch bei Interpretation und Entscheidungsfindung im direkten und dadurch noch komplexeren Unterrichtsgeschehen nicht erfolgreicher sein würden (vgl. K ERSTING et al. 2016: 103). In der Förderung und Erfassung der professionellen Unterrichtswahrnehmung nehmen videographische Verfahren eine zentrale Rolle ein, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen werden soll. 20 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 4. Videographische Verfahren als Mittel der Wahl in fachdidaktischen Arbeiten zur professionellen Unterrichtswahrnehmung 4 Videographische Verfahren nehmen in der Lehrer(innen)bildung auf Grund verschiedener Aspekte eine zunehmend größere Rolle ein. Videos fangen einen großen Teil der Komplexität des Unterrichtsgeschehens ein 5 und können bei Bedarf mehrfach angesehen und dadurch im Detail analysiert und diskutiert werden, wodurch sie je nach Zielsetzung teilweise sogar besser für Unterrichtsanalysen geeignet sein können als Unterrichtshospitationen (vgl. K LIPPEL 2016: 151; S HERIN et al. 2008: 29; VAN E S et al. 2014: 341). Als „Artefakte der Praxis“ können Videos außerdem eine Brücke zwischen der Aus- und Fortbildung an den Hochschulen und der konkreten Unterrichtspraxis bilden, was durch die Digitalisierung und die Entwicklung benutzerfreundlicher Software in den vergangenen Jahren auch zunehmend einfacher wurde (vgl. G AUDIN / C HALIÈS 2015: 42). Nicht zuletzt ermöglichen Videos des eigenen Unterrichts es erst, dass Lehrpersonen Beobachter(innen) ihres eigenen Unterrichts werden können (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 169-170). Diese Vorteile gegenüber schriftlichen Unterrichtsbeschreibungen, aber auch gegenüber Unterrichtshospitationen machen Videos zu einem geeigneten Mittel sowohl für die Erforschung als auch für die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen (vgl. S HERIN et al. 2008: 29). Videos von ganzen Unterrichtsstunden werden dabei aus zeitlichen Gründen seltener eingesetzt. Häufiger verwendet werden kürzere Unterrichtssequenzen in der Länge von zwei bis sieben Minuten (vgl. G AUDIN / C HALIÈS 2015: 57), die durch eine kurze schriftliche Beschreibung der Situation und des Kontextes situiert werden, sogenannte Videovignetten. Diese Videovignetten dienen dann als Impuls für unterschiedliche Bearbeitungsaufgaben wie etwa der Beantwortung von Fragebögen oder der Besprechung der dargestellten Unterrichtssituation in Interviews oder Lehrveranstaltungen (vgl. B ENZ 2016). 4 In diesem Abschnitt stehen Videostudien im Mittelpunkt, die explizit der Erfassung und/ oder Entwicklung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen nachgehen bzw. mit dem Konstrukt arbeiten, um Kompetenzen angehender und bereits berufstätiger Lehrpersonen zu erheben und/ oder zu fördern. Eine Übersicht über Videostudien in der Lehrer(innen)bildung allgemein bieten J ANÍK / S EIDEL / N AJNAR (2009) mit Fokus auf internationale Large-Scale Assessments und J ANÍK / M INAŘÍ - KOVÁ / N AJVAR (2013) mit Fokus auf eher qualitative Studien. Lediglich verwiesen sei hier auch auf das Online-Fall-Laboratorium (S CHRADER o.J.), über das videographierte Unterrichtssequenzen aus unterschiedlichen Fachrichtungen didaktisch aufbereitet zur Verfügung gestellt werden. 5 Die Videokamera legt dabei die Perspektive fest, es können aber auch mehrere Kameras aufgestellt werden, was wiederum stärkeren Einfluss auf den Unterricht haben kann. Diese Aspekte werden hier aus Platzgründen nicht diskutiert, ebenfalls auch nicht der potentielle (negative) Einfluss, den Videoaufnahmen auf Schüler(innen) haben können (vgl. dazu I MAMOVIC 2015). Professional Vision 21 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 4.1 Videobasierte Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von bereits berufstätigen Lehrpersonen Am Beginn der Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung stehen die Arbeiten von S HERIN (2001, 2007), S HERIN / H AN (2004) sowie VAN E S / S HERIN (2008), die mit qualitativen Ansätzen Veränderungen der professionellen Unterrichtswahrnehmung von bereits berufstätigen Mathematiklehrpersonen im Kontext von sogenannten Videoclubs untersuchten. In diesen Videoclubs trafen sich Lehrpersonen in regelmäßigen Abständen und diskutierten - unterstützt von den Forscherinnen - videographierte Unterrichtssequenzen aus dem eigenen Unterricht. Diskutiert werden sollten lernrelevante Unterrichtselemente auf der Basis von Handlungen und Äußerungen ihrer Schüler(innen). Diese Diskussionen wurden auf Video aufgezeichnet und inhaltsanalytisch nach unterschiedlichen Kategorien ausgewertet (vgl. VAN E S / S HERIN 2008: 252). Die Auswertungen zeigten unter anderem eine Verschiebung des Wahrnehmungsfokus weg vom Verhalten der Lehrperson im Video hin zu den Handlungen und Äußerungen der Lernenden und deren möglichen Implikationen für die Lernprozesse (vgl. S HERIN 2007: 387-389; S HERIN / H AN 2004: 181). Diese Veränderung betraf nicht nur die Diskussionen in den Videoclubs, sondern konnte ähnlich auch im Unterricht der an den Videoclubs teilnehmenden Lehrpersonen festgestellt werden (vgl. S HERIN / VAN E S 2009: 32). Die Vorgehensweise von VAN E S und S HERIN (2008) übernahmen auch M INAŘÍKOVÁ et al. (2015), indem sie die Veränderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von elf Lehrpersonen für Englisch als Fremdsprache durch deren einjährige Teilnahme an Videoclubs untersuchten. Im Fokus der Untersuchung stand dabei die Wahrnehmung von Unterrichtselementen, die zur Förderung der kommunikativen Kompetenz der Schüler(innen) beitragen sollten. Auch hier zeigte sich, ähnlich wie bei VAN E S / S HERIN (2008), eine Verschiebung des Wahrnehmungsfokus weg von der beoboachteten Lehrperson hin zu den Unterrichtszielen und -inhalten, wovon M INAŘÍKOVÁ et al. (2015: 72) auf eine Integration des Konzeptes der kommunikativen Kompetenz in die Wissensstrukturen der Lehrpersonen durch ihre Teilnahme an den Videoclubs schließen. Die qualitativen Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von bereits berufstätigen Lehrpersonen wurden bald auch durch quantitative Studien ergänzt, die auf computergestützte Formen der Datenerhebung bauten und deren Fokus stärker auf der Kompetenzmessung mittels professioneller Unterrichtswahrnehmung als auf deren Förderung lag. Zu nennen sind hier etwa die Studie Lernen aus Unterrichtsvideos (LUV) (vgl. S EIDEL / P RENZEL 2007) sowie Studien mit dem Classroom Video Analysis (CVA) Instrument (vgl. K ERSTING 2008). Im Rahmen der LUV-Studie wurde erstmals ein Verfahren zur Erfassung der Analysekompetenz von (Physik-)Lehrpersonen mit geschlossenen Antwortformaten zu den drei Facetten Beschreiben, Erklären und Bewerten konzipiert und validiert (vgl. S EIDEL / P RENZEL 2007: 212-214). Die CVA-Studien zielten auf die Messung der professionellen Kompetenz von Mathematiklehrpersonen mittels offener Analysefragen zu 22 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 Videos ab. Lehrpersonen wurden hier gebeten, videographierten Unterricht in Bezug auf mathematische Fachinhalte und Schüler(innen)kognitionen zu analysieren und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge für die analysierte Unterrichtssequenz zu formulieren (vgl. K ERSTING 2008; K ERSTING et al. 2016). Ergebnisse aus CVA-Studien, bei denen auch die Lernprozesse der Schüler(innen) erhoben wurden, zeigen, dass eine gut ausgebildete Wissensbasis von Lehrpersonen („usable knowlegde“, siehe Abschnitt 3), wie sie über die professionelle Unterrichtswahrnehmung erfasst werden kann, die Unterrichtsqualität erhöht und dadurch positive Auswirkungen auf den Erfolg der Lernenden hat (vgl. K ERSTING et al. 2012: 586). Die Art und Weise, wie das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung in den meisten Studien zur Kompetenz von bereits berufstätigen Lehrer(inne)n verwendet wird, ist allerdings nicht unumstritten. L EFSTEIN / S NELL (2011) und auf sie aufbauend auch W IPPERFÜRTH (2015: 73-77) kritisieren ein gewisses Defizitdenken, das S HERIN (2001) in die Lehrer(innen)bildung einbringt und das von nachfolgenden Studien unreflektiert übernommen wird. G OODWIN (1994: 626) hatte bei seiner Untersuchung der Diskurse innerhalb einer Berufsgruppe bereits den Machtaspekt von in der Gesellschaft ungleich verteilten Professional Visions thematisiert. S HERIN (2001) hingegen klammert nicht nur diesen Machtaspekt völlig aus, sondern vergleicht auch ihre eigene professionsspezifische Wahrnehmung, also die einer Wissenschaftlerin, mit der professionsspezifischen Wahrnehmung von Lehrer(inne)n und vermischt damit zwei Berufsgruppen, wobei sie ihre eigene professionsspezifische Wahrnehmung als Anregung für jene der Lehrer(innen) sieht und damit „die grundsätzliche Unzulänglichkeit des professionellen Blicks der Lehrer(innen) und deren Lernbedürftigkeit [betont]“ (W IPPERFÜRTH 2015: 73) 6 . Dieses Defizitdenken wird durch die theoriegeleiteten Top-down-Ansätze in der Erstellung der Kategorien für die Analyse der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen, wie sie in den meisten Studien üblich ist, zusätzlich verstärkt (vgl. ebd.: 74). W IPPERFÜRTH (ebd.) begegnet diesem Defizitdenken in ihrer Studie zur professionellen Unterrichtswahrnehmung und Berufssprache von Englischlehrpersonen dadurch, dass sie bei der Konzeption ihres ‚Lernenden Lehrernetzwerks‘, in dessen Rahmen sie ihre Studie durchführt, Überlegungen der Lehrpersonen selbst zu relevanten Aspekten von Englischunterricht berücksichtigt. Durch diese stärkere Zusammenarbeit von Forscherin und Praktiker(inne)n, die sich bei W IPPERFÜRTH (ebd.) auch noch auf weitere Bereiche erstreckt, entwickelt sie auf Basis einer Vorstellung von communities of practice and research (vgl. ebd.: 314) das Konzept der reflective best practice in dialogue (vgl. W IPPERFÜRTH 2016), das in zukünftigen 6 Zu bedenken ist in dieser Hinsicht auch, dass die Arbeiten von S HERIN und VAN E S im Kontext von Reformen des Mathematikunterrichts in den USA zu sehen sind, die mit dem Ziel einer Verbesserung der Unterrichtsqualität eine stärkere Berücksichtigung des individuellen Wissensstandes der Schüler(innen) im Unterricht fordern (vgl. NCTM 2001: 2) und dadurch im Grunde bereits ein Defizit in der bis damals üblichen Unterrichtspraxis vieler Lehrpersonen implizieren. Dies kommt auch bei VAN E S / S HERIN (2008: 244) zum Ausdruck, wenn sie schreiben „that teachers’ current professional vision may not always be in line with the goals of reform“. Professional Vision 23 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 Studien zu und Konzeptionen von Fortbildungsmaßnahmen mehr Beachtung finden sollte. Durch einen solchen stärker dialogbasierten Zugang würde das in vielen Studien unreflektiert mitschwingende Defizitdenken von Forscher(inne)n gegenüber Praktiker(inne)n aufgelöst oder zumindest reduziert und damit auch dem bei G OODWIN (1994: 626) angeführten Machtaspekt in Bezug auf unterschiedliche Professional Visions stärker Rechnung getragen. Die allermeisten Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung der vergangenen Jahre haben sich mit dem Zusammenhang der professionellen Unterrichtswahrnehmung und den kognitiven Facetten der professionellen Kompetenz, also dem professionellen Wissen, befasst (für einen Überblick vgl. G AUDIN / C HALIÈS 2015: 45-50). Neuere Studien betrachten nun zunehmend auch die Rolle der affektiv-motivationalen Facetten der professionellen Kompetenz, also die persönlichen Überzeugungen und Wertehaltungen, im Kontext der professionellen Unterrichtswahrnehmung (siehe Abschnitt 3). M ESCHEDE et al. (2017) untersuchen in einer quantitativ angelegten Studie etwa den Zusammenhang zwischen fachdidaktischem Wissen, Lehrer(innen)überzeugungen in Bezug auf Lerntheorien und der professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden und bereits berufstätigen Lehrer(inne)n im naturwissenschaftlichen Unterricht der Grundschule. Die Ergebnisse der Studie verweisen auf einen Einfluss der Überzeugungen auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung, denn Personen mit transmissiven Überzeugungen scheinen bei der Beschreibung und Interpretation von lernrelevanten Unterrichtssituationen weniger erfolgreich zu sein als Personen mit konstruktivistischen Überzeugungen (vgl. ebd.: 167). S HERIN / R USS (2015) gehen in eine ähnliche Richtung, indem sie in einem qualitativen Ansatz 13 interpretative Rahmen (interpretative frames) herausarbeiten, auf die sich Lehrpersonen im Prozess der professionellen Unterrichtswahrnehmung beziehen. Diese interpretativen Rahmen können als Netzwerk von Konzepten und Annahmen gesehen werden, auf die Lehrpersonen bei der selektiven Wahrnehmung und der wissensgesteuerten Verarbeitung zurückgreifen (vgl. ebd.: 18). Neben eher kognitiven Rahmen, die sich beispielsweise auf Evaluations- und Vergleichsprozesse beziehen, scheinen besonders auch affektive Referenzrahmen, die auf die Emotionen der Lehrpersonen verweisen, eine wesentliche Rolle zu spielen (vgl. ebd.: 16-17). Mit Stand 2018 noch laufende Forschungsprojekte aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache mit Bezug u.a. auf das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der fremdsprachendidaktischen Lehrer(innen)fortbildung befassen sich mit der Professionalisierung von Lehrpersonen mittels Diskussion von Videos aus dem eigenen Unterricht in unterschiedlichen Onlineformaten, so etwa das Projekt Lehrkompetenzentwicklung für extensiven Leseunterricht (vgl. D AWIDOWICZ et al. 2017) im blended-learning-Format sowie das Dissertationsprojekt von D AWIDO - WICZ (s. D AWIDOWICZ in diesem Band; vgl. D AWIDOWICZ / S CHRAMM 2016) in einem reinen Onlineformat. Beide Projekte lassen aufschlussreiche Erkenntnisse über Prozesse kollegialer Kooperation in länderübergreifenden Lehrer(innen)gruppen erwarten. 24 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 4.3 Videobasierte Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Lehrpersonen Am Beginn der Forschung zur professionellen Unterrichtswahrnehmung standen erfahrene Lehrpersonen im Zentrum des Interesses; eine zunehmende Anzahl an Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Lehrpersonen in den vergangenen Jahren belegt ein wachsendes Forschungsinteresse an diesem Bereich. Die meisten dieser Studien gehen dabei der Frage nach, inwiefern professionelle Kompetenz von angehenden Lehrpersonen in der Ausbildung durch die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung entwickelt bzw. zumindest angebahnt werden kann. Grundlage ist dabei die Beobachtung, dass Lehramtsstudierende vor allem am Beginn ihres Studiums kaum lernrelevante Aspekte in Unterrichtssequenzen wahrnehmen, sie es durch strukturierte Unterstützung aber lernen können (vgl. S TAR / S TRICKLAND 2008: 121-124). Die Ersten, die sich mit der Entwicklung der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Ausbildung von Lehrpersonen befassten, waren VAN E S / S HERIN (2002) 7 . Sie gingen in ihrer Studie der Frage nach, inwiefern eine geleitete Analyse von Unterrichtsvideos einen nachhaltigen Einfluss auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung angehender (Mathematik-)Lehrpersonen haben würde. Dafür entwickelten sie mit dem Video Analysis Support Tool (VAST) die erste computerunterstützte Lernumgebung, die den Aufbau der professionellen Unterrichtswahrnehmung der Studienteilnehmer(innen) explizit fördern sollte, indem diese Unterrichtssequenzen fragengeleitet analysierten. Die Analysefragen zielten dabei auf die selektive Wahrnehmung relevanter Unterrichtselemente (What do you notice? ), auf Belege und Argumente für die Relevanz der wahrgenommenen Elemente (evidence) sowie auf deren Interpretation (interpretation) im Hinblick auf die Lernprozesse der Schüler(innen) ab (vgl. ebd.: 576f.). Nach der Intervention wurden schriftliche Analysen von Unterrichtsvideos von Personen, die mit VAST gearbeitet hatten, mit Analysen von Personen verglichen, die nicht damit gearbeitet hatten. Bei der Gruppe der VAST-Benutzer(innen) zeigte sich dabei eine stärkere Fokussierung auf relevante Unterrichtselemente sowie deren Interpretation im Hinblick auf die Lernprozesse der Schüler(innen), während die Kontrollgruppe den Unterrichtsablauf eher chronologisch beschrieb (vgl. ebd.: 590). Zu ähnlich positiven Ergebnissen einer expliziten Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung durch eine angeleitete Analyse von Unterrichtsvideos kamen auch weitere Studien sowohl mit qualitativen (vgl. S TAR / S TRICKLAND 2008; VAN E S et al. 2017) als auch mit quantitativen (vgl. S TÜRMER et al. 2016) Ansätzen. In der Forschung herrscht große Einigkeit darüber, dass die Arbeit mit Videos - ganz besonders in der Ausbildung - strukturiert sein muss, um sich positiv auf die 7 Die zwölf Studienteilnehmer(innen) bei VAN E S / S HERIN (2002) waren Quereinsteiger(innen) in den Lehrberuf, die während ihres ersten Unterrichtsjahres einen für den Erhalt der Lehrerlaubnis notwendigen Zertifizierungskurs besuchten. Es handelte sich hier also nicht um reguläre Lehramtsstudierende, wie es bei allen anderen in diesem Abschnitt zitierten Studien der Fall ist. Professional Vision 25 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 Entwicklung der professionellen Unterrichtswahrnehmung auszuwirken. Videos sollen dabei als „shared texts and common experiences“ (vgl. H ATCH et al. 2016: 275) dienen, die in auf die Lehr-Lernziele abgestimmten Formen in verschiedenen Konstellationen gemeinsam besprochen und analysiert werden. VAN E S et al. (2017: 169) kritisieren in dieser Hinsicht, dass Studien nur in den seltensten Fällen ausführen, wie sie denn abseits der Datenerhebung konkret mit Videos gearbeitet haben; dabei wären oft genau diese Informationen zentral für die Verbesserung universitärerer Lerngelegenheiten. Eine positive Ausnahme stellt hier die Studie von S ANTA - GATA / G UARINO (2011) dar. Die beiden Autorinnen führen darin nicht nur eine detaillierte Übersicht zu den verwendeten Videos und den zu deren Analyse formulierten Aufgabenstellungen an, sondern legen mit ihrem Lesson Analysis Framework eine konkrete Struktur für die Gestaltung von Lerngelegenheiten zur Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung im Rahmen gemeinsamer Analysen vor (s. Abb. 2). Das Lesson Analysis Framework strukturiert die Arbeit mit Videos in vier Phasen: (1) die Identifikation der Lernziele der videographierten Unterrichtssequenz, (2) die Analyse von Schüler(innen)äußerungen, die Aufschluss über Lernprozesse hin zu diesen Lernzielen geben, (3) Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung und deren positiven und/ oder negativen Einfluss auf die Lernprozesse der Schüler(innen) sowie letztlich (4) das Generieren potentieller Handlungsalternativen zur Verbesserung der analysierten Unterrichtssequenz (vgl. ebd.: 134). Abb. 2: Lesson Analysis Framework (aus: S ANTAGATA / G UARINO 2011: 121) 26 Denis Weger DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 48 (2019) • Heft 1 Neben der Struktur der Lerngelegenheiten wird auch deren konkreter Ausgestaltung besonders im Hinblick auf die Anleitung und Moderation der Analyse von Unterrichtssequenzen große Bedeutung zugemessen. Aus Platzgründen kann hier nicht darauf eingegangen werden, ein konkretes Konzept zur Anregung produktiver Diskussionen über Unterrichtsvideos legen aber VAN E S et al. (2014: 347) vor, das von M ESCHEDE / S TEFFENSKY (2018: 31) aufgegriffen und ergänzt wurde. Die meisten Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung angehender Lehrpersonen stammen aus dem Bereich der mathematikdidaktischen Forschung, in jüngster Zeit findet das Konstrukt aber auch zunehmend Eingang in die fremdsprachendidaktische Lehrer(innen)ausbildung. So gehen die Studien von D IENER (2016) und G IEßLER (2016) beide der Frage nach, inwiefern eine videobasierte Lehrveranstaltung in der Fachdidaktik Englisch zum Aufbau professioneller Kompetenzen im Bereich des Leseunterrichts bzw. des lexikalischen Lernens bei den Studierenden beiträgt, als deren Indikator sie die professionelle Unterrichtswahrnehmung sehen. Die bisher vorliegenden Ergebnisse zeigen auch hier eine stärkere Differenziertheit in der Analyse von Unterrichtssequenzen (vgl. D IENER 2016: 137-140; G IEßLER 2016: 145). Ebenfalls in der Fachdidaktik Englisch angesiedelt ist K LIPPEL s (2016) hochschuldidaktisches Konzept, bei dem Studierende selbst Analyseaufgaben zu Videos zu authentischem Englischunterricht entwickeln. Dieses Projekt wurde bisher zwar noch nicht empirisch evaluiert, die Rückmeldungen der beteiligten Studierenden und Dozentinnen waren allerdings überwiegend positiv (vgl. ebd.: 162f.). In dieser Hinsicht vielversprechend ist auch das sich explizit auf das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung beziehende und mit 2018 in der zweiten Phase laufende Forschungsprojekt Effektive Kompetenzdiagnose in der Lehrerbildung (EKoL) zu den Domänen Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Technik sowie zum kompetenten Umgang mit Heterogenität, in dessen Rahmen u.a. das Potential von Videos für den Aufbau professioneller Kompetenzen in der universitären Lehre in größerem Umfang evaluiert werden soll (vgl. R UTSCH et al. 2017: 9f.). 5. Fazit und Ausblick Das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung ist seit seiner Übernahme in die Lehrer(innen)bildung in einer Vielzahl an Studien sowohl als Ausgangspunkt als auch als Ziel von Professionalisierungsbemühungen gesehen worden und hat sich als ein Indikator für professionelle Kompetenz etabliert. Besonders die mathematikdidaktische Forschung hat viele Erkenntnisse erarbeitet, an die andere Fachdidaktiken anschließen können. Übertragbar erscheinen hier etwa grundsätzliche Überlegungen zur Struktur und Ausgestaltung von Lehr-Lerngelegenheiten zur Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung sowie unterschiedliche Forschungsmethoden und -designs. Die in diesem Beitrag angeführten Arbeiten aus den Bereichen Englisch und Deutsch als Fremdsprache sind Beispiele für eine reflek- Professional Vision 27 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0002 tierte und gewinnbringende Übertragung und Weiterentwicklung dieser Erkenntnisse in die fremdsprachendidaktische Forschung. Zukünftige fremdsprachendidaktische Arbeiten könnten sich wesentlich stärker als bisher mit dem Einfluss der persönlichen Überzeugungen und Wertehaltungen auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehrpersonen befassen. Interessant wäre dies etwa im Kontext von Einstellungen gegenüber verschiedenen Sprachen (z.B. mit Bezug auf das Sprachprestige) und/ oder gegenüber verschiedenen Aspekten im Kontext von schulischer und migrationsbedingter Mehrsprachigkeit (z.B. im Hinblick auf mehrsprachigkeitsdidaktische Zugänge). Zentral für den Fremdsprachenunterricht und daher auch besonders wichtig - aber wohl auch besonders herausfordernd - wären außerdem Studien zur Vermittlungspraxis soziokultureller Zusammenhänge, die in sich selbst bereits eine Veränderung bzw. Erweiterung des eigenen Blicks auf die Welt bergen. Wenige Studien haben bisher außerdem untersucht, welche mentalen Prozesse Veränderungen in der professionellen Unterrichtswahrnehmung zugrunde liegen. Hier könnten Arbeiten mit introspektiven Verfahren aufschlussreiche Erkenntnisse bringen. Insgesamt sollten zukünftige Arbeiten die noch häufig unreflektierte Defizitperspektive der professionellen Unterrichtswahrnehmung überwinden. Dies gilt insbesondere für Fortbildungskontexte, die Frage der ‚richtigen‘ Professional Vision sollte aber auch für Ausbildungskontexte kritisch reflektiert und häufiger thematisiert werden. Alles in allem hat die professionelle Unterrichtswahrnehmung als Bindeglied zwischen professioneller Kompetenz und dem Handeln in der Unterrichtspraxis großes Potential, fundierte Antworten auf die von L EGUTKE / S CHART (2016: 20) aufgeworfene Frage nach forschungsbasierten, Theorie und Praxis angemessen integrierenden Aus- und Fortbildungsprogrammen zu bieten und dadurch Lehr- Lernprozesse in Aus- und Fortbildung nachhaltig zu verbessern. Literatur B AUMERT , Jürgen / K UNTER , Mareike (2011): „Das Kompetenzmodell von COACTIV“. In: K UNTER , Mareike / B AUMERT , Jürgen / B LUM , Werner / K LUSMANN , Uta / K RAUSS , Stefan / N EUBRAND , Michael (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann, 29-53. 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Results from empirical studies in educational research suggest that structured observation prompts enhance noticing as a key dimension of professional vision. The paper reports on the design of a multiple case study (LexLern) that explores the professional vision of EFL student teachers with a specific focus on lexical learning. Insights from related studies which influenced the design of lesson observation prompts in this study are reported as well. Some examples from student teachers’ written video analyses illustrate how specific observation prompts direct selective attention and enhance knowledge-based reasoning. The paper concludes with some reflections on task design in video-based EFL teacher education. 1. Einleitung Die professionelle Unterrichtswahrnehmung stellt „einen bedeutsamen Indikator für die professionelle Handlungskompetenz der Lehrpersonen dar“ (S TÜRMER 2011: 6) und gilt generell als ein Teil der Expertise von Lehrpersonen (vgl. S HERIN 2001, 2004; VAN E S / S HERIN 2008; S TÜRMER 2011). Wer Unterricht professionell wahrnimmt, überlässt sich nicht einfach dem Ereignisstrom und greift Ereignisse oder Interaktionen nach dem Zufallsprinzip heraus, sondern richtet seine Aufmerksamkeit zielgerichtet auf lernrelevante Merkmale von Unterricht, die „nicht an der Oberfläche des Verstehens, sondern nur auf einer tiefer liegenden Ebene erkennbar“ (S CHWINDT 2008: 53) sind. Die professionelle Unterrichtswahrnehmung (PUW) hat sich in den letzten Jahren zunehmend als ein eigenes Forschungsfeld entwickelt. In der bildungswissenschaftlichen Forschung (vgl. u.a. S TÜRMER 2011; S TÜRMER / K ÖNINGS / S EIDEL 2012; S EIDEL / S TÜRMER 2014; H OLODYNSKI et al. 2016; B ARTH 2017) wurde die professionelle Unterrichtswahrnehmung bislang nur in Bezug auf pädagogisch-psychologische Facetten von Unterricht erforscht. Untersuchungen, welche sich mit der auf * Korrespondenzadresse: Dr. Ralf G IEßLER , Akad. Oberrat, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Anglistik/ Amerikanistik: Didaktik des Englischen, Gaußstr. 20, D-42119 W UPPERTAL . E-Mail: giessler@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Professionsforschung, Wortschatzdidaktik, Populärkultur im Englischunterricht. Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 33 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 spezielle Bereiche fremdsprachlichen Lernens gerichteten Unterrichtswahrnehmung beschäftigen, stellen insofern ein Desiderat dar. Angesichts der Relevanz der PUW für die Professionalität von Lehrkräften (s. W EGER in diesem Heft) stellt sich für die Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften die Frage, wie sich die PUW in der universitären Lehrerausbildung fördern lässt. Was wissen wir über den Zusammenhang von Aufgabenformaten und Ergebnissen in Studien zur Förderung der PUW? Welche Aufgabenformate eignen sich, um speziell die PUW von angehenden Englischlehrkräften zu fördern? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Ergebnissen für das Design von Aufgabenformaten und Settings in der videobasierten Lehrerbildung ziehen? Nach der Klärung einzelner Begriffe (videobasierte Settings, Aufgabenformate und Beobachtungsprompts) sollen einige Forschungsbefunde zu Beobachtungsprompts aus Studien zur professionellen Unterrichtswahrnehmung referiert werden. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt nachfolgend auf der Beschreibung der Aufgabenformate, die in einem videobasierten Setting zur Förderung der PUW von angehenden Englischlehrkräften im Bereich des lexikalischen Lernens entwickelt wurden. Im Hinblick auf die Frage nach geeigneten Aufgabenformaten werden ausgewählte Ergebnisse aus den Daten (hier: schriftliche Analysen von Unterrichtsvideos aus dem Englischunterricht) der von mir durchgeführten englischdidaktischen Mehrfachfallstudie über die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung vorgestellt (vgl. G IEßLER 2018, 2016a, 2016b). Beispiele aus den Daten der Mehrfachfallstudie münden in Schlussfolgerungen für die Entwicklung von Aufgabenformaten in der videobasierten Lehrerbildung. Ausgehend von den Erfahrungen in dieser Studie sollen Entscheidungsfelder für das Design von Aufgabenformaten in videobasierten Ausbildungssettings skizziert werden. Bevor einige Befunde zu Beobachtungsprompts vorgestellt werden, sind zunächst begriffliche Klärungen erforderlich, die für diesen Beitrag grundlegend sind. Ein Setting für den Einsatz von Unterrichtsvideos soll als das Gesamtpaket aller Materialien und Maßnahmen verstanden werden und umfasst insofern die Unterrichtsvideos, Aufgabenformate inklusive Bearbeitungsmodi und etwaige Beobachtungshilfen. Unter einer Aufgabe wird das gesamte Setting für den Einsatz des Unterrichtsvideos (Material inklusive Beobachtungsprompts) verstanden. Aufgabenformate lassen sich zum Beispiel danach unterscheiden, ob Videoanalysen mündlich oder schriftlich durchgeführt werden oder welche Länge die eingesetzten Unterrichtsvideos haben. Vom Aufgabenformat, welches die Art des Videoeinsatzes einschließlich der Beobachtungsprompts umfasst, sollen die konkreten Beobachtungsprompts als Items unterschieden werden. Beobachtungsprompts sind Leitfragen für die Analyse des Unterrichtsvideos. Sie lenken die Beobachtung der Probanden. Zu unterscheiden sind hier offene von geschlossenen Formaten, wie sie z.B. in dem Tool OBSERVER zum Einsatz kommen (vgl. S TÜRMER / S EIDEL 2015). 34 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 2. Empirische Befunde zu Aufgabenformaten in der videobasierten Lehrerbildung Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob nicht das Unterrichtsvideo per se einen hinreichend starken Prompt darstellt für die videobasierte Auseinandersetzung mit fremdsprachendidaktischen Fragestellungen und die Aktivierung von fachdidaktischen Wissensbeständen und Lehrerwissen auf der Grundlage von videographiertem Unterricht. W IPPERFÜRTH (2015) hat mit ihrer Untersuchung zur Berufssprache von Englischlehrpersonen, die sie mit Hilfe von videobasierten Gesprächen zwischen Englischlehrpersonen untersucht, einen Bottom-up-Ansatz gewählt (s. Beitrag von W IPPERFÜRTH in diesem Heft). Die Auswahl von Situationen aus den videographierten Unterrichtsstunden erfolgt dabei durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch wenn ein gemeinsames Betrachten von ausgewählten Unterrichtsvideos während der Treffen nicht stattfindet, dient das Unterrichtsvideo als Stimulus für die „Aktivierung handlungsleitenden Lehrerwissens“ (W IPPERFÜRTH 2015: 308) und „Erfahrungswissens“ (A PPEL 2000). Die Unterrichtsbilder aus dem Unterrichtsvideo sind eine „umfassende Erinnerungshilfe für eigene Erfahrungen und das eigene Lehrerwissen“ (W IPPERFÜRTH 2015: 103). Die Autorin identifiziert Bereiche, „zu denen die sprachlichen Beschreibungen auf eine geringe theoretische Differenzierung in den Reflexionsmöglichkeiten der Lehrerinnen hinweisen“ (ebd.: 312). Für den Bereich der Wortschatzarbeit verwenden die Lehrerinnen und Lehrer einzelne Fachtermini wie „Kollokation“ oder „idiomatischer Ausdruck“; insgesamt überwiegen jedoch Begriffe, „die praktische Erfahrungen adäquat beschreiben, [die] aber in der wissenschaftlichen Literatur bisher weniger etabliert sind“ (ebd.: 209). In S CHWINDT s Studie mit Physiklehrkräften besteht das Ziel hingegen darin, „eine zielgerichtete und fokussierte Wahrnehmung der Unterrichtssituationen“ zu fördern (S CHWINDT 2008: 113). Aus dem komplexen Unterrichtsgeschehen sollen relevante Ereignisse ausgewählt werden. In diesem Setting kommt „gezielten Fragen, vor deren Hintergrund das Geschehen betrachtet werden kann, […] eine wichtige Rolle für die vertiefende Analyse zu“ (ebd.). Der Fokussiertheitsgrad der Analyse ist in dieser Studie ein zentrales Kriterium für die Auswertung der schriftlichen Analysen von Unterrichtsvideos. Damit ist die Fähigkeit gemeint, „Ereignisse im Hinblick auf gezielte Fragen aus dem Geschehen herauszufiltern und sie zu einer Beantwortung der Frage zusammenzuführen“ (ebd.). Dass 96,3 % aller Probanden „auf relevante Ergebnisse fokussieren und diese zu einer treffenden Beantwortung der Fragen zusammenführen“ (ebd.: 152) ist ein Befund, der auf das selektive Wahrnehmen als eine wichtige Dimension der PUW verweist. B ROUWER / R OBIJNS (2013) erproben in ihrer Studie zur fokussierten Auswertung von Videoaufzeichnungen in der Lehrerausbildung verschiedene Formen von Beobachtungshilfen für die Analyse von kurzen Videoclips. In ihrer Vergleichsstudie untersuchen sie die Auswirkungen von drei unterschiedlichen Bedingungen: (A): keine Beobachtungshilfe, keine Zwischentitel in dem Clip, (B): globale Beobachtungshilfe, keine Zwischentitel, (C): strukturierte Beobachtungshilfe und Zwischen- Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 35 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 titel im Video. Hinsichtlich der Gesamtzahl der von den Probanden getätigten Aussagen unterscheiden sich die Bedingungen nicht signifikant voneinander (vgl. ebd.: 311f.). Unterschiede zeigen sich jedoch bei der Qualität der Aussagen und der Einschätzung der unterschiedlichen Beobachtungshilfen durch die Probanden. Unter Bedingung C können die Autoren mehr interpretierende Aussagen feststellen. Die Probanden bewerten ein geringeres Ausmaß an Vorstrukturierung insgesamt positiver (A=20 % und B=23 %) als die strukturierte Beobachtungshilfe (C=4%). Die Autoren fassen ihre Ergebnisse wie folgt zusammen: „Je strukturierter die Beobachtungshilfe war, desto mehr Aussagen machten die Studierenden und desto eher befassten sie sich mit der Deutung der angeschauten Situation“ (ebd.: 315). Die Beobachtungsprompts als Teil eines videobasierten Aufgabenformats in der Lehrerbildung übernehmen insofern eine wichtige Funktion sowohl für die Zahl der selektierten Situationen als auch für die Verarbeitung und das tiefergehende Interpretieren des Unterrichtsgeschehens über Sichtphänomene hinaus. In der US-amerikanischen Lehrerbildungsforschung haben S ANTAGATA und Kolleginnen allgemeine Beobachtungsprompts für die Analyse von Unterrichtsvideos entwickelt und evaluiert (vgl. S ANTAGATA / Z ANNONI / S TIGLER 2007; S ANTAGATA / A NGELICI 2010). Die Autoren beziehen sich jedoch nicht auf das Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung und sprechen stattdessen von videobasierter Reflexion (S ANTAGATA / A NGELICI 2010: 339) oder videobasierter Beobachtung (S ANTAGATA / Z ANNONI / S TIGLER 2007: 138). Das Lesson Analysis Framework (LAF) (S ANTAGATA / G UARINO 2011: 134) wurde mit Mathematiklehrkräften empirisch überprüft: Studierende, die sich anhand dieser Fragen zielgerichtet mit Unterrichtsvideos auseinandersetzen, erzielen ein vertieftes Verständnis der lernwirksamen Unterrichtsbedingungen (ebd. 143). Lesson Analysis Framework Identify lesson learning goals Analyse student thinking and learning How did communication and interaction patterns in this lesson contribute to students’ progress? Use analysis to propose improvements in teaching Tab. 1: Lesson Analysis Framework 1 Jede Frage erfordert, dass die Probanden eine spezifische didaktische Perspektive einnehmen und ihre Aufmerksamkeit auf die Ziele, das Lernen und die Kommunikation und Interaktion innerhalb der Stunde richten. Die Frage nach Verbesse- 1 Vgl. S ANTAGATA / Z ANNONI / S TIGLER 2007; S ANTAGATA / A NGELICI 2010; S ANTAGATA / G UARINO 2011. 36 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 rungsoptionen zielt auf konstruktives Denken und lässt den Probanden quasi stellvertretend die Perspektive der unterrichtenden Lehrperson einnehmen. Ein expliziter Beobachtungsprompt für Fragen nach Alternativen wird von den Autoren als bedeutsam für die Ziele einer angeleiteten Reflexion von Unterrichtsvideos angesehen: The reasoning is that, to generate alternatives, observers need to attend carefully to student learning and reason about specific teaching strategies that may have hindered learning. This promotes the generation of hypotheses about possible alternatives (S ANTAGATA / A NGELICI 2010: 345). Inwieweit ist jedoch ein didaktischer Fokus wie im Lesson Analysis Framework auf das Design von Beobachtungsprompts in der videobasierten Lehrerbildung übertragbar? Unterricht gilt seit jeher als ein komplexes Geschehen. Es bedarf einer selektiven Aufmerksamkeit, um sich in der Komplexität des Unterrichtsgeschehens zurechtzufinden. An spezifischen Gelenkstellen des Unterrichts mag es geboten sein, dass der Lehrer seine Aufmerksamkeit stärker auf den Gegenstand, die Lernprozesse (Verstehen, Sprachproduktion oder Hemmnisse bei der Produktion) oder Maßnahmen der Lernunterstützung richtet. In dem Tool OBSERVER (vgl. u.a. S TÜRMER 2011) müssen Probanden sechs videographierte Unterrichtssituationen aus unterschiedlichen Fachrichtungen zu den Aspekten Zielorientierung, Lernbegleitung und Lernatmosphäre betrachten und Rating-Items bearbeiten: In the excerpt that you saw... disagree disagree somewhat agree somewhat agree the teacher clarifies what the students are supposed to learn the students have the opportunity to activate their prior knowledge of the topic the students will be able to prepare for what's coming Tab. 2: Beispielitems aus dem Tool OBSERVER 2 Diese geschlossenen Rating-Items realisieren als Beobachtungsprompts die Dimensionen der Unterrichtswahrnehmung. Die erste Aussage hat beschreibenden Charakter, die zweite Aussage erfordert die Klassifizierung einer Unterrichtssituation hinsichtlich ihres Potentials, das Vorwissen der Schüler zu aktivieren, während die dritte Aussage eine Vorhersage eines Lernprozesses umfasst. Betrachtet man die Items unter einer didaktischen Perspektive, so fällt auf, dass jedes Item einen spezi- 2 Vgl. S EIDEL / B LOMBERG / S TÜRMER 2010; S EIDEL / S TÜRMER 2014. Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 37 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 fischen Blickwinkel auf den Unterricht erfordert. Das erste Item zielt auf die Ziel- und Gegenstandsperspektive von Unterricht (z.B. Einführung oder Umwälzung der Wörter eines bestimmten Wortfeldes). Mit dem zweiten Item soll die Aufmerksamkeit auf die Lernprozesse gerichtet werden und der Proband muss überlegen, woran sich die Aktivierung von Vorwissen erkennen lässt. Das dritte Item zielt auf die Ebene der Lernunterstützung: Welche Möglichkeiten ergeben sich für die Lernenden im Unterrichtsverlauf, sich auf die Lernaufgabe und die nächsten Schritte im Lernprozess vorzubereiten? Mit Hilfe des standardisierten Instruments OBSERVER konnte in einer Studie mit mehr als 1.000 teilnehmenden Studierenden die Struktur professioneller Unterrichtswahrnehmung mit den drei Teildimensionen Beschreiben, Erklären und Vorhersagen empirisch nachgewiesen werden (vgl. J AHN et al. 2014; S EIDEL / S TÜRMER 2014; S TÜRMER / K ÖNINGS / S EIDEL 2012). Mit Hilfe dieses Instruments lässt sich professionelle Unterrichtswahrnehmung als eine Gesamtfähigkeit mit den drei Dimensionen Beschreiben, Erklären und Vorhersagen modellieren. „Insgesamt ist festzuhalten, dass das Tool Observer mit dem angepassten Itempool aus der Skalierungsstudie professionelle Unterrichtswahrnehmung als eine Gesamtfähigkeit, differenziert in die drei Aspekte Beschreiben, Erklären und Vorhersagen, empirisch abbildet“ (J AHN et al. 2014: 18). 3. Aufgabenformate und Ergebnisse einer fremdsprachendidaktischen Mehrfachfallstudie zur professionellen Unterrichtswahrnehmung im Bereich der Wortschatzdidaktik (LexLern) 3.1 Ziel der Studie und Forschungsfragen Die auf lexikalisches Lernen bezogene Unterrichtswahrnehmung von angehenden Englischlehrpersonen gilt bislang als unerforscht. Sie wird in einer qualitativen Mehrfachfallstudie erstmalig exploriert (G IEßLER 2018), um auf diese Weise die fremdsprachendidaktische Professionsforschung an das Forschungsfeld der professionellen Unterrichtswahrnehmung anzuschließen. Für die Erfassung der PUW im Bereich des lexikalischen Lernens baut diese Studie auf Befunden der bildungswissenschaftlichen Forschung auf, welche die professionelle Unterrichtswahrnehmung als eine Gesamtfähigkeit mit den drei Dimensionen Beschreiben, Erklären und Vorhersagen modelliert (u.a. S TÜRMER 2011; S EIDEL / S TÜRMER 2014; J AHN et al. 2014; s. auch W EGER in diesem Heft). In der Literatur werden die Begriffe „Erklären“ und „Klassifizieren“ zum Teil synonym verwendet. Für die eigene Untersuchung wird der Begriff „Klassifizieren“ gewählt. Stürmer (2011: 8) sieht die Fähigkeit einer Lehrperson Unterrichtssituationen zu erklären dann als gegeben, wenn „die beobachtete Situation wissensbasiert“ klassifiziert und „somit theoretisches Wissen um lernwirksame Unterrichtskomponenten mit der Unterrichtspraxis“ verknüpft wird. Es wird angenommen, dass durch eine Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung in dem Bereich des lexikalischen Lernens angehende Lehrpersonen bereits in der universitären Ausbildungsphase auf die anspruchsvolle Aufgabe 38 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 vorbereitet werden können, lexikalisches Lernen im Englischunterricht zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wird ein hochschuldidaktisches Designexperiment (vgl. C OBB et al. 2003) in Form eines wortschatzdidaktischen Seminars mit strukturiertem Einsatz von Unterrichtsvideos durchgeführt und evaluiert. Die von den Studierenden (N=7) dieser Mehrfachfallstudie angefertigten schriftlichen Analysen von Unterrichtsvideos werden inhaltsanalytisch ausgewertet. Auf der Grundlage der individuellen schriftlichen Analysen von jeweils sechs Unterrichtsvideos lassen sich individuelle Profile und Entwicklungsverläufe der fachbezogenen professionellen Unterrichtswahrnehmung ermitteln, die Einblicke in die Nutzung einer begrifflich strukturierten, fachdidaktischen Wissensbasis liefern. Unterschiede zwischen den Probanden dieser Mehrfachfallstudie zeigen sich bei der Fähigkeit, Alternativen zu entwickeln (vgl. G IEßLER 2016b) und Lerneffekte für einzelne Situationen vorherzusagen (vgl. G IEßLER 2016a). Im Zentrum der Studie steht die Frage, inwieweit angehende Englischlehrpersonen fachdidaktisches Wissen zur Einschätzung von Situationen lexikalischen Lernens im Englischunterricht nutzen. Zudem fragt die Studie nach den Entwicklungsbedingungen für eine Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung im Kontext der universitären Lehrerausbildung. Wie entwickelt sich professionelle Unterrichtswahrnehmung, wenn Studierende wiederholt und anhand der identischen Beobachtungsprompts unterschiedliche Unterrichtsvideos analysieren? 