eJournals

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2022
511 Gnutzmann Küster Schramm
Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Lutz Küster, Birgit Schädlich, Karen Schramm und Britta Viebrock Themenschwerpunkt: Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I für alle koordiniert von Nikola Mayer FLuL 51. Jahrgang · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgegeben von: Lutz Küster (Berlin) · Karen Schramm (Wien) · Britta Viebrock (Frankfurt) Birgit Schädlich (Göttingen) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Lutz Küster, Humboldt-Universität zu Berlin, Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, eMail: lutz.kuester@ rz.hu-berlin.de Prof. Dr. Birgit Schädlich, Georg-August-Universität Göttingen, Philosophische Fakultät, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen, eMail: birgit.schaedlich@phil.uni-goettingen.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, eMail: karen.schramm@univie.ac.at Prof. Dr. Britta Viebrock, Goethe Universität Frankfurt, Institut für England- und Amerikastudien, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, eMail: viebrock@em.uni-frankfurt.de Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz- Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Daniela Elsner (Frankfurt) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 65,- (print) bzw. € 76,- (print + online), Vorzugspreis für private Leser € 46,- (print), das Einzelheft € 38,-. (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, eMail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISBN 978-3-8233-1200-0 · ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG (Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I für alle Koordination: N IKOLA M AYER N IKOLA M AYER Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ....................................................... 3 C HRISTOPH O LIVER M AYER Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I: Simon Boulerices Le dernier qui sort éteint la lumière ....................................... 10 E LISABETH L EHRNER - TE L INDERT Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht der Sekundarstufe I .............................................................................................. 23 H EIKO K IST , A NNIKA K OLB Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe .. 41 S ABINE B INDER Reading South Africa as an Adolescent .............................................................. 59 D ANIELA C ASPARI Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? Überlegungen zu den französischen Wettbewerben Prix des lycéens und Francomics ......................................................................... 74 N IKOLA M AYER Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfacher Sprache ..................... 90 B RITTA F REITAG -H ILD Young Adult Literature und critical literacy - politische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht ................................................................. 107 51. Jahrgang • Heft 1 Herausgegeben von: Lutz K ÜSTER (Berlin), Birgit S CHÄDLICH (Göttingen), Karen S CHRAMM (Wien), Britta V IEBROCK (Frankfurt) © 2022 Narr Francke Attempto Verlag Internet: www.narr.de/ linguistik/ zeitschriften/ flul/ 51 • Heft 1 Nicht-thematischer Teil D ORIS A BITZSCH , E WOUT VAN DER K NAAP Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens ................. 121 Be sprechunge n Josefine F ELGNER : Effekte bilingualen Lernens. Eine Untersuchung an sächsischen Schulen. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020 (L ARS S CHMELTER ) ......................... 137 Lutz K ÜSTER (Hrsg.): Prendre la parole: Reflexive und übende Zugänge zum Sprechen im Französischunterricht. Hannover: Klett/ Kallmeyer 2020 (C ORINNA K OCH ) ................ 139 Christine E. P OTEAU (ed.): Effects of Service Learning in Foreign and Second Language Courses. London: Routledge 2021 (D ANIELA E LSNER & H EIKE N IESEN ) .......................... 142 Gisela M AYR : Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Eine unterrichtsempirische Studie zur Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz in der Sekundarstufe II. Tübingen: Narr Francke Attempto 2020 (S TEFFI M ORKÖTTER ) ............................ 144 Anastasia D RACKERT , Mirka M AINZER -M URRENHOFF , Anna S OLTYSKA , Anna T IMUKOVA (Hrsg.): Testen bildungssprachlicher Kompetenzen und akademischer Sprachkompetenzen. Zugänge für Schule und Hochschule. Berlin: Lang 2020 (J ANA G AMPER ) ................. 147 Vorschau 151 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 N IKOLA M AYER * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Die Welt und die Texte über die Welt haben sich seit dem letzten literaturbezogenen FLuL Themenheft (2008) weiterentwickelt. Für die Literaturdidaktik im Fremdsprachenunterricht ist der Companion Volume (2018) zum GeR ein hilfreicher Zuwachs, in dem der Literatur wieder mehr Relevanz zukommt. Ein sprachenübergreifendes Werk zur Literaturdidaktik (L ÜTGE 2019) stellt die großen Themen für die Arbeit mit Literatur im Fremdsprachenunterricht in den Verbund mit der Literarturwissenschaft. Der darin erschienene Beitrag von O’S ULLIVAN / R ÖSLER (2019) gibt einen guten Einblick in die Publikationen der vergangenen Jahre zum Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur. Für die Fokussierung auf die Sekundarstufe I, die in diesem Themenheft vorgenommen wird, finden sich die Veröffentlichung von B URWITZ -M ELZER (2003) sowie der stufenbezogene Sammelband zur Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht von H OLLM (2009). Mit L EHRNER - TE L INDERT (2021) und G ARDEMANN (2021) liegen zwei aktuelle empirische Studien zum Literaturunterricht im Bereich DaF und zum Einsatz literarischer Texte im Englischunterricht vor. Nicht zu vergessen sind D IEHR / S URKAMP (2015), die literaturbezogene Kompetenzziele für die Sek I formuliert haben. Die Grundlagen für eine Betrachtung der literarischen Arbeit im Fremdsprachenunterricht der Sek I sind über die letzten Jahre gewachsen und stabiler geworden und bilden ein Gegengewicht zu der nach wie vor noch (zu) stark lehrwerksgesteuerten Realität an vielen Schulen (vgl. z.B. H ERMES 2009, 9f.). Gleichgeblieben ist, dass Lesen uns dabei helfen kann, unsere Welt zu erschließen und imaginäre Welten zu eröffnen. Dieses Potential gilt es nach wie vor auszuloten, wenn man sich mit dem handlungs- und produktionsorientierten Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht der Sek I im befasst. Fremdsprachige Jugendbücher (Young Adult Literature) sowie andere, in einfacher Sprache verfasste Texte (z.B. graded readers), so die zentrale Überzeugung hinter den Beiträgen dieses Heftes, eignen sich dazu, die Schüler*innen der Sek I in die Welt der Bücher und des Lesens zu (ent-)führen. Einige Beiträge zeigen ermutigende Ergebnisse von literarischen Pro- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Nikola M AYER , Pädagogische Hochschule Zürich, Didaktik Englisch Sekundarstufe; Lagerstraße 2, CH 8090 Z ÜRICH . E-Mail: nikola.mayer@phzh.ch Arbeitsbereiche: Englischunterricht in der Sek I, Multimodales Lesen, Literatur im Fremdsprachenunterricht. Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I für alle 4 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 51 • Heft 1 jekten im Fremdsprachunterricht (s. C ASPARI , L EHRNER - TE L INDERT , K IST / K OLB und N. M AYER in diesem Heft). Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lesen grundsätzlich ein gefährdetes Gut ist, das es zu fördern gilt und das in der Altersgruppe der 11-17-Jährigen keinen leichten Stand hat. Mit Blick auf Grundschüler*innen lässt sich eine grundlegende Begeisterung für das Lesen in der Fremdsprache konstatieren. Die von D IEHR / F RISCH durchgeführte Lesestudie mit Viertklässler*innen im Englischunterricht belegt eine „positive Einstellung zu Büchern und Geschichten“ (D IEHR / F RISCH 2010: 162), welche die Autorinnen mit dem Auftrag an die Sek I verknüpfen, diese aufzugreifen und weiter zu fördern. Die Daten korrespondieren mit den Erhebungen von R OSEBROCK (2007), die belegen, dass die grundsätzliche Leseneigung (Motivation zum Lesen, außerschulische Lesepraxis) in den ersten beiden Schuljahren sehr hoch ist, sie erfährt aber bereits mit Abschluss des Schriftspracherwerbs und dem Beginn des Selber-Lesens einen Einbruch. Mit dem Einsatz der Pubertät lässt sich ein klarer Leseknick feststellen. R OSEBROCK begründet dies mit der zunehmenden Bedeutung der Peers und dem abnehmenden Einfluss der Familie. Auch entwicklungspsychologische Gründe sind bedeutsam: Die Bücher der Kindheit sind nicht mehr altersangemessen, die Themen nicht mehr adäquat für Jugendliche. Das kindliche Versinken in Geschichten lässt sich nicht automatisch verlängern. Es braucht es neue Zugänge zu den Texten und Themen, sonst wird dieser Freiraum anders gefüllt, und zwar vor allem mit neuen Medien. M ATZ / R UMLICH (2020) haben eine Studie durchgeführt, in der untersucht wurde, ob Lernende inner- und außerhalb des Englischunterrichts Jugendbücher lesen. Aus Sicht der Forscher*innen bieten Jugendbücher eine gute Passung, indem sie Themen aufgreifen, die altersgemäß interessant und emotional ansprechend sind. Die jugendlichen Protagonist*innen können gut als Identifikationsfiguren fungieren. Zudem ist das Angebot für Schüler*innen mit unterschiedlichen fremdsprachlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Lesekompetenzen breitgefächert und vielfältig (vgl. M ATZ / R UMLICH 2020: 165f.). Als Stichprobe wählten die Autor*innen knapp 1.500 Schüler*innen von Gymnasien (Sek I und II) im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, da diese laut PISA leseaffiner sind als die Schüler*innen anderer Schulformen. Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendbücher weniger beliebt sind als erwartet und der Wert für englischsprachige Jugendbücher noch weiter sinkt. 74 % der Jugendlichen trauen sich sprachlich zu, englische Jugendbücher zu lesen, so dass dies als Begründung für die niedrigen Werte nicht geltend gemacht werden kann. Die Vermutung liegt nahe, dass der angesprochene Leseknick in der Pubertät und die Rolle der Medien hier auch eine Rolle spielten. Leider wurden bei M ATZ / R UMLICH keine Daten zur allgemeinen Lesemotivation erhoben. Der jährlich veröffentlichte What Kids Are Reading and How_UK Report (A TKINSON 2021) liefert hierzu ein interessantes Detail: Während des ersten Lockdowns (Frühjahr 2020) in der Corona Krise stieg bei den befragten Schüler*innen die Lesemotivation an. Als Begründung führten sie an, dass sie mehr Zeit hatten, selbst wählen konnten, was sie lesen, und keine Aufgaben bearbeiten mussten. Zudem empfanden viele das Lesen beruhigend und bestärkend. Beliebte Autor*innen waren J. K. Rowling, Roald Dahl und Suzanne Collins (vgl. A TKINSON 2021: 18). Die Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 abschließende Empfehlung des Berichts lautet, Kindern Raum und Zeit zum Lesen zu geben, sowie freien Zugang zu Büchern und Geschichten, sowohl in Buchform als auch digital (vgl. ebd.: 20). Christine G ARDEMANN belegt mit den Daten aus ihrer Befragung von Lehrpersonen der Sek I (für das Fach Englisch) von Gymnasien und Stadteilschulen in Hamburg, dass Jugendbücher nur in geringem Maße zum Einsatz kommen. Sie rangieren an vierter Stelle nach Songs, Kurzgeschichten und Gedichten (vgl. G ARDEMANN 2021: 118f.). Auf die Frage nach der Quelle literarischer Texte zeigt sich, dass die meisten Lehrpersonen auf Empfehlungen von Kolleg*innen zurückgreifen, auf das Lehrwerk oder auf im Klassensatz vorhandene Lektüren (vgl. ebd.: 115-118). Es sind vor allem literarische Kurzformen, die eingesetzt werden, die vermutlich im Lehrwerk enthalten sind. Dies lässt sich anbinden an Bedenken zur Bedeutung von Literatur auf der Sek I von H ALLET (2009). Aufgrund der zentralen Rolle der Lehrwerke für die Sek I, in denen literarische Texte häufig eine marginale Rolle spielen, sieht er die Gefahr, dass den Schüler*innen vor allem der nicht-gymnasialen Schulformen die Kompetenz zum Verstehen literarischer Texte abgesprochen wird. Grundsätzlich macht er eine Verschiebung von literarischen Texten auf die Sekundarstufe II aus, wodurch eine Lücke entsteht, sowohl im Anschluss an den Fremdsprachenunterricht der Grundschule (vgl. Diehr/ Frisch 2010) als auch bezogen auf das Potential, das in der Arbeit mit Literatur liegt. Vor diesem Hintergrund sind die von D IEHR / S URKAMP (2015) vorgelegten Kompetenzziele und -profile für die Arbeit mit literarischen Texten auf der Sek I bedeutsam. Die Autorinnen möchten die lückenhafte Linie von der Grundschule bis zur Oberstufe schließen und Kontinuität schaffen. Das (Abschluss-)Profil ist in drei Hauptbereiche gegliedert: 1. motivationale und attitudinale Kompetenzen. Diese beziehen sich u.a. auf die interessensgeleitete Textauswahl, Interesse an Deutungsangeboten, Vertrauen in die eigene Lesefähigkeit sowie Frustrationstoleranz und Perspektivübernahme. 2. ästhetisch-kognitive Kompetenzen. Diese greifen das inhaltliche Verständnis literarischer Texte auf, das Verstehen ästhetischer Mittel in verschiedenen Genres und die kritische Auseinandersetzung mit dem Deutungsangebot eines literarischen Textes. 3. sprachliche und diskursive Kompetenzen. Hier geht es um die Aktivierung von Fremdsprachenkenntnissen und strategischem Wissen (z.B. Wortschatz und kommunikative Muster) beim Lesen von Literatur. Aus methodisch-didaktischer Sicht geht es beim Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht immer auch um die Förderung von Multiliteralität, vor allem literarische Literalität (literary literacy), visuelle Literalität (visual literacy) und kritischkulturelle Literalität (critical cultural literacy) (vgl. u.a. D ELANOY et al. 2015; DA R OCHA et al. 2017). Im Hinblick auf längere fiktionale Texte für jugendliche Leser*innen der Sek I wie z.B. Jugendbücher ergeben sich abschließend folgende Schwerpunkte und Desiderata, die in diesem Themenheft gebündelt und in den Beiträgen vertieft werden: 6 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 51 • Heft 1 • Die Begegnung mit literarischen Texten darf nicht auf spätere Schulstufen aufgeschoben werden. Das Lesen literarischer Texte bietet Dimensionen, die nicht mit anderen Inhalten kompensiert werden können und ist immer auch ein Angebot zur Entwicklung der sprachlichen Kompetenzen. Der Zugang zu Literatur muss ein inhärenter Teil des Fremdsprachenunterrichts auf der Sek I sein. • Obwohl Ganzschriften und längere Texte eine Herausforderung darstellen, ist es doch möglich und wichtig, dass sie in den verschiedenen Fremdsprachen bereits auf der Sek I gelesen werden, so dass literarisches Lesen erlebbar wird. • Literaturunterricht auf der Sek I sollte alle Schüler*innen erreichen, auch die, die keinen oder nur einen begrenzten Zugang zum Lesen haben. Hier bieten Texte in einfacher Sprache auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen (z.B. graded readers) einen Zugang für alle. • Multimodale Texte wie Comics, Graphic Novels und bebilderte Bücher, die innerhalb der literarischen Entwicklung einen innovativen Strang bilden, erfordern eine andere Art des Lesens (vgl. M AYER 2020) und fördern die visuelle Literalität. • Literatur ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft und bildet aktuelle Themen ab, wodurch die kritisch-kulturelle Literalität gefördert werden kann. Themen wie die Klimadiskussion, der Einsatz für soziale Gerechtigkeit können im Sinne einer kulturellen und literarischen Aufarbeitung in den Fremdsprachenunterricht geholt werden. Jugendliteratur reflektiert auch die Genderthematik und bildet sich wandelnde geschlechtliche Identität(en) ab. • Methodisch haben sich für die Sek I solche Zugänge als relevant herauskristallisiert, die Schüler*innen aktivieren und zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten sowie kognitiv-affektiven Reaktionen auf sie einladen. Dies können autonome Arbeitsformen wie der Einsatz von Lesetagebüchern und Lesestrategien sein oder kreative und handlungsorientierte Zugänge zu Texten. • Für die Erforschung des fremdsprachlichen Literaturunterrichts auf der Sek I bedarf es weiterer Studien wie der von L EHRNER - TE L INDERT (2021) und G AR - DEMANN (2021). Die Kombination aus quantitativen und qualitativen Daten trägt dazu bei, mehr über die Wirksamkeit und Relevanz der Arbeit mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht zu erfahren. Auch wenn die digitalen Medien immer raumgreifender werden, richten sich die Beiträge des Themenheftes vor allem auf das analoge, lineare Lesen von gedruckten Texten. Die Stavanger Erklärung spricht sich dafür aus, dass weiterhin Printbücher gelesen und beworben werden (vgl. C OST 2019). Dabei werden Texte auf E-Readern ebenfalls als linear gelesene betrachtet, wohingegen Netzlektüren, die vielfach ein multimodales Netzwerk von weiteren Texten und Bezügen einbinden (vgl. Wolf 2019), typischerweise nicht linear gelesen werden. Lesen ist ein kulturelles Gut, für das wir die Fähigkeiten des Gehirns auf komplexe Weise nutzen und bewahren sollten: Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 Ich bin der festen Ansicht, dass wir als menschliche Art die Errungenschaften unserer kollektiven Intelligenz, Empathie und Weisheit am besten dadurch für die Zukunft erhalten und weitergeben können, dass wir die kontemplative Dimension des lesenden Gehirns nähren und schützen (W OLF 2019: 25). Zu den einzelnen Beiträgen: Ein Jugendbuch auf Französisch (der L3) zu lesen, ist herausfordernd. C HRISTOPH M AYER geht in seinem Beitrag den Weg des episodalen Lesens, indem er zu längeren Passagen aus dem Jugendbuch Le dernier qui sort éteint la lumière des jungen kanadischen Autors Simon Boulerice aktivierende Aufgaben vorstellt, die auch transkulturelle Aspekte aufgreifen. Die Schüler*innen bekommen einen Einblick in die Handlung und die spezifische Form des Buches, die sowohl aus Briefen als auch aus Tagebucheinträgen besteht. Die Familienstruktur mit zwei Vätern und den 13-jährigen Zwillingen, Tochter Alia und Sohn Arnold, der als Erzähler fungiert, ist eine erfrischende Überwindung von Heteronormativität. Gleichzeitig stehen typische Themen des Coming-of-Age im Zentrum. In ihrem Beitrag stellt E LISABETH L EHRNER - TE L INDERT ausgewählte Ergebnisse ihrer in den Niederlanden durchgeführten Studie zum literarischen Lesen im DaF Unterricht vor. Anhand einer Fragenbogenuntersuchung legt sie dar, welche Bedürfnisse und Erfahrungen Lehrpersonen im Umgang mit Literatur im Unterricht haben. Hier zeigt sich der Wunsch nach mehr Unterstützung sowohl bei der Auswahl von literarischen Texten als auch bei deren Umsetzung im Unterricht. Weiterhin gewährt L EHRNER - TE L INDERT Einblicke in ihre Leseinterventionsstudie zum Literatureinsatz in der Sek I. Die Analyse der quantitativen Daten gibt Anlass zu einem vorsichtig positiven Ausblick auf die Wirkkraft von Literatur für die Lesekompetenz. H EIKO K IST und A NNIKA K OLB haben in einer 9. Realschulklasse unter Lockdown- Bedingungen ein Leseprojekt mit Bilderbüchern für ältere Leser*innen durchgeführt und ausgewertet. Die Autor*innen stellen die Charakteristika dieser Texte im Vergleich zu Kinderbüchern dar und gehen ihrem Potential für die Sek I nach. Die ausgewählten Bücher decken ein Spektrum an Themen und Zeichenstilen ab und spielen mit den Möglichkeiten der Text-/ Bildkombination und der Förderung von visueller Literalität. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schüler*innen sich nach anfänglichen Bedenken auf dieses multimodale Leseprojekt eingelassen haben und daraus einen persönlichen und sprachlichen Gewinn ziehen konnten. Das freie Südafrika ist ein junges Land mit einer leidvollen Geschichte. S ABINE B INDER öffnet den Leser*innen die Augen dafür, wie man die Jugendliteratur Südafrikas als Spiegel der Entwicklung des Landes lesen kann. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden jeweils mit aktuellen Jugendbüchern verknüpft. Jede Zeitspanne hat ihre eigenen Themen, über die sich Verbindungslinien zu den Schüler*innen ziehen lassen: Where do I come from? (past); Where do I belong? (present); Who will I become? (future). Die Texte bieten gleichaltrige Identifikationsfiguren und greifen auch schwierige Themen auf. D ANIELA C ASPARI hat sich eines Bereichs angenommen, der bislang aus fachdidaktischer Sicht wenig Aufmerksamkeit erhalten hat: französische Literaturwettbewerbe. Sie fokussiert auf den Prix des lycéens und Francomics. Der Prix des lycéens hat den 8 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 51 • Heft 1 Schwerpunkt in der Sek II und richtet sich vorrangig an Französischlernende an Gymnasien; seit Kurzem werden jedoch auch Schüler*innen der Sek I (Niveau B1) zur Teilnahme eingeladen. Francomics fokussiert auf das Lesen von bandes dessinées (BD) und ist explizit auf Sekundarschüler*innen ab dem 2. Lernjahr ausgerichtet. Caspari zeigt, wie Literaturwettbewerbe Motivation für das Lesen von Jugendbüchern und BDs auf Französisch fördern und den Französischunterricht bereichern. Lehrwerksunabhängige Lektürearbeit im Englischunterricht der Sek I lässt sich mit graded readers durchführen. Für die englische Sprache steht ein großer Fundus an Texten zur Verfügung: vereinfachte Originale (simplified originals) und Originaltexte, die in einfacher Spracheverfasst wurden (simple originals) und die für Sekundarschüler*innen verstehbar und zugänglich sind. N IKOLA M AYER zeigt auf, dass die Diskussion um Texte in einfacher Sprache durch die Kategorie der Einfachheit in der Kinder- und Jugendliteratur neue Impulse erhalten hat. Ein Leseprojekt in einer 5. Klasse und die Erfahrungen von zwei jungen Lehrpersonen veranschaulichen, wie es gelingen kann, Schüler*innen für das Lesen von Texten zu begeistern. Der Beitrag von B RITTA F REITAG -H ILD eröffnet eine weitere Dimension für die Arbeit mit Kinder- und Jugendliteratur. Im Zentrum steht die Ausbildung von critical literacy, d.h. die Schulung eines kritischen Blicks und reflexiver Fähigkeiten, mit denen jugendliche Leser*innen zu aktiven agents of change werden. Bewegungen wie Black Lives Matter werden mit dem Jugendbuch The Hate U Give verbunden; das anhaltende Interesse Jugendlicher an der Zukunft dieser Welt und ihr Einsatz für eine Klimarevolution wird über climate literature aufgearbeitet und am Beispiel der Romanserie Seekers und dem Bilderbuch Greta and the giants thematisiert. Literatur A TKINSON , Ruth (2021): What Kids Are Reading and How_UK Report. The Summary. https: / / www.renlearn.co.uk/ renaissance-blog/ what-kids-are-reading-2021-the-summary/ (16.01.2022). B URWITZ -M ELZER , Eva (2003): Allmähliche Annäherungen. Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. C OST (E UROPEAN C OOPERATION IN S CIENCE AND T ECHNOLOGY ) (2019): Stavanger Declaration Concerning the Future of Reading. http: / / ereadcost.eu/ wp-content/ uploads/ 2019/ 01/ StavangerDeclaration.pdf (15.11.2021). C OUNCIL OF E UROPE (2018): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Companion volume with new descriptors. Strasbourg: Council of Europe. D A R OCHA , Karin / H AIDACHER -H ORN , Agnes / M ÜLLER -C ARON , Amy (Hrsg.) (2017): Picture That! Picturebooks, Comics and Graphic Novels in the EFL Classroom. Research & Teaching Implications. Graz: Leykamp. D ELANOY , Werner / E ISENMANN , Maria / M ATZ , Frauke (Hrsg.) (2015): Learning with Literature in the EFL Classroom. Frankfurt/ M.: Lang. D IEHR , Bärbel / F RISCH , Stefanie (2010): „Lesen sie doch? - Fragen an die LiPs-Studie (Lesen im Englischunterricht auf der Primarstufe)“. In W ETH , Constanze (Hrsg.): IMIS Beiträge: Schrift- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0001 erwerb unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht. Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, 143-163. D IEHR , Bärbel / S URKAMP , Carola (2015): „Die Entwicklung literaturbezogener Kompetenzen in der Sekundarstufe I: Modellierung, Abschlussprofil und Evaluation“. In: H ALLET , Wolfgang / S URKAMP , Carola / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Literaturkompetenzen Englisch. Modellierung - Curriculum - Unterrichtsbeispiele. Stuttgart: Klett/ Kallmeyer, 21-40. G ARDEMANN , Christine (2021): Literarische Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Eine Mixed-Methods Studie mit Hamburger Englischlehrer*innen. Berlin: Metzler. G RÜNEWALD , Andreas / H ETHEY , Meike / S TRUVE , Karen (Hrsg.) (2020): KONTROVERS. Literaturdidaktik meets Literaturwissenschaft. Trier: WVT. H ALLET , Wolfgang (2009): „Romanlektüre und Kompetenzentwicklung: Vom narrativen Diskurs zur Diskursfähigkeit“. In: H ALLET , Wolfgang (Hrsg.): Romandidaktik. Theoretische Grundlagen, Methoden, Lektüreanregungen. Trier: WVT, 73-88. H ERMES , Liesel (2009): „Reading can be fun if…: Lektüren in der Sekundarstufe I“. In: H OLLM , Jan (Hrsg.): Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Trier: WVT, 7-22. H OLLM , Jan (Hrsg.) (2009): Literaturdidaktik und Literaturvermittlung im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Trier: WVT. L EHRNER - TE L INDERT , Elisabeth (2021): Fremdsprachliches Lesen mit literarischen Texten. Zur Entwicklung von Leseverstehen und literarischer Kompetenz im DaF-Unterricht der niederländischen Sekundarstufe I. Berlin: Erich Schmidt. L ÜTGE , Christiane (Hrsg.) (2019): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. Berlin/ Boston: De Gruyter. M ATZ , Frauke / R UMLICH , Dominic (2020): „Young Adult Fiction als empirischer Untersuchungsgegenstand der Literaturdidaktik“. In: G RÜNEWALD , Andreas / H ETHEY , Meike / S TRUVE , Karen (Hrsg.): KONTROVERS. Literaturdidaktik meets Literaturwissenschaft. Trier: WVT, 159-275. M AYER , Nikola (2020): „,Manchmal werfe ich mitten in einem Satz einen Blick auf die Bilder‘. - Eine andere Art des Lesens. Ergebnisse aus dem Projekt Reading Graphic Novels in the EFL Classroom“. In: Babylonia 2, 42-51. O’S ULLIVAN , Emer / R ÖSLER , Dietmar (2019): „Kinder- und Jugendliteratur“. In: L ÜTGE , Christiane (Hrsg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. Berlin/ Boston: De Gruyter, 302-318. R OSEBROCK , Cornelia (2007): „Wege zur Lesekompetenz“. https: / / www.lesen-in-deutschland.de/ html/ content.php? object=journal&lid=775 (16.01.2022). W OLF , Maryanne (2019): Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. München: Penguin Verlag. DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 C HRISTOPH O LIVER M AYER * Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I: Simon Boulerices Le dernier qui sort éteint la lumière Abstract. Given the limited language competences of young L3-learners, the range of possible literature in French classes is very limited. The article presents the example of the young French Canadian writer Simon Boulerice and his novel Le dernier qui sort éteint la lumière in order to show how young learners could read and discuss selected parts of this novel in class. By focussing on transcultural aspects of the Quebec area, a task-based learning approach allows secondary pupils at B1-level to read the text, to learn about the intersectional complexity of life and, hopefully, this motivates them to continue reading. 1. Einleitung Kanada war 2020 als Gastland der Frankfurter Buchmesse vorgesehen und zu diesem Anlass war es das Anliegen der deutschen Botschaft Kanadas in Berlin, die Verbreitung frankophoner kanadischer Jugendliteratur in Deutschland zu fördern. Neben aktuellen Übersetzungen sollten gezielte Handreichungen für den Einsatz im schulischen Französischunterricht angeboten werden, die in Kooperation mit der Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin entstehen sollten. Wie so vieles im Jahr 2020 fiel allerdings auch die Buchmesse der Corona-Pandemie zum Opfer und die vorgesehenen universitären Lehrveranstaltungen mussten ad hoc in Online-Kurse umgewandelt werden. Nichtsdestotrotz wurde im Rahmen der Beschäftigung mit sechs Texten der aktuellen kanadischen Jugendliteratur (Simon B OULERICE : Le dernier qui sort éteint la lumière; Iris M.: L’horloge: 44; Samuel C HAMPAGNE : Antonin; Susin N IELSEN : Sans domicile fixe; François G RAVEL : Neuro; Stéphanie P ERRON : Corde raide) ein Jugendroman entdeckt, der die literaturdidaktischen Voraussetzungen für den Einsatz im Französischunterricht der Sekundarstufe (Zweite Fremdsprache / Klasse 10) erfüllt und durch * Korrespondenzadresse: PD Dr. Christoph Oliver M AYER , Institut für Romanistik, Technische Universität Dresden, 01062 D RESDEN . E-Mail: christoph.mayer@tu-dresden.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Interkulturelles Lernen, Literatursoziologie. Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 11 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 didaktische Unterfütterung insbesondere für das interbzw. transkulturelle Lernen eingesetzt werden kann. Le dernier qui sort éteint la lumière (B OULERICE 2019) beschreibt die Geschichte einer Regenbogenfamilie aus dem frankokanadischen Montréal und eignet sich besonders gut, um motivierende Themen aus der Welt der Jugendlichen zu thematisieren: die Suche nach der eigenen Identität, das Verhältnis zwischen Eltern und pubertierenden Kindern, die erste Liebe. In einem den deutschen Leserinnen und Lesern eher fremden Kontext, dem kulturellen Mosaik Québecs, zeigt sich ein relativ lockeres und wenig problembehaftetes Verständnis von Individualität und Transkulturalität, von Offenheit und Diversität und damit eine Facette der Frankophonie, die sich zwischen der uns vertrauteren US-amerikanischen Jugendkultur und einer gesellschaftlichen Liberalität europäischer Prägung ansiedelt. Zudem ist der Roman durch die Wahl unterschiedlicher Erzählperspektiven (Ich-Erzählungen des 13jährigen Arnold, Briefe der beiden Väter Julien (genannt Papou) und Édouard (Poupa), Dialoge mit der Zwillingsschwester Alia, mit Freunden und mit der leiblichen Mutter sowie E-Mails) und verschiedener Fokalisierungen (Sicht der Jugendlichen, Sicht der Eltern) erzähltechnisch vielschichtig und innovativ. Und überdies offeriert er durch die Sprechweise des jugendlichen Protagonisten die Varietät eines zeitgenössischen Französisch, welches Schülerinnen und Schüler nicht von vornherein überfordert. Sie können durch Anglizismen, Verweise auf die von ihnen geteilte Jugendkultur und viele Emotionen dem Text inhaltlich weitgehend folgen. Anhand dieses Beispiels wird im Folgenden gezeigt, dass eine literarische Ganzschrift in der Sekundarstufe 1 basierend auf ausgewählten Ausschnitten mittels unterschiedlicher Hilfestellungen erschlossen werden kann (Kapitel 1) und wie der hier vorgestellte literarische Text (Kapitel 2) in das interkulturelle Lernen eingebettet wird (Kapitel 3). Abschließend wird hierzu ein Materialbeispiel, das im Rahmen der obengenannten Lehrveranstaltung angefertigt wurde (Kapitel 4), präsentiert und diskutiert, bevor mit einem Ausblick der Beitrag geschlossen wird (Kapitel 5). 2. Das Ganze in Ausschnitten: Französische Jugendliteratur in der Sekundarstufe 1 Eine grundlegende Vermittlungspraxis epischer Dramen besteht darin, das Ganze in Ausschnitten zu präsentieren, um insbesondere eine lebensweltliche Rezeption zu fördern (vgl. K LOTZ 1999). Da spätestens mit Bertolt Brecht sich ein solches Verfahren unbestritten etabliert hat, verwundert es doch sehr, warum literarische Texte grundsätzlich nicht episodal erschlossen werden sollten. Die Forderung, narrative Ganzschriften im Unterricht grundsätzlich so zu behandeln wie eine außerschulische identifikatorische Lektüre, ignoriert, dass es neben der dramatischen Zuschauerhaltung auch theatralische und epische Erschließungszugänge gibt (vgl. M ATZAT 1982) und diese gerade auf gesteuerte Romanlektüren anwendbar sind. Zudem würde mit einer einseitig dramatischen Lesart zu einem wortwörtlichen Verstehen aller inhaltlichen 12 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 Details und einem genauen Erfassen aller sprachlichen Spezifika aufgefordert. Das Ergebnis wären naive und keine autonomen Leserinnen und Leser, die zudem im Fremdsprachenunterricht jedes unbekannte Wort nachschlagen. 1 Weder das Erfassen von Textinhalten noch die Herausbildung von ästhetischer Urteilsfähigkeit und erst recht nicht eine critical literacy können, so die hier vertretene Grundthese, durch das traditionelle chronologische gemeinsame Lesen von Ganzschriften im Unterricht besser gefördert werden. Gerade in der zweiten oder dritten Schulfremdsprache muss Literaturunterricht nicht (mehr) an die Gattungsspezifik des Romans heranführen oder basale textanalytische Fragestellungen in den Vordergrund rücken; das strukturelle Kennenlernen von Ganzschriften spielt daher nicht mehr die zentrale Rolle. Aus dem erstsprachlichen Deutsch-Unterricht wissen Schülerinnen und Schüler um Gestaltungsprinzipien narrativer Texte und kennen die Grundstrukturen von Geschichten, während sie das Lesen in der Fremdsprache vor ganz neue Herausforderungen stellt, - und das vor allem, da sie nur über einen begrenzten Wortschatz verfügen und mit fremdkulturellen literarischen Welten konfrontiert werden. Ein durch Ausschnitte hergestellter überschaubarer Leseumfang, der, lernaufgabenorientiert aufbereitet, Neugierde und Leselust weckt, sollte daher einen zentralen Stellenwert im entdeckenden literarischen Lernen bekommen (vgl. auch W ELLER 1999: 49). Genauso kennen Schülerinnen und Schüler, wenn nicht aus eigener Lektüre, so aus dem Konsum anderer Medien (Film, TV, Social Media) sehr wohl die erwartbaren Inhalte und Vermittlungsformen von Jugendliteratur. Eventuell können weitere Lernhilfen durch Übersetzungen oder mediale Aufbereitungen bei der Erschließung dienlich sein. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, wie das folgende längere Zitat unterstreicht, das für ein transmediales Lesen) plädiert: Mit der Frage […] verbunden ist auch jene danach, inwieweit längere Texte als Ganzschrift oder nur teilweise in Auszügen gelesen werden sollen. In gewisser Weise ist es eine didaktische Adaption, wenn zum Beispiel ein Roman zum Teil als Text gelesen wird, andere Kapitel in einer verfilmten Fassung rezipiert werden und wieder andere eventuell im Klassenverbund arbeitsteilig erarbeitet werden, sodass bestimmte Lernende Experten für die Inhalte bestimmter Kapitel und/ oder Figuren werden. Das Zusammenspiel von Originaltext und medialen Adaptionen wird für viele junge Lernende ohnehin eine Spiegelung ihres Mediennutzungsverhaltens sein und aus deren Perspektive nicht einmal besonders erwähnenswert. Die didaktisch interessanten Fragen sind dann, an welchen Stellen man welche Repräsentationsformen der Geschichte in den Unterricht einbaut, wann arbeitsteilig gelesen werden kann und wann eine Umwandlung eines Romanteils in eine Inszenierung sinnvoll ist. (O’S ULLIVAN / R ÖSLER 2019: 314) 1 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von G IER (2000: 35) zur fremdsprachlichen Lektüre von Studierenden: „Studienanfänger werden häufig bemüht sein, ihre Sprachkenntnisse zu erweitern, deshalb jedes unbekannte Wort nachschlagen und vielleicht sogar in ein Vokabelheft eintragen. Dieses Verfahren ist naturgemäß sehr langwierig; nicht nur das Vergnügen am Text kommt dabei zu kurz, es besteht auch die Gefahr, daß über dem Bemühen, einzelne Wörter und syntaktische Strukturen zu verstehen, der Sinnzusammenhang in den Hintergrund tritt.“ Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 13 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 Zentrale Inhalte können vorentlastet werden, wobei es weniger ratsam ist, einen ganzen Roman unter einem einzigen Fokus zu betrachten. Vielmehr gilt es, Interdependenzen im Sinne einer gesellschaftlichen Intersektionalität und Transkulturalität aufzuzeigen (vgl. L UTZ / W ENNING 2001). Ein Lernen mit und ein Lesen von Ausschnitten verstehen sich also dergestalt nicht als Zeichen einer Komplexitätsreduktion, ganz im Gegenteil entfaltet sich dadurch ein Panorama an Themen. So schlicht die Szenerie des hier betrachteten Romans Le dernier qui sort éteint la lumière auch wirken mag, so komplex ist bei näherer Hinsicht die Thematik des Werkes, welches die (bisher nur spärliche) Sekundärliteratur oftmals auf die Frage nach der genetischen Herkunft reduziert hat. 2 Einwände im Hinblick auf das ästhetische Lernen, das sehr stark von einer dichten Lektüre und einer Auseinandersetzung mit der sprachlichen Gestaltung profitiert, wären berechtigt, wenn es hier allein um die Würdigung als literarisches Werk ginge. So wie aber immer noch Lektüreanreize durch Klappentexte, Zusammenfassung oder das Durchblättern und Reinlesen in den Text, etwa in einer Buchhandlung, gesetzt werden, können Ausschnitte genauso Eindrücke verschaffen und Vorerwartungen wecken, die bei der konkreten Lektüre dann sich verfestigen oder revidiert werden. Ohnehin kann Unterricht nur die individuelle und extensive Lektüre mit ihren ureigenen Rhythmen und Lesemodi anregen, wofür gut gewählte Ausschnitte dienlich sein dürften. Ein solch selektives Lernen ist als ein probates Mittel und Anreiz für ein individuelles Eintauchen in die Ganzschrift bereits beschrieben worden (vgl. H ALLET 2010: 8). Die Auswahlkriterien für geeignete Textausschnitte sollten sich daher an den Zielsetzungen des Unterrichts orientieren und können mit konkreten Lernaufgaben kombiniert werden. Um den Originaltext allerdings nicht zu entstellen, eignen sich für ein solches Vorgehen insbesondere Texte, die bereits selbst in übersichtliche Kapitel aufgeteilt sind und eine solche Rezeption begünstigen. Unter diese Kategorie fallen neben Briefromanen verschiedene serielle Erzählformen sowie auch Comics, Graphic Novels und andere multimediale Literaturformen, die sich verschiedener Vermittlungskanäle bedienen. 3. Episodales Lesen von Simon Boulerice: Le dernier qui sort éteint la lumière Im Falle von Le dernier qui sort éteint la lumière, dessen Haupttext 180 Seiten umfasst, arbeitet bereits die Makrostruktur einer solchen episodalen Lektüre zu: Wir 2 Vgl. G AGNON 2017: „Avec cette œuvre qui s’inscrit totalement dans ce qu’on peut appeler le genre Boulerice, avec ces références à la culture pop, ici par le biais des téléréalités, l’humour particulier, la langue très québécoise employée, Simon Boulerice aborde un thème important: les liens génétiques. Il le fait ici par le biais d’une famille homoparentale, mais la même question se pose dans les familles recomposées ou pour les enfants adoptés. Qu’est-ce qui fait qu’on est l’enfant de quelqu’un? Est-ce que les gènes sont tout? “ 14 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 erleben dreizehn Tage im Leben der Zwillinge, die wie eine Art Tagebuch als Kapitelüberschriften dienen, von „Lundi 1 er mai“ bis „Samedi 13 mai“. Jedes einzelne dieser Kapitel weist darüber hinaus aber nicht nur einen narrativen Fließtext auf, den zumeist der Ich-Erzähler Arnold im Sinne seines persönlichen Tagebuchs beginnt. Da der Roman so angelegt ist, dass die Zwillinge Alia und Arnold an ihrem 13. Geburtstag die Wahrheit über ihren genetischen Vater erfahren sollen und dafür in kurzen Briefen bereits vorab über die Hintergründe der Familiengeschichte informiert werden, sind diese Briefe der Väter in die Kapitel integriert. Hinzu kommen vielfältige Erzählperspektiven, die sich besonderer mimetischer wie graphischer Mittel bedienen. Der erste Brief, verfasst von Papou Julien, wird sozusagen handschriftlich abgedruckt. Ebenfalls im ersten ‚Kapitel‘ sehen wir in der Handschrift des erzählenden Arnold Notizen, die der Junge anlegt, um abzuwägen, welcher Vater eher der biologische sein könnte. Abb. 1: Notizen von Arnold (B OULERICE 2019: 20) Allein auf den ersten zwölf Seiten haben wir es also mit zwei Erzählerstimmen (Arnold, Julien) zu tun. Es herrscht ein personales Erzählen vor, das sprachlich im eher kolloquialen Erzählstil eines 12-jährigen gehalten ist. Thematisch geht es zunächst um die expositorische Vorstellung der besonderen Familienkonstellation. Dann tritt, deutlich markiert mit dem Wechsel des Tempus: „La semaine passée, Alia m’a fait réaliser“ (B OULERICE 2019: 14), die Frage nach deren Genese in den Vordergrund. Im zweiten Kapitel ist die Ich-Erzählung Arnolds durchmischt mit Dialogszenen, durch die wir die Freunde und die Schwester, ihre Hobbies und ihre Umgangsformen besser kennenlernen. Der zweite Brief liegt dieses Mal in getippter Form vor und wird, Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 15 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 abgesetzt durch eine andere Schriftart, wiedergegeben und im Gespräch mit Alia kommentiert. Abb. 2: Übergang vom Fließtext zum Brief (B OULERICE 2019: 36) Kapitel 3 rückt analog dazu die Sicht Alias in den Vordergrund. Der getippte Brief stammt dieses Mal von Poupa Édouard, der deutlich routinierter und entsprechend den Briefkonventionen schreibt. Im vierten Kapitel ist Arnold gleichsam der auktoriale Erzähler; Juliens Brief enthält eine sehr umfangreiche dialogische Szene. Danach wird das Zusammensein mit Arnolds Schwarm Cassandre ebenso wie der Besuch der leiblichen Mutter, Marraine Sandrine, hauptsächlich in Dialogen geschildert. Im Kapitel 5 wird zunächst der Freundeskreis beobachtet und der Brief Édouards schließt mit seinen Dialogen ebenso an das vorherige Kapitel an. Das sechste Kapitel hingegen bringt Abwechslung, steht der Brief doch am Anfang und es wird suggeriert, dass wir Arnolds Leseprozess folgen, zumal die Folgeereignisse im Präsens erzählt werden. Am siebten Tag begegnet uns eine Analyse aus der Sicht Arnolds, bevor wir einen recht langen Brief Papous mit hohen Dialoganteilen lesen. Im achten Kapitel werden wir sozusagen live in den Schulunterricht hineinversetzt, der Brief wird abrupt eingeflochten und erst im Nachhinein situiert, während ein Telefongespräch mit der Mutter wörtlich wiedergegeben wird. Das folgende Kapitel schildert uns die Geschehnisse aus der Wir-Perspektive der Geschwister und wir folgen der Lektüre des Briefes durch Alia. Kapitel 10 weist drei Zeitschienen auf: die Lektüre des Briefes, ein Gespräch der Geschwister und das abendliche Telefonat mit Cassandre. Am elften Tag fällt der sehr elaborierte Stil auf, mit dem Arnold seine Erzählungen schmückt. Das darauffolgende Kapitel ist wie ein Erlebnisbericht im Präsens konzipiert und enthüllt, dass Poupa der „vrai vrai papa“ (B OULERICE , 177) ist. Der letzte Tag, der Geburtstag, der auf Samstag, den 13. Mai fällt, wird in einem kolloquialen Stil erzählt und integriert 16 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 den letzten Brief von Édouard, bevor abschließend die Perspektive des Ich-Erzählers erweitert und die gemeinsame Sichtweise der ganzen Familie eingenommen wird. Im Projekt war als Erschließungshilfe die Nutzung der deutschen Übersetzung ursprünglich vorgesehen, die anlässlich der Buchmesse hätte erscheinen sollen. Der Corona-Pandemie geschuldet, wurde stattdessen die gleichsam szenische Lektüre eines Textausschnitts durch den Autor und ein Interview mit Simon B OULERICE zur Texterschließung diskutiert. 3 Darüber hinaus wurde auf klassische Vokabelhilfen zurückgegriffen, die je nach Vorwissensstand variabel dem Sprachniveau angepasst werden konnten. Hierbei war es wichtig, Schülerinnen und Schüler nicht einfach mit der deutschen Übersetzung der Einzelvokabeln zu konfrontieren. Stattdessen wurde die Eigensemantisierung angeregt; es wurde mit interlingualen Transferbasen gearbeitet und eine Erschließung von Vokabular über vorhandene Englisch-Kenntnisse angeregt; Paraphrasen, Kontextualisierungen und Illustrationen kamen auch zum Zuge. 3. Interkulturelles Lernen am Beispiel Le dernier qui sort éteint la lumière Als „roman d’aujourd’hui pour jeunes d’aujourd’hui“ (C AUSSE 2005 bzw. T OPF 2009) bietet Le dernier qui sort éteint la lumière die Gelegenheit zur Erweiterung des individuellen Erfahrungshorizonts durch die Präsentation von alternativen Lebensentwürfen und Lebensumgebungen. Die Zielsetzung der Kombination aus literarischem und interkulturellem Lernen besteht darin, dass Schülerinnen und Schüler ein Bewusstsein für Diversität und Transkulturalität entwickeln. Das kanadische „mosaïque culturelle“ (G AGNON 2011, H OERDER 2018) ist deutschen Schülerinnen und Schülern weniger geläufig, könnte aber anlässlich der Lektüre zumindest in Ansätzen diskutiert werden. Das Konzept liefert eine Erklärung bzw. erleichtert die Einordnung der Toleranz für verschiedene Lebensmodelle in Québec. Es kann dazu dienen, das Wissen jenseits der im Text genannten Formen des Zusammenlebens zu erweitern und den dahinterstehenden Ansatz von Transkulturalität kennenzulernen (W ELSCH 1999) bzw. transkulturelle Bildung anzuregen (K EPSER 2015). Le dernier qui sort éteint la lumière präsentiert uns die Lebenswelt von Jugendlichen im zeitgenössischen Montréal. Dass es sich um das frankophone Kanada handelt, fällt sprachlich (Québecois, Anglizismen) wie inhaltlich (nordamerikanische Jugendkultur) durchaus auf. Einige der Vorlieben und Aktivitäten der Jugendlichen lassen sich auf nordamerikanische Gepflogenheiten zurückführen: die Vorliebe für Superhelden-Comics und Reality-TV, die Begeisterung für Arnold Schwarzenegger, der Besuch einer Synchronschwimm-Veranstaltung, die Frühstücksflocken, die populärkulturellen Referenzen (von Columbo bis Whitney Houston). Das Französisch der 3 Zu verweisen wäre hierbei auf verschiedene youtube-Videos und ein Interview anlässlich des Canada- Day Germany 2020, https: / / canadaday-germany.de/ (20.03.2021). Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 17 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 Protagonisten ist mit Anglizismen („cute“, „alien“, „deal“, „burnout“, „wise“, „lift“, „timing“) durchsetzt. Hinzu kommen spezifische Umstände wie der, dass es in Québec bereits vor 15 Jahren für zwei Männer rechtlich möglich wurde, zu heiraten und gemeinsam Kinder zu adoptieren. Das Thema Familienkonstellation steht eindeutig im Mittelpunkt, wird aber durchaus erfrischend unaufgeregt behandelt. So erscheint Arnold seine eigene Familie im Vergleich mit anderen durchaus vorteilhaft: Si je bénéficie de deux papas depuis plus de 12 ans, mon ami, lui, n’a ni père ni oncle ni grand-père. Avec en plus ma sœur jumelle, Marraine Sandrine, mes grands-parents, mes tantes et mes oncles à profusion, sans compter mes huit mille cousines, on peut dire que je suis un privilégié (B OULERICE 2019: 78). Das Thema einer unorthodoxen Großfamilie schließt an Erfahrungswelten von Schülerinnen und Schülern an. Dass es in dieser Familie zwei Väter gibt, mag vielleicht den einen oder anderen noch erstaunen, wird aber eben nicht als etwas Schwieriges, Problematisches oder gar Anstößiges thematisiert (vgl. M AYER 2015: 214). Und dieses Verständnis von Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Andersartigkeit legt sich der Protagonist im Laufe seiner Aufzeichnungen ebenfalls zu. Anfangs vergleicht er sich mit seinem Freund Yannick und bemerkt, dass jede Familie Alltagskonflikte zu bewältigen hat. Quand je compare mes parents à ceux de Yannick (la mère de Max étant célibataire), je vois bien qu’ils ne sont pas si différents. Il y a aussi dans leur couple des périodes d’amour entrecoupées de disputes banales. Des chicanes pour des niaiseries. J’ai déjà surpris la mère de Yannick engueuler son mari parce qu’il ne baissait toujours pas le siège de toilette après avoir fait pipi. C’est la même chose pour presque tous les couples de parents que je connais. Mes papas n’échappent pas aux trivialités du quotidien des couples hétérosexuels. La seule différence: ce sont deux hommes (B OULERICE 2019: 100). Ähnlich entdramatisierend geht B OULERICE mit typischen Problemen der Pubertät um: Jeder einzelne der Freunde von Arnold hat seine eigenen kleinen Schwierigkeiten, der eine fühlt sich zu schwach, der andere zu klein, der dritte ist zu schüchtern. Eine Diskussion über diese Eigenarten der fiktiven Charaktere erlaubt es, Empathie und Akzeptanz bzw. einen Umgang mit eigenen Unzulänglichkeiten und etwaigen Hänseleien zu entwickeln. Eine Idealvorstellung für ein solches Miteinander liegt im kanadischen Transkulturalitätsmodell. Das friedfertige Miteinander von Herkunftskulturen kann für Schülerinnen und Schüler als ein Ideal von Individualität und Pflege der als eigene verstandene Kultur vor dem Hintergrund eines gemeinsamen auf Toleranz basierenden Zusammenlebens vereinfacht werden. Die Uridee, formuliert 1971 vom Premierminister Pierre E. Trudeau - „Nous croyons que le pluralisme culturel est l’essence même de l’identité canadienne. Chaque groupe ethnique a le droit de conserver et de faire épanouir sa propre culture et ses propres valeurs dans le contexte canadien […] Une politique de multiculturalisme doit s’appliquer à tous les Canadiens sans distinction.“ (C HAMBRE DE C OMMUNES 1971) -, ließe sich als Grundlage dafür auch im 18 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 Unterricht besprechen, ohne auf die Erweiterungen und Nuancierungen des Konzepts im Gefolge der 1980er Jahre bis heute unbedingt eingehen zu müssen. Dieses multiperspektivische Leitbild wird im Roman durchaus mit all seinen Schwächen dominanzkritisch gezeichnet. Keineswegs wird verschwiegen, dass die Väter im Québec der 1980er Jahre noch flächendeckend Homophobie erleiden mussten. Auch Arnold fürchtet einen Mitschüler, der ihn wegen seiner homosexuellen Eltern schikaniert. Insbesondere aber die Szene im vorletzten Kapitel, als die Familie für das Minigolf-Spiel einen Familienpass lösen möchte, der ihnen von der Verkäuferin verwehrt wird, zeigt in der Reaktion Alias einen selbstbewussten positiven Umgang als Rollenmodell: — Pardon? Ce sont nos deux vrais papas, et on est leurs deux vrais enfants. J’ai peut-être pas encore 13 ans, mais il me semble que ça prend pas la tête à Papineau pour voir qu’on est une vraie de vraie famille, madame la fausse blonde! (B OULERICE 2019: 184) Damit verfällt der Roman nicht dem Fehler, Harmonie um jeden Preis erzeugen zu müssen, was als kontraproduktiv insbesondere für ästhetische Bildung beschrieben worden ist (K ÜSTER 2015: 25). Und trotzdem bietet er gleichzeitig eine dekonstruierende Entdramatisierung an, die als empowerment für Vielfalt jenseits des Mainstreams verstanden werden kann (F AULSTICH -W IELAND 2004: 7). 5. Lernaufgabenorientiertes Arbeiten mit einem literarischen Textausschnitt Wird der literarische Text in eine Lernaufgabe eingebettet, muss dafür Sorge getragen werden, dass hier nicht bloß zu instrumentellem Lesen angeleitet wird, sondern diskursive Erkenntnisse und ästhetische Erfahrungen möglich werden. Zu den Lernzielen sollte im vorliegenden Beispiel der Rückbezug auf sich selbst treten (vgl. H ALLET 2010: 3). Schülerinnen und Schüler sollten sich in die Thematik hineindenken und sich insbesondere fragen, ob die geschilderten Lebensumstände im Roman tatsächlich Problemcharakter tragen. Als Textausschnitt wurde zum einen eine Passage rund um den oben zitierten Vergleich Arnolds mit den auf den ersten Blick so normalen Familien seiner Mitschüler gewählt (B OULERICE 2019: 98-100, Kapitel „Dimanche, 7 mai“, von „Nos papas“ bis „Vraiment? “). Zunächst werden einige Skurrilitäten der eigenen Väter berichtet - mit der Quintessenz „Voilà toute la dynamique parentale des Morin-Aubert“ (B OULERICE 2019: 99). Daraufhin wird die noch offenbleibende Frage durchgespielt, ob die eigene Familie auch bezüglich ihrer Genese im wichtigsten Punkt mit anderen gleichsam mithalten kann: Waren die beiden Zwillinge auch Wunschkinder? („Nos papas passent leur temps à nous rabâcher les oreilles avec ça. « Vous avez tant été désirés ! » Vraiment ? “; B OULERICE 2019: 101). Diese Unsicherheit von pubertierenden Jugendlichen wird in der Lernaufgabe, die der Lektüre des Textausschnittes vorangestellt ist, direkt aufgegriffen. Sie ist als tâche finale folgendermaßen formuliert: Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 19 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 Vous allez donner des conseils sur la plateforme « Tel-jeunes ». Il faudra répondre aux questions de jeunes qui cherchent des solutions à leurs problèmes. Pour réaliser cette tâche, vous devrez lire un extrait d’un roman québécois, vous travaillerez sur le texte, vous réfléchirez aux questions de la vie familiale et vous devrez connaitre la situation au Québec que vous comparerez avec la nôtre en Allemagne. (Arbeitsblatt 1) 4 In der Lernaufgabe sind alle drei wesentlichen Elemente integriert: die Schülerinnen und Schüler sollen anhand eines Textausschnitts („extrait“), den sie sich durch Textarbeit und mit Hilfe eines Glossars und Vokabelhilfen, alternativ auch durch die gleichsam szenische Lesung des Texts durch den Autor selbst (vgl. Fußnote 3) erschließen sollen, über Familienkonstellationen („questions de la vie familiale“) und die spezifische Situation in Québec („la situation au Québec“) nachdenken und letztlich durch die Aufgabenstellung, Ratschläge auf einer real existierenden kanadischen Online-Plattform (Tel-jeunes), in der Jugendliche ihren Altersgenossen zur Seite stehen, im Hinblick auf die geschilderte Unsicherheit geben. Es wird also suggeriert, dass Arnold den vorliegenden Textausschnitt als Blogeintrag im Beratungsportal geschrieben hat und jetzt ein Feedback von anderen Jugendlichen erhalten möchte, womit die Aktivierung des Leseprozesses abgebildet wird. Das Anliegen, durch interkulturelle Literaturarbeit Haltungen und Empathieäußerungen anzuregen, wird somit aufgegriffen und in eine authentische Situation umgewandelt. Die Schülerinnen und Schüler wissen aber immer um die Fiktivität, da ihnen die Quelle des Romans mitgeteilt wird bzw. sie diese Lernaufgabe innerhalb einer ausführlicheren Unterrichtssequenz zu Le dernier qui sort éteint la lumière durchlaufen. Eine zweite Lernaufgabe bezieht sich auf die Passage, in der Arnold von seiner Schwärmerei für Cassandre berichtet und eingesteht, dass er in verschiedenen Situationen dazu tendiert, nicht die Wahrheit zu sagen. Dabei wird ein harmloses Beispiel geschildert, bei dem Arnold fälschlicherweise behauptet, die italienische Hauptstadt zu kennen und seinen Fehler - er tippt auf Venedig - nicht eingestehen mag. Daran schließt sich aber dann sein Unbehagen an, Cassandre von seinen beiden Vätern zu erzählen, was dazu führt, dass er lieber einen der beiden als seinen Onkel ausgibt. Die dafür gewählte Lernaufgabe - „Vous allez réfléchir dans quelle situation il est acceptable de mentir“ (Arbeitsblatt 2) 5 - wurde explizit offen formuliert und aufgrund der Gewissensentscheidung nicht auf ein bestimmtes Produkt hin formuliert. Nach der Lektüre des Textes (B OULERICE 2019: 43-46, Kapitel „Mercredi, 3 mai“ von „Le seul avantage“ bis „Il l’est! “) und der sprachlichen wie inhaltlichen Arbeit mit dem Ausschnitt wird im vorletzten Schritt folgende Aufgabe bearbeitet: „‚Ange et démon‘: Est-ce qu’Arnold devrait raconter à Cassandre qu’il a deux pères? Trouvez des arguments pour et contre. Jouez ange et démon qui veulent convaincre Arnold“ (ebd.). 4 Das hier zitierte Arbeitsblatt wurde auf einer Fortbildung der kanadischen Botschaft in Deutschland vorgestellt (M AYER 30.11.2020). 5 M AYER , Christoph Oliver / H AIN , Franziska / L ORENZ , Virginie / P OLJAKOFF , Stefanie / T ICHAUER , Jana (2021): Arbeitsblatt 2 zu Simon Boulerice Le dernier qui sort éteint la lumière. Publikation der Kanadischen Botschaft in Deutschland, Manuskriptfassung Stand 1.5.2021. 20 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 Das visuell in Erinnerung gerufene, aus Comics den Schülerinnen und Schülern wahrscheinlich vertraute Bild von Engel und Teufel als Verkörperung von Gut und Böse oder Moral und ‚innerem Schweinehund‘ bereitet in einem Rollenspiel die Suche nach Argumenten vor, die zunächst im Sinne einer Mindmap als Einzelvokabeln dann in einem letzten Schritt in die Form einer Erörterung mit einer persönlichen Stellungnahme gekleidet werden sollen. Dabei soll die Erörterung als ein Genre, das im Deutschunterricht praktiziert wird, dazu beitragen, den Fremdsprachenunterricht nicht unterkomplex zu gestalten. Als Scaffolding werden Wendungen zum Ausdruck persönlicher Meinungen sowie die Formulierung von Bedingungssätzen an die Hand gegeben, die überdies in dem entsprechenden Textauszug auch auftauchen. 6. Ausblick Beide Lernaufgaben sollten anhand eines Textbeispiels nicht einfach nur eine Lektüre der Ganzschrift rahmen. Angedacht war dabei, eine individuelle Beschäftigung mit dem Roman anzuregen (vgl. Kap. 1) und ein transkulturelles Lernen auch anhand von Textausschnitten zu ermöglichen (vgl. Kap. 3). Dabei wurde die Arbeit am Text im ersten Beispiel von der Absicht der Entdramatisierung getragen, sodass scheinbare Probleme dekonstruiert werden und das Augenmerk auf die ästhetische Gestaltung des Textes gelenkt wird. Im zweiten Beispiel sollte auch eine Auseinandersetzung mit der Beschreibung der Freundin erfolgen - „Cassandre, c‘est une fille qui sourit beaucoup. Elle a des fossettes, deux de chaque bord, et je trouve que ça lui donne un petit quelque chose.