3.2 Forschungsdesign und Untersuchungsdesign In Abgrenzung zu quasi-experimentellen Designs mit standardisierten Instrumenten in den Bildungswissenschaften (vgl. S EIDEL / B LOMBERG / S TÜRMER 2010; S TÜRMER 2011; S TÜRMER / S EIDEL 2015) wird in dieser qualitativen Studie die PUW im Kontext einer universitären Lehrveranstaltung untersucht. In das Design des Seminars zur Wortschatzdidaktik sind Konzepte der internationalen Vokabelforschung (vgl. N ATION 2001, 2007; S CHMITT 2000, 2008, 2010), der allgemeinen Didaktik (vgl. R EUSSER 2008) sowie Erkenntnisse zu den Entscheidungsfeldern für einen effektiven Einsatz von Unterrichtsvideos in der Lehrerbildung eingeflossen (vgl. K RAM - MER et al. 2012; K RAMMER et al. 2016). (  Abb. 1, S. 39) Insgesamt fertigen die Studierenden sechs individuelle schriftliche Analysen (ISAs) von Unterrichtsvideos an, die Englischunterricht aus den Klassen 2-12 zeigen. Zu Beginn und am Ende des Seminars fertigen die Studierenden eine Analyse eines identischen Unterrichtsvideos an. In der jeweils folgenden Sitzung werden darüber hinaus ausgewählte Szenen aus dem Unterrichtsvideo in einem strukturierten Reflexionsgespräch (video club) (vgl. S HERIN 2007; S HERIN / VAN E S 2009) in der Gruppe diskutiert, um das Verständnis der fachdidaktischen Konzepte lexikalischen Lernens zu festigen. Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 39 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 Abb. 1: Untersuchungsdesign und videobasiertes Setting der LexLern-Studie (G IEßLER 2018) 3.3 Beobachtungsprompts und Aufgabenformate in der eigenen Untersuchung Die Gestaltung der Aufgaben und die Formulierung der Items werden von zwei Annahmen getragen: Zum einen soll eine ganzheitliche Perspektive auf Unterricht ermöglicht werden, bei der angehende Lehrpersonen bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung mit der Dynamik und Komplexität des Unterrichtsgeschehens konfrontiert werden. Unterrichtssituationen bestehen aus komplexen Handlungsabfolgen und Inszenierungsmustern. Eine Steuerung der Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Selektion von spezifischen Situationen aus dem Unterrichtsvideo erfolgt nicht. Ob sich eine Lehrperson im Bereich des lexikalischen Lernens z.B. für eine Semantisierung durch eine Definition oder für die Erläuterung von Wortbildungsregularitäten (vgl. B AHNS 2000; D ETERING 2000) entscheidet, hängt von der Wahrnehmung und der Interpretation des konkreten Lehr-Lerngeschehens inklusive der Reaktionen der Lernenden ab. Im Gegensatz zu vorformulierten Rating-Items geben die Beobachtungsprompts nicht vor, ob der Proband eine Unterrichtssituation beschreiben, erklären oder zu ihr ein alternatives Vorgehen entwickeln soll. Die Beobachtungsimpulse sind also offen im Hinblick auf die Dimensionen der professionellen Unterrichtswahrnehmung und geben keine Art der wissensbasierten Verarbeitung des Wahrgenommenen vor. Außerdem haben die Beobachtungsprompts eine didaktische Perspektivierung: Sie zielen auf die einzelnen „Achsen des didaktischen 40 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 Dreiecks“ (R EUSSER 2008). Gefragt wird nach den Zielen und Gegenständen der Stunde, nach Lernen und Verstehen, nach Kommunikation und Unterstützung (vgl. Tab. 3). 1) What are the aims of the teacher with respect to lexical learning? What does the teacher teach about lexis? 2) What do learners learn about lexis? Do they understand, memorize or use words? 3) How is lexical learning supported through communication and interaction in the lesson? 4) If you were to teach this lesson, what would you do differently? Tab. 3: Beobachtungsprompts in der Studie LexLern (G IEßLER 2018) Die vierte Frage nach alternativen Vorgehensweisen wird unter Bezugnahme auf das LAF (vgl. S ANTAGATA / A NGELICI 2010) sowie die advokatorische Methode (vgl. O SER / H EINZER / S ALZMANN 2010) aufgenommen. O SER / H EINZER / S ALZMANN (2010: 5) nehmen an, dass „die professionelle Sensibilität von Lehrpersonen indirekt über die Beurteilung authentischen Lehrerhandelns mit Filmvignetten“ aus Unterrichtsvideos gefördert werden kann. Die für professionelles Handeln so wichtige Dimension des „konstruktiven Denkens“ (B ARTH 2017: 30) wird also in den Beobachtungsprompts der LexLern-Studie mit abgebildet. 3.4 Datenauswertung Die schriftlichen Analysen der an dem Seminar teilnehmenden Studierenden werden inhaltsanalytisch ausgewertet. Um differenzierte Aussagen zur Qualität der wissensbasierten Verarbeitung zu erzielen, wird das Verfahren einer evaluativen Inhaltsanalyse nach K UCKARTZ (2012: 98ff.) gewählt. Die Rekonstruktion der Unterrichtswahrnehmung aus den schriftlichen Analysen der Studierenden erfolgt entlang der evaluativen Kategorien. Die „großflächigeren“ (K UCKARTZ 2012: 114) Kategorien einer evaluativen Inhaltsanalyse sind theoriebasiert und werden aus den Dimensionen der PUW gewonnen (vgl. J AHN et al. 2014; S EIDEL / S TÜRMER 2014; S TÜRMER / K ÖNINGS / S EIDEL 2012). Die deduktiven Kategorien Beschreiben, Klassifizieren, Vorhersagen und Alternativen werden am Material weiter ausdifferenziert. Mit Hilfe von drei Einschätzdimensionen können einzelfallbezogen Qualitätsabstufungen für einzelne Dimensionen der Unterrichtswahrnehmung herausgearbeitet werden. Für die Erfassung von Werturteilen in Bezug auf das Unterrichtsgeschehen wird zusätzlich eine induktive Kategorie Bewerten gebildet. Wann immer notwendig, wird der zur Textstelle gehörige Kontext aus dem Unterrichtsvideo hinzugezogen, um die Codevergabe nachvollziehbar zu machen - ein Verfahren, welches den hermeneutischen Charakter der evaluativen Inhaltsanalyse widerspiegelt (vgl. K UCKARTZ 2012: 114). Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 41 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 3.5 Ergebnisse und Beispiele aus den Daten der LexLern-Studie Im folgenden Abschnitt soll anhand von einigen ausgewählten Beispielen aus den Einzelfallanalysen (N=7) illustriert werden, zu welchen Ergebnissen die Beobachtungsprompts bei einzelnen Probanden in den individuellen schriftlichen Analysen geführt haben. Im Einzelnen geht es darum, zu zeigen, wie die beschriebenen Beobachtungsprompts die selektive Wahrnehmung fördern und wie sich die wissensbasierte Verarbeitung bei wiederholter Analyse von Unterrichtsvideos mit den identischen Beobachtungsprompts (s. Abb. 1) entwickelt. Alle ausgewählten Beispiele stammen aus dem Video „Eliciting Vocabulary: Topic Money“, welches unter der Internetadresse https: / / www.unterrichtsvideos.ch/ frei zugänglich ist. Ziel des Lehrers in der Stunde ist es zum einen, Wortschatz aus dem Wortfeld money zu wiederholen (1: 10-3: 38), und zum anderen, einige neue Wörter einzuführen (10: 32-14: 05). Außerdem will der Lehrer erreichen, dass die Schüler sich in größeren Zusammenhängen zum Thema äußern. So fragt er nach expressions (2: 57), Assoziationen (3: 56) und - nachdem er bemerkt, dass die Schüler auf seinen Impuls nicht reagieren - nach Situationen, die den Schülern einfallen, wenn sie an Geld denken. Abb. 2: Selektierte Schlüsselszenen im Prä-Post Vergleich (Anna) Im Vergleich der Prämit der Post-Analyse fällt auf, dass die Probandin Anna in der Post-Analyse mehr Schlüsselszenen ausgewählt hat, in denen der Lehrer explizit lexikalische Mittel einführt oder erläutert. Anna richtet ihre Aufmerksamkeit nun stärker auf Situationen, in denen es um konkrete Lexeme geht. Bei der Beschreibung der Ziele der Stunde trifft Anna noch recht allgemeine Aussagen: 42 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 The main aim of the teacher in this lesson is to give pupils basic lexical knowledge about the topic “money“. Children should be able to memorize new words and expressions which are associated with money. They are supposed to acquire not only separate meanings of these words but also to relate them to particular situations in life and to be apt to use the expressions about money in their active and daily English language. (Anna ISA Prä, 1) In der Post-Analyse differenziert Anna hingegen zwischen verschiedenen Aspekten des Wortschatzwissens und führt konkrete Belege aus dem Unterricht an. Die „kategorialen Schnitte“ (B ROMME 1992: 42) durch das Material sind kleinräumiger geworden. Der letzte Satz („Therefore…“) illustriert, dass Anna über eine fremdspachendidaktische Fachsprache verfügt. Sie verwendet die Fachkonzepte engagement, semantic fields, semantic relations, associations und synonyms. Allerdings betrachtet Anna semantische Relationen und semantische Felder als identisch und differenziert nicht zwischen beiden Konzepten. The aim of the teacher was also to pay attention to different aspects of word knowledge such as meaning, form and use. For example, he pronounced distinctly the difference between such word forms as “broken” and “broke”. He also explained the difference of meaning between “wind blows” and “to blow money”. He encouraged the learners to think about associations and to think about which words and expressions they can use with money. Therefore, the teacher engaged the pupils in working with semantic fields and semantic relations, because associations and synonyms belong to these relations. (Anna ISA Post, 5-6) Bei der Probandin Jane sind Entwicklungen in der wissensbasierten Verarbeitung des Unterrichtsgeschehens feststellbar. Während Jane in der Prä-Analyse schreibt, dass die Lehrperson verschiedene Techniken verwendet, um den Lernenden die vollständige Bedeutung des Wortes zu vermitteln, rücken in der Post-Analyse Aspekte des Verstehens von Wortschatz in den Blick (facilitate understanding; support the understanding of meaning aspects). Jane hat offenbar verstanden, dass sich Lehrerinterventionen auf Aspekte des Wortschatzwissens beziehen, wenn der Lehrer beispielsweise das Konzept hinter greed durch entsprechende Gesten verdeutlicht. Während sie in der Prä-Analyse noch allgemein von meaning (Jane, ISA Prä, 10) spricht, ist sie sich in der Post-Analyse über die unterschiedlichen Aspekte des Wortwissens im Bereich meaning im Klaren. Insofern gibt es Indizien für einen ausdifferenzierten Lernbegriff bei Jane. Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 43 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 Abstrakte Beschreibung Klassifizierung Furthermore, they can read new words on the blackboard. Thereby, Perino [the teacher, RG] addresses different skills to give the students a full picture of the words. He also uses gestures and sound to provide the meaning of words, as in 12.16 (“greedy”) or in 9.55 (“themselves” vs. “each other”) (Jane ISA-Prä, 10) Perino facilitates understanding the concept of new words by gesturing (eg. 3.16: throw it out the window, later example of “greed”). (Jane ISA-Post, 13) He furthermore points out differences between lexical items to support the understanding of meaning aspects. This happens in 9.52 with regard to the difference between “themselves” and “each other” and in 11.55 with regard to “broke” and broken”. (Jane ISA-Post, 14) Tab. 4: Gegenüberstellung ausgewählter Passagen aus der Prä- und der Post-Analyse von Jane Ähnlich wie bei Jane nimmt auch bei Linda der Fokussiertheitsgrad in den Analysen zu. Im direkten Vergleich von Situationen aus der Prä- und der Post-Analyse fällt auf, dass Linda in der Post-Analyse Situationen präziser erfassen kann und sie z.B. den Umgang mit Fehlern oder konkrete Lerneräußerungen dezidiert analysiert. Während Linda in der Prä-Analyse noch die Zurückhaltung des Lehrers beim Einhilfen- Geben herausstellt („he tries to let them explain their point themselves instead of just giving them the translation“), hebt sie in der Post-Analyse die zeitnahe Korrektur durch den Lehrer hervor, was für den uptake durch die Lerner ein wichtiger Faktor ist. When a pupil comes up with the Wall Street (8.00-8.30), he tries to give a definition for the word, making interference mistakes though when saying “they han…[sic] Aktien”. He wanted to say “handle” because it reminded him of the L1 word, although he realized his mistake in the middle of his speech (he didn’t complete the word). This was corrected by the teacher directly after the pupil made the mistake so that he was able to get a right version of his utterance (“they trade with shares”). (Linda ISA Post, 9) Die Offenheit der Beobachtungsprompts lässt im Hinblick auf die wissensbasierte Verarbeitung unterschiedliche Verarbeitungsweisen (Beschreiben, Klassifizieren, etc.) mit unterschiedlichen Qualitätsausprägungen zu. Im Kodierleitfaden finden sich ausdifferenzierte, evaluative Kategorien mit jeweils drei Ausprägungen für die Dimensionen Klassifizierung, Vorhersagen, Alternativen. Im Umgang mit Fachkonzepten fällt auf, dass Kate vom Prozess auf das Produkt und von der Lehrererläuterung auf sich einstellendes Sprachbewusstsein bei den Lernern schließt. Die Tatsache, dass die Lehrperson aus einem Adjektiv (greedy) ein passendes Nomen (greed) ableitet, bedeutet allerdings noch nicht, dass die Lernenden diese Wortbildungsregularität durchschauen und sie Adjektiv und Nomen selbstständig gebrauchen können. 44 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 One more moment, where lexical awareness is present is explanation of the word greedy. The teacher uses the word greed, when he says; “Greed is one of the deadly sins.” So, the learners get immediately not just an adjective but also the noun, from which it is derived. (Kate ISA Post, 7) Entwicklungen, aber auch unterschiedliche Qualitäten der professionellen Unterrichtswahrnehmung zeigen sich bei dieser Kohorte von angehenden Englischlehrpersonen in deren Fähigkeit, begründete Alternativen für die Optimierung des Unterrichtsgeschehens zu entwickeln. In der Prä-Analyse bewertet Kate den Impuls des Lehrers als unklare Worterklärung und belegt dies mit den offensichtlichen Schwierigkeiten der Schüler, die Frage des Lehrers zu beantworten. In der Post-Analyse kritisiert Kate den gleichen Impuls noch schärfer („explained in a wrong way“), begründet nun jedoch, warum die gewählte Semantisierungsstrategie des Lehrers wenig effektiv ist („explain a word with a question“). Kate erkennt also das grundsätzliche Problem in dieser Phase des Unterrichts: Die Schüler können deshalb nicht auf die Nachfragen des Lehrers antworten, weil sie das unbekannte Wort afford bis dahin noch nicht entschlüsselt haben (guessing from context). Statt der Paraphrasierung führt die nachfolgend vom Lehrer eingesetzte Strategie in Form eines schülernahen Beispiels (definition by exemplification) letztlich zum Ziel. Bewertung (keine zielführende Semantisierung) Alternative Only the word “afford” is explained not clearly at the beginning. The teacher tries to explain the word asking a question “Could you afford to buy a house just like this? ” Seeing that the pupils cannot answer and understanding his mistake he changes the question for “Do you have enough money? Could you afford it? ” (Kate, ISA Prä, 8) The word afford is explained in a wrong way. It is not effective to explain a word with a question. That’s why when he asks “Can you afford to buy a house? ” the student doesn’t know what to say. Noticing his mistake the teacher paraphrases his question: “Could you afford it? Do you have enough money? ” But there is no answer again. There is an impression the student doesn’t know the word enough as well. It would be more effective to say: if I have 3 $ I cannot afford to buy a house. It is not enough. (Kate, ISA Post, 14) Tab. 5: Vergleich von Schlüsselszenen ISA Prä-Post, Kate Das Entwickeln von alternativen Vorgehensweisen für bestimmte Situationen des Unterrichts kann auch als Indikator für eine tiefergehende Verarbeitung des Unterrichtsgeschehens angesehen werden. Entscheidend für eine zunehmende Professionalisierung der Unterrichtswahrnehmung ist, dass alternative Vorgehensweisen tatsächlich vorgeschlagen und begründet werden. Das alleinige Nachdenken über Unterricht und seine Qualitätsmerkmale führt nicht zwangsläufig zu einer Reflexion darüber, ob und welche Veränderungen notwendig sind. „Merely reflecting on teaching does not lead to improvement unless the product of the reflection includes Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 45 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 a decision about features of a lesson that should be maintained and features that it might be worthwhile trying to change“ (S ANTAGATA / A NGELICI 2010: 345). 3.6 Zusammenfassung der Ergebnisse Die Ergebnisse der LexLern-Studie zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Englischlehrpersonen im Bereich des lexikalischen Lernens (vgl. G IEßLER 2018) lassen sich wie folgt zusammenfassen: Studierende können zum Ende des wortschatzdidaktischen Seminars fachdidaktische Konzepte in zunehmender Weise für die Klassifizierung von Situationen lexikalischen Lernens nutzen. Zu den am häufigsten genutzten Konzepten gehören die four strands of language teaching (vgl. N ATION 2007), retrieval und aspects of word knowledge (vgl. N ATION 2001). Die untersuchten Einzelfälle unterscheiden sich in der Qualität, mit der Bezüge zwischen dem konkreten Unterrichtsgeschehen und den definitorischen Merkmalen des Fachkonzepts hergestellt werden. Unterschiede in der wissensbasierten Verarbeitung und bei der Entwicklung von Alternativen konnten in der Mehrfachfallstudie zur PUW im Bereich des lexikalischen Lernens nachgewiesen werden (vgl. G IEßLER 2016b). Die Offenheit der Beobachtungsprompts (s. Tab. 1) erlaubt Aussagen zur Nutzung fachdidaktischer Konzepte für die Analyse bzw. wissensbasierte Verarbeitung des Lehr-Lerngeschehens im Unterrichtsvideo. Schließlich ließ sich gegen Ende des Seminars bei der Mehrzahl der Studierenden nachweisen, dass sich ihr Begriff vom Lernen erweitert hat, und zwar insofern, als sie sowohl den Lerngegenstand Lexis als auch die lexikalischen Lernprozesse (z.B. retrieval) berücksichtigten. Der strukturierte Einsatz von Unterrichtsvideos hat das tiefergehende Verstehen von Situationen lexikalischen Lernens, der in ihnen herrschenden Logik und der Antinomien didaktischen Entscheidens gefördert. Studierende nehmen fachdidaktische Notwendigkeiten (vgl. O SER / C URCIO / D ÜGGELI 2007) im Bereich des lexikalischen Lernens in unterschiedlichem Ausmaß wahr und unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, begründete Alternativen für die Optimierung lexikalischen Lernens für spezifische Situationen zu entwickeln. Die Fähigkeit zur Antizipation von Lerneffekten und der Abgleich zwischen antizipierten und realen Effekten (vgl. H OFFMANN 1993; G IEßLER 2016a) erweist sich als zentrale Dimension einer professionellen Unterrichtswahrnehmung, der auch im Hinblick auf die unterrichtspraktische Ermöglichung lexikalischen Lernens im Englischunterricht eine wesentliche Bedeutung zukommt. 4. Fazit: Konsequenzen für die Entwicklung von Aufgabenformaten in der videobasierten Lehrerbildung Was sind nun Entscheidungsfelder für die Gestaltung von Aufgabenformaten in der videobasierten Lehrerbildung? Die Beantwortung dieser Frage hängt von den Zielen ab, die mit dem Einsatz von Unterrichtsvideos verfolgt werden: Sollen Oberflächen- 46 Ralf Gießler DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 48 (2019) • Heft 1 phänomene von Unterricht wahrgenommen werden oder auch Abstraktionen und damit Interpretationen von Unterricht am Ende stehen? Wenn die Fähigkeit zur professionellen Wahrnehmung von Unterricht valide erfasst werden soll, dann darf das Aufgabenformat nicht die Verarbeitungsweise vorgeben; vielmehr muss es die Verarbeitung offenlassen, da ansonsten Artefakte geschaffen werden. Wenn der Beobachtungsimpuls die Art und Weise der wissensbasierten Verarbeitung offenlässt, kann der Proband beschreibend oder erklärend oder stärker evaluierend reagieren. Für Trainingszwecke ist es durchaus vorstellbar, dass einzelne Dimensionen der PUW gezielt gefördert und geschult werden (z.B. wissensbasierte Verarbeitung, Vorhersagen und konstruktives Denken (Alternativen)). Für unterschiedliche Dimensionen der PUW mögen unterschiedliche Aufgabenformate für die Analyse von Videos von Vorteil sein: Ziel in der videobasierten Lehrerbildung(sforschung) Aufgabenformat Förderung der selektiven Aufmerksamkeit auf lehr-lernrelevante Situationen und deren Merkmale möglichst offene Aufgabenstellung (Ausschnitte von Unterrichtsvideos mit mindestens 15 Minuten Länge) Förderung der wissensbasierten Verarbeitung von Situationen in Unterrichtsvideos auf der Basis fachdidaktischen Wissens (Top down- Ansatz) Frage nach Lernergebnissen und -prozessen und Lernunterstützung Vorhersagen/ Antizipation von Lerneffekten: Frage nach Prompts, Aufgabenmerkmalen und Lernergebnissen Fähigkeit, Alternativen zu entwickeln: gezielte Frage nach Alternativen für bestimmte Situationen (Videovignetten) gezielte Frage nach Alternativen erforderlich Tab. 6: Ziele und Aufgabenformate in der videobasierten Lehrerbildung Unterrichtsvideos mit offenen Beobachtungsprompts, die sich an didaktischen Perspektiven auf den Unterricht orientieren (vgl. S ANTAGATA / A NGELICI 2010; R EUSSER 2008), schaffen ein Setting, welches die Probanden zunächst ganzheitlich mit der komplexen Unterrichtssituation konfrontiert. Die in diesem Beitrag erörterten Forschungsbefunde zur Frage nach der Strukturiertheit von Beobachtungsprompts legen nahe, dass ein mittlerer Grad an Strukturierung (vgl. S ANTAGATA / A NGELICI 2010) günstig ist, um auch die Fähigkeit zur Selektion von Situationen zu erfassen. In der Beobachtungsforschung werden die Dimensionen Selektion, Abstraktion und Klassifikation unterschieden (B ORTZ / D ÖRING 2006: 265). Unter Selektion wird Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der Unterrichtswahrnehmung 47 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0003 die „Auswahl bestimmter Beobachtungsgegenstände bzw. das Herauslösen bestimmter Reize aus der Vielzahl der gleichzeitig wahrnehmbaren Reize verstanden“ (ebd.). Beim Abstrahieren wird ein Ereignis „aus seinem konkreten Umfeld herausgelöst und auf seine wesentliche Bedeutung reduziert“ (ebd.). So wird beispielsweise von einer Lehreräußerung auf die Zielrichtung des Lehrerimpulses abstrahiert (z.B. checking for understanding). Selektion und Abstraktion sind vor allem im Zusammenhang mit der Dimension der Beschreibung wichtige Teilprozesse. Nachdem durch Selektion und Abstraktion die beobachtete Situation auf wesentliche Merkmale reduziert worden ist, wird das Ereignis oder die Situation im nächsten Schritt einer bestimmten Ereignis- oder Merkmalsklasse zugeordnet. Strukturbildung ist im Rückgriff auf B ROMME (1992) eine „zentrale, übergeordnete Anforderung an Lehrkräfte: Der Lehrer muss den Unterricht in eine geeignete soziale, zeitliche und inhaltliche Struktur bringen“ (K RAUSS 2011: 181). Für eine solche Strukturbildung ist eine selektive Steuerung der Aufmerksamkeit im Sinne des noticing eine wesentliche Voraussetzung (vgl. VAN E S / S HERIN 2008). Die didaktische Perspektivierung in dem Beobachtungsprompt fördert dabei die selektive Wahrnehmung unter verschiedenen didaktischen Perspektiven (Ziele und Gegenstand, Lernen und Verstehen, Kommunikation und Interaktion). Eine solche Wahrnehmung von Unterricht kann durchaus als professionell gelten, da eine „kognitive Unterteilung eines Ereignisstroms oder von gegebenen Sachverhalten in Einheiten“ und die Strukturierung einer gegebenen Situation für den Handelnden durch verfügbare Begriffe“ stattfindet (B ROMME 1992: 42). Literatur A PPEL , Joachim (2000): Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. München: Langenscheidt- Longman. B AHNS , Jens (2000): „Die Vermittlung von Wortbildungskenntnissen im Englischunterricht der Sekundarstufe I“. In: D ETERING , Klaus (Hrsg.): Wortschatz und Wortschatzvermittlung. Linguistische und didaktische Aspekte. Frankfurt/ M., New York: Lang, 127-146. B ARTH , Victoria L. 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(2008): „Mathematics teachers’ ‘learning to notice’ in the context of a video club“. In: Teaching and Teacher Education 24, 244-276. W IPPERFÜRTH , Manuela (2015): Professional vision in Lehrernetzwerken. Berufssprache als ein Weg und ein Ziel von Lehrerprofessionalisierung. Münster: Waxmann. DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 M ARK B ECHTEL , C HRISTOPH O LIVER M AYER * Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen - ein Projekt in der Lehrer(innen)bildung im Fach Französisch Abstract. Whereas professional vision and self-reflection can be considered as two of the most important elements of a teacher’s professionalism, the question is how they can be fostered in subject specific teacher education. The article presents how, within the research project tud-sylber at Dresden University (Germany), students of French as a foreign language work with videos of authentic classroom interactions in order to promote professional vision and self-reflection. By giving one example of a student’s comment on a video of a listening comprehension lesson, the article shows how decisive task-prompts are to generate professional vision and self-reflection. Hence the learning arrangement and the task-prompts need to be reconsidered. 1. Einleitung Wenn man davon ausgeht, dass eine hohe Unterrichtsqualität zur Verbesserung schulischer Bildungsprozesse führt (vgl. H ELMKE 2010: 30), stellt sich die Frage, über welche professionellen Kompetenzen Lehrpersonen verfügen müssen, um erfolgreiche Lernprozesse zu gestalten (vgl. K UNTER et al. 2011: 59; H OLODYNSKI et al. 2016), und wie diese Kompetenzen während des Studiums entwickelt werden können. Als eine wichtige Voraussetzung für ein situationsangemessenes und lernförderliches unterrichtliches Handeln gilt eine professionelle Unterrichtswahrnehmung, die sich dadurch auszeichnet, dass Lehrkräfte lernrelevante Elemente des Unterrichtsgeschehens wahrnehmen und wissensbasiert verarbeiten (vgl. S HERIN / VAN E S 2009: 22; S EIDEL et al. 2010; S TÜRMER 2011: 6; H OLODYNSKI et al. 2016: 283). Bei der Frage, wie man diese Fähigkeit während des Lehramtsstudiums ausbilden kann, hat sich der Einsatz von Videomitschnitten realen Unterrichts als hilfreich erwiesen (s. W EGER in diesem Band). Während Projekte und Studien zur pro- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Mark B ECHTEL , Universität Osnabrück, Institut für Romanistik/ Latinistik, Neuer Graben 40, 49074 O SNABRÜCK . E-Mail: mark.bechtel@uni-osnabrueck.de Arbeitsbereiche: Didaktik der romanischen Sprachen; Fremdsprachenlehrer_innenbildung; Unterrichtsforschung; Interkulturelles Lernen. PD Dr. Christoph Oliver M AYER , Technische Universität Dresden, tud-sylber, 01062 D RESDEN . E-Mail: christoph.mayer@tu-dresden.de Arbeitsbereiche: Romanische Kulturwissenschaft; Didaktik der romanischen Sprachen; Unterrichtsforschung. Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 51 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 fessionellen Unterrichtswahrnehmung im Fach Mathematik prominent vertreten sind (vgl. S HERIN / VAN E S 2009), sind sie in den fremdsprachlichen Fächern noch relativ selten. Im deutschsprachigen Raum liegen für das Fach Englisch die ersten empirischen Untersuchungen vor (vgl. W IPPERFÜRTH 2015; s. G IEßLER in diesem Band), für die romanischen Schulfächer besteht hier Nachholbedarf. Neben der wissensbasierten Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung lernrelevanter Unterrichtselemente ist die Selbstreflexion ein wichtiger Bestandteil professioneller Kompetenz von Lehrpersonen, also die Fähigkeit, über die eigenen Erfahrungen und das eigene Handeln zu reflektieren (vgl. S CHÖN 1983, K ORTHAGEN 2012, C OMBE / K OLBE 2008, H ELMKE 2010: 118). In der universitären Lehrer(innen)ausbildung bezieht sich die Selbstreflexion i.d.R. auf die eigenen unterrichtlichen Erfahrungen der Studierenden als Schüler(in) bzw. die ersten selbst gewonnenen Lehrerfahrungen im Rahmen eines micro-teaching-Seminars oder eines Schulpraktikums. An der Technischen Universität Dresden wird seit 2016 das Maßnahmenpaket TUD-SYLBER („Synergetische Lehrerbildung im exzellenten Rahmen“) durchgeführt, bei dem die Didaktik der romanischen Sprachen am Teilprojekt „Unterrichtsvideos zur Entwicklung hermeneutischer Fallkompetenz in der Lehrerbildung“ mitwirkt und dabei den Fokus auf den Französischunterricht legt. 1 Die Grundidee des Projekts ist es, Ausschnitte realen Französischunterrichts durch Videoaufnahmen zum Gegenstand universitärer fachdidaktischer Seminare zu machen und die Studierenden somit zu befähigen, eine professionelle Unterrichtswahrnehmung auszubilden und Selbstreflexionen durchzuführen. Das Projekt hat eine Entwicklungs- und eine Forschungskomponente. Die Entwicklungskomponente beinhaltet die Konzeption unterschiedlicher videobasierter Lernarrangements für themenspezifische Seminare zur Französischdidaktik und deren Durchführung. Dabei werden ausgewählte Videomitschnitte von Französischunterricht mit Aufgaben verbunden, die von den Studierenden schriftlich bzw. mündlich bearbeitet werden. Die Forschungskomponente beinhaltet zum einen die Untersuchung der Frage, was die Studierenden in den Videos im Hinblick auf das jeweilige fremdsprachendidaktische Thema wahrnehmen, wie sie das Wahrgenommene verarbeiten und welche Bezüge sie zu ihren eigenen Lehr-Lern-Erfahrungen herstellen. Zum anderen interessiert die Frage, welche Rolle dabei die jeweiligen unterschiedlichen videobasierten Lernarrangements spielen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das Verhältnis zwischen den Konstrukten der Professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Selbstreflexion zu bestimmen, das Konzept einer videobasierten fachdidaktischen Lehrveranstaltung vorzustellen, die im Wintersemester 2017/ 18 durchgeführt wurde, und anhand eines Fallbeispiels zu überprüfen, ob die Beobachtungsaufgaben die Professionelle Unterrichtswahrnehmung und die Selbstreflexion in zufriedenstellender Weise anregen. 1 Das diesem Aufsatz zugrundeliegende Projekt wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. 52 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 Zunächst gehen wir auf die Konstrukte der professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Selbstreflexion ein. Danach werden der Ausbildungskontext und das videobasierte Lehr-Lern-Design des Seminars zum Hörverstehen sowie die konkreten Arbeitsaufträge und die Art der erwarteten Studierendenprodukte dargelegt (Lernarrangements). Anhand eines schriftlichen Kurzberichts eines Studenten zu einem Videoausschnitt zeigen wir, wie er eine der videobasierten Aufgaben gelöst hat. Dabei wird deutlich, was der Student als lernrelevant wahrgenommen und wie er es wissensbasiert verarbeitet hat; wir prüfen, ob dadurch eine Selbstreflexion ausgelöst wurde. Abschließend werden die ersten Erkenntnisse der Datenanalyse zusammengefasst und verdeutlicht, welche Konsequenzen sich daraus für das weitere Vorgehen ergeben. 2. Zum Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Reflexionskompetenz Das von G OODWIN (1994) vorgeschlagene Konzept der professional vision als „Art und Weise […], wie Personen vor dem Hintergrund ihrer Profession Situationen und Ereignisse beobachten und interpretieren“ (S TÜRMER 2011: 8) wurde von S HERIN (2001) auf die Lehrerbildung übertragen (s. W EGER in diesem Band). Bei der professional vision werden zwei grundlegende Prozesse unterschieden (vgl. S HERIN 2007; S TÜRMER 2011: 9; H OLODYNSKI et al. 2016: 284): zum einen die Aufmerksamkeitslenkung auf bestimmte Aspekte des Unterrichtsgeschehens (noticing oder auch selective attention genannt), zum anderen die auf der Grundlage des Professionswissens erfolgende Verarbeitung der selektiv wahrgenommenen Aspekte (knowledge-based reasoning). Das knowledge-based reasoning wird von S HERIN / VAN E S (2009: 24; 28) in die drei Teilbereiche describing (Beschreiben), evaluating (Einschätzen) und interpreting (Interpretieren) untergliedert: Beim Beschreiben wird geäußert, was konkret wahrgenommen wurde; beim Einschätzen werden Aussagen über die Qualität der wahrgenommenen Unterrichtsinteraktion gemacht; beim Interpretieren werden Rückschlüsse auf die Wirkung der beobachteten Phänomene gezogen. S EIDEL et al. (2010: 297) haben das Konstrukt der professional vision von S HERIN (2001) übernommen und im Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung gleichsam geschärft. Unter noticing verstehen sie „die wissensgesteuerte Identifikation von Situationen und Ereignissen im Unterricht, die aus einer professionellen Sicht entscheidend für den Erfolg von Unterrichtshandlungen sind“ (S EIDEL et al. 2010: 297). Mit knowledge-based reasoning ist wie bei S HERIN / VAN E S (2009) die wissensbasierte Verarbeitung wahrgenommener Unterrichtsaspekte gemeint. Allerdings ist das Verständnis von Wissen bei S EIDEL et al. (2010: 297) ein anderes als bei S HERIN / VAN E S (2009). Erstere verstehen darunter theoretisches Wissen, während: Letztere damit unspezifisch das Wissen der Lehrperson über den Unterrichtsgegenstand, curriculare Anforderungen bzw. vorausgegangene Schüleräußerungen meinen. Ein weiterer Unterschied besteht in der Modellierung des Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 53 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 knowledge-based reasoning. Während S EIDEL et al. (2010: 297) die Kategorie ‚Beschreiben‘ (description) übernehmen, fassen sie im Unterschied zu S HERIN / VAN E S (2009) die Kategorien ‚Bewerten‘ und ‚Interpretieren‘ unter der Kategorie ‚Erklären‘ (explanation) zusammen und fügen mit der Kategorie ‚Vorhersagen‘ (prediction) eine weitere hinzu (vgl. B ARTH 2017: 28f.). S TÜRMER (2011: 9f.) greift die von S EIDEL et al. (2010) definierten Kategorien auf und operationalisiert sie wie folgt: Mit ‚Beschreiben‘ ist die präzise Beschreibung lernwirksamer Unterrichtssituationen auf der Basis theoretischen Wissens, d.h. unter Verwendung adäquater Begriffe und Konzepte gemeint. Das ‚Erklären‘ der Unterrichtssituation verweist auf die Fähigkeit, „die beobachtete Unterrichtssituation wissensbasiert zu klassifizieren und somit theoretisches Wissen um lernwirksame Unterrichtskomponenten mit der Unterrichtspraxis zu verknüpfen“ (S TÜRMER 2011: 9). Das ‚Vorhersagen‘ zeigt die Fähigkeit, die Folgen der beobachteten Phänomene für den weiteren Lernprozess abzuschätzen (vgl. ebd.). Im Unterschied zur Kategorie ‚Beschreiben‘ erfordern die beiden Kategorien ‚Erklären‘ und ‚Vorhersagen‘ die bezüglich der Anforderungen anspruchsvollere Fähigkeit des wissenschaftlichen Begründens. In einigen Konzepten der professionellen Unterrichtswahrnehmung wird eine weitere Kategorie berücksichtigt, nämlich das Generieren alternativer Handlungsstrategien (vgl. S AN - TAGATA et al. 2007: 128; s. auch G IEßLER in diesem Band). Beim Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung steht das theoretische Wissen im Mittelpunkt, auf dessen Grundlage unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse identifiziert und interpretiert werden. In der Lehrer(innen)ausbildung ist der Gegenstand der Professionellen Unterrichtswahrnehmung i.d.R. fremder Unterricht, der in Form von Videoausschnitten vorliegt. Natürlich ist es auch möglich, den eigenen Unterricht selbst anhand der Schritte der Professionellen Wahrnehmung wissensbasiert zu analysieren, wenn er auf Video aufgenommen wurde. Bei der Professionellen Unterrichtswahrnehmung liegt der Fokus auf der wissenschaftlichen Analyse, konzeptuell nicht vorgesehen ist die Selbstreflexion, also der Rückbezug auf sich selbst, auf die eigenen Unterrichtserfahrungen, sei es als Schüler(in) oder als Lehrperson. Gleichwohl kommt gerade der Fähigkeit zur Reflexion im Sinne einer Selbstreflexion für die Professionalisierung einer Lehrperson eine Schlüsselrolle zu (vgl. H ELMKE 2010: 118), einer Profession, die angesichts der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Unterricht (vgl. C OMBE / H ELSPER 1996: 12, 41; H ELSPER 2016: 52) mit dem stetigen Reflektieren des eigenen Handelns verbunden und für die der „reflective practitioner“ zum Leitbild geworden ist (vgl. S CHÖN 1983: 49-69, H ELMKE 2010: 114). In der Lehrer(innen)bildung wird das Konstrukt der Reflexion häufig dann ins Spiel gebracht, wenn Studierende oder Lehrpersonen eine eigene Praxiserfahrung machen, während der Handlung bzw. nach der Handlung darüber reflektieren und Konsequenzen für weiteres Handeln ableiten, was in eine neue Praxiserfahrung mündet). Für K ORTHAGEN (2002: 73) ist Reflexion in diesem Sinne: […] der mentale Prozess zu versuchen, eine Erfahrung, ein Problem oder existierendes Wissen oder Einsichten zu (re)strukturieren. Diese Reflexion kann nach einer Handlung 54 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 (Reflexion über die Handlung) oder während der Handlung (Reflexion in der Handlung) stattfinden. Das Konstrukt der Reflexion ist äußerst komplex. A EPPLI / L ÖTSCHER (2016: 82-91) fassen die zentralen Aspekte der Diskussion um Reflexion in der Lehrer(innen)bildung in ihrem „Rahmenmodell für Reflexion“ zusammen. Auf der horizontalen Ebene ist der zeitliche Ablauf einer Reflexion in fünf Reflexionsphasen aufgeführt: (1) Erleben (eine Erfahrung machen), (2) Darstellen (Rückblick), (3) Analysieren (vertiefte Auseinandersetzung), (4) Maßnahmen entwickeln und planen, (5) Anwenden (Maßnahmen erproben). Auf der vertikalen Ebene werden zwei Aspekte von Reflexion unterschieden, nämlich „Konstruktion von Bedeutung“ und „kritisches Prüfen“, für die je nach Phase eine bestimmte Anzahl von Reflexionskategorien bestimmt werden. Insgesamt enthält das Modell 15 Reflexionskategorien, sie entsprechen „Sinneinheiten, in denen reflexives Denken zum Ausdruck kommt“ und werden als „reflexive Momente“ bezeichnet (ebd.: 87). Als Beispiel soll Phase 2 (die rückblickende Darstellung einer Erfahrung) und Phase 3 (die vertiefte analytische Auseinandersetzung mit der Erfahrung) dienen. In Phase 2 kommen die Reflexionskategorien „Benennen des Auslösers, des Anlasses für die Reflexion“, „Beschreibung der Situation“ und „Ausdruck einer kritischen Haltung“ zum Tragen. Diese Phase enthält dann reflexive Momente, „wenn in der Darstellung nicht einfach wiedergegeben wird, was schon ‚gewusst‘ wird, sondern wenn in der Darstellung auf Strukturierung und Nachvollziehbarkeit bzw. Vielschichtigkeit und Komplexität Wert gelegt wird und damit das Bemühen um die (Re-)Strukturierung einer Situation sichtbar wird“ (Hervorh. im Original, ebd.: 89). Die Phase 3 besteht aus den Reflexionskategorien „Interpretation“, „Klare, eindeutige Verwendung von Begrifflichkeiten“, „Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven“ und „Kritischer Umgang mit Aussagen“. Beim „Interpretieren“ geht es um das Herstellen und Prüfen von Beziehungen und Zusammenhängen „zwischen Elementen einer Erfahrung, zwischen dieser Erfahrung und anderen Erfahrungen, zwischen dieser Erfahrung und dem eigenen Wissen oder zwischen dem eigenen Wissen und dem Wissen von anderen“ (ebd.: 90). Zeichen einer vertieften Auseinandersetzung ist zum einen das Heranziehen von Konzepten, Ansätzen, Theorien und empirischen Befunden sowie das Verwenden fachsprachlicher Begriffe, zum anderen die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven. Mit der letzten Reflexionskategorie der Phase 3 ist das „Untersuchen und Prüfen von Ideen, das Aufdecken bzw. die Identifizierung von Argumenten und deren Analyse“ sowie „die Beurteilung und die Bewertung von Behauptungen und Argumenten und die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Aussagen“ gemeint. Neben den fünf Reflexionsphasen und den zwei Ebenen von Denkaktivitäten sieht das Modell als drittes Strukturelement zwei Blickrichtungen vor, „nach außen“ und „nach innen“. Bei der Blickrichtung nach außen richtet sich der Blick einer Person auf die Außenwelt, d.h. auf „Umgebung, Rahmen, Akteurinnen und Akteuren, den beobachteten Ablauf, Verhalten von anderen, eigenes Verhalten“ (ebd.: 84). Richtet sich bei der Reflexion der Blick nach innen, „so rücken eigene Kompeten- Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 55 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 zen, Gefühle, Überzeugungen, Einstellungen, Bedürfnisse, berufliche Identität oder Mission in den Fokus“ (ebd.: 84). Wenn das Konstrukt der Reflexion so stark an das eigene Unterrichtshandeln gebunden ist, stellt sich die Frage, ob Reflexionsprozesse anhand von Fremdvideos, so wie sie im vorliegenden Projekt verwendet werden, überhaupt angeregt werden können. Zu prüfen ist also, ob die Bearbeitung von Fremdvideos dazu führt, über eigene Unterrichtserfahrungen, die die Studierenden im Praktikum oder als Schüler(in) gemacht haben, zu reflektieren und sich dieser durch (Re-)Strukturierung bewusst zu werden. 