“ (B OULERICE 2019: 43). Schülerinnen und Schüler sollten diese Formulierungen bewerten und sozusagen den Grad der Verliebtheit daraus folgern. Sie wurden also aufgefordert, der Intensität der Affekte und der Emotionalität nachzuspüren, indem sie Zuordnungen wie „c’est charmant“, „c’est gentil“, „c’est génial“, „c’est sympa“ bzw. Emoticons als Antwort im Sinne eines Chats auswählen sollten (vgl. M AYER u.a. 2021 / Arbeitsblatt 2). Schülerinnen und Schüler, die mit der Textarbeit konfrontiert werden, sollten also nicht einfach nur ‚Appetit‘ bekommen weiterzulesen. Die Lernaufgaben sollten den Weg leiten für eine eigenständige Lektüre des Textes, die ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit vermeintlichen Problemen und auf die ästhetische Gestaltung des Romans legt. Dass ausgewählte Passagen des Textes zudem vom Autor selbst, aber auch von Schauspielern eingesprochen wurden und im World Wide Web auf frei zugänglichen Kanälen zur Verfügung stehen, ist ein weiteres hilfreiches Moment und lässt den Text auch mehrkanalig und transmedial rezipieren. Um Rückmeldungen einzuholen war eine Fortbildungsveranstaltung für Lehrinnen und Lehrer des Französischen sowie der Einsatz des Materials im Rahmen des Praxissemesters; durchgeführt werden konnten ein Beitrag zum Canada Day 2020 und ein Webinar in Zusammenarbeit mit der kanadischen Botschaft in Berlin und in (virtueller) Anwesenheit des Autors im April 2021. Die Kommentare zum Material, die im Zuge der Corona-Beschränkungen bisher spärlicher als geplant waren, deuten Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I 21 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 zumindest darauf hin, dass der gewählte Roman von Studierenden und Lehrenden sehr gut bis enthusiastisch angenommen wird. Der in Kanada selbst nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bereits etablierte Autor ist für uns sicherlich eine Entdeckung, von der wir noch viel hören werden. Literatur A LTER , Grit (2016): „Transkulturelle Kompetenzen durch transkulturelle Literatur - Implikationen für den Fremdsprachenunterricht“. In: R ÜCKL , Michaela (Hrsg.): Sprachen und Kulturen: Vermitteln und Vernetzen. Beiträge zu Mehrsprachigkeit und Inter-/ Transkulturalität im Unterricht, in Lehrwerken und in der Lehrer/ innen/ bildung. Münster/ New York: Waxmann, 50-61. B AUSCH , Petra (2008): „Interkulturelle Kompetenzen mit Jugendliteratur fördern“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 5.6, 40-44. B OULERICE , Simon (2019): Le dernier qui sort éteint la lumière. Montréal: Éditions Québec Amérique inc. C AUSSE , Rolande (2005): Qui lit petit, lit toute la vie. Paris: Albin Michel. C HAMBRE DES COMMUNES (1971): Débats de la chambre 8.10.1971. Ottawa: Chambre des communes, 8545. F AULSTICH -W IELAND , Hannelore (2004): „Schule und Geschlecht“. In: H ELSPER , Werner / B ÖHME , Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: VS, 647-669. G AGNON , Alain-G. / I ACOVINO , Raffaele (2011): „Interkulturalismus in Québec. Identitäten im Fluss“. In: G AGNON , Alain-G (Hrsg.): Québec. Staat und Gesellschaft. Heidelberg: Synchron, 145-166. G AGNON , Sophie (2017): „Critique de livre jeunesse: Le dernier qui sort éteint la lumière“. http: / / campagnepourlalecture.ca/ critique/ critique-de-livrejeunesse-le-dernier-qui-sort-eteint-lalumiere/ (02.05.2020). G IER , Albert (2000): Orientierung Romanistik: was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. H ALLET , Wolfgang (2010): „Romane lesen lernen“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 107, 2-11. H OERDER , Dirk (2018): „Kanadischer Multikulturalismus: Einwanderung und Einwanderungspolitik“. In: L EHMKUHL , Ursula (Hrsg.): Länderbericht Kanada. Bonn: BpB, 425-449. K EPSER , Matthis (2015): „Transkulturelle Bildung mit Filmen im Deutschunterricht. Eine kulturkritische Ergründung des Handlungsfeldes“. In: D AWIDOWSKI , Christian / H OFFMANN , Anna R. / W ALTER , Benjamin (Hrsg.): Interkulturalität und Transkulturalität in Drama, Theater und Film. Literaturwissenschaftliche und -didaktische Perspektiven. Frankfurt/ M.: Lang, 77-106. K LOTZ , Volker (1999): Geschlossene und offene Form im Drama. 14. Auflage. München: Hanser. K ÜSTER , Lutz (2015): „Warum ästhetisch-literarisches Lernen im Fremdsprachenunterricht? Ausgewählte theoretische Fundierungen“. In: K ÜSTER , Lutz / L ÜTGE , Christiane / W IELAND , Katharina (Hrsg.): Literarisch-ästhetisches Lernen im Fremdsprachenunterricht. Theorie-Empirie- Unterrichtsperspektiven. Frankfurt/ M.: Lang, 15-32. L ÜSEBRINK , Hans-Jürgen / B AGOLA , Beatrice / E IBL , Doris / M ATHIS -M OSER , Ursula / V ATTER , Christoph (2018): „Québec und das frankophone Kanada: Sprache, Kultur und Medien“. In: L EHMKUHL , Ursula (Hrsg.): Länderbericht Kanada. Bonn: BpB, 123-154. 22 Christoph Oliver Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0002 51 • Heft 1 L UTZ , Helma / W ENNING , Norbert (Hg.) (2001): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich. M ATZAT , Wolfgang (1982): Dramenstruktur und Zuschauerrolle. München: Fink. M AYER , Christoph Oliver (2015): „Homosexualität - wo ist das Problem? Anmerkungen im Kontext des Französischunterrichts“. In: B RECKENFELDER , Michaela (Hrsg.): Homosexualität und Schule. Handlungsfelder - Zugänge - Perspektiven. Opladen: Budrich, 209-234. O’S ULLIVAN , Emer / R ÖSLER , Dietmar (2019): „Kinder- und Jugendliteratur“. In: L ÜTGE , Christiane (Hrsg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. Berlin/ Boston: De Gruyter, 302-318. R ÖSCH , Heidi (2006): „Was ist interkulturell wertvolle Kinder- und Jugendliteratur? “. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien 6.2, 94-103. T OPF , Silke (2009): „Pour le plaisir de lire. Mit littérature de jeunesse zum Lesen motivieren“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 102, 2-11. W ELLER , Franz-Rudolf (1999): „Literatur in der Sekundarstufe I? - Textvorschläge und Arbeitsanregungen für den Französischunterricht“. In: K RECHEL , Hans-Ludwig / M ARX , Diemo / M EIßNER , Franz-Joseph (Hrsg.): Kognition und neue Praxis im Fremdsprachenunterricht, Tübingen: Narr, 47-68. W ELSCH , Wolfgang (1999): „Transculturality - the Puzzling Form of Cultures Today“. In: F EATHERSTONE , Mike / L ASH , Scott (Hrsg.): Spaces of Culture: City, Nation, World. London: Sage, 194-213. 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 E LISABETH L EHRNER - TE L INDERT * Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht der Sekundarstufe I Abstract. On the basis of the data collected and analyzed in my dissertation, this article discusses what added value literary texts could have for reading comprehension in German as a foreign language teaching at secondary level I. It displays the effect of an intensive literature-based foreign language teaching on reading comprehension. We investigated whether students’ reading skills improve when the regular German curriculum is partially replaced by an intensive literature programme. For two years, six schools participated in the study, resulting in a total of 12 classes. Each school had an experimental group and a control group. In the experimental groups, approximately 30 lessons were replaced by an intensive literature programme, while the control groups followed the regular curriculum. At the beginning and at the end of the school year, all pupils took reading comprehension tests. The results show that in both cohorts, pupils in all experimental groups are more proficient in reading than those in the regular curriculum. 1. Lesen als Schlüsselkompetenz Dass Lesen eine sehr wichtige Schlüsselkompetenz ist und dass man Lesen lernt, indem man viel liest (vgl. M OL / B US 2011), wird niemand anzweifeln: Es ist ein komplexer Prozess, bei dem viele Fähigkeiten und Kenntnisse interagieren und der von vielen Text- und Situationsvariablen, wie Interesse, Vorwissen und Sprachkenntnisse der Lesenden, Textsorte und Schwierigkeitsgrad des Textes, abhängig ist (vgl. z.B. E HLERS 1998; L UTJEHARMS 2010). Viele Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren beschäftigen sich wenig mit dem Lesen von (längeren) Texten in ihrer Freizeit. Literarische Texte können nur schwer mit anderen narrativen Medien wie Filmen und Serien konkurrieren. Die Folge davon ist, dass nicht nur die Lesefähigkeit vieler Lernender stagniert, sondern auch, dass sich ihre Sprachkenntnisse und ihr Wortschatz schlechter entwickeln. Die Zeit, die Lernende mit dem Lesen von Texten (sowohl literarischer Texte als auch Sachtexte) verbringen, ist jedoch ein wichtiger Faktor für die Entwicklung ihrer Lesefähigkeit (vgl. z.B. M C G EOWN et al. 2015). * Korrespondenzadresse: Dr. Elisabeth L EHRNER - TE L INDERT , Hogeschool Windesheim, Postbus 10090, 8000 GB Z WOLLE . E-Mail: em.lehrner@windesheim.nl Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik der Sekundarstufe I (DaF), fremdsprachlicher Literatur- und Leseunterricht. 24 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 Eine niederländische Meta-Analyse von V AN S TEENSEL et al. (2017) zeigt, dass die Anregung und intensive Förderung der Lesemotivation positive Effekte auf die Lesekompetenz haben können. Die regelmäßige Rezeption von herausfordernder Lektüre führt außerdem zu besseren Lesetestresultaten (vgl. M UCHERAH / Y ODER 2008). Ein wichtiger Teil der Wortschatzentwicklung von Lernenden hängt auch von den Texten ab, die sie lesen (vgl. S WANBORN / DE G LOPPER 1999). Fremdsprachliches Lesen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von erstsprachlichem. Typisch ist jedoch eine verminderte Leseflüssigkeit, die insbesondere durch eingeschränkte Wortschatzkenntnisse und geringeres Hintergrundwissen verursacht wird (vgl. z.B. E HLERS 2006). Aufgrund der in der Fremdsprache häufig viel geringeren Lesekompetenz (vgl. z.B. E HLERS 1998) muss eventuell eine gewisse Schwellenkompetenz in der Fremdsprache überschritten werden, bevor der Transferprozess gelingen kann (vgl. z.B. G RABE 2009). Literarische Texte werden häufig im modernen Fremdsprachenunterricht eingesetzt, um die Lernenden für die Sprache zu begeistern, sie zu motivieren. Wie Studien gezeigt haben, kann die Beschäftigung mit Literatur zur sprachlichen Kompetenzentwicklung, Persönlichkeitsbildung, Förderung von Empathie und Entwicklung von individuellen reflexiven Lernprozessen und Wertvorstellungen und zur Förderung des (inter)kulturellen Lernens beitragen (vgl. u.a. B IEBRICHER 2008; B URWITZ -M ELZER 2003; G ARDEMANN 2021; K IMES -L INK 2013: K REFT 2020; S TEININGER 2014). Nicht nur in der erstsprachlichen, sondern auch in der fremdsprachlichen Literatur- und Fachdidaktik wird das Potenzial literarischer Texte oftmals hervorgehoben und gefordert, das literarische Lernen verstärkt ins Zentrum des Sprachenunterrichts zu rücken (vgl. z.B. S URKAMP 2014). Die Schule ist oft der einzige Ort, an dem die Jugendlichen mit literarischen Texten in einer Fremdsprache in Kontakt kommen. Dem Fremdsprachenunterricht kommt somit eine wichtige Aufgabe zu. Trotz des hier dargestellten Potenzials, das literarische Texte bieten, werden sie in der Sekundarstufe I an niederländischen Schulen nur wenig in den DaF-Unterricht eingebunden (vgl. L EHRNER - TE L INDERT / VAN DER K NAAP / D E G RAAFF 2018). 2. Der Literaturunterricht der Sekundarstufe I aus der Sicht niederländischer Lehrkräfte Literarische Texte haben im niederländischen Fremdsprachenunterricht eine untergeordnete Bedeutung, weil sich der Unterricht vornehmlich auf die sprachliche Kompetenzförderung konzentriert. Die Ausrichtung des Rahmenplanes ist sehr pragmatisch orientiert und lässt den Lehrkräften sehr viel Freiheit. Die Entwicklung der literarischen Kompetenz ist im Kerncurriculum der Fremdsprachen der Sekundarstufe I nicht verortet. Da das Lehrwerk einen wichtigen Stellenwert einnimmt und sowohl als Stütze für die Unterrichtsplanung als auch als Richtschnur für das Schulcurriculum dient (vgl. N EUNER 2003: 400), werden literarische Texte meistens eingesetzt, „wenn noch Zeit übrig ist“, als „Projekt“. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 25 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 Somit hängt es stark von den Lehrkräften ab, ob und wann Literatur im DaF- Unterricht eingesetzt wird. Jede Interaktion im Klassenzimmer über Literatur wird von den Überzeugungen und Einstellungen der Lehrkräfte beeinflusst. Dies spiegelt sich in den Resultaten meiner Fragebogenerhebung unter niederländischen Lehrkräften wider, in der untersucht wurde, welche Lernziele Lehrkräfte mit der Nutzung von Literatur im DaF-Unterricht der Sekundarstufe I verfolgen, wie häufig sie literarische Texte einsetzen und welche Verbesserungswünsche sie hinsichtlich der Unterrichtspraxis nennen. Mithilfe einer schriftlichen, anonymen, digitalen Fragebogenuntersuchung unter DaF-Lehrkräften (n = 219) wurde 2015 eine Inventarisierung des heutigen niederländischen DaF-Unterrichts hinsichtlich Verwendung von literarischen Texten vorgenommen (vgl. L EHRNER - TE L INDERT 2020; L EHRNER - TE L INDERT / VAN DER K NAAP / DE G RAAFF 2018). 2.1 Lernziele im DaF Literaturunterricht Aus den Ergebnissen dieser Fragebogenuntersuchung geht hervor, dass die (inter)kulturelle und die sprachliche Entwicklung der Lernenden für die Lehrkräfte Priorität haben. Werden literarische Texte eingesetzt, dann werden sie vorwiegend für das Training des Leseverstehens und zur Förderung von Leselust herangezogen. Die Förderung der rezeptiven Fertigkeiten wird von den Lehrkräften im Vergleich mit der Entwicklung der produktiven Sprachfertigkeiten als bedeutsamer gewertet. Die Lehrkräfte sehen in der Förderung der (inter)kulturellen Kompetenz durch literarische Texte einen wichtigen Aspekt des Fremdsprachenunterrichts. Letztere werden laut Angaben der Lehrkräfte genutzt, um Einblicke in die deutschsprachige Alltagskultur, die Traditionen und Sichtweisen, kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu gewinnen. Die individuelle Entwicklung, die Förderung von Empathie und der Erwerb von Kenntnissen über erzähltechnische Elemente werden von vielen Lehrkräften als nicht relevant erachtet. 2.2 Literarische Textsorten Bei den im DaF-Unterricht der Sekundarstufe I genutzten Textsorten werden vorwiegend Songtexte, Kurzgeschichten und Jugendbücher präferiert. Diese Textsorten werden durchschnittlich häufiger im Unterricht eingesetzt als Märchen, Comics und Gedichte. Trotz der genannten Relevanz der rezeptiven sprachlichen Entwicklung lesen mehr als zwei Drittel der Befragten keine Ganzschrift mit Lernenden des ersten Lernjahres. Hauptargumente von Lehrkräften gegen den Einsatz von Literatur in der Sekundarstufe I sind die Schwierigkeit einer angemessenen Textauswahl, die geringe Auswahl an geeigneten Texten sowie die Befürchtung, dass Lernende aufgrund ihrer sprachlichen Entwicklung im Anfangsunterricht überfordert sein könnten, weshalb literarische Texte erst genutzt werden könnten, wenn bei den Lernenden eine ausreichende fremdsprachliche Basis vorhanden sei. Im zweiten Lernjahr behandelt die 26 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 Hälfte der Befragten ein Jugendbuch im Unterricht. Bei diesen Ergebnissen fällt die große Spannbreite in der Anzahl der gelesenen Ganzschriften sowohl im ersten als auch im zweiten Lernjahr von 0 bis 11 Büchern pro Schuljahr auf. Aus der stark variierenden Anzahl gelesener Bücher lässt sich schlussfolgern, dass die Anforderungen je nach Schule oder Lehrkraft sehr unterschiedlich sind. Diese große Diskrepanz ist auf die fehlenden Bildungsvorgaben für die Sekundarstufe I hinsichtlich Literatur in den Niederlanden zurückzuführen. 2.3 Zufriedenheit und Wünsche der niederländischen DaF-Lehrkräfte Aus der Analyse der Fragebogenuntersuchung geht hervor, dass Lehrkräfte hinsichtlich der Nutzung von literarischen Texten in ihrer eigenen Unterrichtspraxis eher unzufrieden als zufrieden sind. Am unzufriedensten sind sie mit der Anzahl der im Unterricht behandelten Texte und mit der Unterrichtszeit, die für Literatur verwendet wird. Am zufriedensten sind sie mit der Variation der Textsorten. Wird genauer analysiert, auf welche Aspekte sich die Unzufriedenheit bezieht, dann werden vorrangig • das fehlende geeignete Material, • die fehlende Zeit im Unterricht, • das hohe Pensum an Grammatik, Wortschatz und Fertigkeitstraining, • die Verpflichtung zum Durcharbeiten des Lehrbuchs • und die mangelnde Verfügbarkeit von Materialien genannt. Dass die produktiven Fertigkeiten bei der Nutzung von literarischen Texten keinen hohen Stellenwert einnehmen, zeigt sich auch in der Unterrichtspraxis der Lehrkräfte: Es werden wenig handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben im Unterricht eingesetzt. Neben dem Faktor „Unterrichtszeit“ spielt der Zeitfaktor „Vorbereitung der Unterrichtsstunden“ eine große Rolle. Lehrkräfte geben an, dass die Didaktisierung des Materials ein hoher Arbeitsaufwand sei und eine Belastung darstelle. Für lehrbuchunabhängiges Material bleibt laut Aussagen vieler Unterrichtender wenig Zeit und Raum. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass viele Befragte sich mehr fachdidaktische Hilfestellungen bei der Behandlung literarischer Texte wünschen. Es fehlen didaktische und methodische Konzeptionen für die Lektüre von literarischen Texten, die bereits in der Sekundarstufe I genutzt werden können. Die Befragten vermissen zudem oftmals ein grundlegendes fachdidaktisches Literaturwissen, das sie in die Lage versetzt, die Didaktik und Methodik von Literaturvermittlung schülerorientiert in ihrem Unterricht einzusetzen. Die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial und eine aktuelle Bücherliste könnten aus Sicht der Befragten zu einer Verbesserung des Literaturunterrichts beitragen. Des Weiteren geben Lehrkräfte an, dass ein größeres Angebot an literarischen Texten in den Lehrwerken wünschenswert sei. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 27 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 3. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz Nach der Erhebung der Einstellungen der DaF-Lehrpersonen lag der Hauptfokus meiner Dissertation auf der Erprobung, ob sich die Lesefähigkeit von DaF-Lernenden im zweiten Lernjahr verbessern könne, wenn der reguläre Lehrplan teilweise durch ein intensives Literaturprogramm ersetzt wird. In der durchgeführten Unterrichtsreihe wurde der Versuch unternommen, Literaturunterricht mit schülerorientierter Methodik zu gestalten, wobei eine Verzahnung von literarischem Lernen mit der Entwicklung der Sprachkompetenz angestrebt wurde. An insgesamt zwölf Schulen wurde durch das Treatment der Einsatz von literarischen Texten implementiert, um einer längerfristigen Einbeziehung in das Schulcurriculum den Weg zu bereiten, Fachkolleg*innen den Stellenwert von literarischen Texten näherzubringen und eine nachhaltige Veränderung in Gang zu bringen. Bei der Zusammenstellung des Textmaterials war die Prämisse leitend, dass Lesemotivation entwickelt werden kann und die für das Lesen, Hören und Sehen von literarischen Texten erforderlichen Methoden und Strategien erlernbar sind (vgl. D IEHR / S URKAMP 2015: 22). Ob die Lernenden durch den intensiven Literaturunterricht ihre Lesefähigkeit weiterentwickelt haben, wurde durch die Abnahme von Lesetests mit Prä-Post-Design untersucht. Die Unterrichtsreihe konzentrierte sich auf das ästhetisch-responsive Lesen, die Testung der Lesefähigkeit auf das informationsentnehmende Lesen. In der Testung wurden Variablen wie kognitive Fähigkeiten, Sprachkenntnisse, spezifisches Vorwissen im Hinblick auf literarische Texte der Schüler*innen nicht berücksichtigt. 3.1 Untersuchungsdesign und Untersuchungsfragen Ziel der Untersuchung war es, empirisch festzustellen, ob sich das Leseverstehen von vierzehnbis fünfzehnjährigen Lernenden, die sich im zweiten Lernjahr Deutsch befanden, durch das Lesen von literarischen Texten vergleichbar oder besser entwickelt als durch die Arbeit mit Sachtexten. Es wurde untersucht, ob und ggf. inwiefern sich die Unterschiede zwischen den Prä- und Post-Lesetestleistungen der Lernenden auf das Treatment zurückführen lassen. Gemessen wurde ein Effekt des Treatments (unabhängige Variable) auf die Entwicklung der Lesefähigkeit mittels eines Lesetests (abhängige Variable). Durch die Wahl eines quasi-experimentellen Prä-Post-Designs wurden reguläre Schulklassen als Untersuchungsgruppen beobachtet; dies erhöhte die externe Validität dieser Studie. Um die interne Validität zu erhöhen, wurde mit Experimental- und Kontrollgruppen gearbeitet, da sich Lernende laut D ARSOW / F ELBRICH (2014: 231f.) innerhalb eines Schuljahres durch einen sprachlichen Reifungsprozess verbessern. Erst durch den Vergleich der beiden Gruppen kann der Anteil des Lernzuwachses abgeschätzt werden. Die Lesetestabnahme fand in allen teilnehmenden Projektklassen (Experimental- und Kontrollgruppe) zu Beginn (im September) und am Ende des Schuljahres (im Juni) statt. Die folgenden Forschungsfragen und Hypothesen wurden formuliert: 28 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 • Wie entwickelt sich die Lesefähigkeit der Lernenden im DaF-Unterricht bei einem intensiven Literaturprogramm im Vergleich zu einem regulären Unterrichtsprogramm? Erwartet wurde, dass sich Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung zeigen und dass ein Einsatz von literarischen Texten die Lesefähigkeit von Lernenden im Vergleich zum Regelunterricht verbessert, bei dem vorwiegend Sachtexte und informationsentnehmendes Lesen einen hohen Stellenwert einnehmen. • Welche Unterschiede zwischen Lernenden des Schultyps HAVO und VWO lassen sich beobachten? Die Entscheidung für eine Schulform wird an vielen niederländischen Schulen am Ende der Grundschulzeit mit 12 Jahren getroffen. Die Lernenden mit den besten kognitiven Leistungen werden der Schulform Gymnasium (VWO) zugeteilt. Das etwas niedrigere Niveau ist HAVO (das Niveau liegt zwischen dem deutschen Realschul- und Hauptschulniveau) und zum Schluss das VMBO-Niveau (Hauptschule). Es wird erwartet, dass die VWO-Lernenden bessere Leseresultate als die HAVO-Lernenden erzielen. Der Lehrplan (die Kernziele) ist in beiden Gruppen derselbe; die Bildungskultur kann sich jedoch je nach den Interessen der Lernenden unterscheiden. • Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede lassen sich beobachten? Die niederländischen Ergebnisse der PISA-Erhebungen 2009 und 2015 zeigen, dass Mädchen auf allen Ebenen bessere Leseleistungen erzielen als Jungen (vgl. z.B. F ESKENS / K UHLEMEIER / L IMPENS 2015). Jungen sind häufiger die schlechteren Leser, wie eine Analyse der PISA-Daten von 2000 bis 2015 von eineinhalb Millionen 15-Jährigen aus 37 Ländern zeigt (vgl. V AN H EK / B UCHMANN / K RAAYKAMP 2019). Aufgrund verschiedener Lesestudien wurde erwartet, dass die Leseleistungen der Mädchen im Fach Deutsch besser oder gleich gut sind wie die der Jungen. 3.2 Stichprobe In zwei Kohorten (Schuljahr 2016/ 2017 und 2017/ 2018) nahmen zwölf weiterführende Schulen mit insgesamt 24 Klassen an dem Projekt teil. Pro Zyklus waren sechs Schulen mit zwölf Klassen am Experiment beteiligt, jeweils drei Schulen mit drei HAVO-Klassen und drei Schulen mit drei VWO-Klassen, insgesamt ungefähr 600 Lernende in zwei Kohorten (300 Lernende der Experimentalgruppen und 300 Lernende der Kontrollgruppen). Die Auswahl der Schulen und Klassen erfolgte aufgrund der Teilnahmebereitschaft der Lehrkräfte. An jeder Schule gab es eine Experimental- und eine Kontrollgruppe, die von zwei unterschiedlichen Lehrkräften unterrichtet wurden. Die Zugehörigkeit der Lernenden zur Experimental- oder Kontrollgruppe war demzufolge im Voraus festgelegt. Die Stichprobe bestand aus regulären und nichtrandomisierten Schulklassen. Es wurde darauf abgezielt, die Entwicklung der Lernenden in ihrem Schulkontext im Klassenverband zu beobachten. Die Zielgruppe dieses Experiments Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 29 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 sind demnach Lernende, die Teil einer Schulklasse sind und dieselbe Lehrkraft haben und daher einander ähnlicher sind als Lernende aus unterschiedlichen Klassen. Zum Zeitpunkt der Erprobung befanden sich die Lernenden in der dritten Klasse (neunte Klasse in Deutschland). Die Lernenden waren vierzehn bis fünfzehn Jahre alt, hatten annähernd die gleiche Schullaufbahn durchlaufen und neben der Fremdsprache Deutsch noch Englisch und Französisch als Pflichtfächer. Die teilnehmenden Klassen erhielten durchschnittlich drei Unterrichtsstunden Deutsch pro Woche und befanden sich im zweiten Lernjahr Deutsch. Kohorte 1 (Schuljahr 2015/ 2016): Insgesamt partizipierten im ersten Zyklus zwölf Klassen (sechs Klassen Experimentalgruppe, sechs Klassen Kontrollgruppe) am Experiment. Den Prätest absolvierten 304 Lernende, den Posttest füllten 274 Lernende aus, was einen Ausfall von ungefähr zehn Prozent bedeutet, der vor allem bei der Kontrollgruppe zu verzeichnen war. Gründe hierfür waren Schul-, Klassen- und Schultypwechsel sowie längere krankheitsbedingte Abwesenheit von Lernenden. Das Verhältnis von Jungen und Mädchen war ausgewogen: Beim Prätest gab es 157 Jungen und 147 Mädchen, am Posttest nahmen 138 Jungen und 136 Mädchen teil. Kohorte 2 (Schuljahr 2016/ 2017): Im zweiten Zyklus nahmen erneut zwölf Klassen mit diesmal insgesamt 303 Lernenden am Prätest teil. An dem Posttest beteiligten sich insgesamt 287 Lernende. In dieser Kohorte war die Anzahl der Mädchen beim Prätest etwas höher als die der Jungen (Mädchen, n = 159, Jungen, n = 144), beim Posttest war die Verteilung der Mädchen, n = 150, die der Jungen, n = 137. 3.3 Intervention Das Literaturprojekt bestand aus ca. 30 Unterrichtseinheiten, die über das gesamte Schuljahr verteilt waren. Im Durchschnitt beschäftigten sich die Lernenden eine Stunde pro Woche mit literarischen Texten, in denen die rezeptiven und produktiven Fähigkeiten durch verschiedene Arbeitsmethoden trainiert wurden. Die konkrete Ausgestaltung des Programms an den Schulen hing von den schulinternen Lehrplänen ab. Bei der Literaturarbeit wurde sich bei den Unterrichtsentwürfen auf ein dreischrittiges Phasenmodell gestützt, das eine pre-reading-, eine reading- und eine post-reading- Phase umfasst (vgl. z.B. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2015: 187). Die Unterrichtsmaterialien wurden in Zusammenarbeit mit den teilnehmenden Lehrkräften der Kohorte 1 entwickelt. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, Genres einzusetzen, die den Lehrkräften vertraut waren, um die Durchführbarkeit des Projekts nicht zu gefährden. Zudem sollte die gewählte Lektüre das Interesse der Lernenden und auch der Lehrkräfte wecken. Die Abstimmung auf die jeweilige Lerngruppe hinsichtlich Unterrichtsform, sowie ein Wechsel zwischen offenen und gelenkten Unterrichtsformen waren hierbei ausschlaggebend. Da sowohl die sprachlichen als auch literarischen Vorkenntnisse der Lernenden heterogen waren, wurde auf eine Streuung der Textsorten und Themen (die tendenziell sowohl Mädchen als Jungen 30 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 ansprechen) gesetzt, um den unterschiedlichen literarischen Niveaus der Lernenden entgegenzukommen (vgl. VAN DER K NAAP 2014). Das Projekt wurde ein Schuljahr lang im regulären Unterricht durchgeführt. Die Lehrkräfte erhielten im Vorfeld keine zusätzliche vorbereitende Schulung. Die Unterrichtsmaterialien (Klassensätze der Jugendbücher) wurden kostenlos zur Verfügung gestellt und die Lehrkräfte konnten die Materialien nach dem Projekt behalten. Die Lehrkräfte der Experimentalgruppe entschieden selbst, welche Teile des regulären Lehrplans sie durch das Projektmaterial ersetzten. In vielen Fällen wurden Lesetexte aus dem Lehrwerk und zusätzliche Aufgaben weggelassen, zum Beispiel Computeraufgaben zum Vokabel- und Grammatiktraining. Das Curriculum der Kontrollgruppen blieb unverändert. Im durchgeführten Projekt wurde das intensive Lesen favorisiert. Zu allen literarischen Texten gab es gezielte Fragen und Aufgaben. Die Aufgaben wurden von den Lernenden vorwiegend auf Deutsch erarbeitet; einzelne Aufgaben konnten allerdings auch in der Schulsprache bearbeitet werden, wenn es sich um Aufgabenstellungen handelte, bei denen zu erwarten war, dass bei einem Großteil der Lernenden die fremdsprachliche Kommunikationskompetenz dafür noch nicht ausreichte. Insbesondere der Kombination aus Lesen und Schreiben wurde im Treatment viel Beachtung geschenkt. Die Lernenden produzierten im Laufe des Schuljahres einige eigene kreative Texte. Bei den Aufgabenformen wurde den Interessen und Vorlieben von Lernenden durch zum Teil frei wählbare Aufgaben Rechnung zu tragen versucht. Wahlmöglichkeiten gab es vor allem bei den kreativen Aufgaben. Die Lernenden konnten oftmals zwischen einer Sprech- und einer Schreibaufgabe und/ oder zwischen verschiedenen Textgenres wählen: Bei der kreativen Aufgabe zum Märchen beispielsweise konnten die Lernenden selbst entscheiden, ob sie ein Märchen in einen Comic, ein Poster oder ein Filmfragment umwandeln bzw. ob sie ein eigenes oder ein modernes Märchen verfassen wollten. So sollten mehrere Lernwege zur Bedeutungserschließung eröffnet werden. Die Vermittlung von Grammatikregeln und -aufgaben, die Focus on form-Phasen, wurden bewusst dem Regelunterricht überlassen. Wortschatz und Redemittel hingegen wurden in den einzelnen Phasen der Unterrichtseinheiten als relevante Unterstützung für die Sprachproduktion aktiviert. In Tabelle 1 (  S. 31) ist das Unterrichtsprogramm des Schultyps HAVO dargestellt. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 31 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 September - Januar Buch 1: Timo darf nicht sterben Song: Bakkushan: Du siehst gut aus Song: Cassandra Steen: Gebt alles! Märchen: Die Bremer Stadtmusikanten 4 UE 3 UE 5 UE Kurzgeschichte: Es war einmal eine Insel Kurzgeschichte: Kurzkrimi Gedichte 1 UE 2 UE 3 UE Februar - April Buch 2: Das Wunder von Bern + Film 8 UE April - Juni Buch 3: Geil, das peinliche Foto stellen wir online! 3 UE Song: Tim Bendzko: Nur noch kurz die Welt retten 1 UE Tab 1: Unterrichtsprogramm (ca. 30 Unterrichtseinheiten) für das Niveau HAVO Während des ersten Jahres der Studie und danach wurde die Unterrichtsreihe mit den teilnehmenden Lehrkräften aus Kohorte 1 evaluiert. Da die Lehrkräfte von Kohorte 1 gut mit dem Material arbeiten konnten, wurde das Material nur leicht verändert und konnte in Kohorte 2 angepasst eingesetzt werden. 3.4 Durchführung des Lesetests In den Experimentalgruppen setzten sich die Lernenden intensiv mit literarischen Texten auseinander. Ein wichtiges Auswahlkriterium für den Lesetest war daher die Unabhängigkeit vom Vorwissen über Textsorten. Die Wahl fiel auf den B1-Test des Goethe-Instituts (Zertifikat B1). Bei diesen Tests handelt es sich um standardisierte Papier-Bleistift-Tests im Multiple-Choice-Format. Sowohl der Präals auch der Posttest bestand aus dem kompletten Satz der Leseaufgaben zu Zertifikat B1 (30 Fragen). Die Lehrkräfte führten die Tests in zwei regulären Unterrichtsstunden durch. Für den Prätest wurde die Jugendversion des B1-Tests verwendet. Für den Posttest wurde der Prätest nicht wiederverwendet, um zu verhindern, dass die Lernenden die Texte und Aufgabenstellungen wiedererkennen konnten. Da das Goethe-Institut jedoch nur eine B1-Jugendversion zur Verfügung stellen konnte, wurde für den Posttest die Version für Erwachsene (ab 16 Jahren) verwendet, die das gleiche Format wie die Jugendversion hat; die Themen sind jedoch teilweise anders und mehr auf die Zielgruppen abgestimmt. Der Lesetest wurde sowohl bei den HAVOals auch VWO-Gruppen durchgeführt und der Test wurde in Kohorte 1 und in Kohorte 2 unverändert eingesetzt. Die Lernenden absolvierten den Test ohne Vorbereitung und Wörterbücher. Eine frühere Item-Response-Analyse (vgl. L EHRNER - TE L INDERT 2020) zeigte, dass die Werte im Prä- und Posttest auf derselben Skala ausgedrückt werden können und dass beide Tests gleich schwierig sind. Die Unterschiede zwischen dem Prätest und dem Post- Test können also im Sinne eines Fortschritts in der Lesekompetenz interpretiert werden. Die Testergebnisse differenzierten gut (Cronbachs Alpha = 0,70). 32 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 3.5 Ergebnisse der Studie Für die inferenzstatistische Berechnung wurde eine Multi-Level-Modellierung benutzt. Dieses Modell stellt ein statistisches Verfahren dar, das eingesetzt wird, wenn die Daten hierarchisch angeordnet sind (genestete Daten) und Gruppen zugeordnet werden können (vgl. Q UENÉ / VAN DEN B ERGH 2004). Es wurden zur Abschätzung des Treatmenteffekts insgesamt sieben Modelle überprüft, die sich jeweils durch die Einfügung eines Parameters unterscheiden. Die Anpassung dieser Modelle wurde mit einem Likelihood-Quotienten-Test verglichen. Bei diesem Test werden auf der Grundlage des Maximum-Likelihood Schätzverfahrens jeweils zwei Modelle miteinander verglichen, um zu ermitteln, welches die bessere Anpassung an die Stichprobendaten aufweist. Im ersten Modell (dem Nullmodell) wurde unter Berücksichtigung der hierarchischen Struktur der Daten der Gesamtmittelwert, die Differenz innerhalb der Lernenden, zwischen den Lernenden innerhalb und zwischen den Klassen geschätzt. Anschließend wurden zu diesem Nullmodell systematisch Parameter hinzugefügt, die die Unterschiede in der Lesefähigkeit erklären könnten. Im zweiten Modell wurde der Haupteffekt Messzeitpunkt hinzugefügt, um zu untersuchen, ob sich der durchschnittliche Lesewert zu den beiden Messzeitpunkten unterscheidet. Im dritten und vierten Modell wurden die Haupteffekte Schultyp und Geschlecht hinzugefügt. Es wurde untersucht, ob ein Unterschied zwischen den Durchschnittswerten von HAVO- oder VWO-Lernenden bzw. Jungen oder Mädchen nachgewiesen werden konnte. Im fünften Modell wurden der Haupteffekt Kondition (Experimental- und Kontrollgruppe) und der Interaktionseffekt zwischen Messzeitpunkt (Prä- und Posttest) und Kondition (Experimental- und Kontrollgruppe) hinzugefügt. Die beiden Folgemodelle (Modelle 6 und 7) untersuchten, ob ein Unterschied im Effekt der Intervention zwischen den beiden Schultypen (HAVO oder VWO) nachgewiesen werden konnte und ob der Unterschied im Effekt der Intervention zwischen Jungen und Mädchen signifikant war. Die Ergebnisse von Kohorte 1 und 2 werden getrennt dargestellt, da die Lehrkräfte des ersten Zyklus an der Erstellung des Unterrichtsmaterials mitgearbeitet hatten und die Lehrkräfte der zweiten Kohorte nach der Evaluation und Optimierung des Treatmentmaterials eine überwiegend ausführende Rolle innehatten. Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Kohorte war eine ausreichende Anzahl von Lernenden beteiligt, wodurch zwei separate Kohortenanalysen durchgeführt werden konnten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Effekte wiederholt nachgewiesen werden können. Durch die Replikation der Studie wurde versucht, die externe Validität der Studie zu erhöhen. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 33 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 Kohorte 1 Kohorte 2 Modell Vergleich der Modelle -2loglikelihood χ 2 df p -2loglikelihood χ 2 df p 1 Nullmodell 3203,9 3264,96 2+ Messzeitpunkt (Prä- und Posttest) 1 vs 2 3115,1 88, 8 3 <0,001 3222,53 42,43 3 < 0,001 3+ Schultyp 2 vs 3 3110,1 4,9 1 0,027 3212,89 9,64 1 0,002 4+ Geschlecht 3 vs 4 3105,4 4,7 1 0,029 3209,72 3,17 1 0,075 5+ Kondition * Messzeitpunkt 4 vs 5 3099,4 6,0 2 0,049 3192,86 16,86 2 < 0,001 6+ Schultyp * Kondition * Messzeitpunkt 5 vs 6 3092,7 6,7 3 0,084 3187,25 5,61 3 0,132 7+ Geschlecht * Kondition * Messzeitpunkt 6 vs 7 3090,8 1,9 3 0,596 3186,99 0,26 3 0,967 Tab. 2: Die sieben Modelle und ihre Passung von Kohorte 1 und 2 Wie die Analyse zeigt (s. Tab. 2), können Unterschiede zwischen den Ergebnissen des Prä- und Posttests beobachtet werden. Der Mittelwert des Prä-Tests ist nicht derselbe wie der des Post-Tests (Kohorte 1: χ2 (3) = 88,8; p < 0,001) (Kohorte 2: χ2 (3) = 42,43; p < 0,001). Darüber hinaus konnte ein Effekt des Schultyps (HAVO/ VWO) (Kohorte 1: χ2 (1) = 4,9; p = 0,027) (Kohorte 2: χ2 (1) = 9,64; p = 0,002) nachgewiesen werden. Außerdem gab es einen signifikanten Unterschied zwischen den Ergebniswerten von Jungen und Mädchen in Kohorte 1 (χ2 (1) = 4,7; p = 0,029); das Lesetestergebnis der Mädchen ist höher als das der Jungen. In Kohorte 2 ist kein signifikanter Unterschied zwischen den Lesetestresultaten von Jungen und Mädchen zu beobachten (χ2 (1) = 3,17; p = 0,075). Die Interaktion zwischen Kondition und Messzeitpunkt war ebenfalls signifikant (Kohorte 1: χ2 (2) = 6,0; p = 0,049) (Kohorte 2: χ2 (2) = 16,86; p < 0,001). Die Betrachtung der Durchschnittswerte pro Kondition zu beiden Zeitpunkten zeigte, dass die Lernenden der Experimentalgruppe größere Fortschritte machten als die der Kontrollgruppe. Die nächsten beiden Modelle untersuchten, ob sich dieser positive Effekt des Literaturunterrichts zwischen den Schultypen (HAVO oder VWO) oder zwischen Jungen und Mädchen unterscheidet. Beide Effekte erwiesen sich jedoch als nicht signifikant. Die Intervention erwies sich als erfolgreich: sowohl für HAVO und VWO- Schüler*innen, als auch für Mädchen und Jungen. Tabelle 3 (  S. 34) zeigt einen Überblick über die Durchschnittswerte pro Schultyp und Kondition der Kohorte 1 und 34 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 Abbildung 1 zeigt die Durchschnittswerte pro Kondition pro Messzeitpunkt der Kohorte 1. Die Experimentalgruppe schnitt im Durchschnitt beim Posttest besser ab als die Kontrollgruppe. (Es scheint so, als ob gerade Mädchen des Schultyps HAVO in der Kontrollgruppe relativ große Fortschritte gemacht haben. Die Tests zeigten jedoch, dass dieser Effekt nicht signifikant ist; s. den Interaktionseffekt von Geschlecht * Kondition * Messzeitpunkt in Tab. 2,  S. 33). Prätest Posttest Experimentalgruppe Kontrollgruppe Experimentalgruppe Kontrollgruppe M SD M SD M SD M SD HAVO M 17,1 3,7 14,7 4,8 17,8 3,8 16,5 4,1 HAVO J 15,2 3,8 15,4 3,6 17,6 3,6 16,2 4,2 VWO M 18,6 3,6 20,3 3,4 21,3 3,6 19,9 4,2 VWO J 18,5 4,0 18,9 3,9 19,3 4,7 20,2 4,5 Cronbachs-Alpha = ,70 (Prä- und Posttest); M = Mittelwert; SD = Standardabweichung Tab. 3: Mittelwerte und Standardabweichungen für den Prä- und Posttest - nach Schultyp und Kondition und nach Kondition J (Jungen) und M (Mädchen) Abb 1: Mittelwerte Prä- und Posttest von Kohorte 1 für Experimentalgruppe (E) und Kontrollgruppe (C) 1 1 In Abbildung 1 werden die Mittelwerte des Prä- und Posttests per Kondition von Kohorte 1 wiedergegeben. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 35 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 Abbildung 1 zeigt, dass die Experimentalgruppe durchschnittlich höhere Leistungszuwächse als die Kontrollgruppe aufweist. Die Unterschiede zwischen HAVO und VWO sowie zwischen Jungen und Mädchen wurden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht aufgenommen. Die Wahrscheinlichkeitsintervalle zeigen deutliche Unterschiede in den Lesetestergebnissen der Kohorte 2 beim Posttest. Wie in Tabelle 4 und Abbildung 2 dargestellt, schneiden die Lernenden der Experimentalgruppe besser ab als die Lernenden der Kontrollgruppe (Kohorte 2). Prätest Posttest Experimentalgruppe Kontrollgruppe Experimentalgruppe Kontrollgruppe M SD M SD M SD M SD HAVO M 15,3 2,9 14,9 3,6 16,4 4,4 14,6 4,0 HAVO J 14,8 3,3 14,4 2,8 16,0 4,7 14,1 3,3 VWO M 19,7 2,6 19,3 3,4 20,9 3,7 20,4 3,9 VWO J 19,2 3,3 18,8 2,3 20,4 4,2 18,5 4,1 Cronbachs-Alpha = 0,72 Prätest und Posttest = 0,82, M = Mittelwert / SD = Standardabweichung Tab. 4: Mittelwerte und Standardabweichungen für den Prä- und Posttest - nach Schultyp und Kondition und nach Kondition J (Jungen) und M (Mädchen) Abb. 2: Mittelwerte Prä- und Posttest von Kohorte 2 für Experimentalgruppe (E) und Kontrollgruppe (C) 2 2 In Abbildung 2 werden die Mittelwerte des Prä- und Posttests per Kondition von Kohorte 2 wiedergegeben. 36 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 Wie aus Abbildung 2 ersichtlich ist, erzielen die Lernenden der Experimentalgruppe bessere Lesetestresultate als die Lernenden der Kontrollgruppe. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mädchen im Durchschnitt eine höhere Punktzahl erreichen als Jungen (Kohorte 1: 0,85; se = 0,38) (Kohorte 2: 0,55; se = 0,18). Dies gilt für beide Schultypen; der Durchschnittswert der HAVO-Lernenden ist niedriger als der der VWO-Lernenden (Kohorte 1: 3,28; se = 1,22) (Kohorte 2: 4,54; se = 0,98). Auch die Korrelation zwischen den modellbasierten Schätzungen und den beobachteten Daten erweist sich als hoch (Kohorte 1: r2 = 0,79; Kohorte 2: r2 = 0,64), so dass der Schluss gezogen werden kann, dass das Multi-Level-Modell eine gute Beschreibung der Beobachtungen liefert. Um die praktische Bedeutung der Effekte zu beurteilen, wurden Effektgrößen für die Effekte berechnet, die statistisch signifikant waren. Hierfür wurde Cohen’s d benutzt. Der Effekt variiert nicht zwischen den beiden Schultypen und auch nicht zwischen den Geschlechtern. Daher reicht eine Effektgröße aus: Cohen’s d ist 0,26 (für Kohorte 1) und 0,18 (für Kohorte 2) für alle Klassen. Dies sind natürlich kleine Effekte, aber sie können über Lernende und Lehrkräfte hinweg verallgemeinert werden. Für Kohorte 2 entspricht die Effektgröße (0,18) 15% erklärter Varianz, was darauf hinweist, dass es sich um einen relevanten Effekt handelt. 3.6 Diskussion der Ergebnisse Die Resultate zeigen, dass in beiden Zyklen bei den Experimentalgruppen ein höherer Leistungszuwachs in Bezug auf das Leseverstehen feststellbar ist als bei den Kontrollgruppen. Es scheint, dass sich die Lesefähigkeit der Lernenden in allen Experimentalgruppen stärker verbessert hat als in den Kontrollgruppen, und zwar in beiden Kohorten. In der zweiten Kohorte wurde gezeigt, dass der gefundene Effekt repliziert werden konnte. Ein Vergleich der beiden Kohorten zeigt, dass die Endergebnisse sowohl in den Experimentalgruppen als auch in den Kontrollgruppen in Kohorte 2 im Durchschnitt besser sind als in Kohorte 1. Auffällig ist jedoch, dass die durchschnittlichen Prätest- Ergebnisse in Kohorte 2 bereits höher sind als in Kohorte 1. Aufgrund der Erfahrungen im ersten Zyklus wurden die Unterrichtsmaterialien leicht angepasst. Im zweiten Zyklus wurden die Lehrkräfte intensiver unterstützt und es fanden häufigere Evaluierungssitzungen statt. Ob die zusätzliche Förderung einen Effekt auf die Lehrkräfte und damit einen positiven Effekt auf die Leistungen der Lernenden der Experimentalgruppen in den Posttests hatte, lässt sich anhand der Leseergebnisse nicht feststellen. Die Ergebnisse zeigen überdies, dass Lernende, die beim Prätest gute Leistungen erbringen, auch gute Posttestresultate erzielen. Darüber hinaus hat das Treatment sowohl für leistungsstarke als auch leistungsschwache Lernende einen Effekt. Die Resultate lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass die Ergebnisse durch das Lesen von literarischen Texten bewirkt wurden oder ob es an einer Reihe von Faktoren gelegen hat (beispielsweise die Integration der rezeptiven und produktiven Fertigkeiten bei den handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben). Faktoren, die ebenso zu dem Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 37 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 positiven Effekt beigetragen haben könnten, sind der Enthusiasmus und die Motivation sowohl der Lehrkräfte als auch der Lernenden, was durch die Textauswahl, die unterschiedlichen Aufgabenformate, den Einsatz von kreativen Aufgabenstellungen und das Wissen, dass sie an einem Forschungsprojekt mitgewirkt haben, bedingt sein dürfte. Ein wichtiger Faktor für eine verbesserte Lesefähigkeit könnte auch der Wortschatzerwerb sein. Im literaturbasierten Unterricht werden die Lernenden ermutigt, den aus den Lesetexten erworbenen Wortschatz bei verschiedenen Aufgabenstellungen anzuwenden. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der fremdsprachlichen Leseforschung, dass Wortschatzwissen mit der Lesefähigkeit zusammenhängt (vgl. J EON / Y AMASHITA 2014). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die intensive Beschäftigung mit literarischen Texten die Entwicklung der fremdsprachlichen Lesekompetenz fördern kann. Ohne ein zuvor erfolgtes gezieltes Training konnte die Lesefähigkeit der Lernenden im authentischen Schulkontext und in regulären Klassen durch das Lesen von literarischen Texten verbessert werden. Dies deutet darauf hin, dass Literatur bereits in den ersten Lehrjahren des regulären Fremdsprachenunterrichts genutzt werden kann. Literarische Texte helfen den Lernenden, ihre Lesefähigkeit auszubauen und verschiedene Textsorten kennen zu lernen (vgl. L EHRNER - TE L INDERT 2020). 4. Fazit und Ausblick Ein vordringliches Ziel dieses Projektes war es, Lernenden und Lehrkräften durch ein gemeinschaftliches Literaturprojekt einige Möglichkeiten des Umgangs mit literarischen Texten aufzuzeigen. Wenn literarische Texte eine angemessene Beachtung im Fremdsprachenunterricht finden und die methodischen Zugangsmöglichkeiten ausgeschöpft werden, profitieren die Lernenden nicht nur sprachlich, sondern auch in ihrer literarischen Entwicklung, wie die Lernenden in der Evaluationsbefragung bestätigten. Aus meiner Studie lässt sich vorsichtig ableiten, dass sich der intensive Einsatz von literarischen Texten für die Entwicklung der fremdsprachlichen Lesefähigkeit lohnt. Aber nicht nur die Leseleistungen der Lernenden verbesserten sich; die am Projekt teilnehmenden Lernenden gaben in Evaluationen an, dass sie die Arbeit mit literarischen Texten als motivierend empfanden. Sie fanden den Unterricht abwechslungsreicher, interessanter und lehrreicher als den Regelunterricht. Und sie gaben an, dass sie ihre sprachlichen Kompetenzen verbessert, die deutschsprachige Kultur und verschiedene literarische Textsorten kennen gelernt hatten (vgl. L EHRNER - TE L INDERT 2020). Der Einsatz von handlungs- und produktionsorientierten Verfahren, wobei auch auf die Lebens- und Erfahrungswelt der Lernenden Bezug genommen wird, erfordert vielfältige Kompetenzen der Lehrkräfte. Lehrkräften fehlt, wie sie in den Evaluationen in meiner Studie angegeben haben, oft dieses „Handwerkszeug“. Die Lehrkräfte wünschten sich mehr Hilfestellungen bei der methodisch-didaktischen Vorbereitung 38 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 der Arbeit mit literarischen Texten im Studium. Eine stärkere Verzahnung von Fach- und Sprachunterricht im Bereich der Lehrkräfteausbildung als bisher wäre empfehlenswert (vgl. S CHÄDLICH 2008), sodass die Studierenden bereits im Studium mehr Primärtexte kennen lernen und einen besseren Überblick über aktuelle literarische Texte bekommen (vgl. S TEININGER 2014). Viele junge Menschen lesen nicht gut und nicht nur das: Es macht ihnen auch keinen Spaß. Die Implementierung von literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I erscheint daher wichtiger denn je. Es bleibt zu hoffen, dass der Einsatz von literarischen Texten in nationalen Lehrplänen, Lehrwerken und Klassenzimmern in den kommenden Jahren verstärkt Eingang findet. Literatur Primärliteratur B USCHENDORFF , Florian (2010): Geil, das peinliche Foto stellen wir online! Mülheim: Verlag an der Ruhr. D ÖBERT , Marion (2014): Das Wunder von Bern. Kurzfassung in Einfacher Sprache. Nach dem Film von Sönke Wortmann. Münster: Verlag Spaß am Lesen. H ABERSACK , Charlotte (2009): Timo darf nicht sterben. München: Hueber. H EUCK , Sigrid (2012): Es war einmal eine Insel oder Das verlorene Paradies. In: T RENK - H INTERBERGER , Isabel / S OUVIGNIER , Elmar (Hrsg.): Wir sind Textdetektive. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Sekundärliteratur B IEBRICHER , Christine (2008): Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva (2003): Allmähliche Annäherungen: Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. D ARSOW , Annkathrin / F ELBRICH , Anja (2014): „Besondere Forschungsansätze: Experiment und Quasi-Experiment“. In: S ETTINIERI , Julia / D EMIRKAYA , Sevilen / F ELDMEIER , Alexis / G ÜLTEKIN -K ARAKOÇ , Nazan / R IEMER , Claudia (Hrsg.): Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Eine Einführung. Paderborn: Schöningh, 230-241. D ECKE -C ORNILL , Helene / K ÜSTER , Lutz (2015): Fremdsprachendidaktik. 3. Auflage. Tübingen: Narr. D IEHR , Bärbel / S URKAMP , Carola (2015): „Die Entwicklung literaturbezogener Kompetenzen in der Sekundarstufe I: Modellierung, Abschlussprofil und Evaluation“. In: H ALLET , Wolfgang / S URKAMP , Carola / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Literaturkompetenzen Englisch: Modellierung - Curriculum-- Unterrichtsbeispiele. Seelze: Klett/ Kallmeyer, 21-40. E HLERS , Swantje (1998): Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis. Aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache. Tübingen: Narr. E HLERS , Swantje (2006): „Entwicklung von Lesekompetenz in der Fremdsprache“. In: Babylonia 3, 31-38. F ESKENS , Remco / K UHLEMEIER , Hans / L IMPENS , Ger (2016): Resultaten PISA-2015 in vogelvlucht. Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht 39 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 Praktische kennis en vaardigheden van 15-jarigen. Samenvatting van de Nederlandse uitkomsten van het Programme for International Student Assessment (PISA) op het gebied van natuurwetenschappen, leesvaardigheid en wiskunde in het jaar 2015. Arnhem: Cito. G ARDEMANN , Christine (2021): Literarische Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Eine Mixed Methods-Studie mit Hamburger Englischlehrer*innen. Berlin: Metzler. G RABE , William (2009): Reading in a Second Language. Moving form Theory to Practice. New York: Cambridge University Press. G UTHRIE , John T. / K LAUDA , Susan Lutz (2014): „Effects of classroom practices on reading comprehension, engagement, and motivations for adolescents“. In: Reading Research Quarterly 49.4, 387-416. H EK , V AN Margriet / B UCHMANN , Claudia / K RAAYKAMP , Gerbert (2019): „Educational systems and gender differences in reading: A comparative multilevel analysis“. In: European Sociological Review 35.2, 169-186. J EON , Eun Hee / Y AMASHITA , Junko (2014): „L2 reading comprehension and its correlates: A metaanalysis“. In: Language Learning 64.1, 160-212. K IMES -L INK , Ann (2013): Aufgaben, Methoden und Verstehensprozesse im englischen Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe. Tübingen: Narr. K NAAP , VAN DER , Ewout (2014): „Möglichkeiten eines literaturdidaktischen Kompetenzmodells für den fremdsprachlichen Unterricht“. In: Deutsch als Fremdsprache 4, 215-225. K REFT , Annika (2020): Transkulturelle Kompetenz und literaturbasierter Fremdsprachenunterricht. Eine rekonstruktive Studie zum Einsatz von «fictions of migration» im Fach Englisch. Frankfurt/ M.: Lang. L EHRNER - TE L INDERT , Elisabeth (2020): Fremdsprachliches Lesen mit literarischen Texten. Zur Entwicklung von Leseverstehen und literarischer Kompetenz im DaF-Unterricht der niederländischen Sekundarstufe I. Berlin: Erich Schmidt. L EHRNER - TE L INDERT , Elisabeth / VAN DER K NAAP , Ewout / D E G RAAFF , Rick (2018): „Lehrkraftperspektiven auf den Einsatz von literarischen Texten im niederländischen DaF-Unterricht der Sekundarstufe I“. In: Deutsch als Fremdsprache 55.3, 160-170. L UTJEHARMS , Madeline (2010): „Der Leseprozess in Mutter- und Fremdsprache“. In: L UTJEHARMS , Madeline / S CHMIDT , Claudia (Hrsg.): Lesekompetenz in Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Tübingen: Narr: 11-26. M C G EOWN , Sarah P. / D UNCAN , Lynne G. / G RIFFITHS , Yvonne M. / S TOTHARD , Sue E. (2015): „Exploring the relationship between adolescent’s reading skills, reading motivation and reading habits“. In: Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal 28.4, 545-569. M OL , Suzanne E. / B US , Adriana G. (2011): „To read or not to read: A meta-analysis of print exposure from infancy to early adulthood“. In: Psychological Bulletin 137.2, 267-296. M UCHERAH , Winnie / Y ODER , Alyssa (2008): „Motivation for reading and middle school students’ performance on standardized testing in reading“. In: Reading Psychology 29.3, 214-235. N EUNER , Gerhard (2003): „Lehrwerke“. In: B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K RUMM , Hans Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 4. Auflage. Tübingen/ Basel: Francke. 399-402. Q UENÉ , Hugo / VAN DEN B ERGH , Huub (2004): „On multi-level modeling of data from repeated measures designs: a tutorial”. In: Speech Communication 43, 103-121. S CHÄDLICH , Birgit (2008): „Reliterarisierung des schulischen Französischunterrichts was kann die Lehrerausbildung beitragen? “ In: Fremdsprachen lehren und lernen 37, 298-311. S TEENSEL , V AN , Roel / S ANDE , V AN D ER , Lisa / B RAMER , Wichor / ARENDS , Lidia (2017): Effecten van leesmotivatie-interventies. Uitkomsten van een meta-analyse. Rotterdam: Department of 40 Elisabeth Lehrner-te Lindert DOI 10.24053/ FLuL-2022-0003 51 • Heft 1 Psychology, Education, and Child Studies, Faculteit Sociale Wetenschappen, Erasmus Universiteit Rotterdam. S TEININGER , Ivo (2014): Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr. S URKAMP , Carola (2014): „Literarische Texte im kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht“. In: H ALLET , Wolfgang / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Kompetenzaufgaben im Englischunterricht. Grundlagen und Unterrichtsbeispiele. Seelze-Velber: Klett-Kallmeyer: 77-90. S WANBORN , Machteld S. L. / G LOPPER , D E , Kees (1999): „Incidental word learning while reading: A meta-analysis“. In: Review of Educational Research 69.3, 261-285. 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 H EIKO K IST , A NNIKA K OLB * Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe It’s clear that older readers, including you and me, remain interested in the imaginative play of drawings and paintings, telling stories, and learning how to look at things in new ways. (T AN 2002: paragraph 3) Abstract. While picturebooks have been part of foreign language classrooms at primary level for quite some time, the potential of this literary format is now increasingly being discovered for the secondary level. The paper presents results from a reading project with secondary school learners in Year 9 of a German Realschule. In the first part, characteristics of picturebooks for young adults are identified. These are illustrated by sample picturebooks that were read in the project. Subsequently, the potential of picturebooks for foreign language teaching at secondary level is explored. Lastly, the paper presents the perspective of the students on selected picturebooks and their reading experiences. The learners read different texts in free reading phases and could choose from a range of follow-up tasks. Results of a questionnaire survey, a group discussion in class and the analysis of selected learner texts show what features of picturebooks make them interesting for students in secondary school and reveal picturebooks’ potential also for the secondary foreign language classroom. 1. Picturebooks for teenagers? „Am Anfang habe ich gedacht, Bilderbücher, für uns? […]; kann ich auch meiner kleinen Cousine weitergeben“ 1 - so äußerte sich ein Schüler zu unserem Bilderbuchprojekt in einer 9. Realschulklasse. Dass Bilderbücher sich vor allem an Kinder richten, ist wohl nicht nur unter Schüler*innen eine weit verbreitete Meinung. So charakterisiert Barbara B ADER (1976: 1) diese in ihrer häufig zitierten Definition unter anderem als „an experience for a child“. Die didaktische Literatur zum Einsatz von Bilderbüchern im Fremdsprachenunterricht ist ebenfalls vor allem in der Primarstufe verortet (vgl. z.B. E LLIS / B REWSTER 2014; E NEVER / S CHMID -S CHÖNBEIN 2006; G HOSN 2013; M OURÃO 2015). In jüngster Zeit gibt es jedoch auch einen gegenläufigen Trend. „A misunderstanding of the picturebook’s intended audience“ (M OURÃO * Korrespondenzadresse: Heiko K IST und Prof. Dr. Annika K OLB , Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Anglistik, Kunzenweg 21, 79117 F REIBURG . E-Mail: hapekist@gmail.com; annika.kolb@ph-freiburg.de Arbeitsbereiche: Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht, graphic novels / Englischunterricht in der Primarstufe, Einsatz von (digitalen) Bilderbüchern im Fremdsprachenunterricht. 1 Transkript Auswertungsgespräch, Moritz, Z 86-88. 42 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 2017: 253) - so beschreibt Sandie M OURÃO die vorherrschende Beschränkung auf die Primarstufe. Zunehmend wird das Potential dieser literarischen Form nun auch für die Sekundarstufe entdeckt (vgl. A LTER 2019; A LTER / M ERSE 2022; M OURÃO 2017; L AZAR 2015). Gleichzeitig werden immer mehr Titel publiziert, die auch für ältere Lernende interessant sein können. Unser Beitrag basiert auf einem Bilderbuchprojekt mit Schüler*innen einer 9. Realschulklasse, das von uns gemeinsam geplant und von Heiko K IST in einer seiner Englischklassen durchgeführt wurde. Wir versuchen zunächst, Charakteristika von Bilderbüchern für ein älteres Lesepublikum zu bestimmen und illustrieren diese an im Projekt verwendeten Texten. Weiterhin wird dargestellt, welche Lerngelegenheiten Bilderbücher im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe bieten können. Schließlich beleuchten wir die Perspektiven der Schüler*innen, die sich in freien Lesephasen mit einer Auswahl von Bilderbüchern beschäftigten, auf das Projekt. Der Leseprozess wurde begleitet von einem offenen Angebot von schriftlichen und mündlichen Aufgaben zu den einzelnen Bilderbuchtiteln. Die Ergebnisse einer Fragebogenerhebung, eines Auswertungsgesprächs mit den Schüler*innen nach Abschluss des Projekts sowie ausgewählte Lernendentexte zeigen, was Bilderbücher auch für Teenager attraktiv macht und dass damit motivierende und bereichernde Lernerfahrungen im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe geschaffen werden können. 2. Was macht ein Bilderbuch „erwachsen“? Bilderbücher sind eine Form der visuellen Literatur, die Bilder und verbalen Text kombinieren. Visuelle und verbale Elemente tragen dabei gleichberechtigt zur Erzählung bei; auch das Format und der Peritext (z.B. Schutzumschlag, Vorsatz, Titelbild, vgl. M OURÃO 2013b: 72) spielen für die Bedeutungsgenerierung eine Rolle. Seit den 1980er Jahren stehen Bilderbücher zunehmend im Fokus der Forschung (vgl. C OLOMER et al. 2010; K ÜMMERLING -M EIBAUER 2018), sie werden dabei beispielsweise aus historischer, literaturwissenschaftlicher und pädagogischer Perspektive betrachtet. Besonders die Beziehung zwischen Text und Bild wird auf vielfältige Weise charakterisiert (vgl. z.B. N IKOLAJEVA / S COTT 2001; S IPE 2012). Bilderbücher für ältere Lernende lassen sich auf einem Kontinuum zwischen cross-over picturebooks (B ECKETT 2012) - Bilderbüchern, die sich an verschiedene Altersgruppen richten - und solchen, die sich explizit an Erwachsene wenden, verorten (O MMUNDSEN 2018: 221). Das Phänomen der crossover literature - Texte, welche die traditionellen Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur überschreiten - wurde zunächst für Romane beschrieben, trifft jedoch auf Bilderbücher in besonderem Maße zu; Sandra B ECKETT bezeichnet diese als „the ultimate crossover genre“ (B ECKETT 2012: 307). Bilderbücher haben häufig eine doppelte Zielgruppe („dual audience“, N IKOLAJEVA / S COTT 2001: 17), sie richten sich sowohl an Erwachsene als auch an Kinder. Dabei lesen die beiden Zielgruppen das Buch jeweils auf verschiedene Weise und bringen unterschiedliche Perspektiven ein. Gerade die bildliche Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 43 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Ebene ermöglicht durch ihre interpretatorische Offenheit auch weniger erfahrenen Lesenden einen Zugang (vgl. B ECKETT 2018: 210). Gleichzeitig werden ältere Lesende zunehmend von Verlagen als Zielgruppe entdeckt, was sich daran zeigt, dass einige Bilderbücher inzwischen explizit als „nicht nur für Kinder“, „für alle Altersgruppen“ oder sogar „für Erwachsene“ beworben werden (vgl. B ECKETT 2018: 212; O MMUNDSEN 2018: 225). Als Bilderbuchrezipient*innen werden Erwachsene nicht mehr vorrangig als Vor- und Mitlesende zusammen mit Kindern angesprochen, sondern als „readers in their own right“ (B ECKETT 2018: 217). Was macht diese Bücher nun auch für ältere Lesende, insbesondere Schüler*innen der Sekundarstufe, die gleichzeitig Fremdsprachenlernende sind, interessant? Wie im Folgenden gezeigt wird, verweigern sich viele dieser Texte traditionellen Genreerwartungen des Bilderbuchs und bedienen sich postmoderner Erzählweisen und Stilmittel (vgl. S IPE / P ANTALEO 2008). Dies betrifft thematische Aspekte, literarische Gestaltungsmittel sowie Protagonist*innen und Erzählperspektive. 