3. Konzept eines videobasierten fachdidaktischen Seminars zum Hörverstehen Im Rahmen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts nimmt das Hörverstehen als eine der rezeptiven Teilkompetenzen einen festen Platz ein (vgl. L ÜTGE 2017). Das hier vorzustellende fachdidaktische Seminar zum Thema Hörverstehen wurde im Wintersemester 2017/ 18 am Institut für Romanistik für Studierende des Fachs Französisch für das Gymnasiallehramt von PD Dr. Christoph Oliver Mayer angeboten. Die Studierenden sollten dadurch mit den Grundlagen des Hörprozesses und einschlägigen Methoden der Hörverstehensschulung vertraut gemacht werden; sie sollten befähigt werden, Hörtexte und Hörverstehensaufgaben in Französischlehrwerken kritisch zu analysieren und selbst Hörverstehensaufgaben zielgruppenspezifisch zu konzipieren. Was bringen die Studierenden als Vorkenntnisse und Erfahrungen mit? Im Rahmen des fachdidaktischen Studiums an der Technischen Universität Dresden befassen sich die Studierenden des Fachs Französisch im dritten Semester in einer Sitzung der Einführungsvorlesung u.a. mit den theoretischen Grundlagen des Hörverstehens. Im Anschluss an die Einführungsvorlesung oder parallel dazu besuchen sie ein Seminar zur Unterrichtssimulation, in dem sie eine Unterrichtsstunde zu je einem ausgewählten fachdidaktischen Themenschwerpunkt selbstständig planen, im Seminar erproben und ihre Erfahrungen dort reflektieren. Im Rahmen der sogenannten Schulpraktischen Übungen (SPÜ) haben die Studierenden in Kleingruppen von durchschnittlich vier Personen die Gelegenheit, über einen Zeitraum von vierzehn Wochen an einem festgelegten Wochentag in einer Französischklasse zu hospitieren und dabei zwei Unterrichtsversuche durchzuführen, die direkt im Anschluss in der Kleingruppe - moderiert durch einen Universitätsdozenten - reflektiert wurden und Gegenstand eines (benoteten) Reflexionsberichts waren. Als weiteres Element des Fachdidaktik-Studiums belegen die Studierenden ein Seminar zu einer zentralen Fragestellung der Fremdsprachendidaktik, so beispielsweise zum Thema Hörverstehen, wie im vorliegenden Fall. Darüber hinaus absolvieren die Studierenden ein vierwöchiges schulisches Blockpraktikum im studierten Fach und reflektieren ihre Erfahrungen in einem Praktikumsbericht. Sie schließen ihr Fachdidaktik- 56 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 studium im Fach Französisch in der Regel mit einer mündlichen Staatsexamensprüfung ab. Im Seminar wurden sechs verschiedene Videovignetten von durchschnittlich sieben Minuten Länge in verschiedenen Lernarrangements eingesetzt, die im Grad der Lenkung, der Art des theoretischen Inputs und des Mediums der Aufgabenbearbeitung (schriftlich, mündlich) variierten. Nach dem Anfertigen einer Mindmap zum Thema Hörverstehen wurde die erste Videovignette ohne vorhergehenden Theorieinput als allgemeiner Einstieg in die Thematik und als Aktivierung des Erfahrungswissens gezeigt. Die Aufgabe für die Studierenden bestand darin, ihre Assoziationen als Notizen niederzuschreiben (Lernarrangement 1). Danach erfolgte eine Theoriesitzung, in der vom Dozenten unter Rückgriff auf den aktuellen Forschungsstand Grundlagen zu den kognitiven Prozessen beim Hören vermittelt wurden. Danach wurde eine zweite Videovignette gezeigt, die die Studierendengruppe im Nachgang ohne Intervention des Dozenten diskutierte, wobei die Ergebnisse der Gruppendiskussion von den Studierenden in Form von Notizen festgehalten werden sollten (Lernarrangement 2). In der Folgesitzung wurde das theoretische Wissen durch die Lektüre von N EVELING (2000) gefestigt und um die Frage der Beschaffenheit von Hörtexten erweitert. Mittels eines mock exam, bei dem Fragen zum Text gestellt wurden, wurde das Wissen überprüft. Nach der Thematisierung des Einsatzes von Liedern als einer spezifischen Form von Hörtexten und der Lektüre eines weiteren, das Hörverstehen als isolierte Fertigkeit kritisch in Frage stellenden Textes von G ROTJAHN (2012) kam eine dritte Videovignette zum Einsatz, die unter Anleitung des Dozenten in Form eines Seminargesprächs besprochen wurde (Lernarrangement 3). Im Anschluss beschäftigten sich die Studierenden mit einschlägigen Französisch-Lehrwerken und hielten Impulsreferate zur Analyse dort vorgeschlagener Übungen sowie zur Erstellung eigener Aufgaben zum Hörverstehen, bevor sie sich mit dem Text von D IETZ (2013) zur Inhaltsbzw. Formfokussierung beim Hörverstehen im Fremdsprachenunterricht vertraut machten. Vor diesem Hintergrund wurde die vierte Videovignette eingesetzt, ein Beispiel, in dem eine Lehrerin mit einer 7. Klasse das Hörverstehen üben möchte (Wegbeschreibung). Zu dieser Videovignette sollten die Studierenden innerhalb von sieben Tagen einen schriftlichen Bericht von zwei bis drei Seiten Länge anfertigen und in getippter Form abgeben. Die Aufgabenstellung bestand darin, das im Video Gesehene zu beschreiben, dann zu bewerten und schließlich Handlungsalternativen zu entwerfen oder sich persönlich dazu zu positionieren (Lernarrangement 4). Mit der fünften Videovignette wurde das in der Sitzung zuvor diskutierte Konzept der Lernaufgabe vertieft, und die Studierenden wurden aufgefordert, mündlich ihre Meinung zum Gelingen des gezeigten Unterrichts zu äußern und eine Analyse der Videosequenz vorzunehmen (Lernarrangement 5). Die letzte Videosequenz bekam die Hälfte der Studierenden zu sehen und hatte die Aufgabe, in Kleingruppen den Studierenden, die das Video nicht gesehen hatten, nach dem bekannten Dreischritt mündlich vorzustellen (Lernarrangement 6). Abschließend wurde das Thema des Testens und Evaluierens von Hörverstehen behandelt und eine Schlussdiskussion über das Seminar geführt. Zusätz- Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 57 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 lich evaluierten die Studierenden das Seminar schriftlich und fertigten analog zur ersten Mindmap zu Beginn des Seminars eine zweite Mindmap zu ihrem Wissensstand am Ende des Seminars an. 4. Fallbeispiel Im vorliegenden Fallbeispiel zeigen wir, wie ein Student den Arbeitsauftrag des Lernarrangements 4 gelöst hat. Dabei wird untersucht, was er angeleitet durch die Beobachtungsprompts in einem Videoausschnitt im Hinblick auf das fremdsprachendidaktische Thema Hörverstehen wahrgenommen, wie er das Wahrgenommene verarbeitet und welche Bezüge er zu seinen eigenen Erfahrungen hergestellt hat. Als Datenerhebungsinstrument wurde die retrospektive Befragung (vgl. H EINE / S CHRAMM 2016: 177-178) eingesetzt. Es handelt sich um eine Stellungnahme, die sich auf Kognitionen einer Person in Bezug auf eine spezifische Handlung bezieht, die i.d.R. nicht länger als 24 Stunden zurückliegt (vgl. H EINE / S CHRAMM 2016: 177). Im vorliegenden Fallbeispiel konkretisiert sich diese Art der Befragung in einem schriftlichen Produkt, nämlich einem Kurzbericht nach dem Anschauen einer Videovignette. 2 Der Kurzbericht des Französischstudenten hat einen Umfang von vier Normseiten. Einleitend erläutert er seine Gliederung gemäß der Beobachtungsprompts in drei Teilen (Z. 3-5): Nach einer wertneutralen Beschreibung der Sequenz findet eine persönliche, das heißt subjektive Wertung statt, in deren Anschluss ich die Frage beantworten möchte, ob ich persönlich die Unterrichtsstunde genauso gehalten hätte […]. Was lässt sich nun über die professionelle Unterrichtswahrnehmung des Studenten aussagen? Bedingt durch die thematische Rahmung des Seminars ist die Aufmerksamkeit (noticing) bereits auf das fachdidaktische Thema des Hörverstehens gerichtet. Innerhalb dieses Rahmens identifiziert der Student im Sinne einer professionellen Unterrichtswahrnehmung eine Reihe lernrelevanter Elemente und verarbeitet sie, indem er sie entsprechend den Vorgaben beschreibt und erklärt. Die Analyse zeigt, dass der Student sich an die Aufgabenstellung hält und zunächst versucht, die im Video gezeigte Unterrichtssituation konkret und detailliert in ihrem chronologischen Verlauf zu beschreiben (Z. 8-10: „Die Sequenz beginnt mit der Ankündigung der Französisch-Lehrerin an die Schülerinnen und Schüler, dass ein Hörverstehen stattfinden wird und sie den Hörtext dreimal hören werden 2 Die 24-Stunden-Regel konnte aus seminardidaktischen Gründen nicht eingehalten werden; den Studierenden wurde für die Anfertigung ihres Kurzberichts eine Woche Zeit gewährt. Zusätzlich wurden im Rahmen des Seminars von jedem/ jeder Studierenden folgende Daten erhoben: zwei Mindmaps, die jeweiligen Reflexionsnotizen zu den Lernarrangements 1 bis 3, die Materialien zum eigenen Impulsvortrag, die Evaluierung des Seminars sowie die videografierte Seminarsitzung (Lernarrangement 3), die als Transkript vorliegt. Diese Daten werden im vorliegenden Beitrag nicht berücksichtigt. 58 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 […]“, Z. 54-55: „[…] Die Videosequenz endet damit, dass die Lehrerin zur linken Tafelseite - aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler - geht und das zweite Hören beendet wird“. Die Aufmerksamkeit ist sowohl auf das Lehrerhandeln als auch auf das Schülerhandeln gerichtet (Z. 47: „Es herrscht eine Unruhe; die Schülerinnen und Schüler drehen sich um, fragen sich gegenseitig, wohin und wieweit sie zeichnen müssen […]. Deshalb gibt die Lehrerin eine Zwischenbemerkung zur Aufgabe und unterbricht das Abspielen kurz […]“). Darüber hinaus wurde auch das eingesetzte Material (hier die Art des Hörtextes) als lernrelevant identifiziert (Z. 22: „Es wird langsam gesprochen und Standardsprache genutzt. Dennoch wirkt der Hörtext relativ abgehackt“). Betrachten wir zunächst, ob die Beschreibung des Studenten wissensbasiert erfolgt. Es kann gezeigt werden, dass der Student eine Reihe fachspezifischer Begriffe („erstes Hören“, „zweites Hören“, „Standardsprache“, „Ankreuzaufgabe“) in adäquater Weise nutzt. Beim Ausdruck „Vorhör- und Hörphase“ (Z. 25) handelt es sich um eine wenig gebräuchliche Übersetzung der in der fachdidaktischen Literatur für das Fach Französisch üblichen französischen fachsprachlichen Begriffe avant l’écoute und pendant l’écoute. Auch im zweiten Teil des Berichts (Bewertung) werden fachsprachliche Begriffe gebraucht (Z. 67, „auf Details der Wegbeschreibung achten“, Z. 68 „Globalverständnis“), ebenso im dritten Teil zu Handlungsalternativen (Z. 111 „Signalwörter“). Was nimmt der Student hinsichtlich des Lehrer- und Schülerhandelns in Bezug auf das Hörverstehen als lernrelevant wahr und wie erklärt er dieses? Als lernrelevant identifiziert der Student beim Hörverstehen zunächst das von der Lehrerin praktizierte dreimalige Anhören, das er mit zwei unterschiedlichen Lernzielen erklärt, nämlich globales und detailliertes Hörverstehen (Z. 65-67: „Dadurch können sich die Schülerinnen und Schüler zu allererst einen globalen Eindruck vom Hörtext machen, bevor sie beim zweiten Hören auf Details der Wegbeschreibung achten sollen“). Der Student macht dabei deutlich, dass er nicht beurteilen könne, ob die erste Aufgabe tatsächlich dem globalen Hörverstehen (Globalverstehen) diene, da die Aufgabe auf dem Video nicht zu sehen sei. Der Student kann hier daher nicht beweisen, dass er in der Lage ist, einen korrekten Bezug zwischen fremdsprachendidaktischer Theorie und einem Praxisbeispiel herzustellen, er zeigt aber damit eine potentielle Bereitschaft, dies zu leisten und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, Praxisbeispiele einer genaueren Analyse zu unterziehen. Als zentraler lernrelevanter Aspekt wird die Aufgabenklarheit wahrgenommen. Im vorliegenden Fallbeispiel verdeutlicht der Student in diesem Zusammenhang, wie lernunwirksam die fehlende Aufgabenklarheit im beobachteten Videoausschnitt für ihn ist (Z. 81: „so dass Unruhe, ein leichtes Chaos, entsteht“, Z. 46 „Die Schülerinnen und Schüler sind mit der Aufgabe überfordert […]. Es herrscht eine Unruhe; die Schülerinnen und Schüler drehen sich um, fragen sich gegenseitig, wohin und wie weit sie zeichnen müssen […]“). Darüber hinaus liefert er eine Erklärung, die er an der fehlenden Angabe der Blickrichtung des Betrachters auf einem Stadtplan festmacht: Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 59 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 Das Problem war, dass der Startpunkt oben im Bild war und die Schülerinnen und Schüler sich vorstellen mussten, dass sie vor dem Gebäude stehen. Dadurch waren plötzlich links und rechts vertauscht. (Z. 87) Der Versuch der Lehrerin, die Aufgabenstellung verständlicher zu machen, identifiziert der Student ebenfalls als nicht lernwirksam: Sie (die Lehrerin) führte weiter aus, dass sie (die Schülerinnen und Schüler) nach links zeichnen müssen, wenn im Hörtext gesagt wird, dass sie nach rechts gehen sollen respektive nach rechts zeichnen müssen, wenn im Hörtext nach links gesagt wird. (Z. 40) Neben einer eindeutigen Klärung des situativen Settings einer Hörverstehensaufgabe (hier Standort und Blickrichtung des Sprechers bei einer Wegbeschreibung) wurde vom Studenten auch die Wiederholung von Wortschatz (hier z.B. der Richtungsadverbien) als lernrelevant identifiziert. Dies wird daran deutlich, dass er die Perspektive der Schülerinnen und Schüler wiedergibt, die vor dem zweiten Hören von der Lehrkraft wissen wollten, was links und rechts auf Französisch heißt. Für generell lernförderlich hält der Student einen vorwiegend in der Fremdsprache geführten Unterricht, bei dem ein punktueller Wechsel ins Deutsche erlaubt sei, um Unklarheiten bei der Aufgabenstellung zu beseitigen. Im vorliegenden Fall schätzt der Student den Wechsel als nicht lernförderlich ein, da er die an sich unklare Aufgabenstellung nicht heilen kann. Als letztes wird die Position des CD-Players genannt, die er für ungünstig hält, was aber nicht weiter erklärt wird. Im vorliegenden Fallbeispiel ist kein Beleg für die Kategorie ‚Vorhersage‘ zu finden. Angeregt durch die Aufgabenstellung erläutert der Student im dritten Abschnitt, ob er die Unterrichtsstunde auch so halten würde. Zunächst stellt er fest, dass er an einem dreimaligen Hören und dem Vorspielen mit Pausen beim zweiten Hören festhalten würde, eine Begründung dafür liefert er jedoch nicht. Im weiteren Verlauf verdeutlicht er, was er anders machen würde, und zeigt somit Handlungsalternativen zum beobachteten Unterricht auf. Als ein klares Beispiel einer wissensbasierten Handlungsalternative erweist sich der letzte Absatz, in dem der Student einen didaktischen Ansatz anführt, der aus einem fachdidaktischen Artikel stammt und der eine Lösung für ein in der Videovignette identifiziertes Problem anbietet (Z. 100: „[…] hätte es sich angeboten im Sinne Dietz‘ ‚Fokus-on-Form Ansatzes‘ (2013), dass man eine Aufgabe eingefügt hätte, die die Signalwörter einer Wegbeschreibung, also links, rechts, geradeaus und dergleichen wiederholt“). Die Handlungsalternative bleibt jedoch unpräzise, da nichts darüber ausgesagt wird, wann die Einführung oder Wiederholung des Wortschatzes im konkreten Fall am besten platziert werden könnte. Eine weitere Handlungsalternative formuliert der Student für die Klärung der Aufgabenstellung, deren Problematik er in der fehlenden Angabe zur Blickrichtung des Rezipienten auf dem Stadtplan beim Hörverstehen einer Wegbeschreibung sieht: Dabei wäre ich schon auf das Problem mit der Karte eingegangen und hätte ihnen den Tipp gegeben, dass sie am besten das Heft drehen, weil sie sich vorstellen sollen, sie wären die Kinder aus dem Hörtext, die nach dem Weg fragen. (Z. 106-109) 60 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 Dieser Vorschlag ist ebenfalls wissensbasiert, gründet hier aber nicht auf fachdidaktischem Theoriewissen, sondern auf Erfahrungswissen, das der Student vermutlich als Praktikant oder als Schüler erworben und für sich als lernförderlich abgespeichert hat. Was lässt sich anhand dieses Berichts über die Selbstreflexion aussagen? Die beiden ersten Beobachtungsprompts verlangen von dem Studenten eine Beschreibung von Unterricht und eine Erklärung des Wahrgenommenen. Erst die dritte Aufgabe, nämlich zu überlegen, ob und wenn ja wie man anders handeln würde, kann als Impuls zur Selbstreflexion verstanden werden. Die Beschreibung und Begründung einer Handlungsalternative zur besseren Verständlichkeit der Aufgabenstellung (s.o.) deuten darauf hin, dass das Unterrichtsvideo den Studenten dazu angeregt hat, einen Bezug zu eigenen unterrichtlichen Erfahrungen oder Sekundärerfahrungen herzustellen, auch wenn dieser Rückbezug hier nicht explizit gemacht wird. 5. Fazit und Ausblick Das Fallbeispiel lässt erkennen, dass die Beobachtungsprompts zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von Videomitschnitten realen Unterrichts anleiten und im vorliegenden schriftlichen Bericht eines Studenten auch tatsächlich Belege für eine professionellen Unterrichtswahrnehmung zu finden sind. Es zeigt sich auch, dass die Beobachtungsprompts die Art und Weise der Bearbeitung der Aufgabe stark beeinflussen. So verwundert nicht, dass die Aufforderung zum Beschreiben als rein deskriptive Darstellung realisiert wurde. Auch verwundert nicht, dass im Fallbeispiel keine ‚Vorhersagen‘ vorkommen, da der Student nicht konkret danach gefragt wurde. Für Ausbildungszwecke scheint die Auswahl der Beobachtungsprompts von besonderer Bedeutung zu sein, da durch sie die Beschäftigung mit bestimmten lernrelevanten Aspekten fokussiert und gezielt gefördert werden kann. Aus forschungsmethodischer Sicht zeigen die ersten Erfahrungen bei der Datenanalyse, dass die Kategorien zur Operationalisierung der professionellen Unterrichtswahrnehmung geschärft werden müssten, um Aussagen über die Qualität dieser Unterrichtswahrnehmung machen zu können. Dabei bietet es sich für das weitere Vorgehen an, auf die in diesem Band von G IEßLER vorgeschlagene Differenzierung der Kategorien zurückzugreifen. Bei der schriftlichen Darstellung von Unterrichtswahrnehmung müsste darüber hinaus untersucht werden, welchen Einfluss das fachlich-inhaltliche Wissen zu Hörverstehen einerseits und eine generelle sprachlich-stilistische Fähigkeit andererseits auf die Qualität der konkreten Aufgabenbearbeitung haben. Die Analyse des Fallbeispiels macht deutlich, dass das Modell der professionellen Unterrichtswahrnehmung Prozesse der Selbstreflexion nicht im Blick hat, auch wenn die Kategorien ‚Bewerten‘ bzw. ‚Handlungsalternativen‘ auf diese verweisen. Dass im vorliegenden Fallbeispiel keine klaren Belege für Selbstreflexion zu finden sind, ist u.E. dem Umstand geschuldet, dass die Aufgabenstellung nicht explizit Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 61 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 dazu aufforderte darzulegen, welchen Bezug der Student zwischen dem im Videomitschnitt analysierten Handeln der am Unterricht beteiligten Akteure und seinen eigenen Erfahrungen beim Unterrichten oder als ehemaliger Schüler sieht. Für den weiteren Verlauf des Projekts sollen daher zusätzlich zu den Beobachtungsprompts, die auf die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung abzielen, gezielt Fragen zur Selbstreflexion gestellt werden. Hier könnte der Fragenkatalog von K ORTHAGEN / V ASALOS (2005: 50, 54), der für die Reflexion eigener Unterrichtserfahrungen im Hinblick auf das eigene Verhalten, eigene Kompetenzen und eigene Überzeugungen sowie die eigene berufliche Identität und Mission konzipiert wurde, herangezogen werden, um ihn auf den Kontext der Bearbeitung von Fremdvideos zu übertragen. Literatur A BELS , Simone (2011): LehrerInnen als „Reflective Practitioner“. Reflexionskompetenz für einen demokratieförderlichen Naturwissenschaftsunterricht. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. A EPPLI , Jörg / L ÖTSCHER , Hanni (2016): „EDAMA - Ein Rahmenmodell für Reflexion“. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34.1, 78-97. B ARTH , Victoria L. (2017): Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Wiesbaden: Springer. C OMBE , Arno / H ELSPER , Werner (1996): „Einleitung: Pädagogische Professionalität. Historische Hypotheken und aktuelle Entwicklungstendenzen“. 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H OLODYNSKI , Manfred / S TEFFENSKY , Mirjam / G OLD , Bernadette / H ELLERMANN , Christina / S UNDER , Cornelia / F IEBRANZ , Anja / M ESCHEDE , Nicola / G LASER , Olaf / R AUTERBERG , Till 62 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 / T ODOROVA , Maria / W OLTERS , Marco / M ÖLLER , Kornelia (2016): „Lernrelevante Situationen im Unterricht beschreiben und interpretieren: Videobasierte Erfassung professioneller Wahrnehmung von Klassenführung und Lernunterstützung im naturwissenschaftlichen Grundschulunterricht“. In: G RÄSEL , Cornelia / T REMPLER , Kati (Hrsg.): Entwicklung von Professionalität pädagogischen Personals. Interdisziplinäre Betrachtungen, Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: Springer, 283-302. K ORTHAGEN , Fred A. J. (2002): Schulwirklichkeit und Lehrerbildung. Reflexion der Lehrertätigkeit. Hamburg: EB-Verlag. K ORTHAGEN , Fred A. 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Our paper focuses on the development of professional perception of future teachers of German as a foreign language using the video-based on-line learning platform DaF-VideoWeb. In this paper, we address the following questions: (1) How do the reflections on instructional videos written by prospective teachers of German differ before and after working in the online learning environment DaF-VideoWeb? (2) How do the reflections on instructional videos differ in guided vs. unguided instruction? (3) How do future teachers of German evaluate the learning platform DaF-VideoWeb? The paper presents preliminary results based on a sample of five students attending a BA-and MA-course in teaching German Language and Literature (Faculty of Education of Masaryk University in Brno). In our analyses of the students’ reflections we use a qualitative approach, and in the process of categorizing the results, previous experiences from other language subjects are considered as well. Our preliminary results do not just reveal the structure of professional vision of future teachers of German, but also point out possible directions for the further development of the online Platform DaF-VideoWeb. 1. Einleitung Die aktuelle Diskussion zur Lehrer(innen)bildung bringt auch in der fremdsprachendidaktischen Forschung zahlreiche neue Aspekte ins Spiel, die für die Sicherung der Ausbildungsqualität von besonderer Bedeutung sind. Grundsätzlich geht man davon aus, dass die Lehrperson die Qualität des Unterrichts in mehreren Punkten unmittelbar beeinflussen kann. Deswegen sollte schon in der Ausbildungsphase ausreichend Input aus der Unterrichtspraxis zur Verfügung stehen, der es ermöglicht, bei den zukünftigen Fremdsprachenlehrer(inne)n u.a. auch die professionelle Wahrnehmung effektiv zu entwickeln. Dies lässt sich durch die Einführung entsprechender thematischer Veranstaltungen in das fachdidaktische Curriculum in der universitären Fremdsprachenlehrer(innen)bildung erreichen. Bei der Konzeption von entsprechenden Kursen, die auf die Entwicklung der Lehrerkompetenzen mit Schwerpunkt auf der Entwicklung der professionellen Wahrnehmung (professional vision) abzielen, ist die Wahl von geeigneten Instrumenten zur Schulung der Wahrnehmung * Korrespondenzadresse: Miroslav J ANÍK , Věra J ANÍKOVÁ , Masaryk-Universität, Pädagogische Fakultät, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Poříčí 9, 603 00 B RNO , Tschechische Republik. E-Mail: mjanik@ped.muni.cz, janikova@ped.muni.cz Arbeitsbereiche: Lehrer(innen)bildung, Sprachlehr-/ -lernforschung, Fremdsprachendidaktik. 64 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 besonders wichtig. In der gegenwärtigen Diskussion gilt die videobasierte Unterrichtsbeobachtung als ein solches Instrument. Obwohl auch wir davon überzeugt sind, dass der Einsatz von Unterrichtsbeobachtungen per Video im fachdidaktischen Curriculum sinnvoll ist, gehen wir gleichzeitig davon aus, dass deren Wirksamkeit in einem konkreten Ausbildungskontext zuerst empirisch getestet werden muss. In diesem Sinne haben wir auch unsere (Vor-)Studie konzipiert, deren Ziel es war, zu überprüfen, ob das gewählte Instrument (DaF-VideoWeb) unseren Erwartungen in Bezug auf die vorgesehene Entwicklung der fachdidaktischen Kompetenz der angehenden DaF-Lehrer(innen) im Allgemeinen und der professionellen Wahrnehmung im Besonderen entspricht. Im folgenden Kapitel möchten wir auf das Konzept der professionellen Wahrnehmung eingehen, wobei der Schwerpunkt auf der Etablierung dieses Begriffes in der Lehrer(innen)bildung und der daran anknüpfenden Forschung liegt. 1 Im Weiteren beschreiben wir die Operationalisierung dieses Begriffs in Bezug auf unsere Studie. 2. Professionelle Wahrnehmung: Konzeptualisierung und Operationalisierung Der Begriff ‚professionelle Wahrnehmung‘ (professional vision) ist von Charles G OODWIN (1994), einem der wichtigsten Vertreter der linguistischen Anthropologie, geprägt worden. Der Begriff geht auf die linguistische Anthropologie, die Handlungstheorie, die Konversationsanalyse und auf verschiedene soziokulturelle Theorieansätze zurück und fasst die professionelle Wahrnehmung (1) als eine sozial strukturierte Perzeption der Phänomene im beruflichen Leben und (2) als das Verstehen derjenigen Phänomene, die den spezifischen Interessen einer bestimmten sozialen oder beruflichen Gruppe entsprechen. G OODWIN geht es also um die sozialkonstruierten und historisch anerkannten diskursiven Praktiken, durch die die Mitglieder einer Profession die Objekte ihres professionellen Interesses (sog. objects of knowledge) konstruieren und strukturieren. Er erweitert dadurch die ursprünglich linguistisch-anthropologische Auffassung dieses Begriffs, der im Laufe der Zeit vor allem im Rahmen der Professionsforschung für die jeweiligen Berufe erweitert und normiert wurde. Das Konzept der professionellen Wahrnehmung nimmt dadurch Merkmale einer messbaren Entität an (vgl. L EFSTEIN / S NELL 2011: 507). Das Konzept der professionellen Wahrnehmung setzt sich mittlerweile auch in der Forschung zur Lehrer(innen)bildung immer stärker durch. Die Anfänge gehen dabei auf die Bildungsreformen in den USA zurück, die vor mehr als 20 Jahren v.a. in Bezug auf die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer durchgeführt wurden (professional vision for reform teaching; vgl. S HERIN / V AN E S 2005: 476; V AN E S / S HERIN 2008: 244) und von den Lehrpersonen einen adaptiven Unterrichtsstil 1 Mehr zum Begriff ‚professionelle Wahrnehmung‘ s. W EGER in diesem Band. Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 65 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 verlangen. Verfolgen wir weiter die kognitiv orientierte Tradition der Forschung zur Lehrer(innen)bildung, so wird die professionelle Wahrnehmung ausschließlich in Bezug auf den Unterricht untersucht. Nach S HERIN et al. (2008) lassen sich hier prinzipiell zwei Perspektiven unterscheiden: (a) die Perspektive der Lehrperson während des Unterrichts (in action) und (b) die Perspektive eines außenstehenden Beobachters (on action). Während die Außenperspektive on action in relativ vielen Studien beschrieben ist, stellen sich bei der Erforschung der professionellen Wahrnehmung in action weiterhin grundsätzliche methodologische Fragen, wie diese untersucht werden sollte. In den letzten Jahren wird dabei in zunehmendem Maße die Eye-Tracking-Methode (z.B. W OLFF et al. 2016) verwendet. In unserer Studie gehen wir von einem Konzept der professionellen Wahrnehmung aus, in dem zwei Komponenten (z.B. S HERIN 2007: 384) unterschieden werden: (1) die selektive Wahrnehmung (selective attention/ noticing) von lernrelevanten Unterrichtselementen und (2) die wissensgesteuerte Verarbeitung (knowledgebased reasoning) der wahrgenommenen Unterrichtselemente, die sich auf die Deutungsfähigkeit der Lehrperson sowie auf die Fähigkeit zum begründeten Interpretieren der wahrgenommen Elemente bezieht (vgl. S EIDEL et al. 2017). Darüber hinaus berücksichtigen wir eine erweiterte Auffassung von der Komponente der wissensgesteuerten Verarbeitung, die sich auf Modelle von S HERIN / VAN E S (2009) und S EIDEL / S TÜRMER (2014) stützen. Die erstgenannten Autorinnen unterscheiden folgende drei qualitativ festgelegte Komponenten, nämlich (1) die Deskription (Beschreibung des Wahrgenommenen), (2) die Evaluation (Beurteilung der Interaktionen in der Klasse) und (3) die Interpretation (Interpretation und Schlussfolgerung aufgrund des Videos). Im Anschluss daran entwickelten S EIDEL / S TÜRMER (2014) drei qualitativ orientierte Ebenen: (1) die Deskription (Identifizieren, Differenzieren und Klassifizieren der beobachteten Elemente), (2) die Explanation (Verknüpfung der konkreten Unterrichtselemente mit dem theoretischen Wissen) und (3) die Prädiktion (Vorhersagen der Konsequenzen für den Unterricht anhand des theoretischen Wissens). In unserer Studie lehnen wir uns an das Modell der wissensgesteuerten Verarbeitung nach Minaříková (2014) an, in dem die beiden oben genannten Auffassungen kombiniert und um die Komponente Alteration (Entwurf einer alternativen Unterrichtsgestaltung; mehr dazu z.B. J ANÍK 2016) erweitert werden. Insgesamt enthält das Modell folgende Komponenten: Deskription, Interpretation, Explanation, Prädiktion, Evaluation und Alteration. Dieses Modell wurde in das in dieser Studie genutzte Kategoriensystem umgesetzt (s. Abschnitt 5.3). Weiter wird die professionelle Wahrnehmung nicht als statischer Prozess gesehen (vgl. S HERIN 2007: 384). Vielmehr baut die Verarbeitung auf der Wahrnehmung auf, und beide entwickeln sich dynamisch, wobei sich die Art der Wahrnehmungsmuster und die Art der wissensgesteuerten Verarbeitung gegenseitig beeinflussen. 66 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 3. Aktueller Forschungsstand zur professionellen Wahrnehmung im Bereich der Lehrer(innen)bildung Aus Sicht der Erforschung der professionellen Wahrnehmung im Bereich der Lehrer(innen)bildung lassen sich nach J ANÍK et al. (2016: 24f.) vier Forschungsrichtungen identifizieren, die sich auf unterschiedliche Teilaspekte der Wahrnehmung konzentrieren: • auf die Charakteristika der professionellen Wahrnehmung bei „Untergruppen“ im Rahmen des Lehrberufs (Lehrer(innen) unterschiedlicher Fächer, Sonderpädagog(inn)en usw.). • auf die Inhalte der professionellen Wahrnehmung und ihre spezifischen Teilbereiche, wie z.B. die Wahrnehmung des Klassenmanagements (professional vision for classroom management; vgl. G OLD et al. 2013), die professionelle Wahrnehmung des Unterrichtsgesprächs (professional vision for classroom discourse; vgl. M ENDEZ et al. 2007), die professionelle Wahrnehmung der Inklusion in der Klasse (professional vision of inclusive classrooms; vgl. R OOSE et al. 2018) oder die Wahrnehmung des Curriculums (curricular vision; vgl. C HOPPIN 2011). • auf die Faktoren und Effekte, die die professionelle Wahrnehmung beeinflussen; im Fokus solcher Studien steht die Beziehung zwischen professioneller Wahrnehmung und professionellem Wissen (vgl. S TÜRMER et al. 2013), der Einfluss von Videosettings (mit Fokus auf eigene oder fremde Videos; vgl. B LOMBERG et al. 2011; S EIDEL et al. 2011), die Unterschiede zwischen verschiedenen Studierenden (S TÜRMER et al. 2016) usw. • auf die Erfassung der Entwicklung der professionellen Wahrnehmung mittels unterschiedlicher Interventionsinstrumente im Rahmen des Studiums, des Referendariats oder der Weiter- und Fortbildung. Bei diesem Aspekt werden diverse Formate untersucht, v.a. videobasierte on-line Instrumente und videobasierte Diskussionsrunden (die sog. Videoklubs). Die meisten Studien zur Erforschung der professionellen Wahrnehmung konzentrieren sich entweder auf Studierende, die sich auf ihren zukünftigen Beruf als Lehrer(innen) vorbereiten, oder auf bereits praktizierende Lehrer(innen) (vgl. J ANÍK et al. 2016). Dagegen befassen sich nur wenige Studien mit dem Vergleich der professionellen Wahrnehmung bei künftigen und praktizierenden Lehrer(inne)n (S HERIN / VAN E S 2005; Stehlíková 2009; S TEFFENSKY et al. 2015; M CDONALD 2016). 2 Die Größe der Stichproben in den einzelnen Studien unterscheidet sich dabei wesentlich. Die Palette reicht von Studien mit kleinen Stichproben mit rein qualitativem Forschungsdesign (z.B. M ENDEZ et al. 2007) bis hin zu Studien mit großen Stichproben (bis zu 169 Probanden), die mit einem quantitativen Design realisiert 2 Die professionelle Wahrnehmung wird mittlerweile auch bei Schulinspektoren untersucht (S CHWINDT 2008). Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 67 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 wurden (B LOMBERG et al. 2011; G OLD et al. 2013; S TÜRMER et al. 2013; S TEF - FENSKY et al. 2015). Dabei fokussieren die Studien mit großen Stichproben v.a. auf die Studierenden, während kleinere Stichproben besonders für die Erforschung der professionellen Wahrnehmung bei bereits im Beruf stehenden Lehrer(inne)n typisch sind. Für die Erforschung der professionellen Wahrnehmung ist charakteristisch, dass sie auf Unterrichtsbeobachtungen basiert. Überwiegend wird indirekte Beobachtung anhand von Videoaufzeichnungen des Unterrichtsgeschehens eingesetzt, wobei hier zwei grundlegende Kategorien zu unterscheiden sind, und zwar (1) nach der Art der Videos und (2) nach der Länge der auf Video aufgezeichneten Unterrichtssequenz. Nach der Art der Videos können Studien unterschieden werden, die (1a) Videos vom eigenen Unterricht der untersuchten Lehrer(innen) bzw. Studierenden verwenden (z.B. G OLD et al. 2013; S HERIN / VAN E S 2005), (1b) Videos von fremdem Unterricht verwenden (z.B. B LOMBERG et al. 2011; S TÜRMER et al. 2013; W ALKOE 2015; S TÜRMER et al. 2016) oder (1c) eigene und fremde Videos kombiniert verwenden (z.B. VAN E S / S HERIN 2006). Aus Sicht der Länge der Videos können (2a) Studien, die die professionelle Wahrnehmung anhand der Analyse der ganzen Unterrichtsstunden untersuchen ( VAN E S / S HERIN 2002), und (2b) Studien, die auf kürzere Sequenzen aus dem Unterricht abzielen (S HERIN / VAN E S 2009), unterschieden werden. 4. Unser Instrument zur Entwicklung der professionellen Wahrnehmung bei angehenden DaF-Lehrer(inne)n: DaF-VideoWeb 4.1 Video in der Lehrer(innen)bildung Der Einsatz von Videos in der Lehrer(innen)bildung hat eine lange Tradition. Vor allem im Rahmen der universitären Ausbildung wurden Videos schon in den 60er Jahren eingesetzt. Die Methoden und Techniken der Arbeit mit Videoaufnahmen haben sich dabei fortlaufend geändert, wie dies zusammenfassend z.B. S HERIN (2004) oder J ANÍK et al. (2011) darstellen. Einer der Hauptgründe für diverse Änderungen hinsichtlich der effizienten Arbeit mit diesem Instrument war die Feststellung, dass trotz mancher Vorteile, die der Einsatz von Videoaufnahmen in der Lehrer(innen)bildung hat, das bloße Ansehen solcher Aufnahmen nur unzureichende lernfördernde Effekte zeitigt. Um die Lernprozesse der angehenden Lehrer(innen) zu unterstützen, ist es erforderlich auch bei der Arbeit mit authentischen Unterrichtsmitschnitten die Aufmerksamkeit der Studierenden gezielt auf konkrete Inhalte bzw. Aspekte des Unterrichtsgeschehens zu lenken (vgl. VAN DEN B ERG 2001). Deshalb werden die Videoaufnahmen viel öfter im Sinne der sog. Videofälle 3 (video cases) benutzt, wobei die 3 Die „Videofälle“ (auf Video aufgezeichnete Fallstudien) werden sehr erfolgreich in der Ausbildung von Ärzten, Juristen etc. (vgl. M CANINCH 1995) eingesetzt. In der Lehrer(innen)bildung bringen sie die 68 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 jeweilige Videosequenz durch eine Beschreibung der aufgenommenen Unterrichtssituation (z.B. Ziele der Aktivität in der aufgenommenen Situation) und durch Informationen zur Klasse (z.B. Alter der Schüler(innen)) ergänzt wird. Mit Videos bzw. mit Videofällen kann in unterschiedlichen Formaten (z.B. on-line streamimg, CD-ROM) und Lernsettings (z.B. individuelle Arbeit oder Austausch in Gruppen), mit unterschiedlichen Inhalten (z.B. authentische Videos oder gespielte Unterrichtssituation, Video ohne oder mit Zusatzmaterialien) und Zielen gearbeitet werden (vgl. K RAMMER / R EUSSER 2005: 42). 4.2 DaF-VideoWeb Um die professionelle Wahrnehmung des Unterrichtsgeschehens bei den Studierenden des Lehramtes Deutsch als Fremdsprache zu fördern, wurde am Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk-Universität die elektronische Lernumgebung DaF-VideoWeb entwickelt. Bei der Arbeit mit der Online-Plattform DaF-VideoWeb werden Online-Lernphasen mit Präsenzphasen an der Universität kombiniert. Die Studierenden treffen sich während des Semesters zwei Mal: Beim ersten Treffen am Semesteranfang wird von der/ dem Seminarleiter/ in das Konzept der Online-Plattform VideoWeb vorgestellt. Es werden auch die Ziele und Beziehungen zu anderen pädagogischen und fachdidaktischen Studienfächern erläutert und die Arbeitsformen erklärt. Beim zweiten Treffen am Semesterende wird die Arbeit mit der Plattform in Bezug auf die inhaltliche sowie formale Ebene (Online-Lernen) evaluiert. Die Ergebnisse der Videobeobachtungen werden diskutiert und gleichzeitig wird der Beitrag des Kurses zur Entwicklung der fachdidaktischen Kompetenz der Studierenden reflektiert. Im Zentrum des DaF-VideoWeb-Kurses steht die Arbeit mit Videoaufzeichnungen aus authentischem DaF-Unterricht. Diese Aufzeichnungen werden durch kontextuelle Informationen zu Schule, Klasse oder Thema der Unterrichtseinheit ergänzt. Zu der jeweiligen Videosequenz werden offene und/ oder geschlossene Fragen gestellt, deren Ziel es ist, den Studierenden einzelne Prozesse der professionellen Wahrnehmung bewusst zu machen bzw. diese Prozesse bei ihnen zu entwickeln. Als Begleitmaterial zu den Videofällen erhalten die Studierenden thematisch relevante Texte aus der fremdsprachendidaktischen Fachliteratur, v.a. aus dem Bereich der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache (vgl. z.B. K RUMM et al. 2010). Thematisch sind die Videofälle in vier Module eingeteilt (s. Abschnitt 4.3). Vor und nach den thematischen Modulen befinden sich zwei Diagnostikmodule, die den jeweiligen Stand der professionellen Wahrnehmung der Studierenden erfassen sollen. Alltagsprobleme der Praxis sowie die Dilemmata der realen Unterrichtssituationen ein (vgl. C ANNINGS / T ALLEY 2003). Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 69 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 4.3 Thematische Module des DaF-VideoWeb Für die Entwicklung der Handlungskompetenz der angehenden Lehrkräfte ist neben den schulpädagogischen Fächern in erster Linie die Fachdidaktik (in unserem Fall die Didaktik des Deutschen als Fremdsprache) von entscheidender Bedeutung. Die Themen für die einzelnen Module stehen in Einklang mit dem Curriculum der Fachdidaktik bei der Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache. 4 Aus der großen Fülle der fachdidaktischen Themen haben wir für die einzelnen Module in unserem VideoWeb folgende Themen ausgewählt: (1) Aufgaben, (2) Aufgabenstellungen, (3) Fertigkeiten und (4) sprachliche Mittel. Im Folgenden möchten wir die Themenbereiche kurz vorstellen und dadurch ihre Relevanz für unsere Pilotstudie unterstreichen. • Modul 1 und 2 - Aufgaben und Aufgabenstellungen: In Bezug auf die didaktische Ausformung des Konzepts der Aufgabenorientierung ist gleichzeitig die konkrete Aufgabenstellung von Interesse, besonders die „Kriterien für die Konstruktion und Evaluation von Aufgabenstellungen“ (P ORTMANN -T SELIKAS 2010: 1166), die den Unterrichtsinhalt in den konkreten Lernsituationen motivierend, verständlich sowie lernfördernd zum Ausdruck bringen und die kognitiven Prozesse der Lernenden aktivieren. Im Kontext der Formulierung von Aufgabenstellungen ist auch auf das Konzept der direkten Instruktion (direct instruction) von H ATTIE (2009: 13-16) hinzuweisen, das B EHR (2014) im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts aufgegriffen hat, indem sie hervorhebt, dass der Fremdsprachenerwerb mit strukturierten und präzise formulierten Aufgabenstellungen wirksam unterstützt werden kann. • Modul 3 und 4 - Fertigkeiten und sprachliche Mittel: Hauptziel des Fremdsprachenunterrichts ist „die kommunikative Kompetenz, also eine fremdsprachliche Diskursfähigkeit, für die prozedurales Sprachkönnen fundamental ist“ (B ONNET / D ECKE -C ORNILL 2016: 157). Zu den integralen Bestandteilen einer funktionalen kommunikativen Kompetenz gehören die Grundfertigkeiten (Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen und Interagieren sowie Schreiben) und - in ihrer dienenden Funktion - die sprachlichen Mittel (Wortschatz, Grammatik, Aussprache und Orthographie). 4 In der Tschechischen Republik ist die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen einphasig angelegt. Das bedeutet, dass in die sprachwissenschaftliche und fachdidaktische Ausbildung auch bei DaF-Lehrer(inne)n von Anfang an unterschiedliche Formen von Praxisphasen Eingang gefunden haben, seien dies Unterrichtsbeobachtungen, Hospitationen oder Unterrichtspraktika, in deren Verlauf die angehenden Lehrkräfte ihre Handlungskompetenz schrittweise entwickeln und ihre ersten Unterrichtserfahrungen sammeln (vgl. K RUMM / R IEMER 2010: 1346f.). 70 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 5. Methodologie unserer (Vor-)Studie Für eine Vorstudie zur Entwicklung der professionellen Wahrnehmung von Lehramtsstudierenden haben wir uns zwei Arten von Zielen gesteckt, und zwar einerseits Forschungsziele, andererseits Evaluationsziele. Unser Forschungsziel war es festzustellen, ob und wenn ja wie sich die Kommentare der Studierenden in Bezug auf die Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung vor und nach der Teilnahme an dem oben beschriebenen DaF-VideoWeb-Kurs geändert haben und wie sich die Antworten/ Kommentare bezüglich der unterschiedlichen Fragestellungen im Rahmen eines Videofalls unterscheiden. Unser Evaluationsziel war es dagegen festzustellen, wie die DaF-Studierenden die Arbeit mit den Videofällen im VideoWeb beurteilen. Dadurch hofften wir, ein Feedback für die Weiterentwicklung der DaF- VideoWeb-Plattform zu erhalten. Unsere Forschungsfragen lauteten dementsprechend wie folgt: 1. Wie unterscheiden sich inhaltlich die Kommentare bei den Studierenden vor und nach der Arbeit mit dem DaF-VideoWeb? 2. Wie unterscheiden sich inhaltlich die Kommentare der Studierenden bei ungeleiteten und geleiteten Instruktionen im DaF-VideoWeb? 3. Wie beurteilen die Studierenden die Arbeit mit dem DaF-VideoWeb? 5.1 Datensammlung Die Datensammlung erfolgte anhand des online Kurses DaF-VideoWeb im Rahmen der Diagnosemodule 1 und 2 (Forschungsfrage 1), des thematischen Moduls 2 zu Aufgaben und Aktivitäten (Forschungsfrage 2) und der Rückmeldungen der am Kurs beteiligten Studierenden (Forschungsfrage 3). Die Studierenden konnten die Sprache auswählen, in der sie ihre Kommentare abgeben wollten. Die Diagnosemodule bestehen aus vier Videofällen, die Videosequenzen zeigen jeweils Unterrichtsstunden an tschechischen Schulen (Primarstufe und Sekundarstufe I). Die ungeleitete Instruktion besteht in der folgenden Anweisung: „Beobachten Sie das Video und kommentieren Sie, was Sie gesehen haben.