2.1 „Picturebooks as an introduction to life“ (B ECKETT 2015: 66) - Herausfordernde, universelle und aktuelle Themen Eine erste Grenzüberschreitung findet sich bei den behandelten Themen, die das inhaltliche Spektrum dessen, was in Bilderbüchern für Kinder in der Vergangenheit - meist mit pädagogischen und/ oder protektionistischen Hintergedanken - für angemessen gehalten wurde, deutlich erweitern. Tod, Krankheit oder Fluchterfahrungen beispielweise werden in aktuellen Bilderbüchern nicht mehr tabuisiert, da sie auch schon Teil der kindlichen Lebenswelt sind: „Children, like adults, need reading experiences that allow them to explore dark, disturbing, and painful subjects because such subjects can touch them personally and constitute part of their life experience“ (B ECKETT 2018: 215). Für Lernende in der Sekundarstufe gilt das umso mehr. Auch Jugendlichen können Bilderbücher helfen, sich mit Themen ihrer Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen. Von den in unserem Projekt verwendeten Büchern thematisiert The Island (G REDER 2007) beispielsweise Fremdenfeindlichkeit, Gruppenzugehörigkeit und Mobbing, The Red Tree (T AN 2001) beschäftigt sich mit emotionalen Hochs und Tiefs, dem Gefühl von Isolation und Nicht-Verstanden-Werden und der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt - Themen, die für viele Jugendliche in der Pubertät äußerst relevant sind. Die doppelte Zielgruppe Kinder und Erwachsene wird weiterhin von Bilderbüchern adressiert, die philosophische Fragen aufwerfen und von menschlichen Grunderfahrungen erzählen: „Crossover picturebooks explore the human condition and deal with the important issues that touch young and old alike“ (B ECKETT 2018: 215). Beispiele für solche existentiellen Aspekte sind Themen wie der Verlauf der Zeit und die eigene Stellung innerhalb der Generationenfolge in Grandpa Green (S MITH 2011) oder Window (B AKER 2002), oder eigene Beitrag zur Gesellschaft in 44 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 The Promise (D AVIES 2013). Dabei stellen die Bücher mehr Fragen als dass sie Antworten geben, und vermitteln keine eindeutige Moral. In Window zeigt die australische Autorin Jeannie B AKER den Blick aus einem Fenster im Laufe von ca. 25 Jahren. Jede Leserin und jeder Leser wird in diesem Buch andere Details entdecken, eigene Erfahrungen mit Veränderungen über die Lebensspanne in den Rezeptionsprozess einbringen und den Text vor dieser Folie interpretieren. Schließlich ermöglichen es viele Bilderbücher, thematische Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen herzustellen, und damit zu Themen, die auch für viele Jugendliche relevant sind. Beispiele aus unseren Projektbüchern sind Rassismus (The Island) Umweltschutz und Nachhaltigkeit in Window und The Promise (D AVIES 2013) oder Fleischkonsum in Mr Maxwellʼs Mouse (A SCH / A SCH 2004). 2.2 Visuelle und verbale Gestaltung Was bestimmte Bilderbücher weiterhin interessant für ältere Lesende macht, sind Elemente der visuellen und verbalen Gestaltung der Texte sowie komplexe Bild-Text- Beziehungen. Einige Bilderbücher überschreiten dabei erneut traditionelle Genregrenzen. Sie nehmen beispielsweise Elemente von Comics auf oder machen in ihrer Bildsprache Anleihen beim filmischen Erzählen; E VANS (2015b) bezeichnet sie als „fusion texts“. Dies erhöht ihre Attraktivität für viele Teenager, deren Mediennutzungsvorlieben und -gewohnheiten diese Techniken entgegenkommen. In The Wolves in the Walls beispielweise finden sich zum einen Charakteristika von Bilderbüchern wie das Querformat sowie großflächige bildnerische Darstellungen mit wenig Text, zum anderen an Comics erinnernde Panels, Sprechblasen und an filmische Mittel erinnernde Nahaufnahmen der Protagonisten. Bilderbücher für ein älteres Publikum zeigen oft verstörende Realitäten und schaffen mit düsteren Farben und harten Kontrasten eine bedrückende Stimmung. The Girl in Red (F RISCH / I NNOCENTI 2012) zeigt ein als bedrohliches Wimmelbild gezeichnetes großstädtisches Setting, das von Verwahrlosung, Dreck und Armut gekennzeichnet ist und für die Protagonistin eine feindliche Umgebung darstellt. Die vorwiegend schwarz-weißen Kohlezeichnungen mit nur spärlich eingesetzten Farben unterstreichen die bedrohliche Atmosphäre in The Island. Die visuelle Gestaltung fügt häufig neue Bedeutungsebenen hinzu, welche Sachverhalte darstellen, die sich mit Worten nicht ausdrücken lassen und die Rezipient*innen zum Nachdenken bringen können: Ironically, good narrative illustration is not about ‘illustration’ at all, in the sense of visual clarity, definition or empirical observation. It’s all about uncertainty, open-mindedness, slipperiness, and even vagueness. There’s a tacit recognition in much graphic fiction that some things cannot be adequately expressed through words: an idea might be just so unfamiliar, an emotion so ambivalent, a concept so nameless that it is best represented either wordlessly, through a visual subversion of words, or as an expansion of their meaning using careful juxtaposition (T AN 2011; zitiert in E VANS 2015b: 117f.). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 45 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Während die Illustrationen in Bilderbüchern für ein kindliches Publikum oft recht eindeutig sind und weniger Spielraum für Interpretationen bieten (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel), geben Illustrationen in „erwachseneren“ Bilderbüchern oft Rätsel auf und nutzen symbolische Darstellungen. Leser*innen wird dabei eine eigene Interpretationsleistung abverlangt: „For me, a successful picture book is one in which everything is presented to the reader as a speculative proposition, wrapped in invisible quotation marks, as if to say ‘what do you make of this? ’“ (T AN 2002: par. 19). Gerade solche Bilderbücher, in denen Text und Bild unterschiedliche Geschichten erzählen, bieten interessante Gesprächs- und Denkanlässe. Die Illustrationen füllen Leerstellen, die der verbale Text lässt und bewirken Ambiguität (vgl. C AMPAGNARO 2015: 122). In The Wolves in the Wall werden Collagen aus Fotos, Zeichnungen und computergenerierte Bilder genutzt, was den Text fragmentarisch wirken lässt und die Frage nach der Realität des dargestellten Geschehens betont. Zu dieser Infragestellung der Realität tragen in vielen Büchern postmoderne Erzähltechniken wie nicht-lineares Erzählen, Mehrperspektivität und Metafikitionalität bei (vgl. B ECKETT 2018; P AN - TALEO / S IPE 2008), beispielsweise in The Girl in Red. Ein weiteres Merkmal von Bilderbüchern, die sich nicht nur an Kinder richten, ist ihre Intertextualität. Häufig werden literarische oder andere künstlerische Werke zitiert. Um diese Anspielungen und den oftmals daraus resultierenden Humor zu verstehen, sind Vorkenntnisse erforderlich (vgl. L AZAR 2015: 99). Gleichzeitig regen diese intertextuellen Elemente zu einem Vergleich verschiedener Texte an. Bilderbücher für ein älteres Lesepublikum haben häufig relativ viel verbalen Text, wodurch komplexere Plotstrukturen dargestellt werden können. Auch wenn dies für Schüler*innen der Sekundarstufe die Attraktivität erhöht, bringt es häufig auch Herausforderungen durch weniger frequentes Vokabular und kompliziertere Satzstrukturen mit sich (beispielsweise die Höflichkeitsformen in Mr Maxwellʼs Mouse). 2.3 Protagonisten und Erzählperspektive Während in Bilderbüchern, die sich vor allem an jüngere Lesende richten, häufig Kinder als Protagonist*innen auftreten, machen ältere Hauptfiguren Bilderbücher auch für Lernende der Sekundarstufe interessant (vgl. L AZAR 2015: 97f.). In The Girl in Red, The Promise, The Watertower und The Red Tree treten jugendliche Protagonist*innen auf, in The Island und The Man Who Walked Between The Towers sind die Charaktere Erwachsene, Window begleitet den Protagonisten vom Babybis ins Erwachsenenalter. Besonders jugendliche Charaktere erleichtern Teenagern eine Identifikation mit den dargestellten Personen. Häufig wird das Geschehen aus ihrer Perspektive erzählt und ihr Blick auf die Welt dargestellt. In The Girl in Red begleiten wir die jugendliche Protagonistin durch eine als feindlich gezeigte großstädtische Szenerie, mehrfach blicken wir der Hauptfigur quasi über die Schulter und sehen die Ereignisse mit ihren Augen. In The Promise und The Herd Boy kommentieren die in der ersten Person erzählten Texte die in den Illustrationen dargestellten Ereignisse. 46 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 3. Das Potential von Bilderbüchern für den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe Welche Lerngelegenheiten bietet dieses literarische Format nun für den Fremdsprachenunterricht? Im Folgenden fassen wir einige Aspekte zusammen, die in der didaktischen Literatur zur Arbeit mit Bilderbüchern mit älteren Lernenden dargestellt werden. Diese werden dann in Abschnitt 4 der Einschätzung aus der Perspektive der Schüler*innen gegenübergestellt. Bilderbücher für ein erwachseneres Publikum behandeln Themen, die für Jugendliche äußerst relevant sind (vgl. M OURÃO 2017: 253), was auch unsere Beispiele im vorherigen Abschnitt zeigen. Sie können Lernenden helfen, mit persönlichen Herausforderungen der Teenagerjahre zurechtzukommen und bieten Anlässe für Aufgabenformate, die Jugendliche persönlich involvieren. Häufig wird betont, dass Bilderbücher auch für Schüler*innen mit begrenzten Sprachkenntnissen einen motivierenden ganzheitlichen Zugang zu Literatur bieten. Die im Vergleich zu beispielsweise Jugendromanen deutlich geringere Textmenge kann Berührungsängste mit fremdsprachlicher Literatur abbauen. Gerade schwächeren Lesenden kann die Bildebene beim Verständnis des fremdsprachlichen Textes helfen, was ihnen so Erfolgserlebnisse verschafft. In der didaktischen Literatur wird postuliert, dass mit einem solchen niedrigschwelligen Zugang Bilderbücher auch den Einstieg in das Lesen komplexerer literarischer Texte erleichtern und somit auf den Literaturunterricht der Oberstufe vorbereiten können (vgl. D ELANOY 2017: 19; L AZAR 2015: 98). Gerade in extensive reading settings können die Bedürfnisse und Interessen heterogener Lerngruppen berücksichtigt werden (vgl. DA R OCHA 2017: 169). In diesem Zusammenhang wird eine weitere Stärke von Bilderbüchern darin gesehen, dass sie - unter anderem durch ihre Nähe zu Comics - an die außerschulischen Rezeptionsgewohnheiten Jugendlicher anknüpfen. Damit bieten sie die Chance, der gerade im Teenageralter zuweilen verbreiteten Abneigung gegenüber dem Lesen entgegenzuwirken: „To help students develop a fondness for reading, we argue that educators need to take an approach that liberally draws upon the works, formats and genres that students enjoy reading“ (T HOMPSON / M C I LNAY 2019: 67). Eine solche Argumentation folgt einem weiten Begriff von Literatur, welcher der Multimodalität aktueller Kommunikation gerecht wird und der traditionellen Fokussierung auf einen Kanon etablierter Werke im Literaturunterricht entgegengesteht (vgl. D ELANOY 2017: 17). Das komplexe Zusammenspiel von Text und Bild schafft Gelegenheiten zur Ausbildung von multiliteracies (vgl. B ULL / A NSTEY 2019; H ALLET 2012). Dazu gehört auch kulturelles Lernen (vgl. B LAND 2016; M OURÃO 2017: 252f.) sowie eine kritische Perspektive auf diese Texte: It is often through the pictures in picturebooks that students access other interpretations of what they take for granted and by using more challenging picturebooks we can provide our English language students with opportunities to question social constructs and to be critical readers (M OURÃO 2013a: 82; vgl. auch A LTER 2019; L AZAR 2015). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 47 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Im Hinblick auf sprachliches Lernen laden gerade unkonventionelle und vielschichtige Bilderbücher zu einem Austausch über die Texte ein, was vielfältige kommunikative Sprechanlässe für den Unterricht schafft (vgl. A LTER 2019: 29; M OURÃO 2017: 254). Besonders die Bilder regen zu unmittelbaren Reaktionen an und fordern Diskussionen und den Austausch von verschiedenen Interpretationen heraus. Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse der Forschung von G HOSN (2013: 63) zum Einsatz von Bilderbüchern im Grundschulfremdsprachenunterricht auch für ältere Lesende zutreffen: Bilderbücher führten in ihrem Forschungsprojekt im Vergleich zu Lehrbuchtexten zu tiefgründigeren und authentischen Gesprächen im Klassenzimmer. Die doppelte Kodierung durch Text und Bild unterstützt dabei das Lernen sprachlicher Strukturen: „Images support the text in a mutual relationship and as learning is facilitated by visual cues, reading helps the brain to remember these language structures, as the learner will connect an image to the word it represents“ (E ISENMANN / S UMMER 2020: 55). 4. „This book really got me“ 2 - Ergebnisse aus einem Leseprojekt in der Sekundarstufe Welche Perspektiven haben nun Jugendliche auf Bilderbücher? Während es inzwischen einige Studien zur Bilderbuchrezeption von Kindern gibt (z.B. A RIZPE / S TYLES 2016; K AMINSKI 2013), berichten nur vereinzelte Publikationen davon, wie jugendliche Lesende auf Bilderbücher reagieren (u.a. L AZAR 2015; M OURÃO 2013a; P AN - TALEO 2012). In einem Leseprojekt mit einer 9. Realschulklasse in Baden-Württemberg im Frühling 2021 gingen wir dieser Frage nach. Ursprünglich war das Projekt als gemeinsame Leseerfahrung im Unterricht geplant, doch aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde es online im Fernlernmodus durchgeführt. Die Klasse bestand aus zwölf Mädchen und vierzehn Jungen. Lockdown-Reading war den Schüler*innen bereits aus der ersten Phase des Fernlernens im Mai 2020 vertraut, als die Klasse sich mit dem Text Eric (T AN 2010) in verschiedenen Aufgaben auseinandergesetzt hatte. Dass der offene Aufgabenkanon und die sehr ungewöhnliche Geschichte damals großen Anklang gefunden hatten, ermutigte uns zu diesem umfangreicheren Projekt. Dabei nahmen wir drei Forschungsfragen in den Blick: • Wie reagieren Jugendliche auf Bilderbücher im Englischunterricht? • Welche Merkmale von Bilderbüchern machen diese relevant und attraktiv für Jugendliche? • Welche Gelegenheiten für literarisches Lernen bieten Bilderbücher in einem aufgabenorientierten Lesesetting? 2 Ilja, Lesejournal zu The Promise. 48 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 4.1 Das Leseprojekt Über einen Zeitraum von drei Wochen mit jeweils vier Englischstunden beschäftigten sich die Schüler*innen mit einem selbst gewählten Bilderbuch. Dazu hatten wir ihnen eine Auswahl von zwölf Büchern zur Verfügung gestellt. Sie fertigten ein Lesejournal an, das sowohl aus verpflichtenden als auch optionalen Aufgaben bestand. Bei der Auswahl der Bilderbücher für das hier vorgestellte Projekt legten wir Wert auf eine große Bandbreite an Themen, die Jugendliche ansprechen können (s. Abschnitt 2.1). Des Weiteren wählten wir sowohl Bücher mit weniger komplexen Bild-Text-Beziehungen (z.B. Grandpa Green) als auch solche mit vielschichtigen und uneindeutigen verbalen und visuellen Texten aus, um den unterschiedlichen Vorerfahrungen der Schüler*innen mit multimodalen Texten Rechnung zu tragen. Die von uns ausgesuchten Bilderbücher stellte die Lehrkraft zu Beginn des Projekts in einem Präsenztreffen kurz vor. Die Schüler*innen konnten sich dann für je eines der Bücher entscheiden, die jeweils in dreifacher Ausfertigung vorhanden waren. Im Verlauf des Projekts arbeiteten die Schüler*innen selbständig in ihrem eigenem Arbeitsrhythmus an den Aufgaben des Lesejournals, wobei in regelmäßigen Videokonferenzen ihre Fortschritte besprochen und Hilfestellungen gegeben wurden (z.B. Erarbeitung von sprachlichen Mitteln zur Vorstellung eines Bilderbuchs). Da immer zwei bis drei Lernende das gleiche Bilderbuch ausgewählt hatten, konnten die Schüler*innen sich zusätzlich innerhalb der picturebook group im Onlineunterricht austauschen, auch ohne dass dabei die Lehrkraft involviert sein musste. 4.2 Die Aufgaben des Lesejournals Die Aufgaben, welche die Schüler*innen bei der Auseinandersetzung mit dem gewählten Bilderbuch unterstützen sollten, umfassten sowohl lesebegleitende Aufgaben, die sich nicht auf spezifische Titel bezogen, als auch solche, die das Lesen des individuell gewählten Bilderbuches begleiteten. Beide Aufgabentypen folgten handlungs- und produktionsorientierten Ansätzen (vgl. N ÜNNING / S URKAMP 2020) und regten zu einer kreativen Auseinandersetzung mit den Texten an. Sie sollten es den Schüler*innen ermöglichen, eigene Erfahrungen und Perspektiven einzubringen und selbst multimodale Ausdrucksformen zu nutzen, beispielsweise einen Instagram- Post der Hauptfigur zu entwerfen (vgl. Abbildungen 1 und 2,  S. 49). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 49 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Abb. 1: Instagram-Post der Hauptfigur zu Grandpa Green und The Island Ein Schwerpunkt lag auf der Erarbeitung eines book talks, den die Schüler*innen auf Video aufnahmen, um ihr gewähltes Buch den Mitschüler*innen vorzustellen. Beispiele für die Aufgaben des Lesejournals: • Sprechblasen zu Bilderbuchseiten hinzufügen • die Lieblingsszene zeichnen und deren Wirkungskraft beschreiben • einen Brief an einen Freund/ an den/ die Autor*innen schreiben • eine Silhouette der Hauptfigur ausschneiden und in eine neue Szene integrieren • sich selbst an geeigneter Stelle im Bilderbuch einzeichnen und die Szene beschreiben • eigene Erfahrungen zur Gefühlswelt und zur Thematik des Bilderbuchs erzählen (z.B. unheimliche Erlebnisse, Familienbeziehungen) Abb. 2: Beispielaufgaben des Lesejournals 50 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 4.3 Datenerhebung und -auswertung Im Laufe des Projekts erhoben wir drei Typen von Daten: Je ein Fragebogen zu Beginn und nach Abschluss des Leseprojekts sollten Aufschluss darüber geben, ob und inwieweit sich die Einstellung der Jugendlichen zu Bilderbüchern im Lauf des Projekts veränderte (FB 1: n=26; FB 2: n=25). Ergänzt wurden diese Einsichten in die Perspektive der Jugendlichen auf das Projekt durch ein Abschlussgespräch mit der Klasse, das wir in Form einer Videokonferenz als Teil des Distanzunterrichts führten. Darin äußerten sich die Jugendlichen sowohl zu ihren Erfahrungen mit dem Leseprojekt als auch zu ihrer Bewertung des Potentials von Bilderbüchern für das Englischlernen. Das Gespräch wurde aufgenommen und anschließend transkribiert. Eine dritte Datenquelle stellten die umfangreichen Texte der Lernenden in ihren Lesejournalen dar, in welchen diese ihre Leseprozesse dokumentierten. Im Gegensatz zu den Daten aus den Fragebögen und dem Auswertungsgespräch auf Deutsch verwendeten die Schüler*innen hier die englische Sprache. Alle drei Datentypen wurden computergestützt mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Während die Fragebögen (FB I und II) von den Schüler*innen anonym ausgefüllt wurden, wurden die Sprecher*innen im Transkript des Auswertungsgesprächs (TA) und die Texte der Lernenden in den Lesejournalen (LJ) und book talks (BT) pseudonymisiert. 4.4 Ergebnisse 4.4.1 Wie reagieren Jugendliche auf Bilderbücher im Englischunterricht? Die Vorankündigung der Lesephase wurde von den Jugendlichen zuerst mit gemischten Gefühlen angenommen. Einer Gruppe von 13 Lernenden, die im Fragenbogen vor der Leseeinheit angaben, sich auf das Projekt zu freuen, standen sieben Schüler*innen gegenüber, die das verneinten (vgl. Abb. 3). Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 51 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Abb. 3: Einschätzung des Bilderbuchprojekts vor und nach der Unterrichtseinheit Circa ein Drittel der Jugendlichen gab außerdem an, nicht gerne ein Bilderbuch im Englischunterricht zu lesen. Knapp die Hälfte der Schüler*innen bezeichnete Bilderbücher vor dem Projekt als kindisch, einige außerdem als langweilig oder altmodisch (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Charakterisierung von Bilderbüchern vor/ nach dem Projekt (Anzahl der Nennungen) 0123456789 10 1 (trifft zu) 2 3 4 5 6 (trifft gar nicht zu) Auf das Unterrichtsprojekt "Picturebooks for Young Adults" freue ich mich. 02468 10 12 14 16 18 Das Projekt "Picturebooks for Young Adults" fand ich... 0 5 10 15 20 25 aufregend interessant unterhaltsam abwechslungsreich ansprechend altmodisch Welche Eigenschaften besitzen Bilderbücher für dich? pre-reading post-reading 52 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 Nach dem Abschluss des Projekts änderte sich dieses Bild. Sowohl im Abschlussgespräch als auch in den Fragebögen wird deutlich, dass einige Schüler*innen nun zu einer anderen Einschätzung kamen. 23 Schüler*innen gaben an, dass ihnen das Projekt super oder eher gut gefallen habe, nur zwei Lernende bewerteten es als „eher nicht gut“ (vgl. Abb. 3). Nur noch je eine Nennung gab es bei der Charakterisierung von Bilderbüchern als „kindisch“ oder „langweilig“ (vgl. Abb. 4). Im Abschlussgespräch erzählen einige Schüler*innen, dass sie dem Projekt anfangs sehr skeptisch gegenübergestanden hatten, wie auch das Eingangszitat deutlich macht, dass sich ihr Standpunkt aber nun geändert habe. Was diesen Meinungsumschwung befördert hat, versucht der nächste Abschnitt zu beantworten. 4.4.2 Welche Merkmale von Bilderbüchern machen diese relevant und attraktiv für Jugendliche? Ein erstes Merkmal von Bilderbüchern, das Jugendliche für dieses literarische Format einnahm, sind für sie relevante Themen, die in den Bilderbüchern angesprochen werden. Eine Schülerin bezeichnet sie als „ernste Themen“ - im Gegensatz zu solchen in Bilderbüchern für Kinder. In der Fragebogenerhebung wird das in der nach dem Projekt höheren Zustimmung zur Charakterisierung von Bilderbüchern als „ansprechend“, „informativ/ lehrreich“ und „interessant“ deutlich (vgl. Abb. 4) Die Kombination von Text und Bild sorgt dafür, dass auch mit weniger Text komplexes Erzählen möglich wird und attraktive Gegenstände verhandelt werden können; das Narrativ wird gewissermaßen komprimiert. Drei Schüler*innen meinen zu diesem Aspekt: Es hat mir gefallen, dass mit wenig Text und ein paar Bildern eine interessante Geschichte erzählt wurde. (FB I F5) Ich denke halt auch die Geschichte hätte man, glaube ich, bestimmt auch irgendwie in einem richtigen Buch zusammenfassen oder umschreiben können, und so war es halt kurzgefasst und trotzdem alles Wichtige. (TA, Grandpa Green, Z 256-258) … außerdem erzählen die Bilder viel mehr Geschichten als Bücher ohne Bilder. (FB II, F 9) Wie wichtig es für die Schüler*innen ist, einen persönlichen Bezug zur Thematik des Buches herzustellen, verdeutlichen die folgenden Zitate aus den Fragebögen, in denen die Auswahl des Bilderbuchs begründet wird: Mich hat das Buch Grandpa Green direkt angesprochen. Ich habe selbst keinen lebenden Opa mehr und auch nicht viele Erinnerungen. (FB II, F4) Da ich in dem Buch mein Lieblingsmärchen gesehen habe. (FB II, F4) Weiterhin begründen viele Schüler*innen ihre nun positive Einstellung zu Bilderbüchern mit deren Zugänglichkeit. Dies zeigt sich zunächst in der Bewertung von Bilderbüchern als „einfach zu lesen“ in der Fragebogenerhebung, die allerdings nach dem Projekt etwas geringer ausfiel (vgl. Abb. 4). Gerade Schüler*innen, die im Allgemeinen weniger gerne lesen, erwähnen die im Vergleich zu einem Roman reduzierte Textmenge und die visuelle Ebene, welche für einen niederschwelligen Zugang Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 53 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 zu einem literarischen Text sorgen. Ein Schüler drückt das im Auswertungsgespräch so aus: Es macht auch mal Spaß wieder ein Bilderbuch zu lesen und sich nicht durch 400 Seiten pure Buchstaben zu lesen. (TA, Moritz, Z 89-91) Die Kombination von Text und Bild wird von vielen Schüler*innen als attraktives Merkmal von Bilderbüchern herausgestellt. Dabei werden verschiedene Aspekte angesprochen. Zum einen erwähnen zahlreiche Lernende, dass die Bilder sie beim Verstehen des fremdsprachlichen Texts unterstützen: „Through the pictures I could understand the story much better and also put myself in well with the girl“ formuliert es Amelie in ihrem Lesejournal zu The Promise. Zum anderen betonen die Schüler*innen, dass die Bilder dem Leseprozess eine weitere Ebene hinzufügen. So bezeichnet Amelie die Bilder als „kleine Anschübe“ (TA, Amelie, Z 67), die es ihr ermöglichen, „dass man da weiterdenken kann“ (ebd., Z 76). Auch die emotionale Dimension des Erzählten wird vor allem auf der visuellen Ebene realisiert. Eine Schülerin meint dazu: The green pictures have given me summer vibes. (LJ Selina zu Grandpa Green) Die Bilder ermöglichen außerdem eigene kreative Zugänge zum Buch. Vor allem die Bildebene schafft Gelegenheiten für die Imagination der Lernenden, ganz ähnlich wie es S HAUN T AN in seinem Zitat (Abschnitt 2.2.) beschreibt („some things cannot be adequately expressed through words“): Es gab nicht so viel zum Lesen, aber trotzdem gab es eine ganz große Geschichte, weil man sich dann zu den Bildern auch noch mal eine Geschichte vorgestellt hat (FB II, F 5). Ein weiterer Punkt ist die Authentizität des Lesens eines englischsprachigen Bilderbuchs. Einige Schüler*innen nahmen das Projekt im Vergleich zur Arbeit mit dem didaktisierten Lehrwerk als lebensnaher und anwendungsorientierter wahr, was auch in folgendem Zitat deutlich wird: Und es hat halt echt geholfen, weil ich glaube im Englischen lernt man immer nur so, was wirklich korrekt ist und ich glaube so durch die Bilderbücher kriegt man nochmal (…) ein anderes Sprachgefühl, auch so mit Umgangssprache und so denke ich. (TA, Amelie, Z 230- 232) Benannt wird auch ein Mehrwert für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen; die Arbeit mit den Bilderbüchern ermöglicht den Schüler*innen aus ihrer Sicht den Erwerb von Wortschatz und Strukturen in einem authentischen Kontext. 4.4.3 Welche Gelegenheiten für literarisches Lernen bieten Bilderbücher in einem aufgabenorientierten Lesesetting? Zusätzlich werfen die im Projekt erhobenen Daten auch einige Schlaglichter auf die Leseprozesse der Schüler*innen und zeigen Möglichkeiten für den Erwerb literatur- 54 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 bezogener Kompetenzen (D IEHR / S URKAMP 2015). Im Hinblick auf attitudinal-motivationale Kompetenzen verdeutlicht der vorherige Abschnitt das Potential des literarischen Formats Bilderbuchs für den Aufbau einer positiven Einstellung zu literarischen Texten. Die Mehrheit der Schüler*innen schreibt im Fragebogen, dass das ausgewählte Buch sie aufgrund der Thematik oder der visuellen Gestaltung direkt angesprochen habe. Beim Lesen gelingt es vielen Schüler*innen, persönliche Bezüge zwischen den Texten und der eigenen Lebenswelt herzustellen. Beispielweise schreibt Selina in ihrem Lesejournal: „I’m happy that I chose this book (Grandpa Green), because while I was reading it, I was thinking about my grandfather, who doesn’t live anymore.“ Die Schüler*innen entwickeln „Freude an ästhetischen Merkmalen“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) der Bilderbücher, was in diesen Zitaten deutlich wird: Mir hat gefallen, wie sich die Farben der Bilder im Verlauf von dem Buch geändert haben (FB II, F5) The book is very colourful and all the colours fit together very well. That’s why it appealed to me personally. Sometimes you have to think twice what the author wants to say (LJ Tanja zu A House that once was) Außerdem zeigen sie „Einfühlungsvermögen in Figuren“ (ibid.: 25): I identify with her because I am also very dreamy and thoughtful and I also know these moods that she describes (LJ Anna zu The Red Tree). I really like this scene, because the tree is beautiful and the girl is happy and that makes me happy too (LJ Jennifer zu The Red Tree) Die Beschäftigung mit den Bilderbüchern bot den Schüler*innen weiterhin Möglichkeiten der Entwicklung von ästhetisch-kognitiven Kompetenzen. In einigen Lernendentexten wird deutlich, wie ihnen das „Erkennen und Deuten ästhetischer Darstellungsformen“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) gelingt. Die Schüler*innen beziehen den visuellen und den verbalen Text aufeinander: I like the colours in this picture, because they look scary like they want to say: “Do not swim here, there is a monster in it” (LJ Joshua zu The Watertower). Die Bilder finde ich sehr wichtig denn sie geben der Geschichte noch mehr Leben und füllen Lücken aus (FB II, F10) Auch die Bilder haben erst so gar keine richtige Bedeutung gegeben, wenn man das so sagen kann. Und dann, wenn ich es halt verstanden habe, habe ich auch die Bilder verstanden. Was die eigentlich damit sagen wollen, so richtig (TA, Tanja, Z 103-105) Die Lernenden setzen sich mit in den Bilderbüchern dargestellten Werten auseinander und kommen zu persönlichen Beurteilungen der Bücher: There is a contrast of machinery, technique and nature (LJ Anna zu The Red Tree) In the end I want to say that I really like this book because it showed me how a heart and a world can change (LJ Ilja zu The Promise) Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 55 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Schließlich bieten Bilderbücher auch Gelegenheiten zur Förderung sprachlich-diskursiver Kompetenzen. Im Hinblick auf Lernstrategien erwähnen die Schüler*innen, dass ihnen die visuelle Ebene helfe, sich sprachliche Strukturen im Gedächtnis zu behalten, und Bedeutungen aus dem Kontext zu erschließen: Weil ich finde man kann da gut Englisch lernen, weil man es sich mit den Bildern alles leichter merken kann (FB II, F1) Durch Lesen lerne ich persönlich sehr gut. Man sieht wie Wörter geschrieben sind, auch wenn man nicht jedes Wort versteht, versteht man den Inhalt trotzdem (FB II, F3) Das Leseprojekt enthielt eine Vielfalt von Aufgaben, in denen die Lernenden ihre Reaktion auf die Texte dokumentierten. Die Schüler*innen empfanden dabei den Austausch über die verschiedenen Bücher als motivierenden Kommunikationsanlass. Der Austausch in den book talks und die Lesejournale lassen sich mit D IEHR / S URKAMP (2015: 25) als „Anschlusskommunikation unter Nutzung des themenspezifischen Wortschatzes und der generisch-diskursiven Muster eines literarischen Textes“ charakterisieren. Die Schüler*innen stellten besondere Gestaltungsmerkmale ihres ausgewählten Bilderbuches heraus: The book is drawn very realistically, and I like that personally really much. In one scene Bubba gets scared by something. We don’t see what scares him, only his face, and this is the best scene, I think, because one can speculate what happened to him. After that Bubba changed and I think, Gary Crew wants to say that loneliness and fear can change persons and loneliness is a big problem of this lockdown (BT, Moritz, Z 17-22). The images and colours in the book are very dark. I think, these colours were the right choice because they underline this whole creepy story (BT, Lena, Z 23-25). Im Sinne „generisch-diskursiver Muster“ (D IEHR / S URKAMP 2015: 25) trugen die Lernenden bei der Aufgabenbearbeitung der Multimodalität des literarischen Formats durch das Verfassen von eigenen visuellen Texten Rechnung (vgl. Abb.1,  S. 49), in denen sie beispielsweise Farbgebung, Layout und Perspektiven zur Bedeutungserzeugung nutzten. 