“ Aus dem thematischen Modul zu Aufgaben und Aktivitäten wurde ein Videofall mit zwei unterschiedlichen Fragestellungen ausgewählt: Die ungeleitete Fragestellung entspricht der Fragestellung im Diagnosemodul, die geleitete Fragestellung beinhaltet folgende Fragen (bzw. Anweisungen): 1. „Beschreiben Sie die Situation.“ 2. „Wer spricht? Wie lange? Was sagen die Schüler(innen) und die Lehrerin? Bzw. Körpersprache? “ 3. „Was ist das Ziel der Aktivität? “ 4. „Was sollen die Schüler(innen) lernen? Was bietet die Aktivität noch? Wie fühlen sich die Schüler(innen) dabei? “ 5. „Wie verhalten sich die Schüler(innen)? Warum? “ Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 71 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 6. „Wie würden Sie die Situation bewerten? “ 7. „Was kann verbessert werden? “ 5 Begleitend zum Video wurden den Studierenden kontextuelle Informationen zur Klasse, zur mitgeschnittenen Unterrichtsstunde und zur jeweiligen Aktivität in der Videosequenz gegeben. Nach Abschluss des VideoWeb-Kurses wurden die Studierenden zu einer Rückmeldung aufgefordert. Für die Rückmeldungen wurden keine konkreten Vorgaben gemacht. Die Studierenden wurden lediglich gebeten, die Arbeit im VideoWeb zu beurteilen und sich dabei darauf zu konzentrieren, was ihnen besonders gefallen hat und an welchen Stellen Probleme aufgetreten sind. 5.2 Stichprobe Die Stichprobe unserer Vorstudie besteht aus fünf Studierenden (N=5) im Lehramtsstudium für Deutsch als Fremdsprache an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk- Universität (Brno, Tschechische Republik), die im Sommersemester 2018 an der Pilotphase des Wahlkurses DaF-VideoWeb teilgenommen haben. Die Auswahl der Studierenden wurde bewusst so vorgenommen, dass alle Formen des angebotenen Studiums (Bachelor- und Masterstudiengang, Einfach- und Zweifachstudium) abgedeckt werden konnten. Alle beteiligten Studierenden hatten zum Zeitpunkt der Studie zumindest ein Semester Didaktik des Deutschen als Fremdsprache absolviert. An der Pädagogischen Fakultät hatten sie zwischen vier und zwölf Semester studiert, praktische Unterrichtserfahrung hatten sie zwischen 0 bis 5 Jahren. 5.3 Datenanalyse Als Methode bei der Datenanalyse wurde eine qualitative Inhaltsanalyse gewählt (S CHREIER 2012). Um die erste und zweite Forschungsfrage beantworten zu können, wurden folgende Analyseschritte vorgenommen: Im ersten Schritt wurden die Kommentare der Studierenden auf die einzelnen Analyseeinheiten aufgeteilt und anschließend im zweiten Schritt nach einem kategorialen System (s. Tab. 1  S. 72) kodiert. Das Kategoriensystem (M INAŘÍKOVÁ 2014) stützt sich auf die Subprozesse bei der wissensgesteuerten Verarbeitung. Um die selektive Wahrnehmung zu untersuchen, wurden im dritten Schritt induktiv Themen identifiziert, zu denen sich die Studierenden in ihren Kommentaren geäußert hatten. Um auch die letzte Forschungsfrage beantworten zu können, wurden die Daten aus den studentischen schriftlichen Evaluationen einer thematischen Analyse unterzogen. 5 Diese Fragen bzw. Anweisungen wurden im Einklang mit einem VideoWeb in englischer Sprache entwickelt (vgl. M INAŘÍKOVÁ 2014). 72 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 Kategorie Deskriptor Beispiel der Kodierung Deskription deskriptive Beschreibung(en) der Situation oder Beschreibung(en) der einzelnen Ereignisse in der Situation „Sie [die Lehrerin] hat freie Kärtchen in der Klasse verteilt und die Kinder sollten da zwei Zahlen (von 0 bis 100) schreiben. Zuerst haben sie allein gearbeitet, aber dann sind noch einige Karten geblieben und sie hat das dann alles verteilt und hat es als Paararbeit gemacht.“ (S3_V) Interpretation tieferes Verständnis der Situation, Einschätzung der Ereignisse, die nicht direkt beobachtbar sind, Einschätzung der Beziehungen unter beobachtbaren Ereignissen „Die Kinder freuen sich über das Spiel und wollen aktiv mitspielen.“ (S3_N) Explanation wissensbegründete Erklärung der Situation bzw. der Ereignisse in der Situation „Sie [die Lehrerin] hat bei der Erklärung ein Beispiel gezeigt, damit die Aufgabe klar wäre.“ (S3_V) Prädiktion Einschätzung des folgenden Ablaufes der Situation, der sich auf unterrichtsbezogene Ereignisse bezieht „Žáky to (píseň) trochu "probudí́" a zároveň̌ povzbudí́ nebo motivuje k další́ práci.“ [Es wacht die Schüler(innen) (das Lied) und motiviert zur weiteren Arbeit.] (S1_V) Evaluation Äußerung einer subjektiven Einstellung „Das [Grammatik-Übersetzungsmethode gemeint] hat doch vor hundert Jahren auf dieser Art und Weise unterrichtet. Wir sind doch woanders! “ (S5_N) Alteration Entwurf einer alternativen Unterrichtsgestaltung (bzw. alternative Gestaltung eines Ereignisses), die als „besser“ oder „auch möglich“ wahrgenommen wird „Besser wäre, ihnen einen Text mit beiden Formen zu geben, wo sie die gesuchten Formen entdecken könnten (z.B. Transkription des Hörtextes).“ (S2_N) Tab. 1: Kategoriensystem zur Erforschung der Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung (nach MI NAŘÍKOVÁ 2014: 763) und Ankerbeispiele Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 73 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 6. Ausgewählte Ergebnisse Im folgenden Kapitel werden ausgewählte Ergebnisse unserer Studie in der Reihenfolge der Forschungsfragen dargestellt. Im ersten Teil fokussieren wir die Veränderungen in den Kommentaren vor und nach der Arbeit im VideoWeb. Im zweiten Teil werden die Unterschiede in den Kommentaren bei geleiteten und ungeleiteten Instruktionen genauer betrachtet. Im letzten Teil des Kapitels folgen die Erfahrungen der Studierenden mit der Arbeit im VideoWeb, wie sie sie selbst artikuliert haben. 6.1 Wie unterscheiden sich inhaltlich die Kommentare bei den Studierenden vor und nach der Arbeit mit dem DaF-VideoWeb? An dieser Stelle werden die Kommentare der Studierenden aus dem Diagnostikmodul 1, das dem VideoWeb vorgeschaltet war, und aus dem Diagnostikmodul 2, in dem die Studierenden ihre Kommentare nach der Arbeit mit dem VideoWeb abgegeben haben, ausgewertet. Abb. 1: Repräsentation der einzelnen Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung vor und nach der Arbeit im VideoWeb (absolute Zahlen) Die Ergebnisse in Abbildung 1 zeigen, dass in den Kommentaren der Studierenden zu beiden Messzeitpunkten (d.h. vor und nach der Arbeit im VideoWeb) der am häufigsten vorkommende Subprozess die Deskription ist. Relativ häufig wurden auch die Subprozesse Interpretation und Evaluation genannt. Dagegen kommen Explanation, Alteration und Prädiktion hier nur selten vor. Die meisten der beschreibenden Kommentare waren aufgrund von mehreren vorangegangenen Studien (z.B. M INAŘÍKOVÁ 2014) zu erwarten. Die Analyse und der Vergleich der Häufigkeit der Erscheinungen der einzelnen Subprozesse bei der wissensgesteuerten Verarbeitung ergaben, dass es keine wesentlichen Unterschiede vor und nach dem Absolvieren des VideoWebs gibt. Darüber hinaus ist die Zahl der Kommentare überraschender- 74 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 weise gesunken. Dieses Phänomen kann durch mehrere Gründe erklärt werden (s. Abschnitt 7). Die Tatsache, dass sich der Anteil der identifizierten Subprozesse in den Kommentaren der Studierenden kaum verändert hat und dass die Gesamtzahl der kodierten Textsegmente nach Abschluss des Kurses sogar gesunken ist, führte uns zu der Überlegung, die Inhalte der selektiven Wahrnehmung genauer unter die Lupe zu nehmen und dadurch mögliche Unterschiede in Bezug auf die Themen zu identifizieren, die die Studierenden in ihren Kommentaren angesprochen haben. Tabelle 2 zeigt, welche Themen wir in den Kommentaren der Studierenden in den beiden Phasen, d.h. vor und nach der Arbeit im VideoWeb, identifizieren konnten. Tab. 2: Identifizierte Themen (vor und nach der Arbeit im VideoWeb) Aus der inhaltlichen Auswertung der Aussagen ergab sich, dass die Studierenden vor allem Lehrer(innen), Schüler(innen) und Unterrichtsprozesse thematisiert haben. Abbildung 2 (  S. 75) zeigt, wie sich der Anteil eines Themas vor und nach der Arbeit im VideoWeb geändert hat. Thema Identifikator Beispielaussage Lehrperson • Aufgabenstellung • Sprache (Deutsch oder Tschechisch, Sprechtempo) • Fehlerkorrektur „Die Lehrerin fragt danach, ob die Aufgabe klar ist.“ (S3_V) Schüler(innen) • aktuelle Tätigkeit der Schüler(innen) (was machen die Schüler(innen)) • Lernmöglichkeit (was können die Schüler(innen)) lernen • Motivation (Spaßfaktor) „Zuerst haben die Kinder das Lied Bruder Jakob gesungen“ (S5_V) Unterrichtsprozesse und Unterrichtsmethoden • Aktivität bzw. Aufgabe • Thema der auf Video aufgezeichneten Situation • Ziele der Aktivität „Wiederholung von Farben anhand von bunten wie Fliegenklatschen aus Papier“ (S3_V) Gestaltung des Klassenzimmers • Gestaltung des Klassenzimmers (z.B. Sitzordnung) Lavice v učebně jsou ve tvaru "U" [Die Sitzordnung in der Klasse ist in der U- Form.] Video • Länge des Videos Video je moc malé. [Video ist zu kurz.] Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 75 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 Abb. 2: Häufigkeit der in den Kommentaren vorkommenden Themen vor und nach dem VideoWeb Abbildung 2 zeigt, dass vor der Arbeit mit dem VideoWeb am häufigsten die Lehrperson thematisiert wurde, wohingegen nach der Arbeit mit dem VideoWeb am häufigsten die Schüler(innen) Gegenstand der Kommentare waren. Vor der Arbeit mit dem VideoWeb wurde auch die Länge des Videos thematisiert, die nach der Arbeit mit dem VideoWeb nicht mehr erwähnt wurde. Der Gestaltung des Klassenzimmers wurde in der Phase nach dem VideoWeb mehr Aufmerksamkeit gewidmet (drei Aussagen). 6.2 Wie unterscheiden sich inhaltlich die Kommentare der Studierenden bei ungeleiteten und geleiteten Instruktionen im DaF-VideoWeb? In diesem Abschnitt möchten wir exemplarisch die Ergebnisse der Analyse der Veränderungen in den identifizierten Subprozessen bei der wissensgesteuerten Verarbeitung und der Veränderungen in der selektiven Wahrnehmung in Bezug auf die Instruktion, die begleitend zu den Videos gegeben wurde, präsentieren. Die Studierenden haben in dem hier ausgewählten Videofall (thematisches Modul 2 zu Aufgaben und Aktivitäten) zuerst eine ungeleitete Instruktion ausgeführt, erst dann haben sie mit einer geleiteten Instruktion (s. Abschnitt 5.1) gearbeitet. Im Vergleich zur ungeleiteten Instruktion sollte die geleitete Instruktion die Aufmerksamkeit der Studierenden auf aus fachdidaktischer Sicht wichtige Ereignisse im aufgezeichneten Unterrichtsgeschehen lenken und damit - unterstützt durch die im VideoWeb zur Verfügung gestellte fremdsprachendidaktische Fachliteratur - die einzelnen Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung aktivieren. Aus diesem 76 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 Grund hat uns bei der Auswertung der Kommentare interessiert, ob sich die Zahl der identifizierten Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung in Abhängigkeit von der gegebenen Instruktion geändert hat. Die Ergebnisse sind Tabelle 3 zu entnehmen. Deskription Interpretation Explanation Prädiktion Evaluation Alteration geleitet 14 14 3 0 4 3 ungeleitet 5 4 1 0 1 0 Tab. 3: Unterschiede in der Zahl der Erscheinung verschiedener Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung in Abhängigkeit von der Art der gegebenen Instruktion (geleitet und ungeleitet) Die gewonnenen Ergebnisse zeigen, dass sich bei der geleiteten Instruktion die Zahl der beschreibenden und interpretierenden Kommentare erhöht hat. Alteration wurde bei der ungeleiteten Instruktion überhaupt nicht erwähnt, demgegenüber wurde dieser Prozess bei der geleiteten Instruktion drei Mal angesprochen. Es ist offensichtlich, dass bei der geleiteten Instruktion einige Subprozesse (v.a. Deskription und Interpretation) in den Kommentaren der Studierenden viel öfter als bei der ungeleiteten Instruktion erwähnt wurden. Prädiktion wurde jedoch z.B. überhaupt nicht (weder bei der ungeleiteten noch bei der geleiteten Instruktion) angesprochen. Bezüglich dieser Erkenntnis hat uns interessiert, welche Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung die jeweiligen Fragen in unseren Instruktionen bei den Studierenden ausgelöst haben (s. Tab. 4). Deskription Interpretation Explanation Prädiktion Evaluation Alteration 1. Beschreiben Sie die Situation. 5 3 - - 1 - 2. Wer spricht? Wie lange? Was sagen die Schüler(innen) und die Lehrer(innen)? Bzw. Körpersprache? 5 3 2 - - - 3. Was ist das Ziel der Aktivität? 3 2 2 - - - 4. Was sollen die Schüler(innen) lernen? Was bietet die Aktivität noch? Wie fühlen sich die Schüler(innen) dabei? 4 1 1 - - - 5. Wie verhalten sich die Schüler(innen)? Warum? 5 2 2 - - - Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 77 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 Deskription Interpretation Explanation Prädiktion Evaluation Alteration 6. Wie würden Sie die Situation bewerten? - - - - 4 - 7. Was kann verbessert werden? 2 - - - - 1 Tab. 4: Abrufen der Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung in der geleiteten Instruktion bei den Studierenden 6 Wie Tabelle 4 zeigt, konnten zu fast allen Fragen bei einer geleiteten Instruktion bei der Studierenden beschreibende Kommentare identifiziert werden, interessanterweise auch bei den Fragen, die eindeutig auf andere Subprozesse abzielen. Zum Beispiel zielt die Frage „Was kann verbessert werden? “ auf Alteration ab, einige Studierende sind aber trotzdem bei einer Beschreibung der Unterrichtssituation geblieben. Es kann auch festgestellt werden, dass keine der geleiteten Instruktionen bei den Studierenden dazu führt, eine Prädiktion zu formulieren. Weiter hat uns interessiert, wie die Studierenden die geleitete Instruktion selektiv wahrnehmen. In Tabelle 5 möchten wir darstellen, welche Themen die Studierenden zur jeweiligen Frage angesprochen haben. Lehrperson Schüler(in) Unterrichtsprozesse und Methoden Gestaltung des Klassenzimmers Video 1. Beschreiben Sie die Situation. 5 2 3 - - 2. Wer spricht? Wie lange? Was sagen die Schüler(innen) und die Lehrer(innen)? Bzw. Körpersprache? 5 4 - - - 3. Was ist das Ziel der Aktivität? 1 - 1 - 4. Was sollen die Schüler(innen) lernen? Was bietet die Aktivität noch? Wie fühlen sich die Schüler(innen) dabei? 2 3 - - - 5. Wie verhalten sich die Schüler(innen)? Warum? 3 4 - - - 6 Die Zahlen in der Tabelle zeigen, bei wie vielen Studierenden welche Kategorie vorgekommen ist. Bei einem Studierenden können mehrere Kommentare zu einer Kategorie erscheinen. 78 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 Lehrperson Schüler(in) Unterrichtsprozesse und Methoden Gestaltung des Klassenzimmers Video 6. Wie würden Sie die Situation bewerten? 2 2 1 - 4 7. Was kann verbessert werden? 1 - 1 2 - Tab. 5: Themen der selektiven Wahrnehmung in der geleiteten Instruktion bei den Studierenden 7 Aus Tab. 5 ist ersichtlich, dass bei allen Fragen im Rahmen der geleiteten Instruktion die Lehrperson thematisiert wurde. Dafür wurde das Video außer Acht gelassen. Bemerkenswert war, dass sich die Studierenden bei der Frage nach den konkreten Zielen der Aktivitäten im Video nur oberflächlich äußerten: Die Ziele wurden bloß sehr allgemein kommentiert. Die Studierenden widmeten auch nur marginal den Schüler(inne)n ihre Aufmerksamkeit, betonten aber dagegen die Lehrerperspektive (vor allem in Aussagen wie „die Lehrerin möchte…“) oder den Lehrstoff. 6.3 Wie beurteilen die Studierenden die Arbeit im VideoWeb? Die Rückmeldungen der Studierenden lassen sich in drei thematische Gruppen einordnen. Es handelt sich um Anmerkungen (1) zur Technik (die Online-Plattform mit ihrer technischen Ausstattung und Organisation), (2) zu einzelnen Videos bzw. Videofällen, z.B. zur Angemessenheit, Kontextualisierung oder Auswahl der gezeigten Videos, und (3) zu subjektiv wahrgenommenen Erfahrungen der Studierenden mit dem VideoWeb im Sinne der angebotenen Lernmöglichkeiten, d.h. zur Frage, was die Studierenden lernen konnten und was sie am Lernen gehindert hat. Die Rückmeldungen waren dabei sowohl positiv als auch negativ konnotiert. Hinsichtlich der Online Plattform VideoWeb wurde deren Übersichtlichkeit positiv bewertet. Weiter hat sich gezeigt, dass die Studierenden die Möglichkeit schätzen, anhand von unterrichtsrelevanten Ereignissen ihr theoretisches Wissen mit der Praxis zu verknüpfen. Als ein großer Gewinn des VideoWebs wurde die Möglichkeit empfunden, eigenen Unterricht auf der Basis einer Analyse von fremdem Unterricht zu reflektieren. Als problematisch hat sich dagegen die Qualität der Videoaufnahmen erwiesen, denn die relativ schlechte Qualität der Aufnahmen hat an manchen Stellen (laut Rückmeldungen) das Kommentieren verhindert; kritisiert wurde auch die Dateigröße. Gleichzeitig wurde an manchen Stellen der theoretische Input als zu anspruchsvoll und sogar kompliziert bewertet. In den Rückmeldungen ist auch die Forderung nach aktuellen Themen erkennbar, wie z.B. die Verwendung der Zielsprache als Unterrichtssprache oder das Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik. 7 Die Zahlen in der Tabelle zeigen, bei wie vielen Studierenden welches Thema vorgekommen ist. Bei einem Studierenden können mehrere Kommentare zu einem Thema erscheinen. Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) 79 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 7. Diskussion An dieser Stelle möchten wir die Brennpunkte unserer Ergebnisse diskutieren. Unsere Studie hat u.a. gezeigt, dass bei den Subprozessen der wissensgesteuerten Verarbeitung vor und nach der Arbeit mit dem VideoWeb Beschreibungen und Interpretationen dominierten. Diese Erkenntnis war einerseits nicht überraschend, denn dies entspricht den Ergebnissen aus vorangegangenen Studien (z.B. M INAŘÍKOVÁ 2014). Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass die Studierenden am Ende des VideoWebs eher kürzere und schlüssigere Kommentare abgegeben haben. Hierfür bieten sich unterschiedliche Erklärungen an. Unseres Erachtens hat sich auf die Länge der Kommentare der sog. Primäreffekt (primacy effect) ausgewirkt: Am Anfang war die Arbeit im VideoWeb für die Studierenden neu, weshalb sie mehr Zeit und Aufmerksamkeit in das Verfassen von Kommentaren investierten. Gegen Ende des Kurses waren den Teilnehmer(inne)n dagegen die einzelnen Arbeitsschritte bereits gut bekannt, weswegen die einzelnen Punkte nicht mehr detailliert ausgeführt wurden. Demzufolge war auch die Zahl der in den Kommentaren genannten Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung niedriger. Einige Veränderungen ließen sich bei den angesprochenen Themen nachweisen, was auf eine Entwicklung der selektiven Wahrnehmung der Studierenden hindeutet. So waren nach dem VideoWeb die Kommentare weniger auf die Lehrperson, dafür aber stärker auf die Schüler(innen) fokussiert. Dass die Studierenden mehr auf die Schüler(innen) achten, kann positiv gesehen werden - vor allem im Zusammenhang mit den immer aktuellen Prinzipien der Schülerorientierung und Individualisierung im fremdsprachlichen Unterricht (z.B. F RITZ / F AISTAUER 2008). Die Analyse des Vorkommens von unterschiedlichen Kategorien in den Kommentaren in Abhängigkeit von der Art der Instruktion hat gezeigt, dass die Studierenden bei einer geleiteten Instruktion mehr beschreibende und interpretierende Kommentare abgegeben haben, wobei allerdings keine höheren Subprozesse (vor allem Prädiktion und Explanation) durch die Instruktion aktiviert werden konnten. Für diese Beobachtung bieten sich zwei Begründungen an: Einerseits haben einige Studierende die Anweisungen der geleiteten Instruktion nicht beachtet. Andererseits kann man vermuten, dass auch die Anweisungen und Fragen in den geleiteten Instruktionen nicht alle Subprozesse der wissensgesteuerten Verarbeitung gleichmäßig abrufen. Diese Feststellung würde eine Revision der Instruktionen erforderlich machen. Aus den Rückmeldungen der Studierenden haben sich somit einige wichtige Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung des DaF-VideoWebs ergeben, sei es hinsichtlich der technischen Probleme in Bezug auf die Videoqualität 8 , sei es hinsichtlich der Auswahl der Fachtexte oder des Einbaus neuer thematischer Module 8 Wenn wir annehmen, dass die Größe der Datei direkt mit der Qualität der Aufnahme in Zusammenhang steht, dann scheint es sinnvoll zu sein, verschiedene Dateien in unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Formaten zur Auswahl zu stellen. 80 Miroslav Janík, Věra Janíková DOI 10.2357/ FLuL-2019-0005 48 (2019) • Heft 1 (wie z.B. zur Verwendung der Zielsprache als Unterrichtssprache oder zum Konzept der Mehrsprachigkeitsdidaktik). Bei der Einordnung unserer Untersuchung muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Vorstudie als erster Einblick zu verstehen ist, der uns zeigen sollte, wie die einzelnen Komponenten der professionellen Wahrnehmung durch eine videobasierte Intervention entwickelt werden können und welche Veränderungen in der professionellen Wahrnehmung der Studierenden zu erwarten sind. Diese Ergebnisse sind aber mit gebotener Vorsicht zu interpretieren. Es muss immer wieder betont werden, dass in unsere Vorstudie nur fünf Studierende einbezogen waren. Abschließend lässt sich sagen, dass unsere Vorstudie zur wissenschaftlichen Debatte (hier im Kontext der Fremdsprachendidaktik) beiträgt, wie die professionelle Wahrnehmung entwickelt werden kann (z.B. S TÜRMER et al. 2013; S TAR / S TRICK - LAND 2008; VAN E S / S HERIN 2002). Obwohl die dargestellten Ergebnisse auf Grundlage einer kleinen Stichprobe erzielt wurden, deuten sie darauf hin, dass sich die professionelle Wahrnehmung bei den befragten Studierenden mit Hilfe unserer Online Plattform DaF-VideoWeb positiv entwickelt hat. Und nicht zuletzt bringt die Studie wichtige Schlussfolgerungen für die nötigen Modifikationen des DaF- VideoWebs. Literatur B EHR , Ursula (2014): „Was hat die Hattie-Studie mit dem Formulieren von Aufgabenstellungen zu tun? “ In: Praxis Fremdsprachenunterricht 2, 1-4. B LOMBERG , Geraldine / S TÜRMER , Kathleen / S EIDEL , Tina (2011): „How pre-service teachers observe teaching on video: Effects of viewers‘ teaching subjects and the subject of the video“. In: Teaching and Teacher Education 27.7, 1131-1140. B ONNET , Andreas / D ECKE -C ORNILL , Helene (2016): „Inhalte zur Entwicklung sprachlicher und literarischer Kompetenzen“. 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In: Journal of Mathematics Teacher Education 18.6, 523−550. W OLFF , Charlotte E. / J ARODZKA , Halszka / VAN DEN B OGERT , Niek / B OSHUIZEN , Henny P. A. (2016): „Teacher vision: Expert and novice teachers’ perception of problematic classroom management scenes“. In: Instructional Science 44.3, 243-265. DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 M ARTA D AWIDOWICZ * Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos Abstract. The article presents results of a qualitative study focusing on teachers’ learning within a virtual seminar on the promotion of language learning strategies. The content analysis of four interviews and 14 written reflections collected in the field of teaching German as a Foreign Language shows how in-service-teachers evaluate their first peer discussions about own classroom videos and which factors they consider relevant for their development. The synthesis of teachers’ perspectives according to the framework for development of teacher learning community in a video club ( VAN E S 2012) provides insights into processes, benefits and difficulties on various levels that need to be considered when designing and conducting video-based discussions in similar contexts. 1. Einleitung Während sich die Forschung zu unterrichtsbezogenen Kompetenzen, Wissensbeständen und Kognitionen von (Fremdsprachen)Lehrenden (vgl. Z .B. S CHART 2014) seit Ende der 1980er Jahre erfolgreich etablieren konnte, richtet sich die Aufmerksamkeit erst seit der Jahrhundertwende zunehmend darauf, wie Lehrer(innen) durch Bildungsmaßnahmen und technologische Fortschritte zielgerichtet bei ihrer Professionalisierung unterstützt werden können. Die videografische Unterrichtsdokumentation gilt in diesem Zusammenhang als ein vielfältig einsetzbares Instrument, das im Hinblick auf die Zielsetzung einer reflexiven Praxis von im Beruf stehenden Lehrpersonen ein hohes Potenzial für deren Entwicklung aufzuweisen scheint: Die Auseinandersetzung mit Aufzeichnungen der eigenen Unterrichtspraxis kann - einhergehend mit der Herausbildung der professional vision (s. W EGER in diesem Band) - zur Erweiterung des handlungsleitenden Wissens und folglich von Handlungsmustern führen (vgl. z.B. VAN DEN B ERGH / R OS / B EIJAARD 2015). Im Unterschied zu Modellen, die die Analyse der eigenen Praxis in schriftliche Reflexionen in Einzelarbeit (z.B. VAN E S / S HERIN 2002) oder in Gespräche mit Mentor(inn)en, Supervisor(inn)en oder Forscher(inne)n (z.B. C OPLAND 2011; A BENDROTH -T IMMER / F REVEL 2013) betten, setzen stärker konstruktivistisch orientierte Bildungsangebote auf Gespräche in der Gruppe. Dazu gehören beispielsweise * Korrespondenzadresse: Marta D AWIDOWICZ , Universität Wien, Institut für Germanistik, Porzellangasse 4, A-1090 W IEN . E-Mail: marta.dawidowicz@univie.ac.at Arbeitsbereiche: DaF-Didaktik; DaF-Lehrer(innen)bildung. Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 85 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 sogenannte Videoclubs (z.B. VAN E S / S HERIN 2008), Elemente der Praxiserkundungsprojekte in der Reihe Deutsch Lehren Lernen (DLL) (z.B. L EGUTKE / M OHR 2015) und weitere Modelle in der Fremdsprachendidaktik (z.B. W IPPERFÜRTH 2015; D AWIDOWICZ et al. 2017). Die Frage nach möglichen Potenzialen und Herausforderungen, die sich in der Anfangsphase solcher Lernarrangements ergeben, steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Nach einem kurzen Forschungsüberblick werden die Teilergebnisse einer qualitativen Studie im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) dargestellt, die sich der emischen Betrachtung von Gelingensbedingungen für Gespräche über eigene Unterrichtsvideos widmet. Auf Basis von Befragungsdaten werden die Perspektiven von vier Lehrpersonen auf die drei Sphären von videobasierten Fortbildungsgesprächen nach VAN E S (2012) nachgezeichnet. Die Erlebensberichte geben Aufschluss über mögliche Ursachen für vergleichbare Entwicklungen in Lehrer(innen)-Lerngemeinschaften sowie über Implikationen für die Gestaltung des Lernsettings. 2. Gespräche über eigene Unterrichtsvideos im Fokus der Forschung Als erfolgreich oder produktiv werden videobasierte Gespräche angesehen, in denen es unter Beteiligung aller Teilnehmer(innen) zu kritisch-analytischen Auseinandersetzungen mit Unterrichtsereignissen kommt, auf deren Basis Handlungsalternativen generiert und Wege für die allgemeine Unterrichtsverbesserung gefunden werden (vgl. B ORKO et al. 2008). Die Annahme ist, dass solch eine Ko-Konstruktion von potenziell handlungsleitendem Wissen durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungswissensbestände zustande kommt. So weisen Studien unterschiedlicher Fächer nach, dass Lehrpersonen videobasierte Gespräche mit Kolleg(inn)en als bereichernd erleben und insbesondere von der einfließenden Perspektivenvielfalt profitieren (z.B. T RIPP / R ICH 2012; W IPPERFÜRTH 2015). Von Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit mit Kolleg(inn)en berichten hingegen DaF-Lehrer(innen) im Blended-Learning-Format von DLL: Allen voran scheinen die Erfahrung und das Verständnis in Bezug auf das kollaborative Arbeitsvorgehen sowie die Herausforderung bei der Etablierung von persönlichen Beziehungen im virtuellen Kontext ausschlaggebende Faktoren für das Scheitern in Lerngemeinschaften zu sein (vgl. M OHR / S CHART 2016; N IEWALDA 2016). Der detaillierten Aufschlüsselung dieser und anderer Aspekte widmet sich VAN E S (2012), indem sie aus bestehenden Forschungsarbeiten drei Sphären ermittelt, die die Entwicklung von Lerngemeinschaften beschreiben. In ihrer Langzeitstudie untersucht sie die Zusammenarbeit von sieben Mathematiklehrer(inne)n, die im Rahmen von zehn videobasierten Gesprächen das Denken ihrer Schüler(innen) beim Lösen von Aufgaben betrachten, und gelangt zu der Erkenntnis, dass die Produktivität einer Lerngemeinschaft sich nur langsam entwickelt. Tabelle 1 (  S. 86) stellt neben den Entwicklungsstufen die Merkmale der drei Sphären dar. 86 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 Tab. 1: Kodierungsschema für den Referenzrahmen für die Entwicklung von Lehrer(innen)- Lerngemeinschaften in einem Videoclub ( VAN E S 2012: Appendix A) Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 87 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 Auf der ersten Ebene der collegial and collaborative interactions wird betrachtet, inwieweit sich die Gruppenmitglieder vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Zielsetzung gegenseitig bei der Weiterentwicklung unterstützen und eine Beteiligung aller gegeben ist. Focus of activity on teaching and learning umfasst Aspekte, die die Nähe zum gemeinsamen thematischen Schwerpunkt und dem Referenzobjekt im Video bestimmen. Die sich erst spät etablierenden Interaktionsprägungen auf der Ebene participation and discourse norms for productive collaboration beziehen sich darauf, wie die Lehrer(innen) im Gespräch auf die beigetragenen Ideen der Kolleg(inn)en eingehen, wie sie diese miteinander verschränken, inwieweit sie ihre Ideen mit Videoindizien belegen und inwieweit sie dabei kritisch-analytisch vorgehen. VAN E S (ebd.: 190f.) ermittelt dabei, dass sich in der ersten und dritten Sphäre schneller Fortschritte abzeichnen als in der zweiten, und zieht die Schlussfolgerung, dass neben der Herausbildung einer professional vision und dem Aufbau von Vertrauen sowie gemeinsamen Zielen vor allem die kritisch-analytische Herangehensweise in der kollegialen Interaktion gefördert werden muss. Als Förderungsmöglichkeiten sieht sie einerseits die Präsenz einer/ s facilitators an, der/ die die Auseinandersetzungsform modellieren kann, und andererseits das damit zusammenhängende Fokussieren auf die Lerner(innen)handlungen. Eine gemeinsame Konzentration auf die Lernenden könne laut VAN E S (ebd.: 190) möglicherweise den empfundenen Widerspruch zwischen einer kritisch-analytisch ausgerichteten Interaktion und einer auf Vertrauen basierenden Kollegialität reduzieren. Arbeiten, die sich auf Mikroebene mit den einzelnen Bestandteilen dieses Referenzrahmens beschäftigen, untersuchen meist in mixed-methods-Designs mit quantitativem Schwerpunkt die Gesprächsstruktur und analytische Sprachhandlungen (z.B. B ORKO et al. 2008), verschiedene Formen des Ausdrückens konträrer Auffassungen (z.B. D OBIE / A NDERSON 2015) und die Zusammenhänge zwischen den analysefördernden Sprachhandlungen von Gesprächsleiter(inne)n und analytischen Sprachhandlungen von Lehrpersonen (Z HANG et al. 2010; A RYA / C HRIST / C HIU 2014; VAN E S et al. 2015). Schließlich zeichnet sich auch ein erstes Bewusstsein für die Bedeutung der Ausbildung von Gesprächsleitenden ab (für einen Überblick vgl. VAN E S / S HERIN 2017). In Anbetracht der skizzierten Studien wird deutlich, dass dieses Feld der Lehrer(innen)bildungsforschung noch in den Kinderschuhen steckt. Die zunehmende Aufmerksamkeit im US-amerikanischen Raum deutet auf ein großes Potenzial hin, das es mit der Adaptation von Spezifika der fremdsprachendidaktischen Lehrer(innen)bildung zu erforschen gilt. Dazu gehören beispielsweise die gängigen Modelle themengeleiteter Fortbildungen, die neben Aktionsforschungsprinzipien (bottom-up) auch das begleitete Implementieren von theoretischen Konzepten in den Unterricht vorsehen (zuerst top-down, dann bottom-up) (vgl. M OHR / S CHART 2016: 301). Auch sind in der Fremdsprachendidaktik zunehmend internetgestützte Fortbildungen zu verzeichnen, die internationale Fremdsprachenlehrende zusammenzubringen versuchen und die dementsprechend als fachspezifische Lernumgebungen 88 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 mitberücksichtigt werden sollten (ohne Videobasiertheit z.B. Z IBELIUS 2015). Weiterhin mangelt es insgesamt an qualitativen Studien wie beispielsweise der Untersuchung von VAN DEN B ERGH / R OS / B EIJAARD (2015), die individuelle Lernprozesse detaillierter nachzeichnen. 3. Empirische Untersuchung Die im vorliegenden Beitrag ausgewerteten Daten entstammen einem umfassenderen Dissertationsprojekt im Bereich DaF, in dem die Gelingensbedingungen von Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos in einer Online-Fortbildung untersucht werden. Die den vorliegenden Beitrag leitenden Forschungsfragen lauten: • Welche Merkmale der drei Sphären von videobasierten Gesprächen (nach VAN E S 2012) erachten Lehrende als (nicht) lernförderlich? • Welche Ursachen führen zum Zustandekommen dieser Merkmale? Im Folgenden werden Erhebungskontext, Forschungsdesign und Befunde der Untersuchung dargestellt. 3.1 Forschungskontext und -design Das Ziel der speziell für die Untersuchung konzipierten berufsbegleitenden Fortbildung war es, Lehrkompetenzen zur Vermittlung von Sprachlernstrategien im Kontext der Lerner(innen)autonomie zu entwickeln (vgl. D AWIDOWICZ / S CHRAMM 2016). Zentral war dabei das Vermittlungsmodell CALLA (O’M ALLEY / C HAMOT 1990), gemäß dem im Unterricht drei Phasen durchlaufen werden: 1) Das Aktivieren von Vorwissen zu eigenen Sprachlernstrategien und das Modellieren einer ausgewählten Strategie durch die Lehrperson, 2) das lernerseitige Erproben dieser Strategie sowie 3) der Transfer in andere Kontexte. Das Modell impliziert zudem eine allmähliche Verantwortungsverlagerung von der Lehrperson auf die Lernenden. Die fünfwöchige Fortbildung basierte auf freiwilliger Teilnahme, verlief gänzlich internetgestützt und Gruppentreffen fanden überwiegend an Wochenenden statt, so dass vier DaF-Lehrende im Hochschul- und Sekundarstufenbereich aus Osteuropa, Westafrika, Mittel- und Südamerika daran teilnehmen konnten. Die Berufserfahrungen der Teilnehmer(innen) waren unterschiedlich: Anna hatte mit zwei Jahren die geringste und David mit 30 Jahren die meiste Erfahrung (Clara acht Jahre und Karolin vier Jahre). Die Fortbildung setzte sich aus fünf Phasen zusammen (vgl. Abb. 1). Die ersten zwei galten dabei der Auseinandersetzung mit theoretischen Grundlagen, Unterrichtsbeispielen und Materialien sowie einer Unterrichtsplanung auf Basis von im Unterricht beobachteten Bedürfnissen. Gemäß dem top-down-Prinzip Versuchen (M OHR / S CHART 2016: 301) haben die Teilnehmenden in der zweimal durchlaufenen Praxisphase ihre Pläne zur Strategienförderung nach dem CALLA-Modell im Unter- Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 89 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 richt umgesetzt und sich dabei gefilmt. Auf Basis der von ihnen geschnittenen und bereitgestellten Videoaufnahmen wurden die Unterrichtsdurchführungen unter Anleitung der Fortbildungsleitung schließlich in der Gruppe besprochen. Abb. 1: Fortbildungsstruktur, Zeitpunkte der Datenerhebung und Korpus Abschließend wurde das Vorgehen in seiner Gesamtheit evaluiert. Begleitend zur Fortbildung wurden die Lehrenden dazu angeleitet, konstant über ihr eigenes Lernen zu reflektieren. Dies erfolgte in schriftlichen Reflexionen, in kurzen Blitzlichtrunden in den Gruppengesprächen sowie retrospektiv im individuellen Gespräch nach der Fortbildung (vgl. Abb. 1). Die insgesamt 14 schriftlichen Reflexionen und 4 Abschlussgespräche, die im Rahmen episodisch-fokussierter Interviews (in Anlehnung an W IPPERFÜRTH 2015) erfolgt sind, dienten neben der Förderung der Autonomie der Lehrpersonen gleichermaßen der Untersuchung (Teilstudie I: Befragung). Der Fokus beider Befragungsinstrumente lag entsprechend auf dem Zusammenhang zwischen dem eigenen Lernprozess sowie -zuwachs und den sich aus der Lernumgebung ergebenden Einflussfaktoren. Die Befragungen wurden von der Fortbildnerin und Forscherin durchgeführt. Transkribiert wurden die Interviewdaten in der Software f5 in einem Verhältnis von 1: 7 und nach den Regeln des Vereinfachten Transkriptionssystems nach D RESING / P EHL (2015). Die schriftlichen Lernreflexionen wurden in ihrer Originalfassung belassen. Beide Korpora wurden zunächst einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse (in Anlehnung an M AYRING 1983) unterzogen und mithilfe von MAXQDA kodiert. In einem Folgeschritt wurden die Inhalte mit Bezug auf die videobasierte Gesprächsinteraktion selektiert und deduktiv mit dem (bezüglich fachbezogener Ausdrücke modifizierten) Kodierungsschema von VAN E S (2012: Appendix A) analysiert (s. dazu Abschnitt 3.2.1). Ein abschließender Analyseschritt galt 90 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 der Zusammenführung der induktiv und deduktiv ermittelten Inhalte, bei der den Gesprächsmerkmalen nach VAN E S (2012) von den Befragten angeführte Ursachen zugeordnet wurden (s. dazu Abschnitt 3.2.2). 3.2 Befunde der Inhaltsanalyse Die Verknüpfung der Resultate mit dem VAN E S ’schen Modell verfolgt das Ziel, für den gegebenen Kontext Aufschluss über Merkmale der drei Sphären auf Mikroebene zu geben und in diesem Zusammenhang Ursachen für diese zu beleuchten. Dabei ist zunächst vorauszuschicken, dass mit Ausnahme von David, der bei drei Gesprächen anwesend war, jede Person nur an zwei videobasierten Besprechungen teilgenommen hat und der Fokus anders als bei VAN E S (2012), die zehn Gespräche untersucht, auf den ersten Erfahrungen der Gruppe mit dieser Art von Gesprächen liegt. Bei der Analyse hat sich gezeigt, dass nur vereinzelte Merkmale einer Gesprächssphäre von den Lehrpersonen aufgegriffen wurden. Außerdem sind Einschätzungen in Bezug auf die drei Entwicklungsstufen in vielen Fällen an einzelne Gesprächspartner(innen) gebunden, so dass kein Anspruch auf ein vollständiges Bild der Gruppenentwicklung erhoben und lediglich von Tendenzen gesprochen wird. 3.2.1 Kurzcharakterisierung der drei Gesprächssphären nach VAN E S (2012) Unabhängig voneinander stimmen die vier Lehrenden darin überein, dass die Momente der größten persönlichen Bereicherung die videobezogenen Gespräche waren, und bestätigen somit die Ergebnisse der oben genannten Studien, die auf Erfahrungsberichte von Lehrenden fokussieren. In diesem Zusammenhang zählt vor allem die Perspektivenvielfalt zu den von den Lehrenden hervorgehobenen Merkmalen. Neben dieser übergreifenden Einschätzung lassen sich auf den drei Sphären unterschiedliche Ausprägungen wiederfinden. Die Sphäre „Collegial and collaborative interaction“ In Bezug auf die collegial and collaborative interactions lassen sich in der Sicht der Lehrer(innen) zwei stark differierende Entwicklungsstärken bezüglich der Kollegialität und der Partizipation identifizieren. In Bezug auf die Kollegialität ist die Tendenz unter high functioning: Participants listen to each other and pursue each other’s ideas; Offer support to others zu subsumieren. Die Teilnehmerinnen empfinden die Arbeitsatmosphäre sehr positiv, z.B. „respektvoll“, „ernst“ und „bequem“ (IC: 220), während David sie als „nett“ (ID: 234) bezeichnet und sich nicht näher dazu äußert. So bewerten Clara und Karolin Momente, in denen anhand der Videos deutlich wird, dass ihre Vorschläge angenommen wurden, als erfreulich und persönlich bedeutsam. Karolin spricht zudem von einer Gleichheit aller Gruppenmitglieder, die kein Konkurrenzdenken zugelassen habe. Alle drei Lehrerinnen erwähnen in diesem Zusammenhang mehrfach, dass sie den Eindruck hatten, die Gruppenmitglieder wollten einander helfen: Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 91 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 Weil ich mich dann auch bequem gefühlt habe und ich mich dann auf jede Besprechung gefreut habe und nicht mit Schrecken darauf gewartet, weil es ja wieder dann kritisiert wird und so. [...] ich habe halt gefühlt, dass wir einander helfen wollen und nicht nur kritisieren, nicht nur über Video einfach so sprechen, sondern einander helfen. Quasi zur persönlichen beruflichen Weiterentwicklung beitragen. (IA: 69, 83) Abweichend von den überwiegend als high functioning klassifizierten Merkmale greift Karolin in Bezug auf David einen Aspekt auf, der sein Handeln der Stufe beginning zuordnet. Laut ihr hat es mit David „keine spontane Interaktion“ (IK: 166) gegeben, da er oftmals individuelle Ziele verfolgt habe, die nicht mit dem allgemeinen Gesprächsdiskurs in Verbindung standen (beginning: Participant talk is one-sided and egocentric). Mit Blick auf die Partizipation entsteht ein weniger einheitliches Bild, was u.a. damit zusammenhängen könnte, dass die Teilnehmenden sich in unterschiedlichen Personenkonstellationen erlebt haben. Tendenziell ist die Gruppenentwicklung in der Phase beginning (Discussions dominated by 1-2 participants) einzuordnen, wobei ein starker Zusammenhang mit der Personenkonstellation gegeben zu sein scheint und sich die Rollenverteilung abhängig von den Anwesenden in eine höhere Stufe verlagern kann. So kommen Clara und Karolin nur bis zur Phase der Unterrichtsplanung zusammen. Clara und David haben zudem ein Gespräch zu zweit, so dass Clara in einen intensiven Austausch mit David treten kann. Unter diesen Umständen fasst Karolin die Partizipationsverteilung folgendermaßen zusammen: Aber David, immer wenn er dran war, war er entweder nicht da, oder die Verbindung hat nicht funktioniert, [...] David: Zuhörer. Anna: sehr klar auf den Punkt immer, sehr konstruktive Tipps, knapp, prägnant, präzise, auf den Punkt. Ich: so ein Herumgeschwafel über alles und nichts. Und Clara: so die Liebe, die wartet, die jetzt drankommt und dann schon, wenn sie etwas sagt, sehr konkret und sehr Gutes sagt und dann aber - wie soll ich sagen - sehr höflich ist. (IK: 166, 192) Zudem berichtet Karolin, dass es für sie unangenehm und „spooky“ (IK: 160) war, dass David „im stillen Kämmerchen“ (IK: 162), d.h. schweigend die Gespräche mitverfolgt hat. Im Unterschied zu Karolins Rollenbeschreibung hat Clara nicht das gleiche Bild von David, während Anna und er selbst seine Beteiligung ähnlich wahrnehmen. In Bezug auf Clara finden sich Abweichungen bei David, der Clara als besonders kommunikativ wahrnimmt, und ihr selbst, da sie beobachtet, dass sie im letzten Gespräch wesentlich aktiver ist. Es wird insgesamt deutlich, dass eine große Diskrepanz zwischen der Partizipation von David und Karolin vorliegt. Karolin scheint durchgehend die dominanteste Teilnehmerin zu sein, Anna behält ein konstantes Verhalten mit jeweils kurzen Beiträgen bei, David scheint abgesehen vom Gespräch mit Clara eine eher zurückhaltende Position einzunehmen und Clara entwickelt sich im Laufe der Fortbildung, wobei sie möglicherweise vom Gespräch im kleinen Kreis und der Abwesenheit von Karolin in der letzten Sitzung profitiert. Die Sphäre „Participation and discourse norms for productive collaboration“ Zur Ebene der participation and discourse norms for productive collaboration 92 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 äußern sich die Teilnehmer(innen) besonders ausgiebig. In den Befragungsdaten zeichnet sich insgesamt ab, dass der persönliche Nutzen bei der Auseinandersetzung mit den Videos eine signifikante Rolle für das Lernen spielt und dass dieses Lernen überwiegend mit kritischen Beiträgen in Verbindung gebracht wird. Unter Zusammenführung aller Perspektiven wird deutlich, dass ein Ungleichgewicht vorliegt: Clara und Karolin scheinen diejenigen zu sein, die sich den Videoausschnitten einerseits kritischer annähern und die andererseits den Wunsch nach mehr Kritik und Videoanalyse äußern. Clara deutet in diesem Zusammenhang darauf hin, dass David am seltensten Kritik äußert und vermutet, dass der große Unterschied hinsichtlich der kritisch-analytischen Annäherung eine Frage der Erfahrung ist: Bei der ersten Besprechung, bei dem Unterrichtsplan, hat, glaube ich, Karolin - falls ich mich richtig daran erinnere - sehr viel Kritik geübt. Ja, das habe ich interessant gefunden, denn sie hat ja doch die Kritik begründet und (...) das war aufmerksam (auffällig? ). Und ja, ich glaube, dass der, der am wenigsten kritisiert hat, David war. Ich bin nicht so sicher, aber ich glaube schon. Und dann weiß ich nicht, ob das eine Sache der Kultur ist oder nicht. Oder eher von (...) - wie war das Wort - jetzt habe ich es vergessen. Wie viele Jahre sie schon gelehrt haben, an wie vielen Fortbildungen sie schon teilgenommen haben. (IC: 345) Für Anna und David scheint das Maß an Kritik hingegen angemessen gewesen zu sein und sie berichten, von dieser profitiert zu haben. Beide weisen zudem darauf hin, dass sie selbst Schwierigkeiten hatten, Kritik direkt zu äußern und im Fall von Anna auch kritikwürdige Aspekte zu finden. Insgesamt kann auf dieser Ebene das Fazit gezogen werden, dass dieser Bereich für alle Teilnehmer(innen) wichtig war. Gleichermaßen scheinen aber auf individueller Ebene unterschiedliche Entwicklungsstadien und Konzepte davon vorzuliegen, welche Rolle Kritik für das Lernen spielt. Ausgehend davon ist die Bandbreite in Bezug auf die Kodierung Elaboration, probing, or pressing of ideas groß und reicht von beginning bis - in Bezug auf Karolin - zu high functioning. Die Sphäre „Focus of activity on teaching and learning“ Der focus of activity on teaching and learning wird von den Teilnehmenden nur im Ansatz aufgegriffen. Anna und Clara berichten in Bezug auf ihre professionsbezogenen Lernfortschritte beispielsweise, die Bedeutung des Fokussierens auf relevante Einzelaspekte des Unterrichts verstanden zu haben. Anna schätzt ihren eigenen Fokus während der Gespräche zudem als nicht ausreichend ein (s. Abschnitt 3.2.2) und setzt sich als Ziel, in ihrem Unterricht stärker die Lernenden in den Blick zu nehmen. In Bezug auf das gemeinschaftliche Vertiefen eines Themas bemerkt Karolin, dass David oft „von etwas anderem [...] gesprochen [hat], von dem wir schon/ weil er sich viele Notizen gemacht hat und noch auf etwas Anderes eingehen wollte“ (IK: 166), was die Annahme bestärkt, dass es in diesem Bereich teilnehmerspezifische Inkohärenzen gibt. Die nur wenigen Aussagen vermitteln den Eindruck, dass die Entwicklung auf dieser Ebene in einem Anfangsstadium liegt (beginning: Topics of discussion are peripheral to student learning in the clip; analysis is gene- Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 93 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 ral in nature and may address a variety of topics peripheral to learning in the clip) und sich aber - im Falle Annas und Claras - durch die Fortbildungsteilnahme allmählich weiterentwickelt. Auch wenn die Befragungsdaten kein so vollständiges Bild wie eine Interaktionsanalyse (vgl. VAN E S 2012: 190f.) geben können, verdeutlichen sie stattdessen die Heterogenität einer solchen Lerngemeinschaft. Die Befunde verdeutlichen, dass bei der gemeinsamen Videobesprechung individuell unterschiedliche Entwicklungsstufen und Erwartungen zusammenkommen, die als Startvoraussetzungen orchestriert werden müssen, um ein für alle Beteiligten lernförderliches Setting zu generieren. 