5. Fazit und Ausblick Im durchgeführten Projekt bestätigte sich das in der didaktischen Literatur dargestellte Potential von Bilderbüchern, gerade auch bei wenig leseaffinen Lernenden eine positive Einstellung zu literarischen Texten zu fördern und Vorbehalte gegenüber Literatur abzubauen. Es zeigte sich, dass sich die Perspektive der Schüler*innen auf Bilderbücher im Verlauf des Projekts maßgeblich zum Positiven änderte. Gerade das individuelle Lesesetting ermöglichte es, persönlichen Leseinteressen Rechnung zu tragen, wie es Tamara im Auswertungsgespräch erläutert: Also ich glaube auch, das ist relativ schwer, was für alle zu finden, weil […] es waren ja auch ein paar gruseligere dabei und ich glaube manche kommen halt gar nicht mit dem klar 56 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 und manche finden das voll cool / und dann so Fantasy […]. Ich fand das jetzt so wie es gemacht wurde, am besten, dass sich jeder sein eigenes raussuchen konnte und dann konnte man sich auch irgendwie austauschen, was cool ist und was nicht so (TA, Tamara, Z 163- 167). Es wurde deutlich, dass die Lernenden persönlich berührt auf die literarischen Texte reagierten und so Literatur emotional erlebten. Bilderbücher zeigten sich damit als Mittel, Berührungsängste gegenüber fremdsprachlicher Literatur abzubauen und zur Anbahnung von „lifelong reading“ (K RASHEN 2011) beizutragen. Es ergaben sich vielfältige Gelegenheiten zur Förderung des literarischen Lernens. Den Schüler*innen gelang es, die Texte auf die eigene Lebenswelt zu beziehen, Empathie mit den dargestellten Protagonist*innen zu entwickeln und Elemente der Bildsprache und deren Wirkung zu beschreiben. Gefördert werden konnten auch Kompetenzen im Bereich multiliteracies, wenn die Schüler*innen beispielsweise Farbgebung, Zeichenstile und Intentionen von Illustrator*innen analysierten und interpretierten. Ein kreatives, offenes Aufgabensetting sowie kooperative Lernformen und das Sprechen über das Gelesene trugen dabei maßgeblich zum Kompetenzerwerb bei. Die Schüler*innen betonten, dass sie den Austausch in der Gruppe und das Teilen der eigenen Leseerfahrungen mit den anderen als besonders gewinnbringend empfanden. Es ist zu hoffen, dass auch Lehrkräfte der Sekundarstufe das Potential von Bilderbüchern entdecken und dann zu einem ähnlichen Fazit kommen wie ein Schüler, der sich auf die Frage, ob sich seine Meinung zu Bilderbüchern geändert habe, wie folgt äußert: Sehr sogar, ich würde mir echt Bilderbücher in Englisch kaufen, weil ich finde sie echt spannend. (FB II, F7) Literatur Primärtexte A SCH , Frank / A SCH , Devin (2004): Mr Maxwell´s Mouse. Toronto: Kids Can Press. B AKER , Jeannie (2002): Window. London: Walker Books. C REW , Garry / W OOLMAN , Steven (1994): The Watertower. Flinders Park: Era Publications. D ALY , Niki (2012): The Herd Boy. Grand Rapids: Erdmans Publishing. D AVIES , Nicola (2013): The Promise. London: Walker Books. F OGLIANO , Julie / S MITH , Lane (2019): A House that once was. London: Two Hoots. F RISCH , Aaron / I NNOCENTI , Robert (2012): The Girl in Red. Mankato: Creative Editions. G AIMAN , Neil / M C K EAN , Dave (2003): The Wolves in the Walls. New York: Harper Collins. G ERSTEIN , Modricai (2003): The Man who Walked Between the Towers. New York: Roaring Book Press. G REDER , Armin (2007): The Island. Crows Nest: Allen & Unwin. S MITH , Lan (2011): Grandpa Green. New York: Roaring Book Press. T AN , Shaun (2001): The Red Tree. Sydney: Hachette Australia. T AN , Shaun (2010): Eric. Melbourne: Allen & Unwin. Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe 57 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 Sekundärtexte A LTER , Grit / M ERSE , Thorsten (Hrsg.) (2022): Rethinking Picturebooks for Intermediate and Advanced earners. Tübingen: Narr. A LTER , Grit (2019): „Show me a story. Picturebooks in der Sek I: ein bekanntes Medium im neuen Kontext“. In: Englisch 5-10, 45, 28-31. A RIZPE , Evely / S TYLES , Morag (2016): Children Reading Picturebooks. Interpreting visual texts. London: Routledge. B ADER , Barbara (1976): American Picturebooks from Noah’s Ark to The Beast Within. London: Macmillan. B ECKETT , Sandra L. (2012): Crossover picturebooks. A genre for all ages. New York: Routledge. B ECKETT , Sandra L. (2015): „From traditional tales, fairy stories, and cautionary tales to controversial visual texts: Do we need to be fearful? “ In: E VANS , Janet (Hrsg.), 49-70. B ECKETT , Sandra L. (2018): „Crossover picturebooks“. In: K ÜMMERLING -M EIBAUER , Bettina (Hrsg.), 209-219. B LAND , Janice (2016): „English language education and ideological issues: Picturebooks and diversity“. In: Children’s Literature in English Language Education 4.2, 41-64. B ULL , Geoff / A NSTEY , Michelle (2019): Elaborating Multiliteracies through Multimodal Texts. New York: Routledge. C AMPAGNARO , Marnie (2015). „,These books made me really curious‘: How visual explorations shape the young readers’ taste“. In: E VANS , Janet (Hrsg.), 121-143. C OLOMER , Teresa / K ÜMMERLING -M EIBAUER , Bettina / S ILVA -D ÍAZ , Cecilia (Hrsg.) (2010): New directions in picturebook research. New York/ London: Routledge. D A R OCHA , Karin (2017): „Exclusively beneficial: Literature included. Multimodal books in the heterogeneous EFL classroom“. In: DA R OCHA , Karin et al. (Hrsg.), 167-184. D A R OCHA , Karin / H AIDACHER -H RON , Agnes / M ÜLLER - CARON , Amy (Hrsg.): Picture That! Picturebooks, Comics and Graphic Novels in the EFL classroom. Research & Teaching Implications. Graz: Leykam. D ELANOY , Werner (2017): „Picturebooks, Comics and graphic novels. New perspectives for literature and language teaching“. In: DA R OCHA , Karin et al. (Hrsg.), 13-27. D IEHR , Bärbel / S URKAMP , Carola (2015): „Die Entwicklung literaturbezogener Kompetenzen in der Sekundarstufe I. Modellierung, Abschlussprofil und Evaluation“. In: H ALLET , Wolfgang / S URKAMP , Carola / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Literaturkompetenzen Englisch. Modellierung - Curriculum - Unterrichtsbeispiele. Seelze: Klett / Kallmeyer, 21-40. E ISENMANN , Maria / S UMMER , Theresa (2020): „Multimodal literature in ELT: Theory and practice“. In: Children’s Literature in English Language Education 8.1, 52-73. E LLIS , Gail / B REWSTER , Jean (2014): Tell it again! The Storytelling Handbook for Primary English Language Teachers. Manchester: British Council. E NEVER , Janet / S CHMID -S CHÖNBEIN , Gisela (2006): Picture Books and Young Learners of English. Berlin: Langenscheidt. E VANS , Janet (Hrsg.) (2015a): Challenging and Controversial Picturebooks. London/ New York: Routledge. E VANS , Janet (2015b): „Fusion texts - the new kid on the block“. In: E VANS , Janet (Hrsg), 97-120. G HOSN , Irma-Kaarina (2013). Storybridge to second language literacy. The theory, research and practice of teaching English with children's literature. Charlotte: Information age publishing. H ALLET , Wolfgang (2012): „Graphic Novels. Literarisches und multiliterales Lesen mit Comic- Romanen“. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 117, 2-9. 58 Heiko Kist, Annika Kolb DOI 10.24053/ FLuL-2022-0004 51 • Heft 1 K AMINSKI , Annett (2013): „From reading pictures to understanding a story in the foreign language“. In: Children’s Literature in English Language Education 1.1, 19-38. K RASHEN , Steven (2011): Free Voluntary Reading. Exeter: Libraries Unlimited. K ÜMMERLING -M EIBAUER , Bettina (2018) (Hrsg.): The Routledge Companion to Picturebooks. London/ New York: Routledge. L AZAR , Gillian (2015): „Playing with words and pictures: Using post-modernist picture books as a resource with teenage and adult language learners“. In: T ERANISHI , Masayuki / S AITO , Yoshifumi / W ALES , Katie (Hrsg.): Literature and Language Learning in the EFL Classroom. Houndsmills/ New York: Palgrave Macmillan, 94-111. M OURÃO , Sandie (2013a): „Response to the The Lost Thing: Notes from a secondary classroom“. In: Children’s Literature in English Language Education 1.1, 81-105. M OURÃO , Sandie (2013b): „Picturebook: Object of discovery“. In: B LAND , Janice / L ÜTGE , Christiane (Hrsg.). Children´s Literature in Second Language Education. London: Bloomsbury, 71- 84. M OURÃO , Sandie (2015): „The potential of picturebooks with young learners“. In: B LAND , Janice (Hrsg.): Teaching English to Young Learners. Critical Issues in Language Teaching with 3-12 year olds. London: Bloomsbury, 199-218. M OURÃO , Sandie (2017): „The picturebook in instructed foreign language learning contexts“. In: N IKOLAJEVA , Maria (Hrsg.): The Edinburgh Companion to Children´s Literature. Edinburgh: Edinburgh University Press, 245-261. N IKOLAJEVA , Maria / S COTT , Carole (2006). How Picturebooks Work. New York: Routledge. N ÜNNING , Ansgar / S URKAMP , Carola (2020). Englische Literatur unterrichten 1. Grundlagen und Methoden. Seelze: Klett/ Kallmeyer. O MMUNDSEN , Ǻse Marie (2018): „Picturebooks for adults“. In: K ÜMMERLING -M EIBAUER , Bettina (Hrsg.), 220-230. P ANTALEO , Sylvia (2012): „Exploring grade 7 students’ responses to Shaun Tan’s The Red Tree“. In: Children’s Literature in English Language Education 1.1, 51-71. P ANTALEO , Silvia / S IPE , Lawrence (2008): „Introduction. Postmodernism and picturebooks“. In: S IPE / P ANTALEO (Hrsg.), 1-8. S IPE , Lawrence / P ANTALEO , Silvia (Hrsg.) (2008): Postmodern Picture Books: Play, Parody and Self-Referentiality. London: Routledge. S IPE , Lawrence R. (2012): „Revisiting the relationships between text and pictures“. In: Children’s Literature in Education 43, 4-21. T AN , Shaun (2002): Picturebooks - who are they for? https: / / www.shauntan.net/ esssay-picturebooks-who-for (16.06.2021). T HOMPSON , Riki / M C I LNAY , Matthew (2019): „Nobody wants to read anymore! Using a multimodal approach to make literature engaging“. In: Children’s Literature in English Language Education 7.1, 61-80. 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 S ABINE B INDER * Reading South Africa as an Adolescent Abstract. Current literature from South Africa reflects some of the country’s vast cultural diversity and helps illustrate many of the challenges associated with struggles for equality, against the background of a painful and continuing history fraught with injustices. This article makes an argument for engaging with these literary texts in the secondary EFL classroom and proposes a reading of five contemporary texts featuring young adult protagonists. Taking a combined context-reader approach, it contends that such texts are not only conducive to rich cultural learning, but also to personal development at learners’ particular stages of self-formation. Involving themselves in some of South Africa’s historical, cultural, and moral complexities through literary texts offers adolescent learners a lens through which to view, reflect on, and potentially validate and consolidate some of their own multifaceted, possibly contradictory experiences, as selves-in-progress within their own diverse social contexts, and it provides language with which to do so. 1. Navigating transitions and transculturalities: What can adolescent readers gain from an engagement with South African literary texts? Under the rubric “Focus on cultures” the Swiss curriculum for EFL in lower secondary schools in German speaking areas 1 explicitly links the recognition of a plurality of cultural practices, norms, and values in the English speaking world to a recognition of similar or parallel pluralities in the learners’ own world (D EUTSCHSCHWEIZER E RZIEHUNGSDIREKTOREN -K ONFERENZ 2016). While a notion of cultures as discrete, separable units remains implied, the new Swiss curriculum acknowledges pluralities at home and elsewhere and thus allows for a less monolithic, more multifaceted approach to cultural diversity. 2 It is in this transcultural spirit that this article seeks to demonstrate how an engagement with selected contemporary South African texts written in English can lead adolescent learners to recognise and reflect on the cultural diversity and fluidity of both South Africa and their own environments. It arguably * Address for correspondence: Dr. Sabine B INDER , Pädagogische Hochschule Zürich, Lagerstraße 2, CH-8090 Z ÜRICH . E-Mail: sabine.binder@phzh.ch Research areas: English language teaching methodology, literature in foreign language teaching and global literatures in English. 1 The Swiss Curriculum, Lehrplan 21, has also been enforced in the Principality of Liechtenstein. 2 See the claim for “[w]idening the horizon” in this respect made by Frauke M ATZ and Michael R OGGE (2020). 60 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 allows them to recognise contradictions and irreconcilabilities for what they are and offers a space to discuss potentially difficult topics with peers in their own diverse EFL classroom. What is more, reading about young South Africans’ struggles for equitable treatment and status amidst persisting conflicts and injustices might pave the way for learners to negotiate diversity, not only between themselves and others but also within their own adolescent selves-in-progress. It may enable their views of themselves and others to go beyond received categories and exclusionary practices. Amongst the key developmental tasks adolescent learners at secondary level must grapple with are finding out who they are and what characterises them as persons (cf. T HOMSEN et al. 2018: 92). While the crucial centrality of this complex task is undisputed, terms of reference vary. A person’s “self-concept”, as T HOMSEN et al. (ibid.) call it, entails their knowledge about themselves and is of a cognitive-descriptive nature. It usually consists of a multitude of self-descriptions of personal characteristics, abilities, facts, interests, and habits, and - importantly - it is located in several temporal dimensions. Knowledge of self thus includes knowledge of one’s present, one’s past biography, and a projection of one’s future self (ibid.: 93). In a cognitiveconstructivist view, the self-concept is formed in a process of active absorption, processing, and storing of information from various sources. These include internal attributions by one’s self, and external ones by others (cf. ibid.: 95-97). In adolescence internal attributions gain significance, which means that knowledge about the self is increasingly generated through self-reflection and self-awareness. Such knowledge is also increasingly aligned with prior experience and becomes more abstract (cf. ibid.: 98). However, with the accumulation of self-knowledge and growing awareness comes the challenge of having to tolerate and negotiate multiple, divergent, and possibly conflicting images of the self. These complexities are heightened for adolescents in transcultural contexts. Tensions can be hard to tolerate and frequently manifest in characteristic teenage insecurity, fickleness, and self-consciousness. Acceptance, integration, and reconciliation of these diverse aspects of the self are part and parcel of a stable self-concept and help smooth transition to adulthood (cf. ibid.: 98f.). South Africa’s transition to democracy has been similarly fraught with tensions, given the country’s broad linguistic and cultural diversity and its violent history of colonialism and apartheid. Acknowledging differences and conflicting points of view, cultural entanglements and intersecting subjectivities, has been key to ensuring relative peace in recent decades, whilst producing many stumbling blocks on the way. South African writing, including South African young adult fiction, has partaken in these struggles, documenting and mirroring them. As Judith I NGGS (2016: 4) notes in this respect, South African young adult fiction “differs considerably from that published elsewhere in the English-speaking world. Many of the works reflect the story of a society in the process of deconstructing and reconstructing itself over a period of thirty years of turmoil and transition”. The five texts selected for my discussion - three novels, a short story and a comic - are testament to this. They have been chosen with a view to (lower) secondary EFL learners (CEFR levels A2 to B1) and to cultural accessibility. With regard to the latter, Judith I NGGS maintains that a basic knowledge Reading South Africa as an Adolescent 61 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 of the history and politics of the country is essential for students of South African literature (2016: 4). This will partly, but not entirely, be mediated through the fact that some texts are written for an international readership and/ or employ literary genres familiar to global audiences. Relatability for EFL learners in terms of topics and perspective is aided through young adults appearing as protagonists and main focalisers in all the texts. Not all of the texts discussed are young adult fiction in the narrow sense of the term, but they all follow the criterion proposed by Frauke M ATZ and Anne S TIEGER (2015: 122, based on B UCHER / H INTON 2010: 9) insofar as they are relevant for teens and provide a roadmap for young readers in their personal development. While the choice of texts is of course not comprehensively representative, it is illustrative of many key South African issues and can serve as a basis for further engagement with South African literature. Their authors, Trevor N OAH , Malla N UNN , Kagiso Lesego M OLOPE , Mohale M ASHIGO and Loyiso M KIZE all have a strong connection to South Africa, be it through birth and/ or residence. The approach this article makes to the texts can be situated within the conceptualisation for teaching foreign language literature proposed by Jasmijn B LOEMERT , Ellen J ANSEN and Wim VAN DE G RIFT (2016: 173-174), mainly adopting what can also be termed a combined context-reader approach. In this understanding, a literary text is reflective of its own and its author’s cultural, historical, and social contexts. While thus providing unique access to these worlds, it also encourages a change of perspective, transcultural learning, and critical cultural awareness. Next to context, the readers and their personal response to the text, as well as their critical thinking skills, are regarded as constitutive of meaning making (174f., 178). It is in this vein that texts are read in the EFL classroom for personal development (cf. B LOEMERT / P ARAN / J ANSEN 2020: 14). As Werner D ELANOY (2015: 30) notes of the “pedagogical encounter” between reading individuals and literature, the latter “can only come alive when it is experienced as personally meaningful. Also, the open focus, and concomitantly the whole-person orientation of [a reader response] concept can make such experience rich in personal appeal, since readers can weave manifold personal links between themselves and the text”. The following structure of this article mirrors the temporal dimensions that the development of the self-concept is anchored in according to T HOMSEN et al. (2018: 93). It begins with a discussion of a memoir that focuses on knowledge of the past. In the subsequent part, questions of present social belonging and its constraints will become prominent. It finishes with two texts that envisage possible futures. 2. The past: Where do I come from? South Africa’s awareness of the need to review its violent history was pivotal for the country’s peaceful shift to democracy (cf. K RÜGER 2007: 41). The interrogation of the past was institutionalised in the Truth and Reconciliation Commission (TRC), which aimed at facilitating reconciliation through truth-telling. The TRC elicited and 62 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 recorded the testimony of thousands of victims, witnesses, and perpetrators of human rights violations during the apartheid era. Many of them told their own version of the ‘truth’ in public hearings (cf. H AYNER 2001: 42f.). Autobiographical writing in a postapartheid South African context can thus be read as harking back to the practices of the TRC. Trevor N OAH ’s memoir resonates with this testimonial moment, which allows both acknowledgement and processing of personal stories of suffering. Importantly in a diverse community with a shared legacy of violence, it may raise the awareness that there is never just one single narrative about the past, but many diverse and often conflicting histories. Born a Crime: Stories From a South African Childhood (2019) 3 by Trevor N OAH Trevor N OAH was legally “born a crime” as the son of a Xhosa mother and a Swiss father in South Africa in 1984, as during apartheid the so-called Immorality Act prohibited any sexual contacts between white people and people from other racial groups (cf. N OAH 2019: 285). In Born a Crime (BaC) the well-known comedian and host of the American television program “The Daily Show” tells the story of his often traumatic childhood and youth in South Africa in the years of the transition. N OAH ’s use of own personal experiences allows his tale to speak to the young reader with apparent directness. It allows him to share intimate personal ‘truths’ that immediately involve and touch the reader. His recounts of typical adolescent struggles with questions of identity, belonging, and first love are especially relatable for teenagers around the world. At the same time, these common experiences are clearly shaped by the social and political structures in South Africa at the time; even though apartheid is officially over, the impacts of its racial categorisations persist. N OAH exposes them through personal incidents, such as his being dropped by his valentine when she gets an offer from a less intelligent, but better-looking and lighter-skinned boy (cf. BaC: 135). Racial constructions work in N OAH ’s favour though, when he gets away with shoplifting while his darker-skinned friend does not (cf. ibid.: 145-152). By sharing his personal experiences N OAH lays bare the mechanisms and vocabularies of exclusion in a more general way, thus providing abundant food for thought and discussion material about both South African and domestic cultures in a secondary EFL classroom. As Britta F REITAG -H ILD (2019: 369-370) maintains, critical reflection on received categories that include others’ and one’s own perceptions is one of the key principles of transcultural learning. With young adulthood the effects of South Africa’s structural violence came to be felt ever more urgently for N OAH . Unlike his friends he has the freedom to choose to leave the township, thanks to his education, his mother, and his skin colour. The mechanisms underlying widespread gender-based violence are made evident in the last chapter by N OAH ’s account of his mother’s abuse and near murder by his violent, alcoholic stepfather. N OAH ’s incisive social commen- 3 I use the adapted version for young readers (2019). N OAH ’s original (2016) memoir is available as an annotated text in the Cornelsen Senior English Library series, in German translation and as an audio book. Numerous study guides can be found online, e.g. on https: / / www.gradesaver.com/ born-a-crime. Reading South Africa as an Adolescent 63 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 tary and critique allow for his autobiography to move beyond the individual. While it offers cultural understanding on a personal level, it also encompasses the broader social and historical context. As Marianne T HAMM states in her review: “The book is essential reading not only because it is a personal story of survival, leavened with insight and wit, but because it does more to expose apartheid - its legacy, its pettiness, its small-minded stupidity and its damage - than any other recent history book or academic text” (2016: paragraph 14). Besides this, the book sheds light on numerous cultural topics, ranging from the various South African ethnicities, religious denominations and languages to education. This caters to the need for contextual information for readers not familiar with South Africa, as does the added chapter on apartheid history (cf. BaC: 281-294). N OAH ’s use of American terminology (e.g. “hood” and “ghetto” instead of “township”) and explicit cultural comparison further facilitate understanding as well as transcultural learning. He frequently compares America’s and South Africa’s histories of racism, for example, while at the same time offering a radically different, South African perspective on European history. Not only does this relativise the latter and work against a narrowly Eurocentric view of the world, it also raises awareness of the necessarily fragmented and partial nature of any historical account. From a European perspective it is for instance shocking to learn that the young N OAH did not find the name Hitler offensive, and that his grandfather thought “a hitler” was an army tank (cf. ibid.: 187). Yet as N OAH asks his readers to consider: [T]he name Hitler does not offend a black South African because Hitler is not the worst thing a black South African can imagine. Every country thinks their history is the most important, and that’s especially true in the West. But if black South Africans could go back in time and kill one person, Cecil Rhodes would come up before Hitler. (ibid.: 188) N OAH challenges learners’ own views of the world and thus facilitates their adoption of multiple perspectives, another principle of the transcultural literary classroom (cf. F REITAG -H ILD 2019: 369). Born a Crime is inspirational not least because it is a story of resilience. The fact that the young N OAH did not fit in any social and racial category is the result of both deeply personal circumstances and apartheid politics (cf. BaC: 119f.). He is open about how much this left him isolated, which may well resonate with teenage readers. He also shows how he coped and turned this to his advantage. His adoption of a fluid, chameleon-like nature in terms of appearance, demeanour, and language (cf. ibid.: 51-59) exemplifies his resilience and may well be viewed as a potential model for his readers. The topic of the adolescent’s search for belonging is continued in the next section, this time from young female perspectives. 64 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 3. The present: Where do I belong? Being young and female in a society riven by racial and class tensions as well as by gender-based violence, one’s search for belonging is cumbersome and often involves examining received ‘truths’, as Malla N UNN ’s and Kagiso Lesego M OLOPE ’s protagonists exemplify. As Judith I NGGS (2016: 4) points out, “[a] specific feature of young adult fiction in [the South African] context is that writers have often encouraged young people to question and even reject the moral basis of society, in contrast with other literatures which have served to encourage young people to accept the status quo of the social institutions in which they live”. Or as Malla N UNN puts it in an interview: “Part of growing up is recognizing the contradictions in the world around you and deciding how to respond to them” (N UNN 2019a: paragraph 20). Both N UNN ’s and M OLOPE ’s protagonists eventually reject the status quo, albeit with very different consequences as shall be shown. 