3.2.2 Einblick in individuelle Schwierigkeiten Ausgehend von den Kurzcharakterisierungen der drei Gesprächssphären stellt sich für die Gestaltung von Lehrer(innen)bildung die Frage, welche möglichen Ursachen zu Schwierigkeiten auf den drei Ebenen führen können. Die Analyse ergab auf Basis der Lehrendenperspektiven diverse Ursachenbereiche, die im Folgenden näher aufgeschlüsselt werden. Kognitive und affektive Beanspruchung Insbesondere am Beispiel der größten partizipatorischen Diskrepanz zwischen David und Karolin zeichnet sich in den Befragungsdaten eine Vielfalt an Ursachenebenen ab, zu denen externe technische oder berufsbedingte Faktoren, eine doppelte Zielverfolgung sowie die Interaktionsumgebung zählen. Ein wesentlicher Grund für Davids häufige Ausfälle war die Verbindungsqualität, die teils durch das allgemein schwache Internet und teils durch wiederkehrende Stromausfälle an seinem Wohnort verursacht wurde. David war somit als Einziger in keinem Gespräch kontinuierlich per Webcam zu sehen und es war nicht immer eindeutig, inwieweit er per Audio anwesend war. Zusätzlich zu diesen gänzlich externen Faktoren war ein weiterer Grund für sein Fehlen der berufsbedingte Zeitdruck, durch den er nicht immer (pünktlich) an den Sitzungen teilgenommen hat. David, der gleichzeitig auch selbst Fortbildner ist, hat außerdem mit zwei Zielen an der Fortbildung teilgenommen, die Grund für eine zusätzliche kognitive Belastung und möglicherweise auch für die von Karolin beklagte Beobachterrolle war: Er wollte einerseits als Lehrperson von der Veranstaltung profitieren, sich gleichzeitig aber auch das Fortbildungsvorgehen aneignen: Das bedeutet einmal wollte ich also mehr/ aktiver sein. Also aktiver sein und mehr sprechen. Auf der anderen Seite wollte ich irgendwie auch beobachten und dabei lernen, wie es geht - wie die Rollen verteilt sind. Einmal das ist diejenige, die uns begleitet bei dem Lernprozess, auf der anderen Seite ist die Teilnehmerin, die auch dabei ist. Also (...) mitzumachen bei ihrem eigenen Lernprozess. (ID: 391) Erschwert wurde ihm die Konzentration auf die Gespräche unter den beiden Perspektiven durch die basale Voraussetzung der Sprachkompetenz, die angesichts der technischen Umstände in besonderem Maße gefordert war. Vor allem Karolins 94 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 Sprechweise hat neben ihrer erstsprachlichen Kompetenz dazu geführt, dass es David scheinbar oft unmöglich war, dem Gespräch zu folgen: Ich lerne immer noch Deutsch. Bei dir [Fortbildnerin] ist das so, stimmt, dass du schnell sprichst, aber ich verstehe dich trotzdem, ja. [...] Die hat sehr schnell gesprochen und manchmal konnte ich nicht also eine/ die Sätze finden. Also mündlicherweise meine ich. Einmal konnte ich nicht am Anfang wissen, worüber sie/ was sie sagen wollte. Weil, die Sätze waren nicht so… Es gab keine Transitionen, keinen Übergang. Keinen Übergang. Nur ein paar Wörter spontan, aussprechen, was sie in Gedanken hatte. (ID: 88, 402) Karolin selbst bestätigt Davids Eindruck mit ihrer Selbstwahrnehmung und berichtet, dass sie auch außerhalb der Fortbildungsgespräche „dominant und autoritär“ (IK: 188) wirke. Da ihr „selbstbewusstes Auftreten“ (IK: 190) oft zu Konflikten führt, bemüht sie sich, ihr Kommunikationsverhalten zu steuern: Ich muss mich dann wirklich zurückhalten und schauen, dass ich andere auch zu Wort kommen lasse und sie nicht unterbreche und wirklich gezielt darauf schaue, dass ich, was ich zu sagen habe, komprimiert und schnell sage, damit ich den Anderen dann Zeit lassen kann auch. (IK: 190) Anstatt auf die Problematik aufmerksam zu machen, reagiert David auf die Verständnisschwierigkeiten sowie die, seines Empfindens nach, wenigen Gelegenheiten für Beiträge mit Zurückhaltung, was er selbst auf seine Persönlichkeit zurückführt: Nicht so, aber vielleicht habe ich keine Idee. Deswegen sollte auch/ oder konnte ich dich [Fortbildnerin] ansprechen oder dann meine Idee oder meinen Gedanken geben. Aber das habe ich nicht gemacht. Ich bin vielleicht der Typ, der wartet, dass man ihn anspricht. Vielleicht ist es so. Ich bin auch ein ruhiger Mensch, (lacht). [...] Ich habe so gewartet, dass eine/ irgendwie, dass es ein Loch/ eine Leere gibt, damit ich ja so ganz schnell etwas sage. Aber es gab keine Leere beim Gespräch. (ID: 432, 345) Eine hohe Beanspruchung scheint aber nicht nur im Falle von Davids Schwierigkeiten der sprachlichen Verarbeitung vorgelegen zu haben. Clara berichtet, dass es für sie wichtig war, während der Gespräche Pausen einlegen und sich entspannen zu können. Zusätzlich zur kognitiven Beanspruchung war dies für Clara, die zu Beginn der Fortbildung mit starker Nervosität zu kämpfen hatte und freiwillig nur wenig zum Gespräch beigetragen hat, auch im Sinne einer affektiven Entlastung bedeutsam. Im Laufe der Fortbildung hat sie, so Clara, an Sicherheit gewonnen und nimmt sich schließlich in Bildschirmaufnahmen der Gespräche als „ganz am anderen Extrem“ und „ZU aktiv“ (IC: 530) wahr. Die genannten Aspekte können als mögliche Ursachen für die geminderte Partizipation von Clara und David, die in der Gruppe wahrgenommen wird, auf der Ebene der collegial and collaborative interaction gedeutet werden. (Themenspezifisches) Wissen und (themenspezifische) professional vision Im Unterschied zu Clara, die sich zwar zurückhält, aber bei Beteiligung etwas „sehr Gutes sagt“ (IK: 192), spielt bei David neben den Schwierigkeiten im Hörverstehen auch das Verstehen auf fachlicher Ebene eine ausschlaggebende Rolle. Da er selbst Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 95 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 berichtet, dass er erst in der letzten Fortbildungssitzung die Phasen und ihre Funktionen des CALLA-Modells verstanden hat 1 , was jeweils Ausgangspunkt der Gespräche ist, scheint es naheliegend, dass er Gesprächen nicht folgen und deshalb nicht im Sinne der participation and discourse norms for productive collaboration interagieren kann. Zudem kann auch das fehlende kontextuelle Wissen zu den Videos der Kolleginnen seine Beteiligung hindern. Dadurch dass die Fortbildung berufsbegleitend stattfinden musste, sind die Teilnehmer(innen) vereinzelt unter großen Zeitdruck im beruflichen Alltag geraten. Deshalb und aus technischen Gründen hat David es nicht immer geschafft, die Videos der Kolleginnen zu sichten, die Gegenstand der Gespräche waren. Auch haben, wie Karolin bemerkt, ein ungünstiger Videoschnitt oder nicht ausreichend Informationen zur Zielsetzung teils dazu geführt, dass unpassendes Feedback gegeben wurde. Unterstützt wird diese Annahme durch Annas wiederholten Verweis darauf, dass sie und ihre Kolleg(inn)en keine Expert(inn)en im Fortbildungsthema seien, und den Eindruck, dass sie den Kolleg(inn)en „nicht so viele Sachen [...] mitgegeben [hat], die sie dann auch so im Unterricht nutzen können“ (IA: 87), weil sie keine Ideen hatte. Dies kann möglicherweise auf das Stadium ihrer zweijährigen Berufserfahrung oder das Verständnis des neuen Themas und somit ihr Wissen zurückgeführt werden. Auch für die Ebene focus of activity on teaching and learning nimmt das vorhandene Wissen eine bedeutsame Rolle ein, da davon ausgegangen werden kann, dass die Wahrnehmung relevanter Unterrichtsereignisse von Professionswissen und beliefs geleitet wird (vgl. M ESCHEDE et al. 2017: 160f.; s. W EGER in diesem Band). So äußert sich Anna im Interview beispielsweise selbstkritisch zu ihrer eigenen Beteiligung und erläutert, dass ihr die Fähigkeit fehle, relevante Details in den Unterrichtsvideos zu finden und sie vor dem Hintergrund ihres Wissens zu deuten, so dass sie weniger Impulse in die Gespräche einbringe. Ihre Beobachtung lässt darauf schließen, dass es sich hierbei um eine noch nicht ausreichend entwickelte professional vision handelt: Weil, in der Besprechung ist mir aufgefallen, dass du zum Beispiel oder andere einige bestimmten Aspekte vom Unterricht (...) angesprochen haben. Und ich habe diese Aspekte ganz ausgelassen zum Beispiel. Oder mir wurde nicht bewusst, dass diese Aspekte jetzt wichtig für das Feedback sind oder für unser Thema. [...] Für mich war das ganz normaler Unterricht, aber du hast zum Beispiel einige Sachen gesehen, so das Verhalten von den Studenten. Und dann daraus konntest du schon bestimmte (…) Schlüsse ziehen, ja. Und mir ist das gar nicht aufgefallen. (IA: 13, 15) Ausgehend von ihren Beobachtungen kann eine Unterscheidung zwischen einer allgemeinen und einer themenspezifischen professional vision getroffen werden, auf die in Abschnitt 3.3 näher eingegangen wird. Auch wenn die Gruppe sie anders 1 Aufgrund einer Verspätung konnte David nicht an der Theoriesitzung teilnehmen, in der das CALLA-Modell vorgestellt wurde. Die Erklärung ist dann in einer sehr kurzen Nachbesprechung mit der Fortbildnerin erfolgt. 96 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 wahrnimmt, kann aus Annas Beispiel geschlussfolgert werden, dass sie nicht nur auf Ebene des focus of activity on teaching and learning, sondern in Folge auch in Bezug auf die participation and discourse norms for productive collaboration noch nicht in der Lage ist, sich kritisch-analytisch mit den Unterrichtsereignissen auseinanderzusetzen. Konzepte über die Angemessenheit und Funktion von Kritik Neben den angeführten Ursachen, die auch dazu führen können, dass das Bedürfnis nach mehr Kritik von Clara und Karolin auf Ebene der participation and discourse norms for productive collaboration nicht abgedeckt wird (s. Abschnitt 3.2.1), scheinen auch die Konzepte davon, welche Funktion Kritik hat und wie mit ihr umzugehen ist, relevant zu sein. Zu beachten ist dabei, dass alle Lehrenden zum ersten Mal an einer Fortbildung dieser Art teilnehmen, wobei sie alle über Erfahrungen mit Hospitationen oder dem Arbeiten mit Modellvideos verfügen. Insgesamt ist die Kritik ein Thema, das große Beachtung in den Befragungsdaten erfährt. Anna und David haben in diesem Zusammenhang ähnliche Auffassungen bezüglich der direkten Äußerung von Kritik, die ihnen nicht leicht fällt: Ich habe objektives Feedback gegeben, obwohl mir auch ziemlich schwierig war, zu kritisieren oder etwas negatives [sic! ] zu sagen. (zum Glück, musste ich das nicht machen, weil die Videos und die Unterrichtseinheiten sehr gut waren) (LA III: 100) David erstaunt es, wie wenig Überwindung es die anderen Teilnehmerinnen kostet, Kritik zu äußern. Er richtet den Blick dabei vor allem auf die Einbettung von Kritik in sprachliche Handlungen und weist darauf hin, dass er selbst in den seltenen Fällen, in denen er kritisiert, dies in Form von Vorschlägen tut: Ich äußere nicht oft Kritik, Kritiken und so weiter. (...) Aber vielleicht, ich tue nur ANMERKEN. [...] Anmerken. (...) Das sind auch für mich Kritiken. Das, „Hättest du das so, so, so gemacht.“ und so weiter. Oder, „Ich schlage vor, hier könntest du das und das machen.“. Das sind zum Beispiel Kritiken auch in dem Sinne, aber nicht offene Kritiken. Oder? (ID: 349, 351) Anders nimmt sich Clara in den Gesprächen wahr. Sie vermutet, dass ihre kritische Annäherung an Davids Unterrichtsvideos als ein „böse[s]“ (IC: 458) Verhalten gedeutet werden könnte: Ich weiß nicht, denn ich glaube, dass ich bei der Besprechung seiner Videos nicht so viel positives Feedback gegeben habe. Ich war ein bisschen böse. (lacht). Und/ also indem ich nur auf negative Aspekte/ (...) indem ich nur negative Aspekte besprochen habe, glaube ich. (IC: 458) Auch Karolin, die über ein Grundwissen zu Feedbackregeln für die Unterrichtsinteraktion verfügt, erachtet es in diesem Zusammenhang als wichtig, „sensibel“ (IK: 40) mit den Gesprächspartner(inne)n umzugehen und dabei zwischen unterrichts- und persönlichkeitsbezogenen Aspekten wie z.B. Gestik oder Lautstärke der Lehrperson zu unterscheiden. Sie erwähnt zudem, dass der Videoschnitt, mit dem die Teilnehmenden selbst steuern, was die Kolleg(inn)en zu sehen bekommen, auch Einfluss Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 97 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 auf den Spielraum zur kritisch-analytischen Auseinandersetzung hat. Sie selbst hat beispielsweise einige Ereignisse, die ihr nicht gefallen haben, herausgeschnitten, so dass sie ihre Forderung nach mehr Kritik zum Teil revidiert. Auf der Seite des Annehmens von Kritik wird noch deutlicher, dass die Teilnehmer(innen) diesbezüglich vor allem unterschiedliche Erfahrungen und Haltungen haben. Es wird ersichtlich, dass die Lehrenden bis auf Anna eine positive Einstellung gegenüber Kritik am eigenen Unterricht haben. Während David berichtet, an ihn gerichtete Kritik als „positive Kritik [...], die bereichert“ (ID: 149) anzusehen, indem er beispielsweise dadurch die Wissenslücke zum CALLA-Modell identifizieren kann, scheint Clara Kritik als einen Hauptfaktor für das Lernen anzusehen: Also die Atmosphäre, die wir gemacht haben, sowieso positiv. (...) Positiv und ERNST. Ich glaube, dass die beiden Sachen SUPER WICHTIG waren, indem wir nicht nur gelobt haben, - denn dann wäre das eine totale Katastrophe, denn nichts wurde gelernt - sondern auch die Aspekte, die BESSER sein könnten. Das habe ich toll gefunden. (IC: 220) In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Teilnehmer(innen) einerseits ein unterschiedlich weit entwickeltes Bewusstsein über die Funktion von Kritik und andererseits Strategien für den Umgang beim Erhalten von Kritik aufweisen. Eine besonders weit fortgeschrittene Entwicklung scheint bei Clara vorzuliegen. Sie spricht nicht nur von einem Vorhaben, sondern berichtet, dass sie die umfangreiche Kritik von Karolin zu ihrem Unterrichtsplan als Angebot an Möglichkeiten wahrgenommen hat, aus dem sie in weiterer Folge nur nützlich erscheinende Aspekte ausgesucht und übernommen hat: Einige Sachen habe ich ja doch genommen, also, „Ah ja, das stimmt. Es könnte besser so oder so sein.”. Aber andere Sachen war ich/ ich meine, dass (...) meine Idee passt, dann A, B und C. [...] Denn wir haben nur mitgenommen - also ja, ich muss nur für mich sprechen - ICH habe nur das mitgenommen, was ich hilfreich gefunden habe. Also einige positiven Aspekte, einige negativen Aspekte, also von meinem Unterricht beziehungsweise Unterrichtsplan. (IC: 276, 347) Auch Karolin weist auf die Relevanz einer persönlichen Distanzierung von bewertenden Gesprächselementen hin. Sie steht sich nach der Videosichtung aber schon so selbstkritisch gegenüber, dass ihr die Gespräche vielmehr beim Wiederaufbau ihres Selbstbewusstseins helfen. Anna hingegen berichtet von Schwierigkeiten in Bezug auf die Annahme von Feedback, was für eine geringe Entwicklung der Kritikfähigkeit spricht. Für sie war es daher von großer Bedeutung, dass die Kolleg(inn)en wohlwollend und sensibel vorgegangen sind, so dass sie vor möglichen Verletzungen geschützt war: Es war angemessen, wie es war, weil, ich glaube, ich bin kritikempfindlich. Also in dem Sinne, dass wenn man mich dann zu viel kritisiert oder ja irgendwie zu intensiv, dann ich dann/ Es ist nicht so, dass ich beleidigt werde, sondern dass ich dann vielleicht denke, „Ach ja, ich habe das dann WIEDER falsch gemacht.“. Also, „Schon wieder falsch. Ich habe mir Mühe gegeben und trotzdem falsch.“ (lacht). Deswegen war es angemessen, dass es diese Balance gab zwischen positiv und negativ beziehungsweise zwischen/ Negativ war es ja nicht. Es war immer so „schwächer“ und „stärker“. Deswegen war es für mich optimal. (IA: 107) 98 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 Insgesamt wird anhand der Befragungsdaten deutlich, dass Umfang und Milde der Kritik auf Ebene der participation and discourse norms for productive collaboration unterschiedlich wahrgenommen werden. Vor allem im Bereich der Kritikäußerung scheinen sich die Lehrer(innen) zum Teil schwer zu tun. Unter Berücksichtigung der tendenziell milden Weise der Kritikvermittlung in den Gesprächen scheint es naheliegend, dass sich am Ende der Fortbildung insgesamt eine positive Haltung gegenüber Kritik zeigt. 3.3 Zusammenfassung und Implikationen für die Gesprächsgestaltung Die Betrachtung der Lehrer(innen)perspektiven durch die Schablone des Referenzrahmens von VAN E S (2012) erlaubt es einerseits, ein differenzierteres Bild davon zu erhalten, was sich auf individueller Ebene bei den Gesprächsteilnehmenden abspielt und wie es dazu kommen kann, dass die Merkmale einer Gesprächssphäre mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Dabei wird deutlich, dass es durchaus sehr unterschiedliche Faktoren sind, die zu dieser Merkmalsheterogenität innerhalb der Gruppe führen können. Andererseits weisen die von der Mehrheit der Lehrer(innen) genannten Sphärencharakteristika, die somit als Tendenzen angesehen werden, überwiegend Ähnlichkeiten zu den Ergebnissen und Schlussfolgerungen von VAN E S (ebd.) auf. So scheint sich auch im vorliegenden Kontext die Ebene der Kollegialität besonders rasch und intensiv entwickelt zu haben (vgl. ebd.: 190). Angesichts anderer Studienresultate, die in diesem Bereich Hindernisse dokumentieren (N IEWALDA 2016; M OHR / S CHART 2016), scheint die Erforschung der Rolle der Gesprächsleitung auch hinsichtlich atmosphärisch gestalterischer Aspekte lohnenswert zu sein. Anders als von VAN E S (2012: 190) angedeutet, hinterlassen die Befragungsdaten den Eindruck, dass sich auf der Ebene des focus of activity on teaching and learning die geringsten Ausprägungen und auch wenig Bewusstsein dafür zeigen und dass sensibel vermittelte Kritik bereits im Anfangsstadium ausgetauscht wird. Dies kann teilweise damit zusammenhängen, dass das top-down-Fortbildungsmodell nicht nur eine allgemeine, sondern eine mit dem neuen Themenwissen zusammenhängende professional vision fordert, die sich in so kurzer Zeit nicht entwickeln kann. Zum anderen geben die Befragungsdaten am Beispiel von Anna und Clara Hinweise darauf, dass die Lehrenden es insgesamt womöglich nicht gewohnt sind, einzelne Unterrichtskomponenten isoliert wahrzunehmen. Unter Zusammenführung der Auswertungsergebnisse sowie Einschätzungen in den Befragungsdaten zeigt sich, dass insbesondere in der Anfangsphase von videobasierten Gesprächen eine fortbildungsseitige Unterstützung das Lernen fördern kann. Neben der Gruppengröße, die mit drei bis fünf Personen dazu beitragen kann, dass ausreichend diverse Sichtweisen vertreten sind und gleichzeitig Vertrauen aufgebaut werden kann, erachten es alle Lehrenden für sehr wichtig, dass die Fortbildnerin bei den Gesprächen mit dabei ist. Dabei hat sie für alle Teilnehmer(innen) eine jeweils andere Funktion, was abschließend exemplarisch mit den Worten der Lehrer(innen) zusammengefasst werden soll. Für Anna ist sie beispielsweise essenziell Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 99 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 für den Aufbau von Wissen zum Fortbildungsthema und gleichermaßen für die Entwicklung der professional vision: Du hast uns immer gesagt, „Okay und wenn wir jetzt von dieser Seite diesen Aspekt betrachten, wie ist es dann mit der Lernautonomie zum Beispiel hier und hier? “. Also du hast uns immer zurückgeholt und uns dann die RICHTIGE Richtung gezeigt. Und dadurch wurden wir quasi zurück zu unserem Ziel geführt und das Ziel war natürlich mit der Theorie verbunden. Also, das war für mich wichtig. (IA: 103) Karolin profitiert insofern von der Lenkung, als sie die Verantwortung für die turn- Verteilung abgeben und sich auf die Inhalte konzentrieren kann: Also mir hat gefallen, wenn dann die Gespräche wirklich moderiert wurden, weil dann habe ich mich sicher gefühlt, dass ich anderen nicht zu viel Zeit wegnehme. Dann war ich mir sicher, dass „Okay, das ist meine Zeit, die ist für dich und jemand anderer hat jetzt sozusagen die Verantwortung dafür, dass Andere nicht zu kurz kommen.“. (IK: 194) Nur David äußert den Wunsch, bei den Gesprächen noch mehr durch die Gesprächsleiterin einbezogen zu werden. Neben den in Abschnitt 3.2.1 erwähnten Schwierigkeiten hat er den Eindruck, dass er vor allem auch wegen der internetbasierten Kommunikation mehr namentliche Aufforderungen zu Beiträgen benötigt hätte, um sich intensiver beteiligen zu können: Ja, ja, ja, das ist/ Weil bei einem Präsenzseminar geht so, dass man zum Beispiel/ der Leiter den Angesprochenen/ sich mit den Augen ansprechen kann. Oder mit einem Finger, „Ja, bitte du! “, ohne den Namen zu sagen. Aber wenn sie zum Beispiel vor dem Bildschirm sind, dann wissen sie nicht, wenn du sagst, „Ja, du.“. Weil alle ihren Blick gestellt haben auf dich. (ID: 335) Clara expliziert in diesem Zusammenhang kein individuelles Bedürfnis. Sie spricht aber davon, dass die Moderation „ein Muss“ (IC: 282) ist und fasst die Gesamtsituation unter Verweis auf eine Orchestermetaphorik zusammen: Und vielleicht passt jeder auf das, was er selber macht, auf, nicht auf das, was der andere macht. Und ja, alle machen ETWAS. Und alle bringen etwas. Aber ja, es ist ganz nützlich, dass der Direktor (Dirigent? ) da die ganze Perspektive hat, um zu leiten. Eigentlich sieht man das, was der Direktor macht/ kann man vielleicht nicht so deutlich sehen. Okay, denn viele könnten glauben, die Person steht nur da und macht komische Bewegungen. Diejenige, die etwas machen, sind die Musiker. Aber nein, das ist (...) ja doch eine STRUKTUR. Ein LEITFADEN. (IC: 280) Claras Fazit soll an dieser Stelle auch als Appell an die Lehrer(innen)bildungsforschung gelten: Der in der Fremdsprachenforschung noch zu selten beachteten Rolle der Gesprächsleitung bei kollegialem Austausch gebührt eine höhere Aufmerksamkeit. 100 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 4. Ausblick Der vorliegende Beitrag hat die Perspektiven von vier DaF-Lehrer(innen) auf ihren Lernprozess in Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos zusammengefasst und anhand des Referenzrahmens von VAN E S (2012) Einblick in individuelle Entwicklungen sowie mögliche Ursachen auf drei Gesprächsebenen gegeben. Die Ergebnisse zeigen eine Vielfalt an individuellen Unterschieden und bestärken Stimmen der US-amerikanischen Forschung, die die Notwendigkeit einer adäquaten Berücksichtigung und Ausbildung von Gesprächsleitenden betonen. Gleichermaßen weisen die Befunde auf die Notwendigkeit des Einbezugs der Teilnehmendenperspektiven in Studien mit interaktionsanalytischem Fokus hin, da dieser Fokus Arbeiten - wie sie derzeit vor allem im US-amerikanischen Raum entstehen - durch die mentale Dimension der Entstehensbedingungen von Interaktion bereichern kann. In einem derzeit laufenden Dissertationsprojekt werden die dargestellten Befragungsbefunde durch die Triangulation mit einer Interaktionsanalyse der dazugehörigen Gesprächsdaten erweitert. Zu erwarten ist dabei näherer Aufschluss über die von den Lehrer(inne)n evaluierten Merkmale der drei Gesprächssphären sowie über die Handlungen der Gesprächsleitung. Während sich das vorliegende Projekt auf die Anfänge von Video-Lerngemeinschaften beschränkt, könnten langfristiger angelegte Studien auf Basis der vorliegenden Befunde die Entwicklung solcher Lerngemeinschaften aufschlüsseln. Literatur A BENDROTH -T IMMER , Dagmar / F REVEL , Claudia (2013): „Analyse handlungsleitender Kognitionen anhand videogestützter Reflexionsprozesse angehender Spanischlehrender in verschiedenen berufsbiographischen Kontexten“. In: R IEGEL , Ulrich / M ACHA , Klaas (Hrsg.): Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken. Münster: Waxmann, 133-149. 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D AWIDOWICZ , Marta / S CHRAMM , Karen / A BITZSCH , Doris / F ELD -K NAPP , Ilona / H OFFMANN , Sabine / P ERGE , Gabriella / VAN DER K NAAP , Ewout (2017): Erfahrungsbasiertheit, kollegiale Kooperation und videobasierte Reflexion als Prinzipien des LEELU-LehrerInnenbildungsprojekts. https: / / leelu.eu/ wp-content/ uploads/ sites/ 164/ 2018/ 04/ Konzeptpapier-2_aktualisiert- 11042018.pdf (15.03.2018). Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos 101 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 D OBIE , Tracy E. / A NDERSON , Eleanor R. (2015): „Interaction in teacher communities: Three forms teachers use to express contrasting their ideas in video clubs“. In: Teaching and Teacher Education 47, 234-240. D RESING , Thorsten / P EHL , Thorsten (2015): Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende. 6. Auflage. Marburg: Eigenverlag. L EGUTKE , Michael K. / M OHR , Imke (2015): „Brücken zwischen Theorie und Praxis: Nachhaltige Fortbildung mit ‚Deutsch Lehren Lernen‘“. In: H OFFMANN , Sabine / S TORK , Antje (Hrsg.): Lernerorientierte Fremdsprachenforschung und -didaktik. Tübingen: Narr, 321-332. M AYRING , Philipp (1983): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz. M ESCHEDE , Nicola / FIEBRANZ , Anja / MÖLLER , Kornelia / STEFFENSKY , Mirjam (2017): „Teachers’ professional vision, pedagogical content knowledge and beliefs: On its relation and differences between pre-service and in-service teachers“. In: Teaching and Teacher Education 66, 158- 170. M OHR , Imke / S CHART , Michael (2016): „Praxiserkundungsprojekte und ihre Wirksamkeit in der Lehrerfort- und Weiterbildung“. In: L EGUTKE , Michael K. / S CHART , Michael (Hrsg.): Fremdsprachendidaktische Professionsforschung: Brennpunkt Lehrerbildung. Tübingen: Narr Francke Attempto, 291-322. 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W IPPERFÜRTH , Manuela (2015): Professional vision in Lehrernetzwerken Berufssprache als ein Weg und ein Ziel von Lehrerprofessionalisierung. Münster: Waxmann. Z HANG , Meilan / L UNDEBERG , Mary / M C C ONNELL , Tom J. / K OEHLER , Matthew J. / E BERHARDT , Jan (2010): „Using questioning to facilitate discussion of science teaching problems in teacher 102 Marta Dawidowicz DOI 10.2357/ FLuL-2019-0006 48 (2019) • Heft 1 professional development“. In: Interdisciplinary Journal of Problem-Based Learning 4.1, 57- 82. Z IBELIUS , Marja (2015): Cooperative Learning in Virtual Space: A Critical Look at New Ways of Foreign Language Teacher Education. Tübingen: Narr. 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 M ANUELA W IPPERFÜRTH * Oberflächliche Unterrichtsanalysen: Wie handlungsleitendes Wissen in Unterrichtsnachbesprechungen verhandelbar wird Abstract. The concept of professional vision is mainly applied to settings of teacher training rather than the discourse of practitioners. It is argued that the process of knowledge-based reasoning needs further theoretical differentiation in order to do justice to practitioners’ professional competence. In two theoretical chapters, structural differences between the knowledge base of teacher trainees and practitioners will be described. These differences have implications for the objectives and interaction of discourse about classroom videos. Within a small-scale discourse analysis of one excerpt taken from the project „Lernendes Lehrernetzwerk“, those considerations will be tested against discourse data. Insights will be supplemented through the perspective of the practitioners themselves. 1. Einleitung Mit der Verwendung von Videos in der Lehrer(innen)aus- und -weiterbildung werden hohe Erwartungen an deren Wirksamkeit und eine Verbesserung der professionellen Kompetenz (angehender) Lehrer(innen) verbunden. Damit berühren viele Forschungsfragen die grundlegende Frage danach, wie (angehende) Lehrer(innen) an Hand von Unterrichtsvideos lernen. Die Mehrzahl der Forschungsfragen zur Verwendung von Unterrichtsvideos sind auf folgende Grundfrage zurückzuführen: „How might talk among teachers supply opportunity for professional learning and account for improvements in teaching? “ (H ORN / L ITTLE 2010: 182). Diese Formulierung hebt den sprachlichen Aspekt von professional vision hervor, wie er ursprünglich von G OODWIN (1994) auch prominent gemacht wurde: Die Arbeit im professionellen Handlungsfeld geschieht in einem sprachlich vermittelten Austausch zwischen (angehenden) Praktiker(inne)n. Diesem Aspekt - dem sprachlichen Diskurs über Unterricht - widmet sich der folgende Beitrag in zwei Leitthesen zum Konzept professional vision und dem darin verhandelten Lehrerwissen. * Korrespondenzadresse: Dr. Manuela W IPPERFÜRTH , Institut für Anglistik, Universität Wien, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien sowie Montessori-Oberstufenrealgymnasium des Diakonieverein Salzburg, Otto-Glöckel-Straße 10, 5082 G RÖDIG . E-Mail: manuela.wipperfuerth@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Videogestützte Lehrer(innen)bildung, Individualisierung, Digitalisierungsprozesse in der Fremdsprachenbildung. 104 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 Der Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zum einen werden zwei Thesen zum Konzept der professional vision entwickelt. Leitthese 1 bezieht sich auf die Teilkompetenz von professional vision des „knowledge-based reasoning“ (S HERIN / VAN E S 2004; s. W EGER in diesem Heft) und deren Verhältnis zur ‚sprachlichen Oberfläche‘. In ihr wird der zugrunde gelegte Begriff von Wissen in Auseinandersetzung mit Theorien der Expert(inn)en-Noviz(inn)en-Forschung näher bestimmt. Leitthese 2 bezieht sich auf die Frage, wie sich Unterrichtsnachbesprechungen von Praktiker(inne)n wesenhaft von Diskussionen während der Ausbildung unterscheiden. Zum anderen sollen diese Leitthesen an Hand einer Interaktionsanalyse der Unterrichtsnachbesprechungen von Praktiker(inne)n veranschaulicht werden, was in Abschnitt 5 geschieht. 2. Verortung der Forschungsfrage Professional vision dient aktuell vielen Forschungsvorhaben als heuristisches Konzept zur Erklärung und Operationalisierung der Lernprozesse von (angehenden) Lehrer(inne)n bei der Verwendung von Unterrichtsvideos (s. W EGER in diesem Heft), weshalb sich auch der vorliegende Beitrag zum Lehrerwissen mit diesem Konzept auseinandersetzen wird. Die Mehrzahl der Studien zu professional vision bezieht sich auf ein Ausbildungssetting (vgl. z.B. S TÜRMER / S EIDEL 2017; s. B ECHTEL / M AYER , G IEßLER , J ANIK / J ANIKOVA in diesem Heft), selten auch auf die Fort- und Weiterbildung von Praktiker(inne)n. Die sog. video study groups werden vor allem in US-amerikanischen Studien fokussiert, in denen eine Gruppe von Fachlehrer(inne)n in Anwesenheit und unter Moderation eines facilitators, in der Regel eines akademischen Fachdidaktikers bzw. einer Fachdidaktikerin, Unterrichtsvideos diskutieren (z.B. S HERIN / VAN ES 2004; S HERIN 2001). Studien zu Gesprächssettings, in denen Praktiker(innen) videobasiert, unter sich und mit einem forschenden Interesse arbeiten, gibt es weiterhin wenige (vgl. W IPPERFÜRTH 2015). Was bislang wenig analysiert wurde, ist die Auswirkung des Lernbzw. Gesprächssettings über Unterrichtsvideos auf die Ziele und Gestaltung der dabei stattfindenden Lernprozesse. P OPP / G OLDMAN (2016) und V EDDER -W EISS et al. (2018), die sich jeweils mit konkreten Gesprächspraktiken innerhalb von Lehrer(innen)gruppen beschäftigen, bilden dabei eine Ausnahme. A YRA / C HRIST / C HIU (2014), H ORN / L ITTLE (2010) und D OBIE / A NDERSON (2015) analysieren die Bedeutsamkeit bestimmter Gesprächsverhalten auf die Tiefe der Diskussionen, beziehen sich dabei allerdings nicht auf den Gesprächsrahmen. Oberflächliche Unterrichtsanalysen 105 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 3. Kritische Überlegungen zur Teilkompetenz knowledge-based reasoning (Leitthese 1) Leitthese 1 bezieht sich auf die Teilkompetenz von professional vision, und zwar das knowledge-based reasoning. S HERIN (2007) schlägt diese Zweigliederung der Kompetenz vor, die die große Mehrzahl der Studien so verwendet (s. W EGER in diesem Heft). Nach der Wahrnehmung relevanter Aspekte von Unterricht (noticing) als erster Teilkompetenz beweise sich die Qualität und Tiefe der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der wissensbasierten Verarbeitung von Begründungen und Alternativen der Unterrichtsentscheidungen (vgl. S TÜRMER / S EIDEL 2017: 140). Bei der Durchsicht von Forschungsarbeiten zu professional vision fällt auf, dass das Konzept insbesondere in Settings gewählt wird, in denen es um die Evaluation von Lehrkompetenzen von (angehenden) Lehrer(inne)n geht, also um Ausbildungssituationen. Auf der Grundlage dieser Beobachtung wird die These aufgestellt, dass das Konzept der professional vision weniger eine Kompetenz innerhalb der Professionalität von Lehrer(inne)n beschreibt als vielmehr den Anforderungen der Ausbildungssituation entspricht. Professional vision wäre folglich nur bedingt mit einer Handlungskompetenz von Praktiker(inne)n in ihrer Unterrichtspraxis gleichzusetzen. Dies wird im Folgenden näher ausgeführt. In Ausbildungssituationen wird professional vision in der Regel so verstanden, dass dort eine wissensbasierte Analyse von Unterricht (knowledge-based reasoning) in möglichst expliziter Form angestrebt wird: Unterricht soll in verbaler Form, in der Regel mündlich, möglichst nah an didaktischen Theorien reflektiert werden, um Lernprozesse anzuregen, zu steuern und zu evaluieren. Diese vordergründige Passung mit den Anforderungen der Lernsituationen darf aber nicht einem naturalistischen Fehlschluss, also einem Sein-Sollen-Fehlschluss unterliegen, insofern eine Eins-zu-eins-Übertragbarkeit auf die tatsächliche Handlungskompetenz (Performanz) von Lehrer(inne)n, angenommen wird. Die These lautet in anderen Worten: Professional vision, wie sie von (angehenden) Lehrer(inne)n in einer Ausbildungssituation angewendet wird, entspricht nicht der Kompetenz von Praktiker(inne)n im Sinne einer Performanz. Dieses Verhältnis wird im Folgenden kritisch beleuchtet. In der folgenden Argumentation zur ersten Leitthese wird zu diesem Zweck der zugrunde gelegte Begriff von Wissen näher bestimmt. Insbesondere den Veränderungen des Wissens durch Lehrpraxis soll dabei Rechnung getragen werden. 3.1 Formen des Lehrerwissen N EUWEG (2011) bietet eine übersichtliche Darstellung, welche Formen von Wissen gemeint sein können, wenn wir von Lehrerwissen sprechen. Durch die folgende Darstellung wird deutlich, dass sich der Begriff ‚Wissen‘, wenn wir ihn in Bezug auf ‚Lehrerwissen‘ verwenden, nicht auf deklaratives Wissen einengen lässt. Vielmehr ist mit dem Begriff ‚Handlungswissen‘ gar die Performanz von Lehrer(inne)n in der konkreten Unterrichtssituation beschrieben. 106 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 Abb. 1: Konzepte des Lehrerwissens (N EUWEG 2011: 453) Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Unterscheidung dieser drei Wissensformen in keiner Weise eine Gradierung ihrer Wichtigkeit oder Wertigkeit ausdrückt: Mit T ERHART (1992) wird hier von einer Gleichwertig-, aber Andersartigkeit dieser Wissensformen ausgegangen. Diese Andersartigkeit ist die Grundlage für Leitthese 1, insofern sich daran argumentieren lässt, dass sich das verbalisierte Wissen in Ausbildungssituationen auf Grund der anderen Anforderungssituation vom handlungsleitenden Lehrerwissen bzw. Handlungswissen in der Praxis unterscheidet. Wendet man die in der Abbildung unterschiedenen Arten von Lehrerwissen auf die Arbeit mit Unterrichtsvideos an, kann man - vereinfachend - formulieren: Was im Unterricht passiert und was in Unterrichtsvideos zu sehen ist, ist die Anwendung von Handlungswissen (Handeln, Wissen 3), um konkreten Unterricht zu gestalten. Hingegen in der Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung so wie bei der Unterrichtsreflexion, auch der Arbeit mit Unterrichtsvideos, wenn nämlich der unmittelbare Handlungsdruck fehlt, greifen jedwede Überlegungen auf das handlungsleitende Wissen zurück und nicht mehr das Handlungswissen (Wissen 2). Das Ausbildungswissen (Wissen 1) bezeichnet „das kodifizierte, mehr oder weniger systematische und insbesondere in der Ausbildung anzueignende Professionswissen von Lehrern (Wissen im objektiven Sinne, ‚Wissen im Buch‘ [...])“ (N EUWEG 2011: 452). Diese abstrahierende Distanz zur konkreten Unterrichtssituation hat ihre wichtige Bedeutung für den Aufbau eines breiteren Handlungs- und Reflexionsrepertoires, wie es für die Ausbildung in den Professionen notwendig ist (vgl. W EINERT 2001). Oberflächliche Unterrichtsanalysen 107 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 N EUWEG (2006, 2011, 2015) setzt sich zudem kritisch mit der Frage auseinander, welche dieser Wissensformen durch Versprachlichung einer gemeinsamen Aushandlung - zum Beispiel in Ausbildungssituationen - überhaupt zugänglich sind und berührt damit die Frage danach, wie und was (angehende) Lehrer(innen) an Hand von Unterrichtsvideos lernen können. Die These des tacit knowledge, also die Unmöglichkeit, das Handlungswissen in seiner Komplexität (nachträglich) zu verbalisieren beziehen P OLANYI (1967) und N EUWEG (2011) auf Wissen 3 und sogar auf Wissen 2: Handlungs- und handlungsleitendes Wissen könne nicht versprachlicht werden, weil es im Nachhinein und in anderer zeitlicher Struktur, ohne den Handlungsdruck und die Komplexität der Eindrücke nicht genauso wiedergegeben werden kann. Eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Theorien der Ko-Konstruktion von Wissen macht diese strenge Anwendung wenig plausibel (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 63-67). Die Ko-Konstruktion von Wissen wurde seit den Publikationen von P OLANYI (1967) zum tacit knowledge, auf die sich N EUWEG (2006) weiterhin bezieht, beschrieben und in das Verständnis von Wissensvermittlung aufgenommen. So kommen Studien zum sozialen Aspekt von Wissen zum Schluss, dass communities of practice - als Gruppen von professionell Handelnden - einen bedeutenden förderlichen Rahmen für den Austausch über und die Verbesserung von Handlungskompetenz darstellen (vgl. A PPEL 2000; B REEN et al. 2001; G RUBER et al. 2008). Die Ko-Konstruktion von Wissen kann somit auch ein plausibles Konzept für die Lernarbeit von (angehenden) Lehrer(inne)n bei der gemeinsamen Unterrichtsnachbesprechung darstellen: In einer situierten, kooperativen Lernarbeit in Gruppen können Lernende eigenes Wissen explizieren und mit dem Wissen der Lernpartner(innen) - also auch Ausbilder(innen) - in Beziehung setzen. Der Gruppe kommt hierbei eine metakognitive Kontrollfunktion zu, indem Lücken oder Fehler im Wissen der Gruppenmitglieder aufgedeckt und idealerweise durch gemeinsame Wissenskonstruktion behoben werden können (vgl. O’D ONNELL 1999). Das Postulat des tacit knowledge für Handlungs- und handlungsleitendes Wissen sollte deshalb zugunsten eines dynamischen Modells aufgegeben werden: Das Eisbergmodell von Kommunikation kann meines Erachtens auf das handlungsleitende Wissen von Lehrer(inne)n angewendet werden: Ein gewisser Teil des Handlungswissens und des handlungsleitenden Wissens ist der expliziten Reflexion zugänglich und je günstiger die Rahmenbedingungen, desto mehr lässt sich dieser Anteil heben. 3.2 Professional vision in Modellen der Unterrichtsqualität bzw. der Handlungskompetenz von Lehrer(inne)n In den Modellen zur Unterrichtsqualität und Handlungstheorien, wie etwa jenem von H ELMKE (2017) wird Lehrerwissen in seiner Form von Handlungswissen (bei N EUWEG 2011 „Handeln“, s.o.) dargestellt. Die Lehrperson kommt im Modell von H ELMKE (2017) an drei Stellen prominent vor: Die einer Lehrperson zur Verfügung stehenden Kompetenzen und Dispositionen werden für die Planung und Gestaltung 108 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 eines Unterrichtsangebotes genutzt. Zentral allerdings für das tatsächliche Unterrichtsgeschehen ist die „Wahrnehmung und Interpretation“ der Unterrichtssituation, weshalb diese ganz im Zentrum des Modells von H ELMKE (2017), quasi als Dreh- und Ankerpunkt oder als Nadelöhr, stehen. Das Modell wurde insbesondere an diesem Punkt weiterentwickelt und ausdifferenziert, z.B. von B LÖMEKE / G USTAFSSON / S HAVELSON (2015). Eine Ersetzung der Verarbeitungs- und Interpretationsprozesse der Lehrkraft durch professional vision, wie sie von M ESCHEDE et al. (2017) vorgeschlagen wird, ist problematisch, wie die folgende Ausführung zeigen wird, da professional vision, wie sie in der Regel für die Lehrer(innen)bildung konzeptualisiert wird, nicht mit der Performanz der Lehrpraxis gleichzusetzen ist. 3.3 Handlungsleitendes Lehrerwissen Zur Struktur des handlungsleitenden Lehrerwissens gibt es seit den 1980er Jahren zahlreiche Untersuchungen und Darstellungen, angestoßen durch Erkenntnisse der Expertiseforschung (z.B. B ROMME 1992) und das Bemühen um eine (wertschätzende) Standardisierung von Lehrer(innen)kompetenzen (S HULMAN 1986). S HUL - MAN s (1986) Gliederung der Wissensbereiche und Wissensarten wird weiterhin große Plausibilität zugeschrieben. Ergänzt um Erkenntnisse der Expert(inn)en-Noviz(inn)en-Forschung (insb. G RUBER / H ARTEIS / R EHRL 2006; G RUBER / S TÖGER 2011), entwirft W IPPERFÜRTH (2015) eine graphische Darstellung des handlungsleitenden Wissens, die in Abbildung 2 (  S. 109) wiedergegeben wird. Insbesondere wird darin dargestellt, dass sich das stark deklarative Wissen aus den einzelnen Fachdisziplinen der Ausbildung durch die Praxis strukturell massiv verändert hin zu Problemrepräsentationen (Sechsecke „P“), die sich aus episodischem Wissen, also aus zahlreichen Handlungserfahrungen, speisen (Sechsecke „E“). Diese Prozesse werden auch als „Prozeduralisierung“, also die Überführung deklarativen Wissens in Handlungswissen und „Enkapsulierung“, also die Verschränkung ursprünglich getrennt gespeicherter Wissenselemente, beschrieben (vgl. B OSHUIZEN / S CHMIDT 1992). Zum propositionalen Wissen als Wissen von Regeln und Gesetzmäßigkeiten gehören erstens Maximen, die eher der eigenen Erfahrung entspringen, zweitens Prinzipien, die sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten und drittens Werte (vgl. S HULMAN 1986). Strategisches Wissen vermittelt zwischen sich widersprechenden Handlungsanforderungen. In W IPPERFÜRTH (2015: 52-67) findet sich eine ausführliche Beschreibung der Wissenselemente aus Abbildung 2 (  S. 109). Oberflächliche Unterrichtsanalysen 109 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 Abb. 2: Elemente handlungsleitenden Lehrerwissens (Wipperfürth 2015: 61) 3.4 Zeitliche Dimension von Lehrerwissen Wenn wir über das Wissen von Lehrer(inne)n sprechen, dann muss zudem eine zeitliche Perspektive bedacht werden. Ausgehend von der großen Erfahrungsbasis angehender Lehramtsstudierender über Unterricht aus ihrer eigenen Schüler(innen)biographie, entwickeln sie durch eine zunehmende Verschränkung theoretischer und praktischer Ausbildungsanteile während der Ausbildung sowohl eine theoretische Reflexionskompetenz als auch eine Handlungskompetenz. Die folgende Abbildung 3 (  S. 110) stellt graphisch dar, dass durch Unterrichtsvideos das handlungsleitende Wissen von Praktiker(inne)n in Ausbildungskontexte hineingenommen wird. Der Pfeil symbolisiert diese Hineinnahme von in Videos festgehaltenem, fremden Unterricht in die Phase der Ausbildung. 110 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 Erfahrungswissen aus Schulbiografie zeitliche Dimension Schulerfahrung Ausbildung Unterrichtspraxis Ausbildungswissen/ handlungsleitendes Wissen Handlungswissen keine (vollständige Unterrichtsverantwortung Unterrichtsverantwortung Abb. 3: Zeitliche Dimension bei der Herausbildung von eigenverantwortlicher Unterrichtsperformanz Für die Verwendung von Unterrichtsvideos können aus dem bisher Gesagten folgende zwei Schlüsse gezogen werden. Lehrerwissen verändert sich maßgeblich in seiner Struktur durch (reflektierte) Praxiserfahrungen, wie oben ausführlich dargestellt wurde. Die Reflexion von fremden Unterrichtsvideos innerhalb der Ausbildung erfolgt also auf einer anderen Wissensbasis - und wie im nächsten Abschnitt eigens diskutiert wird - auch in einer anderen Anforderungssituation. Zweitens ist zu bedenken, dass bei allen Vorteilen von Unterrichtsvideos in der Lehrer(innen)ausbildung die kognitive Belastung durch die in Videos abgebildete Komplexität der Unterrichtswirklichkeit für Studierende auch eine Überforderung darstellen kann. So kommen S YRING et al. (2015) zu dem Ergebnis, dass sich Studierende, die mit Videos statt Textfällen arbeiten, mit „gesunkene[r] Erfolgswahrscheinlichkeit und der erhöhten Misserfolgserwartung“ (ebd. S. 681) konfrontiert sehen, die kognitive Belastung als größer empfunden wird und sie mehr Angst, etwas falsch zu machen oder zu übersehen, bei der Hausaufgabenbearbeitung mit Videos empfinden (vgl. ebd). Verschränkte theoretische und praktische Ausbildungsanteile Ausbildungswissen Erste reflektierte Unterrichtserfahrung Eigenverantwortlicher Unterricht Oberflächliche Unterrichtsanalysen 111 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 4. Wie oberflächlich darf Lehrerwissen sein? Kontextbedingungen und ihr Einfluss auf Besprechungen von Unterrichtsvideos (Leitthese 2) Die zweite Leitthese bezieht sich auf die Frage, inwiefern der Gesprächsrahmen den Verlauf von videogestützten Unterrichtsnachbesprechungen beeinflusst. Welch großer Unterschied zwischen der Besprechung von fremdem Unterricht in der Ausbildung und der Besprechung von eigenem Unterricht mit anderen Kolleg(inn)en besteht, wird hier exemplarisch am Aspekt der persönlichen Betroffenheit der Diskutierenden ausgeführt. 4.1 Kontextabhängige Wissensaktivierung Die Aktivierung von Wissen ist abhängig von der Anforderungssituation. Je nach Anforderungssituation wird entsprechendes Wissen aufgerufen. Dieser Zusammenhang ist für Überlegungen zu professional vision wichtig, insbesondere wenn das Wissen, das im knowledge-based reasoning angewandt wird, greifbar werden soll. W ILDT (2003) bietet eine wichtige Unterscheidung zu Lehrerwissen bzw. Wissen über Unterricht, die meines Erachtens zentral für die Einschätzung des verbalisierten Lehrerwissens in Unterrichtsnachbesprechungen ist: Die erste Unterscheidung, die hier zu bedenken ist, ist jene der Perspektive auf Unterricht. In der pädagogischen Praxis (I), so W ILDT (2003), entwickeln Personen Theorien (I) über angemessenes Handeln in der Praxis sowie über sich selbst als Teil dieser Praxis. Wer an Praxis teilhat, versteht sich und die Praxis zunächst aus dieser Praxis heraus und agiert in diesem Verständnis routiniert. Praxis reproduziert sich ungefragt, solange die Routinen funktionieren. [...] So genannte Theorien erster Ordnung erheben praktische Geltungsansprüche, ihr Kriterium ist die Angemessenheit (H ÄCKER 2012: 274). Insbesondere in Ausbildungssituationen wird auf der Basis wissenschaftlicher Theorien (II) die pädagogische Praxis (I) einschließlich der in ihr entwickelten Theorien (subj. Theorie I) reflektiert. [...] Die hier beanspruchten Theorien zweiter Ordnung erheben wissenschaftliche Geltungsansprüche. Ihr Kriterium ist die Wahrheit, diese ist an die Einhaltung methodischer Operationen gebunden und zielt auf Erkenntnisfortschritt ( ebd . 275). Damit ist die Unterscheidung von Praxis- und Theoriewissen um zwei wichtige Kriterien differenzierter zu treffen, nämlich durch die unterschiedliche Geltungsbehauptung (praktisch oder wissenschaftlich; angemessen oder wahr) und die verschiedenen Ziele der Reflexionen (Entscheidung oder Begründung). (  Abb. 4, S. 112) 112 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 Abb. 4: Doppelte Theorie-Praxis-Relationierung (H ÄCKER 2012: 274) 4.2 Betroffenheit und Verfügbarkeit von Handlungswissen bei der Arbeit mit Unterrichtsvideos Unterrichtsvideos bieten die Möglichkeit, einen großen Anteil der Unterrichtskomplexität einzufangen und in Ausbildungskontexte einzubinden, auch wenn einige Faktoren authentischen Unterrichts auch bei Videos verloren gehen (vgl. K LIPPEL 2016). Was insbesondere fehlt, ist das unmittelbare Erleben der Unterrichtssituation aus der Lehrer(innen)perspektive, auch in ihrer Historizität (‚Was war vorher und nachher? ‘). Beobachter(innen) sind außerdem frei vom konkreten Handlungsdruck (vgl. W AHL 1991), was in Ausbildungskontexten gleichwohl positiv zu deuten ist und Freiräume schafft, um Analyse- und Reflexionsprozesse anzustoßen. Die persönliche und professionelle Betroffenheit ist für Praktiker(innen) allerdings ein Faktor, der Einfluss auf die Ziele und Gestaltung dieser Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos nimmt. Denn erstens können aus dem Gesehenen Rückschlüsse über das eigene Lehrer(innen)verhalten gezogen werden, das grundsätzlich nicht mehr unter einer Potenzialität betrachtet wird, sondern bereits konkreter Fixpunkt der beruflichen Identität geworden ist. Jedes beobachtete Verhalten ist auch eine Folie für das eigene und kann gewertet werden: ‚Der Lehrer im Video ist viel selbstbewusster als ich! Das kriegt er aber gut hin mit der Einsprachigkeit, so konsequent bin ich nicht! Na, meine Aussprache ist aber um Welten besser! ‘ Für Praktiker(innen), die Videos sehen und analysieren, ist stets auch das eigene Selbstkonzept in der Verhandlung: Diesen Anteil der Unterrichtsnachbesprechungen bezeichnen Oberflächliche Unterrichtsanalysen 113 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 N IGGLI / G ERTEIS / G UT (2008: 140) als „persönliches Orientierungsgespräch“, in welchen insbesondere „situationsübergreifende Überzeugungen, Ziele, Motive und Aspekte der Selbstregulation“ verhandelt werden. Zweitens besteht bei der Diskussion von Unterricht die potenzielle Aufforderung für Praktiker(innen), das Gesehene in Zukunft besser oder anders umzusetzen. H ÄCKER (2012) beschreibt den Anspruch von Reflexionen, die stark im praktischen Kontext verankert sind und aus einer Praxis heraus angestellt werden, wie folgt: „Es geht hier vielmehr darum, die Bewältigung der Schwierigkeit so auf die Belange der Praxis abzustimmen, dass sie wieder routinemäßig ausgeübt werden kann.“ (H ÄCKER 2012: 274) Diese Betroffenheit fehlt Forscher(innen), Ausbilder(innen), angehenden Lehrer(innen), die noch von der eigenen Praxisverantwortung entfernt sind, beim Betrachten von Videos. Die Annahme, das beobachtete Unterrichtsverhalten selbst besser bewältigen zu können, bezeichnet A PPEL (2000) mit B OURDIEU (1990) als scholastischen Trugschluss: Dieser „verleite diejenigen, die nicht unter dem Druck der Situation stünden, dazu zu glauben, daß Personen, die in der aktuellen Situation handelten, zu der gleichen Art von Denken in der Lage seien wie ein Beobachter.“ (A PPEL 2000: 66) Durch die Formulierung von Kompetenzen in der Lehrer(innen)bildung ist eine Überzeugung der Verfügbarkeit von Situationen in den Diskurs eingezogen, die von einigen Forscher(inne)n kritisch gesehen wird und die gerade an den Anforderungen der Praxis deutlich werden: Der Begriff des knowledge-based reasoning suggeriert eine Verfügbarkeit der Handlungsentscheidungen durch eingehende Analyse. R OSA / B UHREN / E NDRES (2018) kritisieren am Kompetenzbegriff in der Pädagogik, dass er suggeriert, wir könnten über eine Situation verfügen. Gerade pädagogische Begegnungssituationen zeichnen sich allerdings durch ein hohes Maß an Unplanbarkeit und Unsicherheit aus (vgl. H ELSPER 2004; G ENSICKE 2006) und sind auf - in R OSAS (2016) Worten - Resonanz angewiesen. Kompetenz ist meiner Ansicht nach etwas Einseitiges - ich habe eine Kompetenz - Resonanz kann niemals einseitig sein. Nicht ich kann Resonanz haben, sondern Resonanz ereignet sich zwischen mir und anderem oder anderen (R OSA / B UHREN / E NDRES 2018: 19). Man gibt Antworten auf eine Situation, die „situationsadäquat oder interaktionsadäquat sein muss.“ (R OSA / B UHREN / E NDRES 2018: 19) Auch N EUWEG (2015) betont diesen Aspekt der Unverfügbarkeit, wenn er sagt: die Lücke zwischen Regel und Situation, die immer durch ein besonderes praktisches Vermögen überbrückt werden muss, das seit je das Interesse der Philosophen herausfordert (phronesis nennt Aristoteles, Urteilskraft nennt Kant diese Black Box im Niemandsland zwischen Praxis und Theorie). Keine Theorie kann die Instanz beinhalten, die hinter ihr stehen muss, um sich ihrer situationsgerecht zu bedienen. [...] Selbst Entsprechungen zwischen Theorie und Praxis dürfen nicht leichtfertig als Anwendungen aufgefasst werden (N EUWEG 2015: 45). Zum einen greifen Praktiker(innen) also auf eine stark umstrukturierte Wissensbasis zurück, wenn sie gemeinsam Unterricht nachbesprechen. Zum anderen genügt das 114 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 verbalisierte Wissen anderen Geltungsansprüchen (Theorien 1. Ordnung) und das professionelle Selbstkonzept ist in deutlich stärkerem Maße als in Ausbildungssituationen herausgefordert. 5. Doing Unterrichtsnachbesprechung: Der Einfluss des Gesprächsrahmens auf das Gesprächsverhalten von Praktiker(inne)n bei der Besprechung von Unterrichtsvideos In der folgenden pragmalinguistischen Analyse eines Gesprächsausschnittes aus dem „Lernenden Lehrernetzwerk“ sollen diese Thesen illustriert werden. Eine solche Analyse der Netzwerkgespräche war im Rahmen der Auswertung in W IPPERFÜRTH (2015) nur stichpunktartig möglich (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 189f., Kapitel 16.2). In der nachfolgenden Analyse wurden Gesprächsausschnitte analysiert, in denen der ergiebig und umfangreich diskutierte Bereich der Einsprachigkeit im kommunikativen Unterricht behandelt wurde (vgl. ebd. 246-250). Im einjährigen Projekt „Lernendes Lehrernetzwerk“ trafen sich acht Lehrer(innen) einmal pro Monat zu einem Netzwerktreffen, in dem der Unterricht eines Netzwerkmitgliedes diskutiert wurde. Die Grundlage für das unmoderierte Gespräch waren je ca. zehnminütige Videoausschnitte, eine Kurzbeschreibung der Stunde sowie relevante Dokumente aus dem aufgenommenen Unterricht. Die Teilnehmer(innen) sind Englischlehrer(innen) der Sekundarstufe (Gymnasium und Fachoberschule) und verfügen über zwei bis fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung nach Abschluss ihrer universitären sowie praktischen Ausbildung. Der Gesprächsrahmen wurde den Teilnehmer(inne)n im Einladungsschreiben kommuniziert. Im Kontext des „Lernenden Lehrernetzwerkes“ wurde in den Begleittexten - wie der Einladung - stets betont, dass die Lehrer(innen) als Expert(inn)en für (ihren) Englischunterricht positioniert werden und ihre je individuelle Perspektive wertgeschätzt wird. Die konkrete Gesprächsinteraktion und die Verwendung des handlungsleitenden Wissens der Praktiker(innen) werden im Folgenden in einer pragmalinguistischen Analyse nachvollzogen. Grundlegend für diskursanalytische Ansätze ist die Annahme, dass sprachliches Handeln und Lernprozesse gleichermaßen in sozialen Interaktionen sichtbar werden. Diese Grundannahme impliziert auch ein Verständnis von Lernen, welches den Erwerbsprozess nicht allein auf mentale Vorgänge des Einzelnen begrenzt, sondern vielmehr als interaktives Unterfangen beschreibt, bei dem alle Beteiligten eine Rolle spielen und somit den Prozess beeinflussen. Das sozio-kulturelle Verständnis von Kognition als mediated mind (V YGOTSKY / C OLE 1978) unterstreicht diesen Gedanken des sozialen Charakters von Lernen (S CHWAB / S CHRAMM 2016: 282). Zusätzlich zu den Gesprächsdaten kann außerdem die Perspektive der Teilnehmer(innen) in die Analyse aufgenommen werden. Im Unterschied zu anderen Untersuchungen (beispielsweise A YRA / C HRISTA / C HIU 2014; D OBIE / A NDERSON 2015; H ORN / L ITTLE 2010) wurden die Lehrer(innen) in W IPPERFÜRTH (2015) explizit zu Oberflächliche Unterrichtsanalysen 115 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 ihren Erwartungen an die Gespräche sowie zu ihrer nachträglichen Einschätzung der Reflexionstiefe und Konsistenz der Diskussionen befragt. Der folgende Gesprächsausschnitt ist dem dritten Netzwerktreffen entnommen, in welchem der Unterricht des erfahrenen Lehrers EMA besprochen wird. Es sind sechs Lehrer(innen) anwesend, die sich alle im folgenden Ausschnitt äußern. Der Ausschnitt beginnt bei Minute 45: 33, also nachdem viele erste Beobachtungen und zahlreiches Feedback durchgesprochen wurden und es zu einer langen Pause von 27 Sekunden kommt. Es handelt sich beim besprochenen Unterricht um eine zehnminütige Sequenz aus seiner 5. Klasse mit Fragen zu einem Hörtext aus dem Lehrwerk und einer anschließenden Übung. PAUSE: 45: 33 - 46: 00 [...=.27] [lachen] EMA: Seid ihr schon fertig? Des war natürlich, also, war ’n bisschen listening mit dabei, also so Textarbeit, des is gar nicht so (? ? ). Wenn ihr Unterstufe mit ’nem Text macht, wie gliedert ihr den? [...] Welchen Ton verwendet ihr da, und wie große Abschnitte macht ihr, wie bemesst ihr des? Des würd mich interessieren, weil des mach ich, aber ich weiß nicht, ich glaub des kann man auch ganz anders machen. EMI: Also, ich mein, ich mach des eher mit, auch so. so, was weiß ich, bei nem langen Text, so zwei oder drei Einheiten, je nach dem, wie sich des anbietet. Ich mach eher allgemeine Fragen. Also du hast ja sehr detailliert teilweise gefragt, also ich mach’s mehr allgemein. [...] NWL: Kannst du ’n Beispiel machen? EMI: Ja wobei in der Fünften, ’n Beispiel. NWL: Ja, ich weiß jetzt nicht so recht, was ma, allgemein, also ich mein’, abstrahieren können die sowieso noch nicht. EMI: Nein, nein! Darum geht’s auch nicht. Ich hab jetzt auch nicht ne fünfte Klasse im Kopf. Also, ich hab zu wenig fünfte Klassen gehabt, des is, ich hab erst zwei gehabt, glaub ich, mal vor fünf oder sechs Jahren mal ne fünfte Klasse gehabt. EMA: Des is, schon so beschränkt auch schon so in den Zeiten. Ich kann nicht fragen, „What do you expect to happen? “, des können die nicht. Die können keine Zukunft, und die können des überhaupt nicht formulieren. Also des, was ihnen an Gedanken kommt, was sie meinen, was passieren könnte, des können die gar nicht versprachlichen. Weder vom Vokabular her können sie’s versprachlichen, geschweige denn von der Grammatik, weil sie die Zukunft auch noch nicht haben. Also des is schon, man hängt tatsächlich so in dieser Gegenwart so fest, was die Unterrichtssprache betrifft. EMI: Ja, jaja, ja. EMA: Das hätt ich gern gefragt. Aber, ich wüsste nicht mal, wie ich des hinkriegen würde. Ich glaub, wir ham aber auch das next glaub ich ähm, weiß gar nicht, ob’s in dem Ausschnitt drin is, n bisschen, wie’s weiter gehen könnte, aber des is. NWL: Ja, wenn man das so formuliert, so was wie, okay, Billy Bob comes in, and then? What do you think? Und dann können sie im Präsens was erzählen. EMI: [leise] (? ? ) NWL: Ich fand, was die Schüler unheimlich gut gemacht haben, dass sie auch Englisch reden. 116 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 NWI: Steht ja auch in dem Ding [Begleitfragebogen zur Stunde, Anm.] drin. EMA: Ich bemühe mich. NWI: dass du, em, eigentlich immer Englisch, fast immer Englisch sprichst. [EMA: Ich bemühe mich, ja, ja. [NWL: Und ich finde, das hat man schon gut gemerkt, weil die Schüler auch immer auf Englisch antworten. EMI: Hast du auch damit angefangen im Jahr? Oder hast du (? ? ). EMA: Mich wundert das nicht, dass du das im Grundkurs hinkriegst, aber da schaff ich das nicht mehr, also dafür bin ich zu nachlässig. Also, da hab ich meinen Schülern das jetzt auch gesagt, dass ich das jetzt auch machen werde. [lachen] [...=.2] Also, in der fünften mache ich’s so, da ist das so ein Spiel in Anführungszeichen. Ich bin nie Klassenleiter, weil ich Oberstufenleiter bin, das heißt, ich muss mich nie um den ganzen Krempel kümmern. Ich komme dann immer nach den ersten drei bis vier Tagen hab ich meine erste Englischstunde und dann geh ich rein und sprech überhaupt kein Wort Deutsch und geh auch raus, ohne ein Wort Deutsch gesprochen zu haben und dann sind die Schüler schockiert und die Eltern kommen dann schon am nächsten Tag in die Sprechstunde und [lachen] haben dann schon so Ängste, wecke ich da in manchen. Aber manche finden das auch ganz, ganz toll. Da hab ich kein Wort Deutsch gesprochen und das ging irgendwie. Ja? Oder irgendwie nur „What’s your name? , Where are you from? How old are you? “ Also nur so, diese Kommunikationsspielchen und em, und eh, da schockier ich sie im ersten Augenblick. Sie können ja tatsächlich schon ein bisschen was, muss man schon sagen, sie sind schon besser, sie sind besser als noch vor ein paar Jahren. [EMI: Schon, ja. [... Abschnitt zur Verwendung von Deutsch im Grammatikunterricht] EWS: Ähm, was ich gut fand is jetzt mehr so indirekte Wortschatzarbeit, aber durch, ähm, Englisch als Unterrichtssprache, und durch so viele idiomatische Ausdrücke, die man halt benützt, zum Beispiel „way too long“ ganz am Anfang. NMO: Mhm. Im folgenden verstehenden Nachvollzug wird ein besonderer Fokus auf die Verbalisierung und den Umgang mit den unterschiedlichen Wissensarten des handlungsleitenden Wissens von Praktiker(inne)n gerichtet (s. Abschnitt 3.3, Abbildung 2, vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 52-63). Insbesondere Fallwissen, propositionales Wissen und strategisches Wissen, welches zur Lösung sich widersprechender Handlungsanforderungen benötigt wird, sind besonders „dicht“ für die gemeinsame Besprechung von Unterricht, da sie bereits eine Form der Handlungsreflexion beinhalten. Der Gesprächsausschnitt ist thematisch um das Thema (bzw. Fallwissen) einsprachige Gestaltung von listening-Aufgaben in einer Unterstufe gestaltet. Vor diesem Abschnitt wurde Einsprachigkeit innerhalb der vorhergegangenen und desselben Netzwerktreffens 75-mal (von insgesamt 163 entsprechender Kodierungen in MaxQDA) thematisiert. Das heißt, die Lehrer(innen) haben über die vorherigen Diskussionen bereits einen differenzierten gemeinsamen Bezugsrahmen von Einsprachigkeit und auch der ggf. unterschiedlichen Sichtweisen, Wertigkeiten und Erfahrungen der Teilnehmer(innen) geschaffen. Oberflächliche Unterrichtsanalysen 117 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 Der Lehrer EMA, dessen Unterricht diskutiert wird, nimmt nach einer langen Pause das Rederecht und lädt die anderen Teilnehmer(innen) zu Feedback ein: Er fragt verwundert, ob das Feedback „schon fertig“ (z2) sei und thematisiert eine Unsicherheit im Bereich „listening“ und „Textarbeit“ (z3, 4). Seine Aussage „des is gar nicht so (? ? )“ (z3) bezieht sich wahrscheinlich auf die - von ihm hier selbst angezweifelte - Kleinschrittigkeit der Fragen zum Text, denn er nennt sein Vorgehen 14 Minuten vor dieser Sequenz „kleinschrittig“ (EMA) und er bedient dieses Feld auch in den Formulierungen „gliedert“ (z3) und „wie große Abschnitte“ (z4). EMI adressiert in seiner kritischen Antwort genau diesen Aspekt und berichtet in Form von Fallwissen (angezeigt durch die Verallgemeinerungen „ich mach“ (z7, 8, 9)), dass er bei langen Texten - wie auch der Text von EMA einer war - „eher allgemeine Fragen“ (z8) verwendet und kontrastiert dies mit seiner Beobachtung zu EMAs Unterricht „du hast sehr detailliert teilweise gefragt“ (z9) („noticing“). NWL bringt in z12 propositionales Wissen ein - als Fach-/ Erfahrungswissen über die kognitiven Fähigkeiten von Unterstufenschüler(inne)n („abstrahieren können die sowieso noch nicht“ z12-13). Sie führt dadurch ihre Ablehnung von EMIs Aussage weiter aus, die sie zunächst in einer Nachfrage („Kannst du n Beispiel machen? “ z10) formuliert, wodurch sie an EMIs Fallwissen, zumindest sein episodisches Wissen, appelliert und er ggf. dadurch einer Lücke gewahr wird und expliziert, dass seine Erfahrungsbasis (Fallwissen) für Unterstufenunterricht zu gering („zu wenig“ z15) für ein Urteil ist, und berichtet, dass er erst zweimal und vor einigen Jahren eine Unterstufe unterrichtet hat (episodisches Wissen) (z15-16). EMA begründet daraufhin seine Entscheidung zur kleinschrittigen Arbeit durch Ausführungen zu seinem propositionalen Wissen und Fallwissen über Unterrichtsgespräche in der Unterstufe. Er kann flüssig und mit Beispielen (z17-18) erläutern, dass der Gestaltungsraum des Fremdsprachenlehrers „beschränkt“ (z17) ist durch die noch zu geringen sprachlichen Mittel der Schüler(innen) („keine Zukunft“ z18, „nicht formulieren“ z19, „Vokabular“ z20, „Grammatik“ z21). In seiner Darstellung verschränkt er das Lehrer- und Schülerverhalten: „Ich kann nicht fragen, What do you expect to happen? . Des können die noch nicht“ (z17-18). „Des“ (z17) bezieht sich grammatikalisch eigentlich auf das Lehrerverhalten. EMA wollte allerdings einen komplexeren Zusammenhang darstellen, was er nämlich in den folgenden Ausführungen nachholt (z. 18-23). Dies kann als Indiz für die „zielorientierte Wahrnehmung“ von Expertenlehrer(inne)n interpretiert werden, durch welche bereits beim Erkennen von Problemen die Konsequenzen und angemessenen Handlungsmöglichkeiten ‚mitgesehen’ werden (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 62). EMA kann annehmen, dass seine didaktische Entscheidung zu kleinschrittiger Textarbeit von den Kolleg(inn)en geschätzt wird, insbesondere aufgrund von NWLs Verhalten, EMIs Zurückziehen seiner Aussage und des Schweigens der anderen drei Teilnehmer(innen). Er verstärkt seine Gründe, indem er sagt: „aber ich wüsste nicht mal, wie ich des hinkriegen würde“ (z25), wenngleich er über weitere Möglichkeiten nachdenkt, wie er mit Schüler(inne)n Hypothesen über den weiteren Text (propositionales Wissen zu Unterrichtsinteraktion und scaffolding) anstellen kann, 118 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 etwa durch „next“ (z26), was von NWL unmittelbar aufgegriffen wird („Ja“ z28) und weitergeführt wird durch ein Beispiel und dessen Begründung: „dann können sie im Präsens was erzählen“ (z29) (zielorientierte Wahrnehmung). Danach erweitert NLW das Thema der einsprachigen Textarbeit - das ist ja das Ziel der bisherigen Überlegungen, wie die Schüler(innen) Fragen zum Text auf Englisch formulieren können - auf die allgemeine einsprachige Unterrichtsinteraktion und wertet ihre Beobachtung „dass sie auch Englisch reden“ (z31) (noticing) positiv („unheimlich gut“ z31). NWI greift dies auf und führt diese Beobachtung an den Schüler(inne)n (noticing) auf das Lehrerverhalten zurück, indem sie EMAs Beschreibung im Begleitfragebogen („in dem Ding“ z32) zur Stunde zitiert (z34). EMA bekundet zweimal, dass er sich darum „bemüh[t]“ (z33, 35), womit er seine Wertigkeit (Werte als propositionales Wissen) ausdrückt. NWL wiederholt bzw. verstärkt NWIs Beobachtung, dass man dies am Schüler(innen)verhalten ablesen könne (z36, 37). EMI bezieht sich mit „damit“ (z38) wahrscheinlich auf NWIs Zitat, also EMAs Aussage, dass er „fast immer Englisch [spricht]“ (z34). So stellt er einen Zusammenhang her zwischen dem Verhalten der Schüler(innen) im Februar (Zeitpunkt des Netzwerktreffens) und zu Beginn des Schuljahres, was auf das gemeinsame Fallwissen um das Erreichen einer konsequenten Einsprachigkeit hinweisen kann, weil die Sprecherwechsel ohne Klärungsbedarf funktionieren und aufeinander bezogen sind. EMA reagiert nun insbesondere auf EMI („du“ z39) als Autor dieser Aussage: EMIs Unterricht in einer Oberstufenklasse („Grundkurs“ z39) wurde im vorherigen Netzwerktreffen diskutiert. Auch hier macht EMA deutlich, dass Einsprachigkeit für ihn einen hohen Wert (propositionales Wissen) darstellt, indem er sein Verhalten negativ wertend als „zu nachlässig“ (z40) charakterisiert und sagt: „da schaff ich das nicht mehr“ (z39-40). EMA begründet die Möglichkeit, in einer fünften Klasse bereits von Anfang an und sehr konsequent einsprachig unterrichten zu können, mit der Tatsache, dass er kein Klassenlehrer ist und erläutert, dass er deshalb Organisatorisches oder Soziales („Krempel“), was komplexere Sprache benötigen würde, nicht leisten muss (EMA, z43). Hier macht er also den Reflexionsraum zwischen pädagogischen Anforderungen und fremdsprachendidaktischen Entscheidungen auf. Dieses hier sehr deutlich sichtbare strategische Wissen kann als eine Kernkompetenz der Reflexionskompetenz von Praktiker(inne)n beschrieben werden, stellen Praktiker(innen) darüber doch immer wieder neu die Sinnhaftigkeit und Kongruenz der eigenen Überzeugungen innerhalb sich widersprechender Handlungsanforderungen her (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: 54). Die folgende Darstellung ähnelt einem Bericht („dann“ z43, 44, 46, 47), was das so verbalisierte Wissen als episodisches Wissen charakterisiert, das als „meine erste Englischstunde“ (z44) sehr präsent ist. Er expliziert dabei auch „Wissen über die Schüler(innen)“: „sie sind schon besser als noch vor ein paar Jahren“ (z52) und bezieht sich dabei auf die Einführung von Englisch in der Grundschule in Bayern. EMI teilt als bayerischer Kollege diese Interpretationsmöglichkeit und bestätigt „schon, ja“ (z53). Oberflächliche Unterrichtsanalysen 119 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 EMA fährt fort, seine Entscheidungen zu einsprachigem Unterricht zu explizieren und spricht anschließend auch über Grammatikunterricht (Erstbegegnung in der Regel auf Deutsch). Dieser Ausschnitt wurde oben aus Platzgründen und weil kaum Interaktion dazu stattfindet ausgelassenen. Nach fünf turns, die nur von kurzen Kommentaren der Anderen unterbrochen sind, greift EWS erneut das Thema „Englisch als Unterrichtssprache“ (z56) auf und lobt anhand eines Beispiels (z57), was sie als „indirekte Wortschatzarbeit“ (z55) bezeichnet. Diese positive Wertung wird durch NMO bestätigt („Mhm“ z58). Es überwiegt ein freundlicher, lobender Ton. Es ist anzunehmen, dass auch Gespräche zwischen Praktiker(inne)n dem sog. Group-think-Phänomen unterliegen, das erstmals von J ANIS (1972) als dysfunktionales Interaktionsmuster beschrieben wurde, nach dem sich Gesprächsteilnehmer(innen) aus sozialen Gründen um größtmögliche Einmütigkeit bemühen. Die Zweigliederung und zeitliche Abfolge von noticing und knowledge-based reasoning, die im Konzept professional vision angelegt wurden (S HERIN / VAN E S 2004), kann zu einer Verzerrung der Analyse von Praktiker(innen)diskursen führen, in Form des Vorwurfs einer zu großen Oberflächlichkeit. Die hier beispielhaft angestellte Analyse der Interaktion konnte zeigen, dass ein breites Spektrum an handlungsleitendem Wissen verbalisiert wird. Die Lehrer(innen) bauen ein thematisches Feld um das Fallwissen „einsprachige Textarbeit in der Unterstufe“ auf, zu dem jede(r) Beobachtungen (noticing) und/ oder eigenes Wissen (knowledge-based reasoning) beiträgt. Äußerungen werden nur mit wenigen expliziten Diskursmarkern weitergeführt, ergänzt oder kommentiert. Die Lehrer(innen) führen in den Interviews aus, dass sie sich immer sehr gut verstanden haben, Bezüge sehr schnell ganz klar waren und sie auch den Eindruck hatten, in ihren eigenen Aussagen von den Anderen stets verstanden worden zu sein und eine gemeinsame Sprache sprechen (vgl. W IPPERFÜRTH 2015: Teil VI). Sie machen diese Beobachtung daran fest, dass Aspekte, die von einem Teilnehmer angesprochen werden, sehr schnell von der Gruppe „aufgegriffen und weitergesponnen“ (NWL i1) werden und Diskussionen fokussiert (NWL i1) sind. EMI drückt dies folgendermaßen aus: Es bedarf nicht viel Definition, um ein Gespräch in Gang zu bekommen. Das sieht man auch daran, dass das relativ schnell geht. Das wechselt ja relativ schnell, wenn einer ein Thema einbringt, dass die Anderen dann sehr schnell einsteigen und das sehr lebendig läuft (EMI i1). 6. Fazit Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff in knowledge-based reasoning erlaubt eine differenziertere Analyse der Lern- und Interaktionsprozesse bei der Arbeit mit Unterrichtsvideos in der Lehrer(innen)aus- und -weiterbildung. Zum einen ist für die jeweilige Phase der Lehrer(innen)biographie eine je ganz 120 Manuela Wipperfürth DOI 10.2357/ FLuL-2019-0007 48 (2019) • Heft 1 anders strukturierte Wissensbasis anzunehmen, die sich durch die Praxis insbesondere durch Prozesse der Prozeduralisierung und Enkapsulierung verändert. Zum anderen bedingt der Kontext den Geltungsanspruch der Angemessenheit für eine gelingende Praxis statt des Kriteriums der Wahrheit. Für diese unterschiedlichen Wissensbasen ist eine Gleichwertigkeit bei Andersartigkeit anzunehmen. Eine Interaktionsanalyse einer unmoderierten Unterrichtsnachbesprechung von Praktiker(inne)n hat ergeben, dass insbesondere hoch integrierte Wissensformen wie Fallwissen und strategisches Wissen verbalisiert werden und Bezüge zu vorher Gesagtem mit nur minimalen Mitteln vollzogen werden. Weitere lohnenswerte Untersuchungen könnten die Unterschiede in den Gesprächszielen und den verbalisierten Wissensarten zwischen Praktiker(inne)n und Studierenden erheben und analysieren. Literatur A PPEL , Joachim (2000): Erfahrungswissen und Fremdsprachendidaktik. München: Langenscheidt- Longman. A YRA , Poonan / C HRISTA , Tanya / C HIU , Ming Ming (2014): „Facilitation and teacher behaviors: An analysis of literacy teachers’ video-case discussions“. In: Journal of Teacher Education 65.2, 111-127. B LÖMEKE , Sigrid / G USTAFSSON , Jan Eric / S HAVELSON , Richard J. (2015): „Beyond dichotomies: Competence viewed as a continuum“. In: Zeitschrift fur Psychologie 223.1, 3-13. 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It becomes clear that the Spanish didactics, as a still young research discipline, is currently undergoing a process of development and expansion, frequently referring to the findings of other foreign language didactics as well as language teaching research. The majority of the empirical studies related to Spanish didactics is rooted in the research area of multilingual didactics, although an increasing number of research projects, most of which are in the process of being developed, address further questions within the framework of task-based language teaching or language mediation. 1. Ausgangssituation Ziel dieses Beitrages ist die Darstellung von Entwicklungen im Bereich der spanischdidaktischen Forschung innerhalb der letzten zehn Jahre. Die zeitliche Eingrenzung ist einer Umorientierung innerhalb der Bildungspolitik um die Jahrtausendwende von einer inputgesteuerten Inhaltsorientierung zu einer outputgesteuerten Kompetenzorientierung geschuldet, die vor allem durch die Veröffentlichungen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (E UROPARAT 2001) und den hieraus erwachsenen Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (KMK 2003, 2012) sichtbar wurden und die sowohl die Themen als auch die Rahmenbedingungen für fremdsprachendidaktische Forschung im Allgemeinen massiv beeinflusst haben. Betrachtet werden im Folgenden Forschungen zur Spanischdidaktik im deutschsprachigen Raum. Wie im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch deutlich * Korrespondenzdressen: Prof. Dr. Marcus B ÄR , Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften - Romanistik, Gaußstr. 20, 42219 Wuppertal. E-Mail: mbaer@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik und Interkomprehensionsforschung, Aufgabenorientierung und Konstruktion komplexer Lernaufgaben für den Spanischunterricht, Inklusion im Tertiärsprachenunterricht, europäische Sprachen- und Bildungspolitik. N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 124 Marcus Bär DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 48 (2019) • Heft 1 wird, werden hierbei auch Arbeiten berücksichtigt, die grundsätzlich fremdsprachendidaktische Fragen betreffen, sofern sie auch auf das Spanische eingehen, zumal fremdsprachendidaktische Forschung im Bereich der romanischen Sprachen häufig zwei oder auch mehrere Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch) umfasst. Auch wenn die letztendliche Auswahl der nachfolgend genannten Forschungsthemen/ -arbeiten unvermeidlich subjektiv gefärbt ist, so wurden für einen möglichst objektiven Blick auf die letztjährigen Forschungsentwicklungen u.a. folgende Quellen gesichtet: • das Forschungsregister des IFS der Universität Marburg inkl. einer Stichwortabfrage, • die sog. Sauer-Klippel-Liste, die sämtliche Dissertations- und Habilitationsschriften fremdsprachendidaktischer Disziplinen chronologisch auflistet, • die Forschungsrückblicke zur Französisch- und Englischdidaktik (S CHMELTER 2016; T HALER 2017), • ausgewählte Beiträge zur ‚Forschungslandschaft Fremdsprachendidaktik‘ (z.B. D OFF 2015; S EGERMANN 2017), • Themenhefte einzelner wissenschaftlicher Fachzeitschriften • sowie die Internetauftritte von Professuren der Didaktik der romanischen Sprachen. 2. Spanisch als Schulfach und als Forschungsdisziplin Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, handelt es sich beim Fach Spanisch um ein kleines, aber seit Jahren zahlenmäßig wachsendes Fach (vgl. bspw. B ÄR 2012, 2017). Analog zu den steigenden Schülerzahlen hat sich in den letzten Jahren auch die Zahl der Professuren für die Didaktik der romanischen Sprachen mit dem Schwerpunkt Spanisch weiter erhöht. Existierte zur Jahrtausendwende für die Spanischdidaktik noch keine einzige Professur (an fünf Standorten wurde das Spanische von den Französischkolleg(inn)en mit vertreten), sind es ca. 15 Jahre später laut G RÜNEWALD / V ERRIERE (2015: 22) immerhin etwa 20 Professuren, die das Französische und Spanische (gleichberechtigt? ) vertreten. Nach eigener Internetrecherche existieren zurzeit vier Professuren, die ausschließlich dem Spanischen gewidmet sind (Göttingen, Hannover, Münster, Wuppertal), die allesamt nach 2010 neu eingerichtet und besetzt worden sind. Hierneben wurden in der Hispanistik zuletzt weitere Professuren eingerichtet, die vom Profil her einen fachwissenschaftlichen Schwerpunkt aufweisen und deren Stelleninhaber nur in Teilen bzw. bedingt die Didaktik des Spanischen vertreten. Diese Situation führt letzten Endes dazu, dass sich Nachwuchswissenschaftler(innen) auch aus pragmatischen Gründen möglichst breit aufstellen und somit Themen bearbeiten, die an mehrere Sprachen (und somit Fächer) anschlussfähig sind, um die Anforderungen potenzieller Stellenausschreibungen Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik 125 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 (besser) zu erfüllen. 1 Die bisherigen Erläuterungen machen deutlich, dass es sich bei der Didaktik des Spanischen um eine zwar wachsende und aufstrebende, aber immer noch junge und weiterhin (sehr) kleine Forschungsdisziplin handelt. Es verwundert daher nicht, dass die Spanischdidaktik in den letzten Jahren nur bedingt ‚eigene‘ Forschungsbereiche für sich reklamieren kann. Stattdessen werden oftmals Studien rezipiert und die Ergebnisse auf das Lehren und Lernen des Spanischen transferiert, die der Fremdsprachendidaktik allgemein oder die primär der Didaktik des Englischen, des Französischen oder des Deutschen als Fremdsprache zuzuschreiben sind. Ungeachtet dessen sollen im folgenden Abschnitt die Forschungsbereiche genannt und erläutert werden, denen sich Vertreter(innen) der Spanischdidaktik in den letzten zehn Jahren verstärkt gewidmet haben. 3. Forschungsbereiche der Spanischdidaktik Im Rahmen der forschungsorientierten Publikationsorgane zur Fremdsprachendidaktik sind im speziellen Bezug auf die romanischen Sprachen die Reihen „Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung“ (Narr) sowie „Romanische Sprachen und ihre Didaktik“ (ibidem) zu nennen. Ein Bindeglied zwischen forschungsorientierten und unterrichtspraktischen Veröffentlichungen stellen u.a. die Publikationen der Sektion Spanisch der sog. Klett-Akademie dar (vgl. z.B. M EIßNER / K RÄMER 2011 und G RÜNEWALD / K RÄMER 2014). Beiträge zur Unterrichtspraxis Spanisch, die keine gesonderte Erwähnung im weiteren Verlauf dieses Beitrags finden werden, lassen sich vorrangig der Zeitschrift „Hispanorama“ und „Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch“ entnehmen, in Teilen auch der „Zeitschrift für Romanische Sprachen und ihre Didaktik“ sowie „Praxis Fremdsprachenunterricht - Basisheft“. Den genannten Buchreihen und Zeitschriften sowie einer Umfrage in G RÜNE - WALD / V ERRIERE (2015) lassen sich die Themenbzw. Forschungsbereiche entnehmen, die vorrangig von Vertreter(inne)n der Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung im Allgemeinen und der Didaktik der romanischen Sprachen im Besonderen bearbeitet werden. Unter Rückgriff auf diese Daten sowie einem (subjektiven) Blick auf diejenigen Studien folgend, die zwar nicht ausschließlich, aber doch fokussiert Spanisch lernende Probanden einbeziehen oder die hispanofone Literaturen und Kulturen thematisieren, konnten - quantitativ absteigend - die folgenden Themenbzw. Forschungsbereiche identifiziert werden: Mehrsprachigkeitsdidaktik, inter- und transkulturelles Lernen, Literaturdidaktik, Mediendidaktik und Aufgabenorientierung. Darüber hinaus finden sich weitere Studien (teilweise im Entstehen), die andere Aspekte des Lehrens und Lernens des Spanischen untersuchen, so 1 Vgl. hierzu die Vielzahl an Arbeiten, die im Titel den Begriff „Fremdsprachenunterricht“ tragen, wenngleich die durchgeführten Studien sich bspw. nur auf den Englisch-, Französisch- oder Spanischunterricht beziehen. 