3.1 When the Ground Is Hard (2019) by Malla N UNN Malla N UNN ’s historical young adult novel When the Ground Is Hard (WGH) is set in Swaziland (now eSwatini), which is almost fully encircled by South Africa. At the time her novel is set, the mid-1960s, Swaziland was not under apartheid rule, but de facto racial segregation was in place and racial hierarchies were comparable to the ones in South Africa. Through her protagonist, the 16-year-old Adele Joubert, and the boarding school she attends, N UNN explores the difficult search for belonging in a hybrid social space that is characterised by invisibility and instability. Like Trevor Noah, Adele is a product of proscribed interracial love. She has a White South African father and a Swazi mother of colour. So Adele, her brother, and her mother are “an add-on to Father’s regular life […] the secret well that he drinks from when no one else is looking” (WGH: 9). While he cares for them financially, he is a “sometimes father” only (ibid.: 18f.), since he has a White family in Johannesburg - who “naturally take top billing” (ibid.: 9) as young Adele informs us. What further sets her apart from her more affluent and more “respectable” classmates is the fact that her parents are not “properly married” (ibid.: 37). Here N UNN draws on a discourse that combines racism with sexism, namely the “stigma of shame around those of ‘mixed descent’”, as Zimitri E RASMUS (2001: 18) calls it. E RASMUS recounts that growing up as mixedrace or Coloured in South Africa meant “that I was not only not white, but less than white; not only not black, but better than black […] The humiliation of being ‘less than white’ made being ‘better than black’ a very fragile position to occupy” (ibid.: 13, original emphasis). This position is not only fragile, but one that has been associated with “immorality, sexual promiscuity, illegitimacy, impurity and untrustworthiness” (ibid.: 17) in South Africa. Swazi society likewise constructs Adele and her mother as sexually promiscuous (WGH: 163). Malla N UNN (2019a: paragraph 3) remembers from her own childhood in Swaziland that “[s]hame and humiliation at our mixed and ‘dirty’ blood made for a poisoned environment”. Reading South Africa as an Adolescent 65 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 When Adele is dropped by her presumed friends for a new, wealthier girl at the beginning of term and is consequently made to share a room with Lottie, an outsider who is stigmatised for her poverty, she has her seemingly stable world shaken. Within the following weeks Adele is forced to review most of her assumptions: about herself, Lottie, and the world around her. Adele’s deeply unsettling experience of social rejection within the boarding school cosmos and her shaken sense of self will likely evoke an emotional response from teenage readers. What is more, they can witness how Adele is forced to examine some of her own personal ‘truths’, her own prejudices, and to reconcile conflicting images of herself, a challenge that arises both during the development of one’s self-concept as well as in intercultural encounters. Frauke M ATZ and Anne S TIEGER maintain that young readers have their own “activated schemata of acting and thinking […] called into question” when confronted with such disconcerting situations in fiction - a fact that can be beneficial for “processes of self-reflection […] identity construction [and] the development of intercultural competences” (2015: 123f.). Adele’s changed perspective and the ensuing friendship with Lottie further allow her to recognise and transgress some of the social restrictions that are in place for women. Her growing awareness of the constructedness of gendered and racial categories and norms can be used by teachers to promote critical thinking in EFL learners, and to help them detect similar mechanisms in their own environment. Eventually, Adele emerges a stronger and a more critical person. What the novel suggests is that enculturation, a sense of belonging, remains fraught for women of colour in this sexist and racist world. Yet “[a]re we forever helpless? ” Adele asks (WGH: 256). The answer is given in the proverb from which the title derives: “When the ground is hard, the women dance” (ibid.). Adele realises that gendered and racial constraints remain - “The ground itself can’t be replaced, but it can be changed. It can be made new. That’s why the women dance. They dance to bring joy. They dance to soften the ground beneath their feet. They dance for change” (ibid.: 256). There is less hope for change for young women in the edgy novel by Kagiso Lesego M OLOPE set in present-day South Africa. 3.2 This Book Betrays My Brother (2018) by Kagiso Lesego M OLOPE I like to imagine that there are people in the world for whom uncomplicated truths remain. These people may go to the end of their lives without having these truths tested—without ever losing a grip on the things they’ve always counted on. Without feeling that deeply disconcerting sense of their world crumbling around them. I am not one of those people. (M OLOPE 2018: chapter 13) In M OLOPE ’s award-winning novel This Book Betrays My Brother (TB) the world comes crumbling down indeed for Naledi, the 13-year-old first-person narrator, when she witnesses her brother Basi raping his girlfriend Moipone. To make matters worse, family and community go into denial about the event and mark Naledi and Moipone 66 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 as liars. They refuse to believe that the popular, handsome, supposedly justice-loving Basi, who “is as special as raindrops on dying crops” (ibid.: prologue) is also a rapist. So, the ‘uncomplicated truth’ that Naledi has tested is her image of her brother. She has to try and reconcile his incompatible aspects with her conflicting feelings of disgust, fear, and the love and trust she has felt for him, all while mourning the fact that she has lost him, her closest friend and ally, over the rape and its aftermath. As a result, Naledi is forced to re-evaluate her family and the society she has grown up in, as they are exposed as profoundly misogynist and homophobic in M OLOPE ’s young adult novel. 4 Set in South Africa in the post-transition period, the novel is pervaded by gender-based violence, beyond solely Basi’s act, and as such it is reflective of the real, ongoing crisis of gender-based violence in South Africa. The country’s rates of gender-based violence are among the highest in the world (cf. H UMAN R IGHTS W ATCH 2021). Pumla Dineo G QOLA (2015: 15) and many others note that despite being constitutionally empowered, “South African women … are living with the constant fear of violence”. While modes of explanation vary, there is widespread consensus on the fact that in South Africa there is a ‘culture’ of rape and - in G QOLA ’s words “Rape culture renders rape acceptable” (ibid.: 12). M OLOPE ’s novel unmasks the social complicity and the concomitant narratives that sustain such rape culture, such as victim blaming, shaming, and trivialisation (cf. TB: chapters 18, 20, 22). Given the novel’s poetic yet simple language and teenage narrative voice and perspective, adolescent readers can relate to the ways in which socio-cultural frames impede upon Naledi’s self-formation and ability to bond with peers. They gain a nuanced understanding of the strains that come with navigating first love and first sexual encounters in a society that condones gender-based violence. They are led to empathise with a distressed Naledi who is battling with how to handle relationships with boys who are both best friends and rapists: “And how did you know? I thought. How does any girl know? ” (ibid.: chapter 22, original emphasis). Naledi’s account can further function as an analytic tool to examine social complicity in teenage readers’ own worlds, as after all, discourses and practices around sexual violence are not unique to South Africa. M OLOPE hints at this when she has Naledi directly address the reader: “You do know my brother, don’t you? ” (ibid.: epilogue). In the end, memories of the traumatic events keep haunting Naledi. At the same time, she still suffers pangs of remorse for having spoken out and thus betrayed her brother. Unable to break the family’s and society’s silence and receive their loyalty and support she is left isolated. Rather than enculturation, hers is a case of adolescent distancing, a ‘dis-culturation’. It is testament to the fact that sometimes growing up necessitates growing apart or even breaking away from your family in order to escape being defined or stifled by their norms. For both young adult girls, Adele and Naledi, the search for belonging in a patriarchal society involves being forced to face uncom- 4 For a detailed discussion of homoand transsexuality in M OLOPE ’s novel see Sandra S TADLER (2017: 112-114). Reading South Africa as an Adolescent 67 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 fortable truths, transgressing boundaries, and eventually a realignment or breaking of one’s social ties. In any case belonging remains troubled. From belonging and realist modes of writing, the last section moves to dreaming the new self beyond such frames in fantastic genres. 4. The future: Who will I become? The teenage protagonists this section focuses on remain rooted in their real, contemporary South African worlds, yet they also move beyond and transform them. Their creators, writer Mohale M ASHIGO and comic artist Loyiso M KIZE , straddle the real and the fantastical in their works that loosely conform to categories of speculative and genre fiction. In her introductory essay in the short story collection Intruders, M ASHIGO (2018: xi) envisages a project that predicts South Africa’s “future ‘postcolonialism’” and future post-apartheid as “opposite [of] our present reality where a small minority owns most of the land and lives better lives than the rest”. In order to imagine such a future, “a future where our languages and cultures are working with technology for us”, she frequently draws from South African folklore and urban legends (ibid.: xii). For her, this signifies a change from “walk[ing] around with fake swagger, trying to hide that we are wearing sneakers that aren’t made for our feet” (ibid.: xiv) to “wearing takkies [trainers] that fit us” (ibid.: xv). M ASHIGO ’s move is a decolonising one, one which aligns with what Achille M BEMBE terms “own-creation” in his critique of the violence South African students resorted to in 2014/ 2015: “After all, we are the majority here. […] We are here […] not as anybody else’s creation, but as our own-creation” (2015: paragraphs 45-49). Both M ASHIGO ’s and M KIZE ’s fictions embody such acts of mental own-creation as they “imagine [unique] futures or even reimagine a fantasy present” for South Africa (M ASHIGO 2018: xi). Such fiction speaks to teenage readers beyond South Africa as an encouragement to search for the shoes that really fit them, to use M ASHIGO ’s metaphor. Projecting a future self, imagining who to become, what impact to make, and what responsibilities to assume in the world at large, is, after all, a task teenagers have to undertake. 4.1 Intruders (2018) by Mohale M ASHIGO Intruders is a collection of 12 short stories. As one reviewer notes of its characters, “[t]hey might be werewolves, mermaids, apocalypse survivors or vampires, but they also feel familiar as their author taps into emotional worlds which are common to most of us” (S ZCZUREK 2019: paragraph 4). Two of them, Petyr and Phatu, appear in the short story “Once Upon a Town” (“OUP”), where we learn it was “love at first sight” when they met at the age of 12 (“OUP”: 153). “It was in a gutter when he first saw her, mouth inelegantly clasped around the spine of a rat”, and Petyr is the first to recognise Phatu’s true nature, saying: “I know what you are” (ibid.: 152). On one level Phatu and Petyr are street children who have made an abandoned zoo their home, 68 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 complete with guinea fowls and stolen pigs as pets, and a daily routine of domesticity. On another, less familiar level, they are werewolves. Their ‘special powers’ allow them to survive on the streets and to take care of each other. For example, on each full moon Phatu makes sure Petyr is locked in a cage, thus preventing him from running away and rejoining his old street gang, which equates with a pack of wolves (ibid.: 158). During these periods she keeps him entertained until sunrise, using storytelling as a life-saving tactic reminiscent of Scheherezade. Combining African oral traditions with storytelling and mythical creatures from European and Middle Eastern traditions, M ASHIGO can be seen to be wearing the unique shoes that fit her. The same is true of her choice of title: “Once Upon a Town”. The conflation of “time” and “town” draws our attention not only to that specific, albeit unnamed, “city by the sea” (ibid.: 153) the story is set in - Cape Town - but also to its colonial past. The zoo they live in was “built by an old colonist […] a murderer who wanted a menagerie” (ibid.: 157). 5 The explicit reference to colonial history is there, but M ASHIGO does not let it define her two young protagonists. To the contrary, she has them transform it. They turn captivity and death into a safe space and life; into a menagerie and a household of a new kind, a roofless home that allows them to gaze at the stars at night (ibid.: 157). Likewise, present Capetonian gang culture 6 , structural violence, the harsh reality of the most deprived, most marginalised and most vulnerable members of society - street children - is not glossed over by M ASHIGO , but is imbued with magic and significantly reframed. What is gained for the secondary EFL learners by this transformed and transformative perspective that is typical of all Intruders stories? Through recognisable real referents M ASHIGO ’s speculative fiction acknowledges deprivation, marginalisation, and social inequality, and establishes cultural-historical as well as global links. She thus encourages an engagement in the EFL classroom with local, South African issues of social justice that in a globalised world are not disconnected from learners’ own realities and localities. Yet she does not stop there, and hence the teaching of her stories must not stop there. Like many characters in Intruders, Phatu and Petyr are victims on various levels, but they are always much more than that: they have agency, they develop self-worth, self-efficacy, a strong sense of responsibility for each other, and they are in control of their own lives. As such they embody the process of mental decolonisation as M BEMBE advocates for it, and thereby also transcend one-dimensional discourses of negativity and victimhood. As ‘own-creations’, characters like Phatu and Petyr can have a powerful effect on young readers and their transcultural learning: by transcending disabling representational practices of victimhood the author allows learners to view South African teenagers differently and to encounter them, who tend to be othered by their own society (and by the Global North), as 5 The reference is to Cecil Rhodes who built the now abandoned Groote Schuur Zoo on the slopes of Table Mountain in the 1890s (cf. S OUTH A FRICAN H ISTORY O NLINE 2019). 6 For more information on Cape Town’s gang violence cf. Don P INNOCK (2019) and Dariusz D ZIEWANSKI (2020). Reading South Africa as an Adolescent 69 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 equals. Last but not least, young learners experience the transformative power of transculturality as a space (and a model) for their own self-transformation. It may encourage them to dream their own empowered future selves within and despite constraining realities. As the collection’s blurb describes it, “These are stories of unremarkable people thrust into extraordinary situations by events beyond their control” (M ASHIGO : 2018). The very same holds true for Kwezi, the young protagonist in the comic series of the same name. 4.2 Kwezi (2016) by L OYISOMKIZEART Kwezi is South Africa’s first Black superhero comic, an ongoing series published in English, French, Sesotho, isiXhosa and isiZulu (cf. P ARKER 2018: paragraph 1), featuring the eponymous superhero. The series is a creation of L OYISOMKIZEART , a collective of illustrators, colourists and story/ script writers including Loyiso M KIZE , the creator of Kwezi, Clyde B EECH and - as of issue 4 - Mohale M ASHIGO . Like M ASHIGO ’s short stories, Kwezi is set in a real environment: Gold City, aka Johannesburg. The first of so far four collector’s editions (issues 1 to 3) begins the 19-year-old superhero Kwezi’s coming-of-age story. Kwezi makes his first appearance in the midst of a crime which is common in Johannesburg, a cash-in-transit heist. We first see him as a reflection in one of the gangsters’ vizors, in full action mode, about to stop the criminals and hand them over to the police (L OYISOMKIZEART 2016: issue 1, 3-6). This is possible through his recently acquired special powers, which include superhuman strength and the ability to fly. While he is “helping the good guys” (ibid.: issue 1, 6), his ‘good deed’ is still mainly a means for self-marketing on social media. Revelling in his instantaneous celebrity status, Kwezi is soon called upon by a mysterious “traveller” on horseback, Mohau (ibid.: issue 1, 10). Mohau is a member of the ancient star people who have returned to this world after millions of years following an old prophecy. Much to his dismay, Kwezi learns he is a descendant of the star people and therefore his powers are to be put to use in a mission to save the world from the evil doings of super-villains (ibid.: issue 3, 2-5). Kwezi is unceremoniously pushed into maturation and a realisation that his powers come with responsibility. Rather than empowering the teenager for a life of independence, autonomy, and narcissistic stardom, his special abilities are destined for the greater good of the community that is this wider world. Such an interdependent understanding of adolescent self-development is characteristic of collectivist cultures that view the individual self as always in relation with community (E SCHENBECK / K NAUF 2018: 25). 7 His duty to his society and to making a difference is material for discussion in a transcultural EFL classroom and can serve to explore differing cultural expectations in this respect. Like M ASHIGO ’s stories, Kwezi taps into a transcultural 7 See also the African principle of ubuntu which views human beings as fundamentally related. According to ubuntu “the individual’s existence and well-being are relative to that of the group” (M OKGORO 2012: 317, cf. also M ENKITI 2017: 466). 70 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 heritage while at the same time often transforming it to subversive effect. For example, the depiction of Mr Mpisi, the super villain, seamlessly blends local imagery with elements of both fantasy and the real. Mr Mpisi is a shape-shifter with the ability to take the form of a hyena, who intends to assume power over Gold City (issue 3, 9). A greedy corporate magnate, he has several corrupt politicians in his pocket (ibid.: issue 2, 14). As visible in illustration 1, Mohau’s and his companions’ regalia draw from South Africa’s vastly diverse cultural terrain: the ethnic groups of the Sotho (Mohau, far left), the Zulu (Azania, second right) and the Khoisan (Khoi, far right) (cf. S MIT 2018: paragraph 7, 15). M KIZE states in an interview that “[i]t’s just a really great reimagining of the African body, our cultures and who we are. Not always the expected negative connotations of when you look at a person from the continent. It’s taking charge of the narrative - and being fun with it as well” (P ARKER 2018: paragraph 26). M KIZE first and foremost draws and writes with young South Africans in mind, yet as a young, action-loving superhero who succumbs to social media culture, Kwezi has strong identificatory potential for teenagers beyond South Africa. Illustration 1: Cover page Kwezi, issue 3 (C OMIC V INE ) 5. Conclusion Being written in English and originating in a complex transcultural terrain such as South Africa, Trevor’s, Adele’s, Naledi’s, Phatu’s, Petyr’s, and Kwezi’s tales make for rewarding reading in the secondary EFL classroom. Primarily, this article has Reading South Africa as an Adolescent 71 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 demonstrated these texts’ particular educational potential for transcultural learning intended to promote insights into the hybridity, fluidity, and entangledness of cultures and subjectivities as they are experienced by learners not just in a South African context, but also in relation to their own biographies and classrooms (cf. F REITAG -H ILD 2019: 369). EFL teachers will thus find ample opportunity to adhere to the three methodological principles Britta F REITAG -H ILD details for teaching culture through literary texts, namely multi-perspectivity, dialogue, and reflexivity (ibid.). Moreover, these texts from South Africa have been shown to be meaningful and relatable to young learners with a view to personal development during adolescence, allowing development of critical thinking. These texts provide templates for norms and patterns of behaviour. Through the presentation of their adolescent characters, who are all on their way to becoming their “own-creations” (cf. M BEMBE 2015: paragraph 49), learners are invited to probe, appropriate, or reject them. In line with Laurenz V OLKMANN ’s aspects of competence development via literature, the texts provide orientation insofar as they offer “vicarious experiences” through “fictionalized forms of ‘playingthrough’ important scenarios of human interaction”, and they call for ethical response “by staging inner dilemmas and interpersonal conflicts in the fictional realm and also by asking readers to become involved and to relate these issues to their own life situations” (2015: 52). Direct emotional and ethical involvement and relatability are greatly facilitated by the characteristic immediacy with which these South African texts speak to young learners. As a consequence, they are likely to positively affect not only their knowledge, but their attitudes and skills too, as required by school curricula. Bibliography Primary sources L OYISOMKIZEART (2016): Kwezi: Issues 1-3. Collector's edition. Cape Town, South Africa: David Philip Publishers. M ASHIGO , Mohale (2018): Intruders: Short Stories. Johannesburg: Picador Africa. M OLOPE , Kagiso L. (2018): This Book Betrays My Brother. Toronto: Mawenzi House. E-Book. N OAH , Trevor (2016): Born a Crime: Stories from a South African Childhood. New York: Spiegel & Grau. N OA h, Trevor (2019): It's Trevor Noah: Born a Crime: Adapted for Young Readers. New York: Delacorte Press. N UNN , Malla (2019b): When the Ground Is Hard. New York: Putnam G.P. Putnam's Sons. Secondary sources B LOEMERT , Jasmijn / J ANSEN , Ellen / VAN DE G RIFT , Wim (2016): “Exploring EFL Literature Approaches in Dutch Secondary Education”. In: Language, Culture and Curriculum 29 (2), 169- 188. doi: 10.1080/ 07908318.2015.1136324. 72 Sabine Binder DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 51 • Heft 1 B LOEMERT , Jasmijn / P ARAN , Amos / J ANSEN , Ellen (2020): “Connecting Students and Researchers: The Secondary School Student’s Voice in Foreign Language Education Research”. In: Cambridge Journal of Education Online: 1-21. doi: 10.1080/ 0305764X.2020.1720603. B UCHER , Katherine / H INTON , KaaVonia (2010): Young Adult Literature. Exploration, Evaluation, and Appreciation. Boston: Pearson Education. C OMIC V INE (2022): Cover page Kwezi, issue 3. https: / / comicvine.gamespot.com/ a/ uploads/ scale_ large/ 8/ 85763/ 5427701-6062506355-kwezi.jpg (10.01.2022). D EUTSCHSCHWEIZER E RZIEHUNGSDIREKTOREN -K ONFERENZ (D-EDK) (Eds.) (2016): “Englisch”. In: L EHRPLAN 21: G ESAMTAUSGABE . Von der D-EDK Plenarversammlung am 31.10.2014 zur Einführung in den Kantonen freigegebene Vorlage, bereinigte Fassung vom 29.02.2016. https: / / v-fe.lehrplan.ch/ index.php? code=b|1|34 (05.10.2021). D ELANOY , Werner (2015): “Literature teaching and learning: Theory and practice”. In: D ELANOY , Werner / M ATZ , Frauke / E ISENMANN , Maria (Eds.) (2015): Learning with Literature in the EFL Classroom. Frankfurt a.M: Lang, 19-47. D ELANOY , Werner / M ATZ , Frauke / E ISENMANN , Maria (Eds.) (2015): Learning with Literature in the EFL Classroom. Frankfurt a.M: Lang. D ZIEWANSKI , Dariusz (2020): “It’s Hard to Leave a Cape Town Gang. But These Men’s Stories Show That It’s Possible”. https: / / theconversation.com/ its-hard-to-leave-a-cape-town-gang-butthese-mens-stories-show-that-its-possible-141208 (08.07.2021). E RASMUS , Zimitri (2001): “Introduction: Re-Imagining Coloured Identities in Post-Apartheid South Africa”. In: E RASMUS , Zimitri (Ed.): Coloured by History, Shaped by Place: New Perspectives on Coloured Identities in Cape Town. Cape Town: Kwela Books, 13-28. E SCHENBECK , Heike / K NAUF , Rhea-Katharina (2018): “Entwicklungsaufgaben und ihre Bewältigung”. In: L OHAUS , Arnold (Ed.): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin, Germany: Springer, 23-50. F REITAG -H ILD , Britta (2019): “Interkulturelle Literaturdidaktik”. In: L ÜTGE , Christiane (Ed.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. Berlin/ Boston: De Gruyter, 359- 372. G QOLA , Pumla D. (2015): Rape: A South African Nightmare. Johannesburg: MF Books Jacana. H AYNER , Priscilla B. (2001): Unspeakable Truths: Confronting State Terror and Atrocity. Abingdon UK: Routledge. H UMAN R IGHTS W ATCH (2021): “South Africa: Events of 2020”. https: / / www.hrw.org/ worldreport/ 2021/ country-chapters/ south-africa (29.06.2021). I NGGS , Judith (2016): Transition and Transgression: English Young Adult Fiction in Post-Apartheid South Africa. Cham: Springer. K RÜGER , Gesine (2007): “Vergangenheitsbewältigung? Zum Umgang mit Kolonialismus, Sklaverei und Apartheid”. In: B EARTH , Thomas / B ECKER , Barbara / K APPEL , Rolf / K RÜGER , Gesine / P FISTER , Roger (Eds.): Afrika im Wandel. Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 37-48. L OHAUS , Arnold (Ed.) (2018): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin, Germany: Springer. M ATZ , Frauke / R OGGE , Michael (2020): “Widening the Horizon: The Challenges of Teaching Nigeria in the German EFL Classroom”. In: AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 45 (2): 153-171. doi: 10.2357/ 4AA-2020-0018. M ATZ , Frauke / S TIEGER , Anne (2015): “Teaching Young Adult Fiction”. In: D ELANOY , Werner / M ATZ , Frauke / E ISENMANN , Maria (Eds.): Learning with Literature in the EFL Classroom. Frankfurt a.M: Lang, 121-140. Reading South Africa as an Adolescent 73 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0005 M BEMBE , Achille (2015): “The State of South African Political Life”. https: / / africasacountry. com/ 2015/ 09/ achille-mbembe-on-the-state-of-south-african-politics/ (18.10.2021). M ENKITI , Ifeanyi (2017): “Community, Communism, Communitarism: An African Intervention”. In: A FOLAYAN , Adeshina / F ALOLA , Toyin (Eds.): The Palgrave Handbook of African Philosophy. New York: Palgrave Macmillan, 460-473. M OKGORO , Yvonne (2012): “Ubuntu and the Law in South Africa”. In: C ORNELL , Drucilla / M UVANGUA , Nyoko (Eds.): Ubuntu and the Law: African Ideals and Postapartheid Jurisprudence. New York: Fordham University Press, 317-323. N UNN , Malla (2019a): “Colorism, Internalized Racism, and the Power of Privilege: Malla Nunn Discusses ‘When the Ground Is Hard’, Interview by S. L. P AULSON ”. https: / / www.slj.com/ ? detailStory=malla-nunn-interview (09.06.2021). P ARKER , Ruby (2018): “South Africa’s First Black Superhero Comic”. https: / / www.gq.co.za/ culture/ entertainment/ south-africas-first-black-superhero-comic-16565856 (18.10.2021). P INNOCK , Don (2019): “Cape Town’s Bloody Gang Violence Is Inextricably Bound up in Its History”. https: / / theconversation.com/ cape-towns-bloody-gang-violence-is-inextricably-bound-upin-its-history-121384 (08.07.2021). S MIT , Sarah (2018): “Forget Black Panther: Africa’s Homegrown Superheroes”. https: / / mg.co.za/ article/ 2018-02-22-the-best-of-who-we-are-sa-comic-book-brings-new-superheros-to-the-scene/ (18.10.2021). S OUTH A FRICAN H ISTORY O NLINE (2019): “Groote Schuur Estate”. https: / / www.sahistory.org.za/ place/ groote-schuur-estate (08.07.2021). S TADLER , Sandra (2017): South African Young Adult Literature in English, 2000-2014. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. S ZCZUREK , Karina M. (2019): “Review: Intruders by Mohale Mashigo”. https: / / karinamagdalena.com/ 2019/ 01/ 21/ review-intruders-by-mohale-mashigo/ (07.07. 