126 Marcus Bär DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 48 (2019) • Heft 1 z.B. zum Globalen Lernen, zum Evaluieren und Testen oder zu einzelnen Teilkompetenzen wie z.B. der Sprachmittlung. Im Folgenden sollen nun die zuvor genannten Forschungsbereiche kurz erläutert und in diesem Zusammenhang auf bereits veröffentlichte Studien verwiesen werden. 2 3.1 Mehrsprachigkeitsdidaktik Die Mehrheit spanischdidaktischer Arbeiten ist im Bereich der Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik angesiedelt. Sie stellt einen ,klassischen‘ Forschungsbereich nachgelernter Fremdsprachen dar und beleuchtet insbesondere die Vernetzungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen fremdsprachlichen Fächern und hierbei insbesondere das Potenzial fremdsprachlicher Vorkenntnisse für das Erlernen einer zweiten, dritten oder vierten Fremdsprache (vor allem aus dem Englischen als erster Fremdsprache und dem Französischen als weiterhin meist gewählter zweiter Fremdsprache für das Spanische, in Teilen auch für das Italienische oder Russische). Die existierenden Studien fokussieren hierbei zum einen die Schülersicht bzw. untersuchen die bei den Lernenden ablaufenden Erschließungs- und Transferprozesse und zum anderen die Lehrersicht bzw. die Einstellungen der Lehrkräfte in Bezug auf Mehrsprachigkeit und den Einsatz mehrsprachiger Elemente und Aufgabenformate. Darüber hinaus stehen auch die Untersuchung sowie die Entwicklung von (mehrsprachigen) Lehrwerken im Fokus einzelner Forscher(innen). Während zunächst vorrangig Projekte durchgeführt wurden, die sich auf die Lernprozesse innerhalb einer Sprachenfamilie (hier der romanischen) bezogen, werden in neuerer Zeit - auch im Lichte europäischer Bestrebungen - verstärkt Parallelen zum Englischen bzw. über Sprachfamiliengrenzen hinweg thematisiert. Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden die ersten Umrisse einer Mehrsprachigkeitsdidaktik (M EIßNER 1995) dargelegt. Zusammen mit dem von K LEIN / S TEGMANN (2000) erarbeiteten linguistischen Transferinventar (EuroCom) bilden sie bis heute die Grundlage für eine Vielzahl von Publikationen mit didaktisch-methodischen Hinweisen sowie empirischen Studien, die in den Folgejahren im Rahmen der sog. Interkomprehensionsforschung durchgeführt wurden. So fokussieren die Studien von B ÄR (2009) und S TRATHMANN (2010) die Perspektive der Lernenden und zeichnen u.a. mithilfe von Videografie, Laut-Denk-Protokollen und Lerntagebüchern die Lernprozesse nach, die Schüler(innen) beim Erschließen von Texten in der ihnen unbekannten Zielsprache Spanisch vollziehen. M ORDELLET -R OGGEN - BRUCK (2011) zeigt in ihrer Studie, wie erwachsene Lernende mit guten Französischkenntnissen authentische Texte im Spanischen interkomprehensiv erschließen. Die von P ROKOPOWICZ (2017) durchgeführte Studie beleuchtet interkomprehensive Interaktionen deutschsprachiger Studierender mit romanofonen L1-Sprecher(inne)n 2 Auf diverse Forschungsarbeiten, die laut Forschungsregister des IFS und/ oder persönlicher Informationen derzeit bearbeitet werden, aber noch nicht abgeschlossen und veröffentlicht sind, kann im weiteren Verlauf aus Platzgründen leider nicht eingegangen werden. Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik 127 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 (u.a. auch Spanisch) im Rahmen eines Forschungsprojektes auf der webbasierten Plattform galanet.eu. Für die Umsetzung eines auf mehrsprachigkeitsdidaktischen Prinzipien beruhenden Fremdsprachenbzw. Spanischunterrichts bedarf es neben Erkenntnissen zu lernerseitigen Erschließungsprozessen auch einer Fokussierung der Lehrenden, die im Rahmen eines institutionalisierten Schulunterrichts die entsprechenden didaktisch-methodischen Konsequenzen in der Praxis verwirklichen müssen. Erkenntnisse zu den Einstellungen der Lehrkräfte liefern u.a. die Fragebogenstudien von N EVELING (2012) sowie die von H EYDER / S CHÄDLICH (2014). Auch die Studie von M ÉRON -M INUTH (2018) führt u.a. aus, welche Kenntnisse, Gefühle und Erfahrungen einzelne (Spanisch-)Lehrkräfte mit mehrsprachigem Unterricht verbinden. Eine von praktizierenden Lehrkräften immer wieder geäußerte Kritik in Bezug auf die Möglichkeiten der Umsetzung mehrsprachigkeitsdidaktischer Erkenntnisse betrifft das Fehlen geeigneter Materialien. Während die führenden Schulbuchverlage hierzulande nur zögerlich entsprechende Aufgabenformate in ihre Lehrwerke einbinden, wird die von R ÜCKL initiierte Lehrwerkreihe „Romanische Sprachen interlingual lernen“ in Österreich bereits genutzt und der Einsatz im Rahmen einzelner Studien evaluiert (vgl. R ÜCKL 2018). Insgesamt kann festgehalten werden, dass die genannten Studien wichtige Erkenntnisse liefern für die Umsetzung des bildungspolitisch formulierten Ziels der Förderung einer individuellen Mehrsprachigkeit, allerdings sind insbesondere Erkenntnisse zum Einbezug sog. Herkunftssprachen bzw. zum Umgang mit lebensweltlicher Mehrsprachigkeit noch sehr rar und bedürfen weiterer Forschungen. Weitergehende Ausführungen zu den Aufgaben, Potenzialen und Herausforderungen mehrsprachigkeitsdidaktischer Forschung finden sich u.a. in dem Überblicksartikel von M ARTINEZ (2015). 3.2 Inter-/ transkulturelles Lernen sowie Literaturdidaktik Durch die Vielfalt an spanischsprachigen Varietäten sowie hispanofonen Kulturen erscheinen Studien zur Förderung interkultureller sowie literar-ästhetischer Kompetenzen als Forschungsobjekte prädestiniert für die Spanischdidaktik. Allerdings stellen Forschungsarbeiten, die explizit spanischsprachige Kulturen und Literaturen berücksichtigen, eher eine Ausnahme dar. Eine besondere Schwierigkeit stellt in diesem Forschungsbereich die Tatsache dar, dass eine abschließende Modellierung entsprechender (Teil-)Kompetenzen im Sinne der seit der Veröffentlichung der Bildungsstandards vorherrschenden Kompetenzorientierung bislang nicht erfolgt ist (siehe u.a. E BERHARDT 2013; R EIMANN 2014) bzw. von diversen Vertreter(inne)n der Fremdsprachendidaktik aufgrund der Unmessbarkeit derselben von Grund auf abgelehnt wird. Im Vorfeld entsprechender empirischer Feldstudien sind somit stärker theoretisch-konzeptuelle Arbeiten vonnöten, wie sie etwa von P LIKAT (2017) vorgelegt worden sind, der dafür plädiert, den Fremdsprachenunterricht auf das neue Zielkonstrukt ‚fremdsprachliche Diskursbewusstheit‘ auszurichten. 128 Marcus Bär DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 48 (2019) • Heft 1 Einen expliziten Bezug zum Spanischen weisen in diesem Zusammenhang die Arbeiten von U SENER (2016), die das Potenzial von Spanischlehrwerken für die Förderung interkultureller Kompetenzen untersucht, sowie von D EL V ALLE L UQUE (2018), die das didaktische Potenzial der poesía visual für den Spanischunterricht auslotet, auf. Hierbei werden die inhaltliche und formale Beschaffenheit ausgewählter poemas visuales zunächst aus einer literaturwissenschaftlichen Sicht analysiert, um sodann Kompetenzen aus fremdsprachendidaktischer Perspektive zu beschreiben, die mithilfe dieser Textsorte im Spanischunterricht ausgebildet bzw. gefördert werden können. Ähnliches leistet die Dissertationsschrift von K OCH (2012), die die Förderung einer sog. Metaphernkompetenz als wesentlichen Bestandteil einer interkulturellen und fremdsprachlichen Kompetenz in den Fokus stellt und in diesem Rahmen das didaktische Potenzial herausarbeitet sowie auf der Grundlage einer Lehrwerksanalyse Materialien für den Englisch-, Französisch- und Spanischunterricht vorstellt. Grundsätzlich erscheinen weitere Erkenntnisse erforderlich, die einerseits auf empirischer Grundlage Aussagen zur Modellierung interkultureller Kompetenzen zulassen und andererseits den Reichtum hispanofoner Kulturen und Literaturen aufgreifen, um das Potenzial der nicht oder schwer messbaren Kompetenzbereiche für die Entwicklung von Spanischlernenden zu beschreiben. 3.3 Mediendidaktik Einen weiteren Schwerpunkt spanischdidaktischer Forschung stellen Arbeiten zum Einsatz neuer Medien und ihres Mehrwerts für das Erlernen des Spanischen dar. Insbesondere im Zuge der neu aufgekommenen Digitalisierungsdebatte sind qualitative Studien von Interesse, die den (gesonderten) Einfluss des Medieneinsatzes auf das Fremdsprachenlernen thematisieren. Neben der bereits 2006 publizierten Studie von G RÜNEWALD , bei der die subjektiven Einschätzungen von Spanischschüler(inne)n der Sekundarstufe II untersucht wurden, um u.a. Lernprozesse sowie individuelle Motivationsverläufe zu rekonstruieren, ist aus spanischdidaktischer Perspektive die Arbeit von B ELLINGRODT (2011) zu nennen, die in erster Linie den Einfluss von Portfolioarbeit auf die Förderung autonomen Lernens analysiert, hierbei aber einen Fokus auf den Mehrwert des von ihr eingesetzten ePortfolios setzt und insbesondere den Einfluss dieses Mediums auf Spanischschüler(innen) der Sekundarstufe I untersucht. Darüber hinaus veröffentlicht S CHÄFER (2017) eine Evaluationsstudie zum Einsatz audiovisueller Medien in Form von Lernvideos, die von ausgewählten Schulbuchverlagen angeboten werden, und diskutiert das Potenzial derselben im Rahmen des Anfangsunterrichts Französisch und Spanisch für die Förderung der Hör-Seh- Verstehenskompetenz. Insgesamt erscheint es vor dem Hintergrund des aktuellen digitalen Wandels erforderlich, dass die Spanischdidaktik Studien begleitet, die Aussagen zum Mehrwert digitaler Medien treffen, die insbesondere das Erlernen einer zweiten oder Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik 129 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 dritten Fremdsprache, für die im schulischen Kontext weniger Zeit zur Verfügung steht, unterstützen können. Auch im Bereich der Filmdidaktik mangelt es an empirischen Studien, die über die Erläuterung des didaktischen Potenzials hinausgehen und bspw. die Entwicklung von Filmkompetenz bzw. film literacy bei Spanischschüler(inne)n nachzeichnen. 3.4 Aufgabenorientierung/ Lernaufgaben Ein weiteres Forschungsfeld der Spanischdidaktik stellt das aufgabenorientierte Lehren und Lernen dar. Während didaktisch-methodische Aussagen für den Spanischunterricht i.d.R. auf die Erkenntnisse aus der Englischdidaktik bzw. der anglofonen Forschung zum task-based language learning and teaching rekurrieren, so lassen sich in der Forschungslandschaft einzelne Studien ausmachen, die einen expliziten Bezug zum Spanischen aufweisen: Zum einen ist das Schulbegleitprojekt von B ECHTEL (2015) zu nennen, der verschiedene Aktionsforschungsprojekte zusammenfasst, bei denen Lehrkräfte komplexe Lernaufgaben für den Französisch- und Spanischunterricht entwickeln, erproben und empirisch analysieren. In diesem Rahmen ist auch die Dissertationsschrift von P ESCE (2010) zu erwähnen, die die Lernprozesse von Spanischstudierenden bei der Lösung von grammatisch-kommunikativen Lernaufgaben untersucht. 3.5 Weitere Forschungsgebiete Abschließend soll noch eine weitere empirische Studie erwähnt werden, die nicht den bisher genannten Forschungsbereichen zuzuordnen ist, die aber aus dem Bereich der Spanischdidaktik hervorgegangen und somit für die Fortentwicklung des schulischen Spanischunterrichts von Bedeutung ist. Im Rahmen der 2011 an der Universität Salzburg eingereichten und 2016 publizierten Habilitationsschrift von H INGER wird die Frage untersucht, ob bzw. inwieweit sich die im schulischen Spanischunterricht an einer österreichischen Sekundarstufe II vermittelten morphosyntaktischen Sprachstrukturen in schriftlichen Überprüfungen wiederfinden und ob diese hiernach auch in mündlichen, spontansprachlichen Äußerungen von den Spanischlernenden verwendet werden. 4. Fazit und Ausblick Aus dem kurzen Überblick zu den Forschungstätigkeiten der Spanischdidaktik innerhalb der letzten zehn Jahre folgt, dass es sich um eine junge Forschungsdisziplin handelt, die im Wesentlichen (noch) auf die Erkenntnisse anderer Fremdsprachendidaktiken sowie der einzelsprachenübergreifenden Sprachlehrforschung rekurriert, um hieraus didaktisch-methodische Implikationen für den Spanischunterricht abzuleiten. Erst durch die Einrichtung und weiter voranschreitende Etablierung ent- 130 Marcus Bär DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 48 (2019) • Heft 1 sprechender Stellen mit spanischdidaktischem Profil bzw. Schwerpunkt können zum einen die Forschungstätigkeiten (z.B. im Rahmen von Verbundprojekten) weiter ausgebaut werden und zum anderen in Zukunft mehrere Einzelforschungen in Rahmen von Qualifikationsarbeiten entstehen, die Aussagen zur Spezifik des Spanischen als Fremdsprache im deutschen Schulkontext zulassen. Es besteht hier in Teilen ein hoher Nachholbedarf, der u.a. das bilinguale Lehren und Lernen, den Lernort Berufliche Schulen, wo sich das Spanische bereits als typische zweite Fremdsprache etabliert hat, und die Besonderheiten eines inklusiven Tertiärsprachenunterrichts betrifft. Literatur B ÄR , Marcus (2009): Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr. B ÄR , Marcus (2012): „Der ‚Virus der Hispanophilie‘ an Schulen in Deutschland: Traum oder Wirklichkeit? “ In: A LTMANN , Werner / P ARDELLAS V ELAY , Rosamna / V ENCES , Ursula (Hrsg.): Historia hispánica. Su presencia y (re)presentación en Alemania. Festschrift für Walther L. Bernecker. Berlin: edition tranvía, 241-252. B ÄR , Marcus (2017): „Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 46.1, 86-99. B ECHTEL , Mark (Hrsg.) (2015): Fördern durch Aufgabenorientierung. Bremer Schulbegleitforschung zu kompetenzorientierten Lernaufgaben im Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I. Frankfurt/ M.: Lang. B ELLINGRODT , Lena Christine (2011): ePortfolios im Fremdsprachenunterricht. Empirische Studien zur Förderung autonomen Lernens. Frankfurt/ M.: Lang. D EL V ALLE L UQUE , Victoria (2018): Poesía Visual im Spanischunterricht. Von der literaturwissenschaftlichen Analyse zur gegenstands- und kompetenzorientierten Didaktik. Tübingen: Narr. D OFF , Sabine (2015): „Qualifikationsschriften in der Fremdsprachenforschung im deutschsprachigen Raum 2007-2013: Titel, Themen, Trends“. In: D OFF / G RÜNEWALD (Hrsg.), 143-152. D OFF , Sabine / G RÜNEWALD , Andreas (Hrsg.) (2015): WECHSEL-Jahre? Wandel und Wirken in der Fremdsprachenforschung. Trier: WVT. E BERHARDT , Jan-Oliver (2013): Interkulturelle Kompetenz im standardorientierten Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Empirische Ausdifferenzierung eines theoretischen Kompetenzmodells. Trier: WVT. E UROPARAT (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt. G RÜNEWALD , Andreas (2006): Multimedia im Fremdsprachenunterricht: Motivationsverlauf und Selbsteinschätzung des Lernfortschritts im computergestützten Spanischunterricht. Frankfurt/ M.: Lang. G RÜNEWALD , Andreas / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.) (2014): Vielfalt gestalten. Differenzierung im Spanischunterricht. Eine Selbststudieneinheit. Seelze: Kallmeyer/ Klett. G RÜNEWALD , Andreas / V ERRIERE , Katharina (2015): „Stellensituation und Ausstattung der Fremdsprachendidaktiken an bundesdeutschen Hochschulen“. In: D OFF / G RÜNEWALD (Hrsg.), 17-32. H EYDER , Karoline / S CHÄDLICH , Birgit (2014): „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität - eine Forschungsentwicklungen im Bereich der Spanischdidaktik 131 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 Umfrage unter Fremdsprachenlehrkräften in Niedersachsen“. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19.1, 183-201. H INGER , Barbara (2016): Sprache lehren - Sprache überprüfen - Sprache erwerben. Empirie- und theoriebasierte Einsichten in den schulischen Spanischunterricht: eine Fallstudie. Trier: WVT. K LEIN , Horst G. / S TEGMANN , Tilbert D. (2000): EuroComRom - Die sieben Siebe: Romanische Sprachen sofort lesen können. 2. Aufl. Aachen: Shaker. KMK (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2003/ 2003_12_04-BS-erste- Fremdsprache.pdf (25.10.2018). KMK (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18- Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (25.10.2018). K OCH , Corinna (2012): Metaphern im Fremdsprachenunterricht: Englisch, Französisch, Spanisch. Frankfurt/ M.: Lang. M ARTINEZ , Hélène (2015): „Mehrsprachigkeitsdidaktik: Aufgaben, Potenziale und Herausforderungen“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 44.2, 7-19. M EIßNER , Franz-Joseph (1995): „Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik“. In: B REDELLA , Lothar (Hrsg.): Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen? Bochum: Brockmeyer, 172-187. M EIßNER , Franz-Joseph / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.) (2011): Spanischunterricht gestalten. Wege zu Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität. Seelze: Kallmeyer/ Klett. M ÉRON -M INUTH , Sylvie (2018): Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Eine qualitativempirische Studie zu Einstellungen von Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern. Tübingen: Narr. M ORDELLET -R OGGENBRUCK , Isabelle (2011): Herausforderung Mehrsprachigkeit. Interkomprehension und Lesekompetenz in den zwei romanischen Sprachen Französisch und Spanisch. Landau: VEP. N EVELING , Christiane (2012): „Sprachenübergreifendes Lernen im Spanischunterricht aus der Perspektive von Lehrerinnen und Lehrern: eine Fragebogen-Studie“. In: L EITZKE -U NGERER , Eva / B LELL , Gabriele / V ENCES , Ursula (Hrsg.): English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem, 219-235. P ESCE , Silvia (2010): Löse- und Lernprozesse bei der Bearbeitung grammatisch-kommunikativer Lernaufgaben. Eine Studie am Beispiel des Spanischen als Fremdsprache. Tübingen: Narr. P LIKAT , Jochen (2017): Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt/ M.: Lang. P ROKOPOWICZ , Tanja (2017): Mehrsprachige kommunikative Kompetenz durch Interkomprehension. Eine explorative Fallstudie zu romanischer Mehrsprachigkeit aus der Sicht deutschsprachiger Studierender. Tübingen: Narr. R EIMANN , Daniel (2014): Transkulturelle kommunikative Kompetenz in den romanischen Sprachen. Theorie und Praxis des neokommunikativen und kulturell bildenden Französisch, Spanisch-, Italienisch- und Portugiesischunterrichts. Stuttgart: ibidem. R ÜCKL , Michaela (2018): „Die Rolle von Lehrwerken für die Umsetzung eines Gesamtsprachencurriculums am Beispiel der Lehrwerkreihe ,Romanische Sprachen interlingual lernen‘“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 29.2, 169-191. S CHÄFER , Elena (2017): Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/ Spanisch). Tübingen: Narr. 132 Marcus Bär DOI 10.2357/ FLuL-2019-0008 48 (2019) • Heft 1 S CHMELTER , Lars (2016): „Entwicklungen der französischdidaktischen Forschung - Ein subjektiver Blick auf die Zeit zwischen 2005 und 2015“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 45.1, 114-129. S EGERMANN , Krista (2017): „50 Jahre erlebte Geschichte der deutschen Fremdsprachendidaktik“. In: B ÜRGEL , Christoph / R EIMANN , Daniel (Hrsg.): Sprachliche Mittel im Unterricht der romanischen Sprachen. Aussprache, Wortschatz und Morphosyntax in Zeiten der Kompetenzorientierung. Tübingen: Narr, 19-60. S TRATHMANN , Jochen (2010): Spanisch durch EuroComprehension: Multimediale Spracherwerbsprozesse im Fremdsprachenunterricht. Aachen: Shaker. T HALER , Engelbert (2017): „Englischdidaktik - State of the Art. Forschungsüberblick 2000-2016“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 46.1, 115-131. U SENER , Jana (2016): Lehrwerke und interkulturelle Kompetenz im Spanischunterricht. Analysen und Perspektiven. https: / / d-nb.info/ 1116950545/ 34 (25.10.2018) 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0009 B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Agustín C ORTI , Johanna W OLF (Hrsg.): Romanistische Fachdidaktik. Grundlagen - Theorien - Methoden. Münster: Waxmann 2017, 232 Seiten [27,90 €] Das vorliegende Werk ist der erste Band der Reihe „Salzburger Beiträge zur Lehrer/ innen/ bildung: Der Dialog der Fachdidaktiken mit Fach- und Bildungswissenschaften“, die „ein Forum für den Diskurs an einer doppelten Schnittstelle: zwischen Wissenschaft und Profession sowie zwischen empirischer Schulpädagogik, Unterrichts- und Lehrerbildungsforschung“ schaffen soll (S. 7). In einem „Geleitwort“ hebt Christiane F ÄCKE als Stärken des Bandes die Fokussierung der gegenseitigen Bereicherung von Fremdsprachendidaktik und Fachwissenschaft sowie seinen Beitrag zur Aufwertung der österreichischen Fachdidaktik hervor (S. 9). In der Tat bemängeln die Herausgeber, Agustín C ORTI und Johanna W OLF , zu Recht die „Kluft zwischen fremdsprachendidaktischer und fachwissenschaftlicher Diskurswelt“ (S. 11) und plädieren für „theoretische Modellierungen und methodische Standards“, um eine systematische Kooperation und „ein gemeinsames wissenschaftliches Profil“ anzubahnen (S. 12 [Hervorh. im Original]). Zu diesem Zweck gliedern sie den Sammelband in drei Teile. Den ersten Teil, „Grundlagen“, beginnt Wolfgang H ALLET , der in seinem Beitrag mit dem Titel „Innovative Konzept- und Theoriebildung: Interdisziplinäre Pfade zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik“ u.a. betont, dass die Fachdidaktik immer weniger als „Abbild- und Transferwissenschaft“ (S. 24) verstanden wird. Er erläutert zudem, warum sich die Literaturwissenschaft(en) für fachdidaktische Erkenntnis- und Theorieleistungen interessieren sollte(n). Unter dem Titel „Universitäre Lehrerbildung zwischen Tradition und Innovation“ zeichnet Roland I ßLER die Geschichte der Romanistik nach, bezeichnet sie nach Fritz Nies als „unmögliches Fach“ aufgrund ihrer „historisch-geographischen Disparatheit“ (S. 41) und diskutiert im Rahmen einer kritischen Reflexion „Missverständnisse“ (S. 43) bezüglich des Selbstverständnisses der Fachdidaktik. Nach einem Definitionsvorschlag beleuchtet er die Einbindung der Fachdidaktik in die Lehrerbildung und deklariert kulturelle Bildung als „Querschnittsaufgabe“ (S. 49). Barbara H INGER liefert einen Beitrag „Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik“, in dem sie aufzeigt, inwiefern die Linguistik zunehmend Anregungen der Fachdidaktik aufgreift und dennoch häufig eine Hierarchie bestehen bleibt. Sie zeichnet ausgehend von Nebrijas Gramática Castellana para Extranjeros „Kristallisationspunkte“ (S. 56) der Kooperation nach und schließt mit einer Fallstudie, die die Diskrepanz zwischen der Grammatikdominanz im Anfangsunterricht und ihrer Verwendung durch die Lernenden verdeutlicht. Die Ergebnisse der Studie diskutiert sie vor dem Hintergrund linguistischer Erkenntnisse zur spanischen Grammatik. Benjamin M EISNITZER und Claudia S CHLAAK widmen sich in ihrem Beitrag „Probleme und Herausforderungen für die Lehrerausbildung der romanischen Sprachen“ der Frage, ob eher von „Linguistischer Fachdidaktik“, „Fachdidaktischer Linguistik“ oder „Fachdidaktik und Linguistik“ die Rede sein sollte. Die Autoren skizzieren Möglichkeiten der Zusammenarbeit bezüglich Inhalten, Verfahren und Methoden, die für Fremdsprachenlehrkräfte von Bedeutung sind und laut den Ergebnissen einer Fragebogenstudie von Studierenden gewünscht werden. Der Grundlagenteil liefert, wie angekündigt, wertvolle und grundlegende theoretische Überlegungen zum Verhältnis der Fachdidaktik zu den Fachwissenschaften und zum Selbstverständnis der Fachdidaktik als Wissenschaft. Im zweiten Teil, „Theorien“, merkt Malin Å GREN in ihrem Beitrag „Second Language 134 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0009 48 (2019) • Heft 1 Teaching from the perspective of Second Language Acquistion Research. Opportunities and challenges for Romance Languages“ an, dass SLT nur wenige Ergebnisse von SLA einbezieht. Die Autorin verweist auf konkrete SLA-Erkenntnisse, die SLT berücksichtigen sollte, damit Lernende tatsächlich das lernen (können), was unterrichtet wird. Carmen K ONZETT - F IRTH präsentiert das Forschungsprojekt „FRAISE“ („FRAnzösich in Interaktion in der SchulE“), das exemplarisch „Gesprächsforschung als Schnittstelle zwischen romanistischer Fachwissenschaft und Fachdidaktik“ ausweist. Es handelt sich um eine linguistisch-fachdidaktische Konversationsanalyse anhand eines Longitudinalkorpus’ von videographiertem Französischunterricht. Sie erläutert theoretische und methodologische Grundlagen sowie bisher erforschte Themen. Regina S CHLEICHER stellt in ihrem Beitrag „Profession in inter- und transkultureller Perspektive“ ein Projekt vor, in dem aus Ergebnissen pädagogisch reflexiver Interviews mit Fremdsprachenlehrkräften ein Fortbildungsprogramm für letztere zur Reflexion des Schlüsselbegriffs „Kultur“ entwickelt werden soll. Den theoretischen Orientierungsrahmen bildet hierbei Claire K RAMSCHS Konzept des Dritten Raums. Den Mehrwert eines literaturgeschichtlichen Hintergrundes für Französischlehrkräfte und -lernende hebt Christoph Oliver M AYER in seinem Beitrag „Literatur im immersiven Französischunterricht“ anhand der Stadt Lyon hervor, die „eine äußerst reiche Bühne für die Präsenz von Literaturgeschichte im Stadtbild“ (S. 133) bietet. Er schlägt reale und virtuelle Exkursionen vor. In den letzten beiden Beiträgen liegen zwar ohne Zweifel kulturbzw. literaturwissenschaftliche Bezugnahmen vor, es bleibt jedoch bei einer einseitigen Beeinflussung in die klassische Richtung, bei der die Fachdidaktik von fachwissenschaftlichen Erkenntnissen profitiert. Daher und aufgrund ihrer Spezifik wird nicht ganz ersichtlich, was vor allem den letzten Beitrag des zweiten Teils von den nachfolgenden unterscheidet. Den dritten Teil, „Methoden“, eröffnet Elke H ÖFLER s Beitrag „Mit YouTube-Stars Fremdsprachen lernen. Eine interdisziplinäre Annäherung“, der YouTube und dessen rezeptiven wie produktiven Unterrichtseinsatz zur Förderung überfachlicher Kompetenzen beleuchtet. Ähnliche Kapitel, „2. YouTube als Teil der jugendlichen Lebenswelt“ (S. 148) und „4. Bezug zur Alltagswelt: das Phänomen YouTube-Stars“ (S. 151), zeigen bereits, dass sich der Beitrag eher dem - ohne Zweifel faszinierenden - Phänomen YouTube als der Interdisziplinarität widmet. Julia M ONTEMAYOR G RACIA und Vera N EUSIUS leiten in ihrem Beitrag „Attitude Awareness: Ein Ansatz zur zielgerichteten Integration sprachlich-kultureller Stereotype im Bereich interkultureller Kompetenzen“ die Notwendigkeit „eines Bewusstseins für das Vorhandensein und den Umgang mit sprachlich-kulturellen Stereotypen und Attitüden“ (S. 167) her und schlagen eine Unterrichtsequenz mit Karikaturen und einem Video zur Sprachsituation in Québec vor. María M ARTÍNEZ C ASAS präsentiert die Ergebnisse einer qualitativ-quantitativen korpuslinguistischen Diskursanalyse von spanischsprachigen Pop-Rock-Songtexten. Merkmale dieser Texte wie Wortwiederholungen sprechen dabei für ihren Einsatz im (Anfänger-)Unterricht, z.B. zur Identifikation von Aktionsmustern. Karoline Henriette H EYDER beleuchtet „Varietale Mehrsprachigkeit in der Suisse romande“ als Fallbeispiel für einen Forschungsgegenstand an der Schnittstelle von Linguistik und Fachdidaktik. Sie arbeitet dabei Potenziale und Herausforderungen für beide Disziplinen heraus, referiert Ergebnisse ihrer Methodenmix-Studie und leitet daraus einen Förderansatz varietaler Mehrsprachigkeit im Französischunterricht der Suisse romande ab. Lukas E IBENSTEINER beschäftigt sich mit der „Didaktisierung der spanischen Vergangenheitstempora“ und bewegt sich damit an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis. Nach einer Einführung in die Bereiche Tempus und Aspekt des Spanischen referiert er relevante Spracherwerbstheorien und vergleicht diese mit Ergebnissen einer Lehrwerkanalyse und Interviews mit Lehrkräften. Er moniert z.B. die „simplifizierten und teilweise unpräzise formulierten Regeln“ (S. 212) einiger Lehrwerke Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 135 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0010 und lobt die Methodenvielfalt der Lehrkräfte. Birgit F ÜREDER dokumentiert die heterogenen Ergebnisse ihrer Untersuchung hinsichtlich des theoretisch-methodischen Zugangs und des Umgangs mit Verbalperiphrasen in didaktischen Grammatiken und legt damit „eine vergleichende Analyse von ausgewählten Grammatiken für Französisch, Italienisch und Spanisch“ vor. Sie gibt zudem Empfehlungen für die unterrichtliche Behandlung. Im dritten Teil finden sich exemplarische Studien an der Schnittstelle von Fachdidaktik und einer fachwissenschaftlichen Disziplin, jedoch weniger zur Schnittstelle, als im Vorwort angekündigt (S. 14). Das bedeutet, dass sich mit wenigen Ausnahmen, z.B. H EYDER , eher fachdidaktische Herangehensweisen finden, die aufgrund thematischer Ähnlichkeit auf fachwissenschaftliche Erkenntnisse rekurrieren. Dies soll nicht kritisiert werden, spiegelt jedoch die klassische einseitige Beziehung zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaften wider und setzt nur bedingt „den in Teil I und II postulierten Dialog in die Forschungsrealität“ (S. 16) um. Teilweise irritiert zudem das abweichende Layout bezüglich Absätzen und Abständen (z.B. S. 224). Systematische Kooperationen zwischen Fachdidaktik und Fachwissenschaft sind zweifelsohne sinnvoll und wünschenswert, auch „im Hinblick auf eine Verbesserung der Lehrer/ innenbildung“ (Klappentext). Die ersten Beiträge des Bandes und einzelne im weiteren Verlauf tragen auch dazu bei, die geforderte „Grundsatzdebatte“ (S. 12) zu führen, um einen echten Dialog herbeizuführen. In einigen Beiträgen tritt jedoch die im Vorwort monierte „pragmatische Form der Zusammenarbeit wegen der Ähnlichkeit der Inhalte“ (ebd.) zu Tage und es werden eben doch „exemplarisch einzelne Felder“ (ebd.) benannt. Der Qualität der Einzelbeiträge tut dies keinen Abbruch, wenn sie nicht mit dem Anspruch eines solchen tatsächlichen Dialoges zwischen den Disziplinen gelesen werden. Somit sei der ganze Band hier zur Lektüre empfohlen. Es bleibt jedoch das Desiderat bestehen, eine systematische, beidseitig ausgerichtete Zusammenarbeit weiterhin anzustoßen. Paderborn C ORINNA K OCH Götz S CHWAB , Sabine H OFFMAN , Almut S CHÖN (Hrsg.): Interaktion im Fremdsprachenunterricht. Beiträge aus der empirischen Forschung. Münster: LIT 2017, 196 Seiten [29,90 €] Ausgehend von der Grundannahme, dass jeder Unterricht, besonders aber der Fremdsprachenunterricht, durch und in der Interaktion hervorgebracht wird und daher die Erkenntnisse der Unterrichtsinteraktionsforschung zentral für das Verständnis der dort stattfindenden Lehr- Lernprozesse sind, widmet sich der vorliegende Sammelband dem Gegenstand des classroom discourse aus einer interaktionalen Perspektive. In ihrer Einleitung umreißen die Herausgeber die Ansätze zur Erforschung des Unterrichtsdiskurses mit einem besonderen Augenmerk auf die (multimodale) Konversationsanalyse. Der Überblick dient als Einführung in die theoretischen und methodologischen Hintergründe der neun Beiträge, die folglich kurz kommentiert werden sollen. Der Aufsatz von Betül Ç IMENLI und Olcay S ERT beschäftigt sich mit dem Unterricht von Türkisch als Fremdsprache in einer universitären Einrichtung der Türkei. Mit konversationsanalytischen Werkzeugen und vor dem konzeptuellen Hintergrund des Unterschieds zwischen sog. formfokussierten und bedeutungsfokussierten „Unterrichtskontexten“ (vgl. S EEDHOUSE 2004) 1 wird eine zur Förderung freien Sprechens konzipierte Sequenz analysiert, in der mini- 1 Paul S EEDHOUSE : The interactional architecture of the language classroom. A conversation analysis perspective. Malden, Mass.: Blackwell 2004. 136 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0010 48 (2019) • Heft 1 male, aber häufige Wechsel des Unterrichtsfokus stattfinden. In diesen Momenten ist die Aufmerksamkeit der Lehrkraft kurz auf die sprachliche Korrektheit gerichtet, ohne den größeren, kommunikationsorientierten Rahmen zu verlassen. Wenn die Lernenden ebenfalls auf diesen „mode-switching“ (S. 17) reagieren (z.B. durch die Übernahme der Korrekturen der Lehrkraft), werden, so argumentieren die Autoren, besondere Lerngelegenheiten („space for language learning“, S. 30) geschaffen. Der Beitrag von Diana F EICK widmet sich den wenig beforschten Gruppenarbeits- und Aushandlungsprozessen. Aus der Interaktions- und Partizipationsanalyse eines umfangreichen Datenkorpus videografierter DaF-Gruppendiskussionen kann die Autorin vier Interaktionsstile (dominante und passive Kollaboration sowie dominante und passive Nicht-Kollaboration) ermitteln, die die diskursive Umsetzung der vier Partizipationstypen (kooperative, nichtkooperative sowie selektive Partizipation und kooperative Nicht-Partizipation) darstellen. Dabei wird das innovative Konzept der Gruppenautonomie als Erweiterung des traditionell eher individualistischen Verständnisses von Lernendenautonomie beleuchtet: Gruppenautonomie entfaltet sich, wenn kooperative Partizipation durch kollaborative Interaktion umgesetzt wird (S. 43). Gegenstand des Beitrags von Sabine H OFFMANN und Götz S CHWAB ist die multimodale Dimension des fremdsprachlichen Unterrichtsgesprächs in zwei unterschiedlichen Settings (eine DaF-Gymnasialklasse in Italien und eine Englischklasse einer deutschen Realschule). Die Ergebnisse der Analyse von vier Unterrichtssequenzen (je zwei aus jedem Kontext) zeigen eine „kulturübergreifende“ Führung eines „klar strukturierten Unterrichtsdiskurs[es]“ (S. 73) mit deutlicher Verteilung und Akzeptanz der Rederechte sowie die Etablierung einer Solidarität zwischen den Lernenden durch Lächeln und Blickkontakte. Als signifikanter und womöglich kulturspezifisch bedingter Unterschied zwischen beiden Kontexten findet sich dagegen der Rückgriff auf fast ausschließlich verbale Ressourcen seitens der Lehrerin in Italien gegenüber dem Zusammenspiel diverser Modalitäten in der Lehrer-Lerner-Interaktion in Deutschland, was in diesem Fall dazu führt, dass die Distanz zwischen dem Lehrenden und den Lernenden weniger ausgeprägt zu sein scheint. Einen anderen Blick auf die Kooperationsprozesse in der Gruppeninteraktion werfen Makiko H OSHII und Nicole S CHUMACHER in ihrem Beitrag, in dem sie aus einer soziokulturellen Perspektive die zwischen japanischen DaF-Lernenden in Tokio und angehenden DaF- Lehrenden in Berlin per Videokonferenz stattfindende Interaktion untersuchen. Der Fokus der Analyse ist auf Sequenzen der Bedeutungsaushandlung sowie der Wortsuche gerichtet. Den Autorinnen gelingt es offenzulegen, wie die Teilnehmenden äußerst kooperativ miteinander umgehen und durch gemeinsame Lösungen für Verständnisprobleme sowie ko-konstruierte Äußerungen eine lernförderliche Umgebung schaffen. Anhand dieser Ergebnisse entfaltet sich die Videokonferenz als Ort sowohl der authentischen Kommunikation (für die Sprachlernenden) als auch der „Sensibilisierung für die spracherwerbsförderliche Unterstützung“ (S. 89) für die angehenden Sprachlehrkräfte. Ebenfalls mit dem Ziel der Sensibilisierung der Lehrkräfte für fachdidaktische Fragestellungen beschäftigt sich Holger L IMBERG mit komplexen Arbeitsaufträgen (S. 94) im Englischunterricht der Grundschule. Anhand eines dem Primary English Classroom Corpus (L IMBERG 2016) 2 entnommenen Beispiels werden die typischen Handlungsformen beim Ertei- 2 Holger L IMBERG (2016): „Das Primary English Classroom Corpus (PECC): Englischunterricht in der Grundschule dokumentieren, analysieren und verstehen lernen“. In: Holger L IMBERG , Olaf J ÄKEL (Hrsg.): Unterrichtsforschung im Fach Englisch. Empirische Erkenntnisse und praxisorientierte Anwendung. Frankfurt/ M.: Lang, 63-96. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 137 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0010 len von Arbeitsaufträgen abgeleitet (S. 108f.): Positionierung der Lehrkraft im vorderen Bereich der Klasse, diskursive Abgrenzung zur vorherigen Phase, Ankündigung der Aufgabe, Handlungsaufforderung, Modellieren einiger Äußerungen, Verweis auf konkrete Unterrichtsmaterialien sowie der gezielte Einsatz der deutschen Sprache. Übersetzungen ins Deutsche werden häufig durch die Mitwirkung eines Schülers ausgeführt. Die Zielführung dieser letzten Punkte wird vom Autor infrage gestellt, da die Schüler in der Regel bei dem Versuch überfordert sind, „etwas kompakt und verständlich zu paraphrasieren“ (S. 107). Kristian M ORTENSEN und Spencer H AZEL untersuchen in ihrem Beitrag besondere Momente der Unterrichtspartizipation, nämlich solche, in denen eine sog. transgression of the moral order, ein Bruch der in einem bestimmten Klassenraum gültigen, normativen Erwartungen stattfindet. Die Autoren konzentrieren sich im Kontext des Dänischen als Fremdsprache zum einen auf Beispiele, in denen die Zuweisung der Redebeiträge nicht respektiert wird, und zum anderen auf Sequenzen, in denen der Rückgriff auf die L1 eines Lernenden durch die Lehrkraft als (im konversationsanalytischen Sinne) reparaturbedürftig behandelt wird. In beiden Fällen werden die Sanktionierungen seitens der Lehrkraft mit Humor abgetönt und seitens der Lernenden mit Lachen angenommen. Die detaillierte Analyse gibt insofern Aufschluss darüber, welche „intricacies of conduct“ im Fremdsprachenunterricht als „socially appropriate or inappropriate“ markiert werden (S. 128). Das kollaborative Schreiben im Tandem ist der Gegenstand des Beitrags von Linda P ELCHAT . In der Einzelfallstudie, die im Rahmen des Französischunterrichts der gymnasialen Oberstufe in Deutschland verortet ist, untersucht sie die Durchführung einer Schreibaufgabe bei zwei 17-jährigen Schülern des 5. Lehrjahrs Französisch und geht auf Fragen bzgl. des Inhalts (Was thematisieren die Schüler? ), der Zusammenarbeit (Wie interagieren sie? ) sowie der Vorgehensweise (Wie bearbeiten die Schüler die Aufgabe? ) ein. Die hohe Anzahl an language related episodes, die darüber hinaus von den Schülern meistens erfolgreich gelöst werden, deutet auf eine „intensive und reflektierte Auseinandersetzung mit Sprache und Textproduktion“ (S. 147) hin. Das kollaborative Schreibsetting lässt sich somit als „potentiell lernförderlich“ (S. 146) kennzeichnen, wenngleich in diesem besonderen Fall die Rolle der symmetrischen Partnerkonstellation nicht zu unterschätzen ist. Reinhold S CHMITT und Eva-Maria P UTZIER beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit „Unterricht als gemeinsame[r] Herstellung der Beteiligten“, wobei Unterricht als „raumbasiertes Unternehmen“ (S. 151) konzeptualisiert wird. Die Analyse wird unter dem von den Autoren entwickelten theoretischen Rahmen der De-facto-Didaktik durchgeführt, einem Ansatz, der das faktische Handeln der Lehrpersonen ohne evaluative Rückschlüsse rekonstruiert. Im ausgewählten Beispiel werden die Unterstützungsaktivitäten des Lehrers einer 11. Englischklasse in einer berufsbildenden Schule Schritt für Schritt dokumentiert. In der Analyse kommt die gelungene Nutzung des Raumes durch den Lehrer besonders zur Geltung, z.B. indem er die Frontposition an der Tafel verlässt, sich dem hilfebedürftigen Schüler nähert und mit unterstützender Mimik und Gestik die "körperlich-räumliche Orientierung" (S. 161) auf den Schüler unterstreicht. Diese Ergebnisse bewegen die Autoren dazu, eine Thematisierung der Positionierung im Klassenraum in der Lehrerausbildung zu fordern. Almut S CHÖN widmet sich dem DaF-Spracherwerb an einer deutschen Hochschule und untersucht diesen aus der Perspektive des situierten Lernens. Durch die Analyse einer Sequenz zur Einführung von geschichtsgeprägten Wörtern (z.B. Trümmerfrauen) wird zum einen paradigmatisch gezeigt, wie die Wortschatzerklärungen in der Interaktion ko-konstruiert werden. Zum anderen wird auf die Künstlichkeit der Trennung zwischen Sprache als Lerngegenstand und Sprache als „Vehikel“, zwischen formfokussierten und bedeutungsfokussierten Unterrichtssequenzen hingewiesen, denn „[g]erade der Erwerb von Wortschatz […] ver- 138 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0011 48 (2019) • Heft 1 weist auf grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Form und Bedeutung, Interaktion und Kognition“ (S. 184). In diesem Sammelband wird aus einer beeindruckenden Vielfalt von Perspektiven und Kontexten, von der Grundschule bis zur Universität, von Dänisch bis Türkisch, vom „klassischen“ Unterrichtsgespräch bis zur Videokonferenz die Einzigartigkeit des Fremdsprachenunterrichts als institutionelle Interaktion (vgl. S EEDHOUSE 2004: 187) beleuchtet. Bei allen Differenzen hinsichtlich des Fokus und der Methodologie gelingt es den Autoren und Herausgebern, ein gemeinsames Bild über das komplexe Zusammenspiel von sprachlichen und multimodalen Ressourcen im fremdsprachlichen Klassenzimmer mit mikroskopischen Detail zu vermitteln und fremdsprachenunterrichtliches Handeln (d.h. „doing“ lehren und lernen) als ein ko-konstruiertes Unterfangen darzustellen. Jedoch ist anzumerken, dass, obwohl viele Beiträge sich auf die Relevanz der gewonnenen Ergebnisse für die Lehrerbildung beziehen, dieser Aspekt nur in Form allgemeiner Empfehlungen ausgeführt wird. So bleibt die Anwendung der Unterrichtsinteraktionsforschung im Rahmen von fachdidaktischen Seminaren weiterhin ein Desiderat. Göttingen M ARTA G ARCÍA G ARCÍA Dominik R UMLICH : Evaluating Bilingual Education in Germany. CLIL Students’ General English Proficiency, EFL Self-Concept and Interest. Frankfurt/ M.: Lang 2016. 582 Seiten [73,80 €]. In seiner Dissertation Evaluating Bilingual Education in Germany untersucht Dominik R UMLICH , ob und wenn ja, inwiefern sich Schülerinnen und Schüler aus CLIL-Klassen nordrhein-westfälischer Gymnasien von Lernenden ohne CLIL im Hinblick auf Fremdsprachenkompetenz und ausgewählte individuelle Variablen unterscheiden. Das immerhin 411 Textseiten umfassende Werk richtet sich an die internationale ‚CLIL-Community‘ und ist daher auf Englisch verfasst. Nach einem Inhalts-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis folgt ein umfangreiches und informatives Glossar mit Erläuterungen zentraler statistischer und fachdidaktischer Begriffe und Konzepte. In seiner Einleitung (Kapitel 1) liefert R UMLICH eine gelungene Skizze der Bedeutung und Geschichte von CLIL vor dem Hintergrund der bildungspolitischen Entwicklung in Europa sowie eine knappe Bestandsaufnahme der CLIL-Forschung in Deutschland. Dem konstatierten Mangel an Langzeitstudien in CLIL-Programmen der Sekundarstufe möchte er mit seiner im Rahmen des Forschungsprojekts DENOCS („Development of North-Rhine Westphalian CLIL Students“) angesiedelten Untersuchung begegnen. In seiner quasi-experimentellen zweijährigen Langzeitstudie vergleicht R UMLICH Gymnasien in Nordrhein-Westfalen mit CLIL-Zweig und Nicht-CLIL-Zweig sowie mit Klassen von Gymnasien ohne CLIL am Ende der Klassenstufen 6 und 8 bzgl. der allgemeinen Sprachkompetenz in der Fremdsprache Englisch, den affektiv-motivationalen Dispositionen ‚Selbstkonzept‘ und ‚Interesse‘ in Bezug auf das Englischlernen sowie weiteren individuellen Einflussfaktoren. In Kapitel 2 skizziert R UMLICH die Genese von CLIL-Unterrichtsverfahren in Deutschland und liefert eine differenzierte Definition von CLIL unter Einbezug europäischer und nordamerikanischer Ansätze. Im Zentrum des Kapitels steht eine Beschreibung des konzeptionellen, institutionellen und curricularen Rahmens von CLIL-Verfahren in Deutschland mit einem sehr detaillierten Fokus auf CLIL-Zweige in der Sekundarstufe in Nordrhein-Westfalen. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 139 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0011 Kapitel 3 widmet der Autor den lerntheoretischen und fachdidaktischen Grundlagen von CLIL und beschreibt detailliert die Bedeutung von affektiv-motivationalen Dispositionen und deren Einfluss auf das (Sprachen-)Lernen (in CLIL). Darüber hinaus geht R UMLICH auf weitere individuelle Faktoren wie Muttersprache(n), Geschlecht, kognitive Fähigkeiten, Vorwissen und Kontakt mit der Fremdsprache Englisch im außerschulischen Kontext ein. In Kapitel 4 liefert R UMLICH eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung zu CLIL an Gymnasien in Deutschland, die vielfach positive Ergebnisse besonders im Hinblick auf die Sprachkompetenz gezeigt hat. Der Autor identifiziert theoretische und/ oder empirische ‚Unzulänglichkeiten‘ („theoretical pitfalls and empirical fallacies“; S.193), die es seiner Meinung nach nicht erlauben, wissenschaftlich begründete Aussagen zur Wirksamkeit von CLIL im deutschen Kontext zu treffen. Insbesondere der Effekt von Variablen wie positive Vorabselektion von Schülerinnen und Schülern, Klassenzusammensetzung, Art und Umfang von Vorbereitungsstunden oder individuellen Faktoren auf die Sprachentwicklung in CLIL sei bisher nicht ausreichend und/ oder nicht systematisch untersucht worden. Dies treffe auch auf die bisherige Forschung zu den in seiner Studie fokussierten affektiv-motivationalen Faktoren zu. Mit Kapitel 5 beginnt der empirische Teil der Publikation. Zunächst erläutert R UMLICH die drei seiner Studie zugrundeliegenden Forschungsfragen. Die erste zielt auf mögliche Unterschiede zwischen CLIL- und Nicht-CLIL-Lernenden am Ende der 6. Klasse, d.h. vor Beginn des englischsprachigen Sachfachunterrichts. Die zweite Forschungsfrage zielt auf den Effekt von CLIL auf die allgemeine Sprachkompetenz im Englischen nach der 8. Klasse unter Berücksichtigung der A-priori-Unterschiede zwischen CLIL- und Nicht-CLIL- Schülerinnen und Schülern. Die dritte Forschungsfrage untersucht die Effektstärke der affektiv-motivationalen Variablen und individuellen Einflussfaktoren in CLIL und in Nicht-CLIL Lerngruppen am Ende der 8. Klasse, wiederum unter Berücksichtigung von A-priori-Unterschieden. Es folgt eine detaillierte Beschreibung des Forschungsprojekts DENOCS, in dessen Rahmen R UMLICH s Studie durchgeführt wurde, sowie des Forschungsdesigns und der Datenerhebung. Am Ende der 6. und 8. Klassenstufe wurden neben C-Tests zur Feststellung der allgemeinen Sprachkompetenz in Englisch die Items zu den Faktoren ‚Selbstkonzept‘, ‚Interesse‘, und ‚außerschulischer Englischkontakt‘ aus den in DENOCS eingesetzten Fragebögen einbezogen. Darüber hinaus wurden kognitive Fähigkeiten mit einem Standardverfahren getestet. Die Stichprobe umfasst knapp 950 Schülerinnen und Schüler aus 38 Klassen an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen mit CLIL-Zweigen (16) und Nicht-CLIL-Parallelklassen (15) sowie Kontrollklassen (7) von Gymnasien ohne CLIL. In Kapitel 6 analysiert Dominik R UMLICH , auf der Basis eines integrierten Strukturangleichungsmodells die angenommenen Beziehungen zwischen den untersuchten Variablen in der ersten Forschungsfrage. Die umfangreichen Analysen haben signifikante Unterschiede bzgl. der allgemeinen Sprachkompetenz in Englisch nach der 6. Klassenstufe ergeben. CLIL- Schülerinnen und Schüler sind denen aus Gymnasien ohne CLIL etwa ein Schuljahr voraus, und der Unterschied zwischen CLIL und Nicht-CLIL beträgt sogar bis zu zwei Schuljahre. Die Leistungsdifferenz zwischen Nicht-CLIL-Lernenden aus den Gymnasien mit CLIL- Zweigen, an denen eine Vorabselektion angenommen werden kann, beträgt etwa ein dreiviertel Schuljahr. Auch die Analysen der kognitiven und affektiv-motivationalen Variablen und der Variablen ‚außerschulischer Kontakt zum Englischen‘ haben signifikante Unterschiede ‚zugunsten‘ der 6. ‚zukünftigen‘ CLIL-Klassen ergeben. Die Ergebnisse der komplexen Effektstärkenanalysen (z.B. Einfluss von CLIL-Gruppenzugehörigkeit auf Selbstkonzept, Interesse etc.), die R UMLICH sehr detailliert und anschaulich erläutert, können aus Platzgründen hier nicht zusammengefasst werden. 140 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0012 48 (2019) • Heft 1 Kapitel 7 liefert die Ergebnisse für das Ende der 8. Klassenstufe. Auch hier zeigen sich substantielle Unterschiede zwischen der allgemeinen Englischkompetenz von Schüler(inne)n aus CLIL- und Nicht-CLIL-Klassen und Klassen von Gymnasien ohne CLIL-Zweige. Interessant ist jedoch, dass in allen drei Gruppen ein großer Leistungszuwachs gemessen wurde, woraus R UMLICH ableitet, dass der Einfluss von CLIL auf die allgemeine Sprachkompetenz nicht bedeutsam ist. Auch bzgl. der Entwicklung von ‚Selbstkonzept‘, ‚Interesse‘ und ‚außerschulischer Kontakt zum Englischen‘ hat CLIL nur wenig bis keinen Einfluss. In Kapitel 8 werden die Ergebnisse zusammenfassend interpretiert und konzeptionelle und methodische Aspekte der Studie kritisch reflektiert. Insgesamt ist R UMLICH s Buch sehr lesenswert und sollte zum Kanon der CLIL-Werke an Hochschulen und in der Aus- und -fortbildung für CLIL-Lehrkräfte gehören. Es liefert einen systematischen und kritischen Überblick über die bisherige CLIL-Forschung an Gymnasien in Deutschland und zeigt anschaulich, welche Effekte individuelle Faktoren auf das sprachliche Lernen in (nordrhein-westfälischen) CLIL-Zweigen haben. Diejenigen, die vom Umfang des Buches oder den komplexen statistischen Analysen abgeschreckt werden, sollten auf jeden Fall die sehr gelungenen Zusammenfassungen der Kapitel zur Kenntnis nehmen. Weingarten P ETRA B URMEISTER Carsten R ÖVER , Aek P HAKITI : Quantitative Methods for Second Language Research. A Problem-Solving Approach. New York/ London: Routledge 2017, 268 Seiten [39,82 €] Zunehmend präzisere Vorgaben bezüglich des empirischen - und insbesondere des quantitativen - Arbeitens in der Sprachlehr- und -lernforschung (SLF) der letzten Jahre haben dazu geführt, dass empirische Standards v.a. der Psychologie und der Sozialwissenschaften nach und nach für die SLF aufgearbeitet werden. Dadurch sind in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum mehrere Handbücher, Einzelaufsätze und programmatische Beiträge entstanden, die (1) unterschiedliche Ansätze, Methoden, Instrumente und/ oder Analyseverfahren für i.d.R. Nachwuchswissenschaftler (Masterstudierende, Doktoranden) in unterschiedlicher Breite einführen, (2) besondere Entwicklungen thematisieren und für ein Fachpublikum einführen oder (3) das Problem (meist als „schwach“ bemängelter) empirischer Forschungsstudien im Fach diskutieren. Das vorliegende Buch verortet sich eindeutig in der ersten Kategorie. Es verzichtet dabei auf eine grobe Unterteilung und gliedert sich in insgesamt 15 Einzelkapitel. Es bietet dabei „a practical academic resource and a starting point for new researchers in their quest to learn about data analysis“ (xviii). Die Arbeit mit dem Buch „assumes no prior experience in quantitative research and is written for students and researchers new to quantitative methods“ (ibid.). Gerade darin liegt aber eine der größten Herausforderungen für das Werk und einer der Gründe, warum die Darstellung nicht immer gelingt. Denn die explizite Fokussierung auf Datenanalyse setzt eine intensive - und vorhergehende - Auseinandersetzung mit möglichen Forschungsdesigns, Datenerhebungsmethoden und schließlich der Datenaufbereitung voraus. Wer also dieses Buch liest, profitiert am ehesten davon, wenn er oder sie bereits einigermaßen gesicherte Kenntnisse der o.g. Aspekte besitzt; und wer diese Kenntnisse bereits aufweist, benötigt i.d.R. ein solches Einführungswerk nicht mehr. Dennoch bietet das Handbuch in vielerlei Hinsicht interessante Einblicke und v.a. praktische Tipps, auf die bei der Besprechung der einzelnen Kapitel eingegangen wird. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 141 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0012 Die Kapitel sind zwar unterschiedlich aufgebaut, haben aber bestimmte Elemente gemeinsam. So werden sog. „Sample Studies“, also beispielhafte Untersuchungen in der SLF, einbezogen und zur Verdeutlichung der relevanten Aspekte des Kapitels aufbereitet. Zudem sind auf der gut ausgebauten Webseite nicht nur Wiederholungsfragen (und Beispiellösungen) zu finden, sondern auch PowerPoints und entsprechende SPSS-Übungen für jedes Kapitel vorhanden. In der Druckversion sind ferner für alle Kapitel, die auf Analysen in SPSS eingehen, viele hilfreiche Screenshots aufgeführt, mit denen der Leser seine eigenen Eingaben und Berechnungen vergleichen kann; des Weiteren sind einzelne Instruktionen für die Dateneingabe bzw. Erstellung von Grafiken oder Durchführung von Berechnungen grafisch hervorgehoben und (meist) kleinschrittig erklärt. Das erste Kapitel führt die „Quantifizierung“ als Prinzip der empirischen Fremdsprachenforschung und auf 13 Seiten Begriffe und Konzepte wie Variablen, Operationalisierung und Skalenniveaus ein. Das zweite führt ebenfalls auf 13 Seiten „SPSS“ als Datenanalysewerkzeug für die Auswertung bereits aufbereiteter Daten ein. Dieses für die Weiterarbeit sehr zentrale Kapitel ist in vielerlei Hinsicht hilfreich, birgt aber einige Tücken. So ist der Fokus auf „String“-Kodierungen eher unüblich, v.a. bei größeren Datensätzen stark fehleranfällig und z.T. verwirrend bei der Datenanalyse, wofür eine Dummykodierung eigentlich vorzuziehen ist; auch einige Beispielkodierungen sind sehr ungewöhnlich, wie die Entscheidung, likertskalierte Daten als Prozentwerte anzugeben (Figure 2.18). Generell bleibt der Eindruck, dass die bessere Einführung für SPSS in der Tat das SPSS-Handbuch - kostenlos erhältlich beim Kauf des Programms - bietet. Kapitel 3 nimmt deskriptive Statistiken, deren Einsatz bei unterschiedlichen Skalenniveaus und deren visuelle Repräsentationsmöglichkeiten in den Blick und führt diese in Kapitel 4, das auf Berechnungen in SPSS eingeht, weiter aus. In Kapitel 5 wird die inferentielle Statistik mit der Korrelationsanalyse aufgegriffen, obwohl erst Kapitel 6 als „Basics of Inferential Statistics“ betitelt ist. Hier werden nun Pearsons Product Moment Correlation und Spearmans Rho (übrigens eine Assoziation, keine Korrelation) eingeführt. Kapitel 6 bietet dann wichtige Informationen an, die m.E. schon zu Beginn des Handbuchs relevant gewesen wären, insbesondere Informationen zur Datenerhebung (Kap. 2-5 behandelten bereits die Datenauswertung), u.a. Sampling und Störfaktoren, aber auch wichtige Themen wie statistische Signifikanz, Effektgröße und Error. Die Kapitel 7 bis 12 behandeln Themen, die den Vergleich zweier (T-Tests, Mann-Whitney U-Tests, Wilcoxon Signed-Rank-Tests) oder dreier oder mehr (Varianzanalysen) Datenreihen ermöglichen. Dabei werden für ein Einführungswerk wichtige Voraussetzungen wie Varianzgleichheit sowie entsprechende Berechnungen der Effektgrößen behandelt. Hilfreich wäre direkt zu Beginn eine Erklärung der Einsatzgebiete (Unterschied zwischen parametrischen und nichtparametrischen Tests), v.a. um den Unterschied zwischen den Ausführungen in Kapitel 7 und 8 zu verstehen. Anders als viele Einführungswerke scheut das Buch nicht davor zurück, die Arbeit mit drei oder mehr Datenreihen zu thematisieren. In Kapitel 9 greift es einfache Varianzanalysen und deren nichtparametrische Alternative, den Kruskal-Wallis-Test, auf. Besonders hervorzuheben ist in diesem Kapitel, dass sehr deutlich erklärt wird, warum die - häufig genutzte und immer falsche - Entscheidung, mehrfache T-Tests anstatt einer Varianzanalyse durchzuführen, ein Fehlschluss ist (S. 121). Etwas weniger sinnvoll ist dagegen die Empfehlung im darauf folgenden Kapitel 10, mit gain scores bei Prä-/ Posttestdesigns zu arbeiten, v.a. deswegen, weil eine geschicktere Lösung (Kovarianzanalysen) dann noch ausführlich dargestellt wird. Kapitel 11 (Varianzanalysen mit Messwiederholung) und 12 (zweifache Varianzanalysen) erläutern weitere Varianten. 142 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0012 48 (2019) • Heft 1 Kapitel 13 führt den Chi-Quadrat-Test zur Analyse von Frequenzdaten ein. Der Test wird - für die Sprachwissenschaft besonders wichtig - oft für Korpusanalysen eingesetzt, wofür Daten nicht unbedingt durch die Forschenden selber erhoben werden müssen (und eignet sich somit besonders für Studienarbeiten). Die multiple Regression (Kapitel 14; die einfache Regression wird zu Beginn des Kapitels eingeführt) findet erst nach diesen Ausführungen Beachtung; dies ist etwas verwunderlich, handelt es sich doch um ein Verfahren, auf dem ein sehr bedeutender Anteil sozialwissenschaftlicher Forschung basiert. Das Werk schließt mit einem Kapitel zu Reliabilitätsanalysen ab, das - wenngleich es wichtige Informationen enthält - thematisch etwas aus der Reihe fällt und vermutlich einen Großteil der „new researchers“ inhaltlich überfordern dürfte. Insgesamt betrachtet bietet das Werk eine Reihe von wichtigen Informationen, die auch meist didaktisch gut aufbereitet sind. Neben den bereits aufgeführten Punkten sind die gelegentlichen Diskussionen zu unterschiedlichen, oft umstrittenen Auswertungsentscheidungen hilfreich (ein gutes Beispiel ist hier auf S. 39 zum Thema Berechnung von Durchschnittswerten bei ordinalskalierten Daten zu finden), auch wenn sie sicherlich bei Personen ohne jegliche Kenntnisse quantitativer Methoden eher Unsicherheit auslösen werden. Als hervorragend zu bewerten ist die Entscheidung, besprochene Analysen anhand echter Forschungssituationen (und z.T. echter Forschungsdaten) einzuführen. Dies macht die Datenanalyse im Bereich SLF interessanter - und nebenbei werden Fachinformationen besprochen. Auch wenn die Forschungsdesigns mancher Studien als wenig exemplarisch zu sehen sind (vgl. die Entscheidung, eine Studie mit nur Post-Test-Erhebungen in Kapitel 9 aufzuführen, oder in Kap. 11 die Verwendung einer Varianzanalyse mit Messwiederholung bei einem Design mit zwei unterschiedlichen abhängigen Variablen, was eine Multiple Varianzanalyse erforderlich macht), ist diese Entscheidung sehr gelungen. Dennoch fallen mehrere Unstimmigkeiten auf, die die Arbeit mit dem Buch erschweren, hier jedoch im Einzelnen nicht aufgelistet werden können. U.a. werden potenziell verwirrende Analyseergebnisse im SPSS, die im Buch angegeben werden, nicht immer erklärt (vgl. schon Tabelle 4.2/ 4.3 bei den deskriptiven Statistiken). Ebenfalls fehlen oft Hintergrundinformationen, die für das Treffen notwendiger Entscheidungen wichtig sind; so bleibt bei der Diskussion der „skewedness statistic“ im Kapitel 3 unklar, welcher statistische Kennwert hierfür berechnet wird, worauf das Konstrukt basiert oder wie man selbst einen solchen Wert berechnen kann. Und schließlich - keinesfalls Schuld der Autoren, dennoch für die hiesige Situation äußerst relevant - nützt das Buch nur solchen Personen, die SPSS in der englischsprachigen Version verwenden. Die statistischen Begriffe sind nicht immer leicht zu übersetzen, und wer SPSS auf Deutsch nutzt, sollte auf jeden Fall zu einem deutschsprachigen Handbuch greifen. Das Werk bietet somit viele Potenziale, doch auch viele Hürden für die Leser. Insgesamt betrachtet ist es eher als Zusatzressource für Dozenten in Seminaren zu empirischen Methoden geeignet, die nach neuen Beispielen für den eigenen Unterricht suchen oder ihr eigenes Wissen über Datenanalyseverfahren (Achtung: nicht, wie im Titel angegeben, Methoden), v.a. didaktisch erweitern wollen. Wer eine erste Einführung in die Datenanalyse sucht, ist wohl mit anderen Ressourcen besser bedient. Bremen N ICOLE M ARX Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 143 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0013 Hermann F UNK , Manja G ERLACH , Dorothea S PANIEL -W EISE (Hrsg.): Handbook for Foreign Language Learning in Online Tandems and Educational Settings. Frankfurt/ M: Lang 2017 (Foreign Language Teaching in Europe), 324 Seiten [68,95 €] Der hier zu besprechende Sammelband entstand im Rahmen des von 2013 bis 2016 durch die Europäische Kommission geförderten Projekts Third Language Learning - Tandem-Skype (L3TASK) (vgl. http: / / l3task.eu). Dahinter verbirgt sich ein Tandem-Setting, bei dem die Partner mit einer speziellen Form von Video-Konferenz (www.oovoo.com) miteinander kooperierten und entweder durch die Einbettung des Tandems in Sprachunterricht oder durch tutorielle Angebote unterstützt wurden. Die Leitung des Projekts lag bei der Universität Wien. Weitere beteiligte Hochschulen waren die Wirtschaftsuniversität Wien, die Universitad de Alicante, die Universitat de Barcelona, die Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED) aus Madrid sowie die Friedrich-Schiller-Universität Jena. Der Band setzt sich zum Ziel, die zentralen Ergebnisse des Projekts zu dokumentieren und für Einrichtung von Tandemangeboten in verschiedenen Bildungskontexten und darüber hinaus zu ermutigen (Vorwort, S. 9). Das Handbuch soll Verantwortlichen und Anwendern als Grundlage dienen, wenn auch sie Online-Tandems einrichten wollen. Dabei richtet es sich zunächst an Lehrpersonen, Online-Tutoren und Verantwortliche in der Erwachsenenbildung, aber auch an Universitäten, die ihre bilateralen Abkommen mit anderen Universitäten zur Einrichtung von ähnlichen Tandems nutzen wollen (Einleitung S. 14). Insofern ist es konsequent, wenn im ersten von insgesamt drei Abschnitten, in die der Band von den Herausgebern untergliedert wurde, zunächst pädagogische Leitlinien und Prinzipen für den Aufbau und die Organisation von Online-Tandems vorgestellt werden. Da Begriffe, wie z.B. „learning, acquisition, communication, communicative competence, task, interaction, implicit learning and awareness“ (S. 21; Kursivierung im Original), über die verschiedenen Länder, Sprachen und Forschungskontexte hinweg nicht unbedingt in gleicher Weise konzeptualisiert werden, steht ihre Definition im Mittelpunkt von Abschnitt 1.1 und wird mit Blick auf das Sprachenlernen im Tandem in Abschnitt 1.2 weiter präzisiert. Trotz dieser definitorischen Bemühungen werden in der Folge dennoch zentrale Begriffe und Konzepte (wie z.B. Tandem) mehrfach und z.T. durchaus divergierend definiert werden. Dies bringt selbst innerhalb des ersten Abschnitts vermeidbare Doppelungen mit sich. Die folgenden Teilabschnitte beschäftigen sich dokumentarisch mit den praktischen Fragen, die im Rahmen der Einrichtung von Online-Tandems im Projekt beantwortet werden mussten: Welche Schritte müssen bei der Einrichtung von Online-Tandems berücksichtigt werden? Wie kann die Interaktion in diesen entweder in Sprachkurse eingebundenen bzw. weitgehend selbstständig agierenden Tandempartnerschaften mit Materialien und Aufgaben (i.S. von tasks) oder durch Tutoren befördert werden? Wie kann die Qualität des Tandem-Angebots ermittelt und weiterentwickelt werden? Die Antworten, die Funk/ Gerlach/ Spaniel-Weise unter Mitarbeit von Lätsch geben, bleiben zum Teil theoretisch, zum Teil gehen sie sehr konkret auf das Vorgehen in Jena ein. Demjenigen, der bislang keine Erfahrung mit dem Aufbau von Tandem-Angeboten gemacht hat, gleichgültig ob als Präsenz- oder als medial-vermitteltes Tandem und gleichgültig welche didaktischen Unterstützungsangebote die Tandem-Partnerschaften einrahmten, wird hier sicherlich der ein oder andere präzisere Einblick fehlen. Tandemerfahrene Leserinnen und Leser können demgegenüber die Besonderheiten des Tandems in diesem Projekt erkennen. Im zweiten Abschnitt mit der nicht immer ganz passenden Überschrift „Components of Interaction in Online Tandems“ treten in den diversen Beiträgen die praktischen Fragen zumeist zugunsten von Forschungsfragen, die im Rahmen des Projekts bearbeitet wurden, in 144 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0013 48 (2019) • Heft 1 den Hintergrund. Lesk und Stegu erfassten mithilfe von Fragebögen und Interviews den Sprachbedarf von Sprachlernern und Firmen. Aus dem Abgleich der zum Teil sich unterscheidenden Antworten und den Potenzialen des Tandems formulieren sie mögliche Konsequenzen für die Gestaltung und die Unterstützung von Online-Tandempartnerschaften. Koch setzt sich in seinem konzeptuellen Beitrag in anregender Weise mit dem Tandem-Prinzip der Gegenseitigkeit (reciprocity) auseinander, das er im Vergleich zum tragenden Autonomie- Prinzip für theoretisch unterbestimmt hält. Er schlägt vor, die Gegenseitigkeit sowohl unter sozialen als auch unter kommunikativen Gesichtspunkten zu betrachten. Vetter betrachtet die Tandem-Kommunikation unter Rückgriff auf Fishman und formuliert nach der Analyse von Interaktionen, die im Rahmen des Projekts dokumentiert wurden, Hinweise für die Gestaltung und Unterstützung der Tandems. El-Hariri/ Renner nutzen ihrerseits die dokumentierten Tandem-Kommunikationen um Missbzw. Nicht-Verstehen herauszuarbeiten und wie es sich von außen erkennen lässt. Um dieses zu vermeiden, setzen einige Tandem-Partner, die die Fremdsprache noch nicht selbstständig, sondern noch elementar verwenden, die gemeinsame Fremdsprache Englisch als Vehikel der Verständigung ein, damit die Kommunikation in den Erstbzw. Fremdsprachen der Tandempartner nicht abbricht, wie Grümpel/ Cuadrado Rey/ Stoll zeigen. Calvet Creizet/ Orduña heben in ihren, den zweiten Abschnitt beschließenden Beiträgen hervor, dass das zentrale Ziel „Sprachen lernen“ im Tandem häufig zu kurz komme, wenn die Kommunikation und Interaktion zu stark von inhaltlichen Aufgaben und Aspekten bestimmt wird. Sie schlagen daher Aufgaben für die Tandempartner vor, die das sprachliche Lernen gezielt durch die Kompetenz bzw. die sprachliche Form fokussierende Aufmerksamkeitslenkung unterstützen sollen. Zwischen diesen stark forschungsbasierten Beiträgen findet sich der eher erfahrungsbasierte, mit praktischen Fragen der eingesetzten Technik befasste Beitrag von Ruipérez/ García-Cabrero. Forscherinnen werden in diesem Abschnitt empiriebasierte und konzeptuell zumeist gut eingeordnete Diskussionsbeiträge finden, deren auf die Gestaltung der Praxis abzielenden Schlüsse auch für sie von Interesse sein mögen. Ob Praktiker und Entscheidungsträgerinnen sich jeweils bis zu den - zum Teil im Text versteckten - Hinweisen für das operative Geschäft durcharbeiten werden, dürfte von deren Theorie- und Forschungsinteresse abhängig sein. Im dritten Abschnitt zeigen zunächst Gierden Vega/ Manjavacas Sneesby und dann Kremenchuk/ Li, wie die Einbettung der Tandem-Partnerschaften in den Fremdsprachenunterricht erfolgen kann bzw. welche Rolle Anleitungen für die Organisation der Tandem-Interaktion haben können. Letztlich lässt sich bereits nach Vorwort und Einleitung der Charakter dieses Sammelbandes erahnen und auch den Herausgebern scheint dies durchaus bewusst zu sein: The handbook presented here deals with the documentation of the sub-projects carried out by the different universities involved in L3TASK. It is a collected volume that gathers different academic strands dealing with language learning in Online Tandems in terms of language needs and acquisition, E-Tandem management as well as interaction analysis (S. 14). Und so pendeln die Beiträge und Inhalte dieses Bandes zwischen erfahrungsbasierten praktischen Hinweisen, Überblicksdarstellung und genuinem Forschungsbeitrag. Diese Gemengelage lässt sich schon in den genutzten technischen Mitteln des Online-Tandems und den Vorgaben für die Tandem-Paare erkennen. Diese ergeben sich nicht zwangsläufig aus der didaktischen Rahmung der Online-Tandempartnerschaften, sondern wohl von vornherein auch aus den Forschungsinteressen der am Projekt beteiligten Forscherinnen und Forscher. Und so werden die Leserinnern und Leser des Bandes, je nachdem, ob sie die auch auf dem Buch- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 145 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0014 deckel verlautbarte Zielsetzung des Handbuchs ernstnehmen oder nicht, mehr oder weniger enttäuscht, ermutigt oder in der eigenen Forschung zum Tandem angeregt sein. Ärgerlich sind die recht zahlreichen Tipp- und Satzfehler (siehe z.B. Tab. 1 auf S. 48 oder in Fig. 2 auf S. 60). Dass zudem in vielen Beiträgen - insbesondere aber in Abschnitt 1 - die Literaturverzeichnisse nicht alle im Text zitierten Titel aufführen, Angaben nicht vollständig oder fehlerhaft sind, ist mit Blick auf den angestrebten Handbuchcharakter des Bandes unangenehm, aber wohl auch dem Termin-, Finanzierungs- und Rechenschaftslegungsdruck geschuldet, unter dem drittmittelfinanzierte Forschung heute vielfach erfolgen muss. Wuppertal L ARS S CHMELTER Daniela C ASPARI , Friederike K LIPPEL , Michael K. L EGUTKE , Karen S CHRAMM (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr 2016, 476 Seiten [€ 49,99] Das Handbuch zur Forschungsmethodik beeindruckt sowohl durch sein originelles und konsequent umgesetztes Konzept als auch durch seinen Umfang. Die Originalität besteht insbesondere im Heranziehen von zwölf exemplarischen Referenzarbeiten, die unterschiedliche Bereiche der Forschung an geeigneten Stellen veranschaulichen. Auch die Wahl äußerst gelungener Visualisierungen von Forschungsvorgängen auf nur einer Seite anhand von Grafiken, die der Komplexität der jeweiligen Thematik gerecht werden und doch übersichtlich bleiben, verweist auf Originalität beim Bestreben nach Konkretisierung der unterschiedlichen Beschreibungen und Erläuterungen von in der Forschung notwendigen Umsetzungsschritten. Das Handbuch besteht aus insgesamt acht Kapiteln, die, der jeweils beschriebenen Thematik geschuldet, eine unterschiedlich hohe Seitenzahl aufweisen. Einer einleitenden Orientierung folgt Kapitel 2, das sich den Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung widmet. In Kapitel 3 werden Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik aufgegriffen und erläutert. Konkret dargelegt werden historische, theoretische und empirische Forschungsperspektiven. Kapitel 4 beschäftigt sich mit Forschungsentscheidungen und bezieht sich auf folgende Bereiche: Texte, Daten und Dokumente als Basis für die fremdsprachendidaktische Forschung, prototypische Forschungsdesigns, die Gestaltung von Forschungssamplings, Möglichkeiten für Triangulationen, meta-analytische Untersuchungen und Replikationsstudien und Fragen der Forschungsethik. Als mit 236 Seiten am umfangreichsten erweist sich Kapitel 5, auf das unten näher eingegangen wird. Es beschreibt Forschungsverfahren zur Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten und erläutert elf Auswertungs- und Analyseinstrumentarien umfassend. Kapitel 6 bezieht sich auf Etappen im Forschungsprozess und gibt für den Weg von der Idee zur Forschungsfrage, für Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis, für die Beschreibung des Literaturüberblicks und Forschungsstands, die Designgestaltung, Prozessplanung und -steuerung ebenso grundlegende und wesentliche Empfehlungen wie für Zusammenfassung und Diskussion der Forschungserträge und die Präsentation der Forschung. Auf die Betreuung von Forschungsarbeiten wird in diesem Kapitel abschließend eingegangen. Dass hier neben Empfehlungen auch Erfahrungen der Verfasserinnen und Verfasser einfließen, macht die Darstellungen anschaulich und nachvollziehbar. Kapitel 7 bietet Kurzbeschreibungen jener zwölf Referenzarbeiten, die im Zeitraum zwischen 2002 und 2011 verfasst wurden und auf die in den Kapiteln des Handbuchs an jeweils passenden Stellen exemplarisch verwiesen wird. Die ausgewählten Arbeiten werden als beispielhaft für zentrale Forschungsfelder sowie Themengebiete der Fremdsprachendidaktik charakterisiert und veran- 146 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0014 48 (2019) • Heft 1 schaulichen jeweils spezifische Erhebungs- und Auswertungsinstrumentarien. Von den Herausgeberinnen und Herausgebern wird das Aufgreifen der jeweiligen Referenzarbeit an geeigneten Stellen im Handbuch zu Recht als „eine Besonderheit dieses Buches“ (S. 3) bezeichnet. Hervorzuheben ist auch, dass die Kurzbeschreibungen der Arbeiten stets dem Schema ‚Thema und Forschungsfragen; Datenerhebung; Datenaufbereitung; Datenauswertung; Ergebnisse; Literatur‘ folgen und damit eine gute Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Arbeiten und der gewählten Herangehensweisen erlauben. Das abschließende, knapp gefasste Kapitel 8 widmet sich dem Kontext fremdsprachlicher Forschung und verweist auf Bezugsfach, Universität respektive Hochschule, Lehrerbildung und Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik sowie auf Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser letzte Bereich übernimmt auch die Funktion eines knappen Fazits für das Handbuch. Die Kapitelgliederung des Buches folgt grosso modo dem Aufbau einer Forschungsarbeit und erleichtert es seinen Leserinnen und Lesern dadurch, sich zu orientieren und auf rasche und effiziente Weise zu entscheiden, welche/ s Kapitel zu einem bestimmten Zeitpunkt im eigenen Forschungsrespektive Betreuungsvorhaben gerade am relevantesten ist/ sind. Als unterstützend erweisen sich am Ende jedes Unterkapitels die Literaturverzeichnisse und die darüber hinausführenden Angaben zu Fachliteratur, die immer auch knapp beschrieben wird. Abschließend soll das fünfte Kapitel etwas näher betrachtet werden. Es wird treffend als zentrales Kapitel des Handbuchs bezeichnet, da es sich dem „methodische[n] Kernelement von Forschung“ (S. 119) widmet. Es besteht aus insgesamt 19 Teilkapiteln, die die beiden Bereiche „Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten“ und „Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten“ eingehend beleuchten. Während der erste Bereich neben der Sammlung von Dokumenten und der Zusammenstellung von Texten auch auf unterschiedliche Arten der Beobachtung und Befragung, des Erfassens unterrichtsbezogener Produkte und auf das Testen eingeht, beschäftigt sich der zweite Bereich mit der Analyse historischer Daten, mit hermeneutischen Verfahren, Inhaltsanalyse und Grounded Theory, mit Methoden der diskursanalytischen Auswertung, Korpusanalyse und statistischen Verfahren (Deskriptiv- und Inferenzstatistik, Faktorenanalysen). Die genannten Thematiken werden umfassend dargestellt und durch Verweise auf die jeweils relevante Fachliteratur belegt. Lediglich die beiden Teilkapitel zur Lernersprache (5.2.6 und 5.3.7) fallen im Lichte der internationalen, aber auch der deutschsprachigen Forschung etwas ab. So wird zwar auf einige besonders relevante, frühe Ansätze der Lernersprachenanalyse verwiesen. Die international weitaus stärker rezipierten theoretischen Arbeiten von P IENEMANN (2015) 1 bleiben jedoch ebenso unerwähnt wie die Weiterentwicklung von Rapide Profile als computerbasiertes Instrument für die Lernersprachenanalyse (K EßLER / L IEBNER 2011) 2 . Auch das Ansprechen weiterer, relevanter psycholinguistischer Ansätze von Lernersprachenentwicklung würde diesen beiden Teilkapiteln eine deutlichere internationale Einbettung geben, die gerade in der Lernersprachenforschung wesentlich ist und im deutschsprachigen Forschungskontext eher vernachlässigt wird. Im schulischen Kontext umgesetzte Erhebungen wie jene der DiG-Studie (Deutsch 1 Manfred P IENEMANN : „An outline of Processability Theory and its relationship to other approaches to SLA“. In: Language Learning 65.1 (2015), 123-151. 2 Jörg-U. K EßLER , Mathias L IEBNER : „Diagnosing L2 development. Rapid Profile“. In: Manfred P IENEMANN , Jörg-U. K EßLER (Hrsg.): Studying Processability Theory: An Introductory Textbook. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 2011, 131-147. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 147 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0014 in Genf, D IEHL et al. 2000) 3 hätten zumindest im Verweis auf weitere Fachliteratur herangezogen werden können. Insgesamt gelingt es den Autor(inn)en jedoch auch in Kapitel 5 anhand der aussagekräftigen Grafiken in jedem Teilkapitel die beschriebenen Gewinnungsrespektive Aufbereitungs- und Analyseprozesse kompakt auf einer Seite zu visualisieren. Die Grafiken können damit auch als erste Einblicke über die jeweiligen methodischen Vorgehensweisen genutzt werden und Forschungsnoviz(inn)en einen ersten und raschen Überblick gewähren, der ihnen ggf. die beschleunigte Wahl eines geeigneten Verfahrens erlaubt. Die von den Herausgeber(inne)n genannten Zielgruppen (junge Forscher(innen), die gerade Fuß fassen, Betreuer(innen) von Forschungsarbeiten) halten jedenfalls ein Buch in Händen, das detailliert und kenntnisreich über grundlegende Bereiche zu Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik informiert und deutlich über Charakteristika von forschungsmethodischen Einführungen hinausgeht. Innsbruck B ARBARA H INGER 3 Erika D IEHL , Thérèse S TUDER , Helen C HRISTEN , Sandra L EUENBERGE r, Isabelle P ELVAT : Grammatikunterricht - Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb Deutsch. Tübingen: Niemeyer 2000. 48 (2019) • Heft 1 I n f o • V o r s c h a u Vorschau auf Jahrgang 48.2 (2019) Der von Andrea R ÖSSLER (Hannover) und Birgit S CHÄDLICH (Göttingen) koordinierte Themenschwerpunkt für Jg. 48.2 (2019) lautet „Sprachmittlung“. Die Etablierung der Sprachmittlungskompetenz im schulischen Fremdsprachenunterricht in der BRD war ein top-down-Prozess par excellence. Die vorgeschriebene Implementierung krankte von Anfang an daran, dass eine neue Kompetenz in Curricula integriert und deren Erwerb in zumeist zentralen Prüfungsformaten evaluiert wurde, lange bevor diese klar definiert, umfassend theoretisch modelliert oder empirisch erforscht war. In den letzten fünf Jahren hat sich die Fremdsprachendidaktik unter Einbeziehung relevanter Bezugswissenschaften (wie etwa der Translationswissenschaft und Interaktionsforschung) intensiv darum bemüht, diese Defizite zu beheben. Definitorische Grenzziehungen, komplexe theoretische Modellierungen und erste empirische Studien haben für mehr konzeptionelle Klarheit gesorgt und einer überzeugenderen Unterrichts- und Evaluationspraxis den Weg gebahnt. Diese Konsolidierung der Sprachmittlungskompetenz in Theorie und Praxis gibt Raum dafür, neue Impulse zu setzen und innovative Perspektiven zu eröffnen. Der Heftschwerpunkt widmet sich somit Fragen, denen man bisher kaum oder gar nicht nachgegangen ist: Welche Rolle können Sprachmittlungsaufgaben im bilingualen Sachfachunterricht spielen? Sollte translatorische Bewusstheit auch im Deutschunterricht gefördert werden? Inwiefern hat die Aktivität Sprachmittlung eine besonders hohe Attraktivität für Inklusion und die Einbeziehung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht? Zudem präsentiert und reflektiert er erste Erkenntnisse aus der empirischen Unterrichtsforschung; der Fokus liegt hier auf mündlichen Sprachmittlungsaufgaben einerseits und der Evaluation von Sprachmittlungskompetenz in zentralen schriftlichen Prüfungsformaten andererseits. Abgerundet wird der Themenschwerpunkt durch grundsätzliche Überlegungen zu Sprachmittlungsaufgaben aus spracherwerbstheoretischer Perspektive. Ein Grundlagenartikel der Koordinatorinnen, der auch neueste bildungspolitische Publikationen wie etwa die Erweiterung des GeR von 2017 (Companion Volume) berücksichtigt, wird in die Thematik einführen. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: Dagmar A BENDROTH - TIMMER (Siegen), Katharina W IELAND (Berlin): Sprachmittlungsaufgaben im bilingualen Sachfachunterricht Französisch - zwischen Scaffolding und Emergenz. Lena K ROGMEIER (Hannover): Evaluation interkultureller Kompetenz durch schriftliche Sprachmittlungsaufgaben. Almut K ÜPPERS (Frankfurt/ M.): Mediation als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht. Martina L IEDKE -G ÖBEL (München): Translationskompetenz im Deutschunterricht fördern - methodische Überlegungen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik. Laura N ICOLAS (Paris): Médiations d’enseignants et d’apprenants en classe de langue étrangère: des tâches prescrites aux pratiques réelles. Dominique P ANZER (Bremen): Mündliche Sprachmittlung im Spanischunterricht: Empirische Ergebnisse einer Design-Based Research-Studie. Info • Vorschau 149 48 (2019) • Heft 1 Andrea R ÖSSLER (Hannover), Birgit S CHÄDLICH (Göttingen): Sprachmittlung in Forschung und Unterrichtspraxis - Status quo und Desiderata. Ralf W ESKAMP (Homberg): Dient Sprachmittlung dem Fremdsprachenerwerb? Zur psycholinguistischen Relevanz eines neuen Aufgabenformats. Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 49.1 (2020) Fremdsprachliches Schreiben (koordiniert von Hans K RINGS ) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgeber: Claus Gnutzmann (Braunschweig) · Lutz Küster (Berlin) · Karen Schramm (Wien) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Claus Gnutzmann, TU Braunschweig, Englisches Seminar, Abteilung Englische Sprache und ihre Didaktik, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, eMail: c.gnutzmann@tu-bs.de Prof. Dr. Lutz Küster, Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, eMail: lutz.kuester@ rz.hu-berlin.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, eMail: karen.schramm@univie.ac.at Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz- Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Daniela Elsner (Frankfurt) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 62,- (print) bzw. € 72,- (print + online), Vorzugspreis für private Leser € 46,-, das Einzelheft € 36,-. (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, eMail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1992 - 2019) 21 (1992): Idiomatik und Phraseologie (hrsg. von Ekkehard Zöfgen) 22 (1993): Fehleranalyse und Fehlerkorrektur (koord. von Gert Henrici und Ekkehard Zöfgen) 23 (1994): Wörterbücher und ihre Benutzer (koord. von Ekkehard Zöfgen) 24 (1995): Kontrastivität und kontrastives Lernen (koord. von Claus Gnutzmann) 25 (1996): Innovativ-alternative Methoden (koord. von Gert Henrici) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): ` Neokommunikativer A Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von C. Gnutzmann, F.G. Königs, L. Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) 46.2 (2017): Frühes Fremdsprachenlernen (koord. von Heiner Böttger) 47.1 (2018): Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koord. von Lutz Küster und Jochen Plikat) 48.1 (2019): Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik (koord. von Mark Bechtel und Karen Schramm) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt Beiträge zu Forschung und Unterricht aus allen für den Fremdsprachenunterricht relevanten Bereichen sowie zum Fremdsprachenlehren/ -lernen im Ausland. Grundlage für jeden Beitrag sollte eine ausreichende wissenschaftliche Fundierung mit unmittelbarer oder mittelbarer Relevanz des Gegenstandes für die fremdsprachenunterrichtliche Tätigkeit an der Hochschule sein. Beiträge, die den schulischen Fremdsprachenunterricht zusätzlich zur Reflexionsgröße erheben, sind gleichermaßen willkommen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. 2019-1_Umschlag.indd 4-6 13.02.2019 10: 14: 31 10,2 ISSN 0932-6936 www.periodicals.narr.de www.narr.de Themenschwerpunkt: Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik K aren S chramm , m arK B echtel Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ........................................................... 3 D eniS W eger Professional Vision - State of the art zum Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung in der Lehrer(innen)bildung ........................................................... 14 r alf g ie ß ler Schriftliche Aufgabenformate zur Erfassung und Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von angehenden Englischlehrpersonen ......................... 32 m arK B echtel , c hriStoph o liver m ayer Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen - ein Projekt in der Lehrer(innen)bildung im Fach Französisch ....................................... 50 m iroSlav J aníK , v ě ra J aníKová Entwicklung der professionellen Wahrnehmung künftiger DaF-Lehrer(innen) mittels einer videobasierten Online-Plattform (DaF-VideoWeb) .............................. 63 m arta D aviDoWicz Perspektiven auf das Lernen in virtuellen Gesprächen über eigene Unterrichtsvideos ............................................................................................. 84 m anuela W ipperfürth Oberflächliche Unterrichtsanalysen: Wie handlungsleitendes Wissen in Unterrichtsnachbesprechungen verhandelbar wird ............................................................. 103 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) 48. Jahrgang (2019) · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Claus Gnutzmann, Lutz Küster und Karen Schramm Themenschwerpunkt: Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik koordiniert von Mark Bechtel und Karen Schramm FLuL 48. Jahrgang (2019) · 1 2019-1_Umschlag.indd 1-3 13.02.2019 10: 14: 31