2021). T HAMM , Marianne (2016): “Born a Crime: Trevor Noah Charts His Rise From South Africa’s Townships”. https: / / www.theguardian.com/ world/ 2016/ nov/ 25/ born-a-crime-trevor-noah-south-africatownships-daily-show (13.07.2021). T HOMSEN , Tamara / L ESSING , Nora / G REVE , Werner / D RESBACH , Stefanie (2018): “Selbstwert und Selbstkonzept”. In: L OHAUS , Arnold (Ed.): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin, Germany: Springer, 91-111. V OLKMANN , Laurenz (2015): “Literary Literacy and Intercultural Competence: Furthering Students’ Knowledge, Skills and Attitudes”. In: D ELANOY , Werner / M ATZ , Frauke / E ISENMANN , Maria (Eds.): Learning with Literature in the EFL Classroom. Frankfurt a.M: Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften, 49-66. DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 D ANIELA C ASPARI * Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? Überlegungen zu den französischen Wettbewerben Prix des lycéens und Francomics Abstract. Although student competitions play an important role in school life, they are hardly discussed in the field of foreign language didactics (referring to the German context). This article presents the two largest competitions for French language teaching, Prix des lycéens and Francomics, and explores their potential for engaging with literary texts in a school context. What seems particularly successful about the competitions is that they take students seriously as readers and challenge them to engage creatively with the works they read. This is especially meaningful since French language teaching in schools has been facing many challenges. The competitions seek to redress such difficulties by providing a selection of current French books for adolescent readers, by offering additional teaching material and other services, and ultimately enriching and supplementing French lessons. 1. Schülerwettbewerbe: Schulische Relevanz und fachdidaktische Leerstelle Schülerwettbewerbe haben eine lange Tradition und eine weite Verbreitung. Schaut man auf die Homepages von Schulen, so gewinnt man den Eindruck, dass ihnen ein hoher Stellenwert in der Selbstdarstellung nach außen und innen zukommt. Neben internen Wettbewerben wie den Bundesjugendspielen werden vor allem die Gewinner von regionalen oder bundesweiten Wettbewerben, oft zusammen mit den Klassen- oder Fachlehrer*innen abgebildet, nicht selten mit Verweis auf Erfolge in früheren Jahren. Das Angebot auch an europäischen und internationalen Wettbewerben, an denen sich einzelne Schüler*innen oder ganze Lerngruppen beteiligen können, ist im Laufe der Jahre kontinuierlich gewachsen. P ETERSEN (2019: Folie 12) schätzt deutschland- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Daniela Caspari, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 B ERLIN . E-Mail: caspari@zedat.fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht, Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenlehrer*innen, Literaturdidaktik. Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 75 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 weit die Zahl auf über 400 Wettbewerbsangebote, „davon 150-200 ernsthafte Schülerwettbewerbe“, von denen ein großer Teil im MINT-Bereich angesiedelt sei. Schülerwettbewerben kommen vielfältige Funktionen zu. Grundsätzlich unterschieden wird zwischen Spitzen- und Breitenförderung. Die zur Spitzenförderung zählenden Wettbewerbe wie „Jugend forscht“, „Jugend musiziert“ oder der „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ richten sich explizit an besonders begabte und leistungsbereite Schüler*innen; die Sieger*innen erhalten außer dem Preis oftmals die Gelegenheit zur Teilnahme an besonderen Veranstaltungen oder einem speziellen Förderprogramm. Viele Wettbewerbe zielen dagegen auf Breitenförderung, d.h. sie möchten Schüler*innen motivieren und für ein Fach bzw. seine Inhalte interessieren, ihnen Gelegenheit zur Darstellung und Verbesserung ihres Wissens, ihrer fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihrer persönlichen und sozialen Kompetenzen geben (vgl. auch C ASPARI 2014). P ETERS (2019: Folie 11) hält Wettbewerbe daher für einen „wichtige[n] Baustein schulergänzender Angebote“. S CHRÖDER / H ERTEL (2009) führen diese Funktion auch für den Fremdsprachenunterricht an; ihrer Meinung nach bedürfe „das schulische Fremdsprachenlernen stützender Maßnahmen, die Anstrengungsorientierung und fremdsprachliche Leistung honorieren und diese Leistung auch öffentlich präsentieren“ (ebd.: 494). Im Bereich der Schulfremdsprachen ist der bekannteste und renommierteste Wettbewerb der Bundeswettbewerb Fremdsprachen. Er wurde 1979 gegründet und versteht sich mit seinen Gruppen- und Einzelwettbewerben sowohl als Instrument der Breitenals auch der Begabtenförderung. 1 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Wettbewerben für die verschiedenen Fremdsprachen, meiner Beobachtung nach besonders viele für das Französische (vgl. C ASPARI 2014). Alle diese Wettbewerbe können den Fremdsprachenunterricht durch innovative Themen, Aufgaben und Formate nicht nur ergänzen, sondern ebenfalls dazu beitragen, didaktisch-methodische Impulse in den Unterricht einzubringen. Außerdem tragen sie dazu bei, innerhalb und außerhalb der Schule die Sichtbarkeit und das Prestige der jeweiligen Sprache bzw. - je nach Wettbewerb - der Mehrsprachigkeit zu unterstützen (vgl. C ASPARI 2014; S CHRÖDER / H ERTEL 2009: 497). Angesichts des reichen Angebots und der hohen Bedeutung, die außerschulischen Lernorten für die Fremdsprachen zuerkannt wird (vgl. die Beiträge in B URWITZ - M ELZER / K ÖNIGS / R IEMER 2015) überrascht, dass Schülerwettbewerbe in der Fremdsprachendidaktik so gut wie keine Aufmerksamkeit erfahren: In den drei wichtigsten Handbüchern (H ALLET / K ÖNIGS 2019; B URWITZ -M ELZER et al. 2016; S URKAMP 2017) findet man weder einen eigenen Eintrag noch das Stichwort im Index, lediglich in der 2009 letztmalig von J UNG aktualisierten „Praktischen Handreichung“, die sich - wie der Titel spezifiziert - dezidiert an Lehrer*innen richtet, findet sich dazu ein Artikel (S CHRÖDER / H ERTEL 2009). Eine Anfrage an das Informationszentrum Fremdsprachenforschung (ifs) im Juli 2021 unterstützt den Eindruck, dass Fremdsprachenwett- 1 Vgl. https: / / www.bundeswettbewerb-fremdsprachen.de/ (15.01.2022); Informationen zur Entwicklung dieses Wettbewerbs in S CHRÖDER / H ERTEL 2009. 76 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 bewerbe so gut wie nicht thematisiert werden: Zwischen 2000 und 2020 sind lediglich 21 Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum erschienen, die über Fremdsprachenwettbewerbe und die Teilnahme an ihnen berichten bzw. Bezug darauf nehmen - für alle Sprachen, Schulformen und Preise zusammen. Dazu kommen fünf Beiträge, in denen vorgestellt wird, wie ein Wettbewerbsformat in Eigenregie auf Klassen-, Schul- oder lokaler Ebene umgesetzt wurde. In diesem Beitrag stelle ich am Beispiel zweier langjähriger Wettbewerbe für den schulischen Französischunterricht ihr Potenzial für den Umgang mit aktuellen literarischen Texten und - darüber hinaus - für das Fach Französisch dar. Dafür stelle ich die Wettbewerbe für die Sekundarstufe I und II vor und analysiere anhand der Formate, veröffentlichter Wettbewerbsbeiträge und zweier Forschungsbeiträge die Ergebnisse. Es zeigt sich, dass es durch die Wettbewerbe gelingt, Schüler*innen zum Lesen zu motivieren, sie als echte Leser*innen agieren zu lassen und zentrale Ziele des schulischen Literaturunterrichts zu erreichen; gleichzeitig stellen sie eine Bereicherung für den schulischen Unterricht dar. Warum trotz dieser positiven Effekte nicht mehr Lerngruppen an diesen Wettbewerben teilnehmen, diskutiere ich am Ende des Artikels. 2. Die Wettbewerbe Prix des lyçéens und Francomics Bei meiner Vorstellung beginne ich mit dem älteren Prix des lyçéens, weil sich der jüngere Francomics an diesem Format orientiert. Außerdem wird durch die Gegenüberstellung mit dem auf Lerngruppen in der Sekundarstufe I (Sek. I) zielenden Francomics deutlich, an welchen Stellen das Wettbewerbsformat für die jüngere Zielgruppe verändert wurde. 2.1 Der Prix des lyçéens Dieser „Preis der deutschen Gymnasiasten“ 2 wird seit dem Schuljahr 2004/ 2005 von den französischen Kulturinstituten (Institut Français) in Zusammenarbeit mit dem Ernst-Klett-Verlag und der Vereinigung der Französischlehrerinnen und -lehrer (VdF) vergeben. 3 Das Format dieses Wettbewerbs ist an den seit 1988 in Frankreich vergebenen Prix Goncourt des lyçéens angelehnt. Es richtet sich an Lerngruppen mit dem Niveau B2, die von Oktober bis Februar eine Auswahl aktueller französischsprachiger Jugendromane im Original lesen (die Zahl wurde von zunächst sechs Büchern auf 2 Die Informationen sind der offiziellen Webseite des Institut Français (https: / / www.institutfrancais. de/ deutschland/ bildung/ lehrprojekte/ prix-des-lyceens-allemands, 01.8.2021), dem Wikipedia-Eintrag (01. 08.2021) und der Webseite des Klett-Verlags (https: / / www.france-blog.info/ category/ prix-des-lyceens, 01. 08.2021) entnommen. 3 Von 2008-2015 gab es in Österreich einen analogen Wettbewerb, der 2016 durch den Prix de la critique littéraire des lycéens autrichiens abgelöst wurde (https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Prix_des_lyc% C3%A9ens_autrichiens, 10.08.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 77 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 inzwischen drei reduziert). Zur Unterstützung der Lesephase, die möglichst in Einzelarbeit stattfinden soll, stehen den Schüler*innen dossiers pédagogiques mit Hintergrundinformationen, sprachlichen Hilfen und Leseverstehensaufgaben zur Verfügung. Außerdem werden direkte Begegnungen mit den Autor*innen organisiert, in der Pandemiezeit per Videokonferenz. Die beteiligten Lehrer*innen können zusätzlich Fortbildungen besuchen, seit neuestem können sie sich auch über eine Videoplattform austauschen. Am Ende der Lesephase wählt jede Lerngruppe bzw. Schule das von ihr favorisierte Buch und entsendet eine Vertreterin für die Landesjury, auf der sich die Vertreter*innen der verschiedenen Schulen jeweils im Frühjahr in Form einer literarischen Debatte auf einen Roman einigen. Die Landesjury wählt Vertreter*innen für die abschließende bundesweite Jury. Sie tagt während der Leipziger Buchmesse. Dort wird der Preis anschließend in einer offiziellen Zeremonie verliehen; alle Diskussionen, Buchvorstellungen und Würdigungen finden in französischer Sprache statt. 4 Seit 2018/ 19 erstreckt sich der Wettbewerb über zwei Jahre: Unabhängig von einer Teilnahme am 1. Jahr können Lerngruppen ab dem Niveau B1 im 2. Jahr eine kreative Aufgabe (Video) zu dem Gewinnerroman erstellen, der zu dem Zeitpunkt in einer ungekürzten und annotierten Version vorliegt. Die von den Schüler*innen erstellten Videos werden prämiiert. Der Wettbewerb erfreut sich in Deutschland mit 3.500 bis 4.000 Teilnehmer*innen pro Jahr konstant hoher Beliebtheit. 5 2.2 Francomics Dieser Wettbewerb wird vom Deutsch-französischen Institut Erlangen, den französischen Kulturinstituten und dem Cornelsen-Verlag veranstaltet. 6 Unterstützt wird er von der VdF, dem Deutsch-französischen Jugendwerk und zwei Sponsoren. Bislang wurde er viermal ausgerichtet: 2009/ 10 als Pilotprojekt in Bayern und Berlin, 2010/ 11 in acht Bundesländern, 2016/ 17 und 2019/ 20 bundesweit. Im Sommer 2021 begann der 5. Durchgang, erstmals unter Beteiligung Österreichs. Der Wettbewerb richtet sich an Schüler*innen der Sek. I ab dem 2. Lernjahr Französisch. Sie erhalten eine Auswahl an aktuellen französischsprachigen Comics, aus denen sie ihren Lieblingscomic auswählen. 7 Die Anzahl der zu lesenden Comics und die Wettbewerbsbedingungen haben sich im Laufe der Jahre verändert. Beim Pilot- 4 Die abschließende Jurysitzung fand im Jahr 2021 wegen der Pandemiesituation digital statt; die Aufzeichnung steht als Youtube-Video zur Verfügung (https: / / www.youtube.com/ watch? v=y6-kKqq5Gg0, 01.08.2021). 5 Einen guten Einblick in den Wettbewerb ermöglicht die Internetseite des Ernst-Klett-Verlages - https: / / www.france-blog.info/ category/ prix-des-lyceens (01.08.2021). 6 Die folgenden Informationen sind, soweit nicht anders vermerkt, der offiziellen Internetseite http: / / francomics.de/ , der Seite des Institut Français https: / / www.institutfrancais.de/ deutschland/ bildung/ lehrprojekte/ francomics entnommen (10.08.2021). 7 Angelehnt an den Namen des Wettbewerbs verwende ich in diesem Beitrag die Bezeichnung Comic, obwohl im französischsprachigen Raum zumeist von bande dessinée (B.D., bédé) gesprochen wird. 78 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 projekt 2009/ 10 waren pro Lerngruppe fünf Comics zu lesen, aus denen ein gemeinsamer Favorit zu wählen und die Wahl in einem gemeinsamen Brief zu begründen war. Viele Klassen wichen von der Briefform ab und reichten eine kreative Arbeit, oft in Form eines selbst gezeichneten Comics, ein oder kombinierten den Brief mit einem kreativen Produkt (vgl. Morys 2014, 2018). Ab dem 2. Durchgang standen jeweils drei aktuelle Comics zur Auswahl. Der Durchgang 2010/ 11 ähnelte dem des Prix des lyçéens: Am Ende fand eine Jurysitzung in Berlin statt, auf der der Siegercomic gekürt wurde. Der Preis wurde dann beim Internationalen Comic-Salon in Erlangen an den Preisträger übergeben, zusätzlich gab es Workshops für die Jurymitglieder. Seit dem 4. Durchgang hat der jetzt alle zwei Jahre stattfindende Wettbewerb die heutige Form: Die Schüler*innen einer Lerngruppe wählen in kleinen Gruppen jeweils ihren Favoriten. Sie begründen ihre Wahl in einem max. zweiminütigen selbst erstellten Video in französischer Sprache, das „als eine Art bande-annonce [Buchtrailer] zum Lesen anregen soll“ 8 . Sie laden die Videos selbstständig in einen Youtube- Bereich des Institut Français hoch, wobei jedes Video als eine Stimme für die Wahl des Siegercomics zählt. Zusätzlich wählt eine unabhängige Jury das jeweils beste Schüler-Video zu den drei vorgeschlagenen Comics aus. Diese Preisträger*innen wurden 2017 auf die Frankfurter Buchmesse eingeladen, wo sie den Autor des Siegercomics trafen, ihm den Preis überreichten und an einem Workshop teilnehmen durften. Die Siegerehrung des 4. Durchgangs fand pandemiebedingt nicht während des Internationalen Comicsalons in Erlangen, sondern digital statt. Dafür wurden während dieses Durchgangs erstmals (digitale) Begegnungen mit den Zeichner*innen der Wettbewerbs-Comics organisiert. 9 Zur Unterstützung des Leseprozesses stehen für die Schüler*innen auf der Internetseite fiches de lecture bereit, die Lehrer*innen können an einem vorbereitenden Online-Seminar zu den ausgewählten Comics 10 bzw. zum Wettbewerb 11 teilnehmen. Die Comics selbst können in der culturethèque digital gelesen werden, zusätzlich können gedruckte Exemplare im Deutsch-Französischen Institut Erlangen bestellt werden. Zur Teilnehmerzahl am Wettbewerb Francomics: Laut Angaben auf der Homepage haben am Pilot-Durchgang 3.400 Schüler*innen aus zwei Bundesländern teilgenommen, am zweiten Durchgang 3.700 Schüler*innen aus acht Bundesländern, am 3. Durchgang 181 Gruppen (es ist unklar, ob damit die Kleingruppen gemeint sind, die Videos hochgeladen haben, oder die angemeldeten Lerngruppen) und im Durchgang 2019/ 20 1.535 Schüler*innen aus 117 Klassen aus 91 Schulen. 8 https: / / francomics.de/ allgemeines/ (10.08.2021). 9 Vgl. https: / / francomics.de/ 2020/ 11/ 13/ francomics-iv-rencontres-avec-les-auteurs/ (10.08.2021). 10 https: / / francomics.de/ materiel-didactique/ (10.08.2021). 11 https: / / www.youtube.com/ watch? v=ri6C3iC-0rQ (10.8.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 79 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 3. Der Beitrag der beiden Wettbewerbe für den Umgang mit literarischen Texten im schulischen Fremdsprachenunterricht Beide Wettbewerbe, die sich offenbar gegenseitig beeinflusst haben, haben sich zunehmend von ihrem Ursprung, dem französischen Prix Goncourt des lyçéens, entfernt. Dafür wurden sie hinsichtlich der Anzahl der zu lesenden Bücher und der Art des Umgangs mit ihnen stärker an die Möglichkeiten und Traditionen des deutschen Schulsystems angepasst. Französisch wird in Deutschland in der Regel als 2. Fremdsprache, d.h. ab Klasse 6 oder 7 angeboten, die Gesamtstundentafel bis zum Ende von Klasse 10 ist im Vergleich zur 1. Fremdsprache deutlich reduziert, in Berlin und Brandenburg umfasst sie z.B. nur die Hälfte der für die 1. Fremdsprache vorgesehenen Stunden. Der Unterricht in der Sek. I ist in der Regel stark am Lehrwerk orientiert, nur wenige Lehrkräfte nutzen regelmäßig alternative Ressourcen oder eine der - gerade für Französisch - zahlreichen außerunterrichtlichen Möglichkeiten (vgl. C ASPARI 2015). 12 Die Zahl der Kurse in der gymnasialen Oberstufe nimmt seit Jahren ab (vgl. C ASPARI 2021). Da es für die 2. Fremdsprache am Ende der Sek. I keine verbindliche Abschlussprüfung gibt, ist unklar, ob die Mehrheit der Schüler*innen am Ende von Klasse 10 tatsächlich das Niveau B1 erreicht. In dieser Situation dürfen alternative Lernangebote sprachlich nicht zu anspruchsvoll und sie müssen im zeitlichen Umfang begrenzt sein. Dem trägt die Reduzierung der Wettbewerbstitel Rechnung. Im Wettbewerb Francomics wurden die Bedingungen darüber hinaus so geändert, dass nicht mehr alle Schüler*innen einer Lerngruppe alle Bücher lesen müssen: Seit dem 3. Durchgang können sie sich in kleinen Gruppen direkt mit jeweils nur einem Comic beschäftigen. Bemerkenswert finde ich, dass die Teilnehmer*innen des 1. Durchgangs von Francomics von sich aus nicht oder nur teilweise den Wettbewerbsbedingungen gefolgt sind: Anstatt eine Begründung für die Auswahl ihres Favoriten zu geben, also eine Art Rezension zu verfassen, ließen sich die meisten Lerngruppen vom Comicformat inspirieren und gestalteten ihre Antwort ganz, teilweise oder zusätzlich als Comic (vgl. die abgedruckten Beispiele in M ORYS 2014 und 2018: 250-260). Dies mag außer der gestalterischen Kraft der Vorlagen auch der schulischen Tradition des Umgangs mit literarischen Texten geschuldet sein, die seit den 1990er Jahren vielfältige kreative Umgangsformen entwickelt hat. Dass das einzureichende Produkt seit der 3. Runde, also bereits seit 2016/ 17, ein kurzes Video ist, könnte verschiedene Gründe haben: Zum einen erhielten zumindest bis zur Pandemie Schüler*innen im Fremdsprachenunterricht eher selten die Gelegenheit, im schulischen Kontext Videos zu drehen; es wurde daher als attraktiv wahrgenommen. Zum anderen kommen Videos - wie Comics - mit ihrem reduzierten sprachlichen Anteil den weniger weit entwickelten fremdsprachigen Kompetenzen der 12 Diese Behauptung fußt auf langjährigen Beobachtungen von mir, meinen Student*innen und Kolleg*innen. Unser Eindruck ist, dass die Orientierung am Lehrwerk im letzten Jahrzehnt eher noch zuals abgenommen hat. 80 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 Schüler*innen entgegen. Und nicht zuletzt erlaubt die Möglichkeit, dass eine Lerngruppe mehrere Beiträge einreicht, dass sich tatsächlich alle Schüler*innen der Lerngruppe beteiligen können und je nach Interesse und Können unterschiedliche Produkte erstellen. Der Prix des lyçéens hat sein Ursprungs-Format lediglich erweitert. Nach wie vor besteht - jetzt im ersten Wettbewerbsjahr - die Möglichkeit, am anspruchsvollen Format der Lektüre dreier Bücher und der Vorbereitung einer literarischen Debatte teilzunehmen. Zusätzlich zu diesem eher akademischen Format besteht inzwischen - jeweils im 2. Jahr - die Möglichkeit für Lerngruppen ab Niveau B1, zu dem didaktisch bearbeiteten Siegerroman analog zum Format von Francomics ein Video zu drehen. Damit richtet sich der Prix des lyçéens inzwischen an starke Lerngruppen in der Sek. II und an Lerngruppen am Ende der Sek. I bzw. an schwächere Lerngruppen in der gymnasialen Oberstufe, insb. in der Übergangsphase. Aufgrund dieser Erweiterung vereinigt der Wettbewerb nun die Merkmale von Spitzen- und Breitenförderung. Während in der Werbung für den Preis und in den Reaktionen von Seiten der Organisator*innen vor allem die sprachlichen Leistungen und der Werbeeffekt für das Französische herausgestellt werden (vgl. z.B. die Interviewäußerungen im Blog der Klett- Akademie), untersuche ich im Folgenden, welchen Beitrag die beiden Wettbewerbe für den Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht leisten können. 3.1 Der Prix des lyçéens 3.1.1 Schüler*innen als Leser*innen Obwohl das Format des Prix des lyçéens seit seiner ersten Auslobung im Wesentlichen gleichgeblieben ist, heben die Ausrichter im Laufe der Zeit unterschiedliche Ziele hervor. Zu Beginn wurden als Ziele die „Förderung interkultureller Kompetenz, die Auseinandersetzung mit exemplarischen Werken der französischsprachigen Jugendliteratur, das Formulieren von Kriterien zur Auswahl des bevorzugte Buches, das Debattieren in der Fremdsprache, das Arbeiten als Jury und das Üben öffentlichkeitswirksamer Arbeit“ ausgewiesen (T OMETTEN 2005: 42). 13 Heute dagegen wirbt das Institut Français auf seiner Startseite direkt im ersten Absatz damit, dass der Wettbewerb es Schüler*innen ermögliche, „frankophone Schriftsteller: innen kennenzulernen, sich mit diesen auf Französisch über ihre Eindrücke zu unterhalten und sich für ihren Lieblingsroman stark zu machen“. 14 Selbstverständlich ist es für das Erreichen der aktuellen Ziele weiterhin notwendig, dass sich die Schüler*innen zuvor mit den Werken auseinandersetzen, Kriterien formulieren und das Debattieren üben, und genau das wird vom Wettbewerb ja weiterhin 13 B OBERG (2007: 21) weist darauf hin, dass es zum Zeitpunkt der Implementierung noch keinesfalls selbstverständlich war, im Französischunterricht der gymnasialen Oberstufe Jugendliteratur zu lesen, so dass dem Wettbewerb hier eine Vorreiterrolle zukam. 14 https: / / www.institutfrancais.de/ deutschland/ bildung/ lehrprojekte/ prix-des-lyceens-allemands (10.08.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 81 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 durch die dossiers pédagogiques unterstützt. Als entscheidend dargestellt werden heutzutage jedoch die direkte Begegnung mit den Autor*innen und die Herausforderung, sich für das persönlich bevorzugte Buch stark zu machen - beides Ziele, die im schulischen Unterricht sonst entweder nicht möglich sind oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Über den Abwechslungseffekt im Vergleich zur schulischen Beschäftigung mit literarischen Texten hinaus dürfte der Wettbewerb daher in mehrfacher Hinsicht für Schüler*innen attraktiv sein: Angesprochen werden der kommunikative Aspekt „sich unterhalten“, der soziale Aspekt, „sich für die eigene Meinung einzusetzen“ und die Aussicht, auf „Augenhöhe“ gehört zu werden. In der Darstellung der Veranstalter*innen verschiebt sich somit der Fokus des Wettbewerbs: Wichtiger als das Ziel, sich an der Wahl des Gewinnerromans zu beteiligen, wird die Möglichkeit dargestellt, am Prozess im Vorfeld der Wahl teilhaben zu können; herausgestellt wird hierbei die Möglichkeit, sich als Person einbringen und etwas Besonderes erleben zu können. Mir erscheint die neue Akzentsetzung durch die Veranstalter*innen angesichts der aktuellen Situation des Französischunterrichts sehr gelungen. Wie oben bereits erwähnt, sinkt die Zahl der Schüler*innen kontinuierlich, die sich in der gymnasialen Oberstufe für die Fortführung des Faches Französisch entscheiden. Viele der Gründe, insbesondere die weiter gewachsene Bedeutung des Englischen (vgl. C ASPARI 2021), können von den Fachlehrer*innen nicht beeinflusst werden. Daher ist es umso wichtiger, das Fach, das ja nicht nur als schwierig gilt, sondern vor allem durch die im Vergleich zum Englischen ungünstigeren Lernbedingungen für Schüler*innen schwieriger und anstrengender ist (vgl. ebd.), attraktiv zu machen. Ein wichtiger Pluspunkt ist, dass das Fach den Schüler*innen Möglichkeiten eröffnen kann, die ohne die Kenntnis der französischen Sprache nicht oder zumindest nicht auf gleiche Weise zugänglich sind. Dazu gehören ganz generell die oben erwähnten vielfältigen Angebote an außerschulischen Lernmöglichkeiten. Im Fall des Prix des lyçéens besteht die einmalige Möglichkeit, mit einem bzw. einer echten Schriftsteller*in in Kontakt zu treten und von ihm bzw. ihr mit seiner persönlichen Meinung ernst genommen zu werden. Die Schüler*innen erleben sich hierbei nicht in der Schülerrolle, sondern als echte Leser*innen, deren persönliche Meinung über das Buch wirklich interessiert. Als zentrales Argument für die Behandlung von Literatur gilt seit den 1990er Jahren, dass dadurch im Unterricht authentische Kommunikationsanlässe geschaffen werden - der Wettbewerb ermöglicht sie darüber hinaus im außerschulischen Leben, er schafft sozusagen echt authentische Kommunikationsanlässe. Auch im Auswahlprozess für das Siegerbuch werden die Schüler*innen als Leser*innen ernst genommen: Auf allen Ebenen - Lerngruppe, Landesjury und Bundesjury - zählt jede einzelne Stimme. Durch den Wettbewerb verändert sich aber nicht nur die Rolle der Leser*innen, sondern auch die Rolle des Unterrichts: Die individuelle oder schulische Auseinandersetzung mit den literarischen Werken stellt nicht das Ziel, sondern die notwendige Vorbereitung auf den kommunikativen Ernstfall und für eine informierte Wahl dar. Kurz gesagt: Das Lesen, Verstehen und Interpretieren ist die Voraussetzung für die Teilhabe am literarischen Prozess - und 82 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 nicht wie es sonst von den Schüler*innen zumeist empfunden werden dürfte, unterrichtlicher Selbstzweck oder Teil der Klausurvorbereitung. 3.1.2 Das Format Wettbewerb als Mittel der literarischen Leseförderung T OMETTEN (2005) und B OBERG (2007) berichten, dass der damals neue Wettbewerb von Lehrer*innen und Schüler*innen als Erfolg gewertet wurde: „[Ich] kann nur jeden ermuntern, sich für dieses Projekt zu erwärmen“ (T OMETTEN 2005: 42), „[e]indeutiges Ergebnis der Untersuchung ist es, dass die Vorgehensweise des Projektes Prix des lyçéens besonders geeignet ist, den Schwierigkeiten, die sich beim Einsatz von Jugendbüchern ergeben können, erfolgreich zu begegnen“ (B OBERG 2007: 21). B OBERG , die 2005 in 17 der im ersten Durchgang teilnehmenden 20 Berliner Schulen insg. 212 Schüler*innen und ihre Lehrer*innen befragte, fand heraus, dass „über die Hälfte der Schüler alle sechs Bücher vollständig gelesen hat“ (ebd.: 22), d.h. insg. 823 Seiten französischsprachige Literatur. Der eine Grund für dieses beachtliche Ergebnis liege in der gelungenen Auswahl der Bücher. Positiv angemerkt wurde von den Schüler*innen die Unterschiedlichkeit der Bücher, die Tatsache, dass sie von noch lebenden Autor*innen geschrieben wurden, ihre Aktualität, die Reichhaltigkeit der Themen und der Aspekt Spannung. Jedes Buch habe seine Anhänger gefunden, nicht nur das Buch, das letztlich Preisträger wurde (vgl. ebd.: 22f.). Außerdem habe der Wettbewerbscharakter dazu geführt, dass sich „innerhalb der Projektphase eine Dynamik entwickelt habe, durch die die Schüler sich gegenseitig zum Lesen angespornt hätten“ (ebd.: 22): Ein Grund dafür sei die Tatsache gewesen, originale, d.h. nicht didaktisierte Bücher zu lesen, ein anderer der durch die Organisation hervorgerufene Zeitdruck, und insgesamt habe der Wettbewerbscharakter eine hohe Motivation geweckt, tatsächlich bis zum Schluss am Projekt teilzunehmen (vgl. ebd.: 25). Alle Lehrer*innen berichteten von einem hohen Kompetenzzuwachs im Bereich der kursorischen Lektüre, im Verstehen und im selbstständigen Umgang mit authentischen Texten (vgl. ebd.: 25). „Entscheidender noch für den Erfolg des Wettbewerbs scheint jedoch die Rolle der Schüler als Jurymitglied gewesen zu sein“ (ebd.: 25). B OBERG bestätigt mit ihrer Untersuchung die von mir oben geäußerte Vermutung, dass die Rolle als Juror*in dazu geführt habe, dass sich die Schüler*innen als Leser*innen ernst genommen gefühlt hätten. Mehr noch, ihnen sei die Verantwortung, ein gerechtes Urteil zu fällen, sehr bewusst gewesen (vgl. ebd.: 23). Die 2021 wegen der Pandemie digital durchgeführte Sitzung der Bundesjury 15 bestätigt nicht nur die große Ernsthaftigkeit, mit der die Schüler*innen sich über die Bücher äußern, sondern zeugt ebenfalls von gründlicher Beschäftigung mit den Wettbewerbsromanen und ausgeprägter literarischer Kompetenz. Den Vertreter*innen der Bundesländer wurden während der Sitzung ausschließlich Fragen im schulischen Anforderungsbereich 3 gestellt, u.a. welcher Roman am besten die Fragen aufwerfe, 15 https: / / www.youtube.com/ watch? v=y6-kKqq5Gg0 (10.08.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 83 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 die sich Jugendliche stellten, oder an welchen Roman sie sich in 10 Jahren vermutlich erinnern würden. Die Antworten waren durchweg detailliert, sie wurden umfassend mit Verweis auf Inhalte oder Erzählweise begründet, wogen oft unterschiedliche Meinungen ab und eröffneten teilweise unerwartete Perspektiven. Die Juror*innen nahmen trotz der Videokonferenz-Situation oft aufeinander Bezug und debattierten, wie auch die Moderatorin heraushob, mit „courtoisie“ und „passion“. Ich schließe mich dem anschließenden Urteil des Vorsitzenden der VdF, Rolf Beck, an, dass es sich um eine inhaltlich und sprachlich „beeindruckende Diskussion“ handelt. Selbst wenn die Debatte der Bundesjury vermutlich ein besonders hohes Niveau widerspiegelt, weil es sich um ausgewählte Teilnehmer*innen handelt, bei denen sich zudem vermutlich ein Übungseffekt der vorhergehenden Jurysitzungen auf Ebene der Lerngruppe und des Bundeslandes eingestellt hatte, ist sie ein Beleg dafür, was Schülerinnen und Schüler bei der Interpretation französischsprachiger literarischer Werke zu leisten imstande sind - und dass das Wettbewerbsformat sie dabei offensichtlich zielgerichtet unterstützt. 3.2 Francomics „Der Wettbewerb Francomics soll ein Anlass sein, sich mit Ihrer Klasse auf Entdeckungsreise in die Welt der französischsprachigen Comics zu begeben. Mit Francomics erhalten Jugendliche aller Schularten einen Einblick in die frankophone Comic- Kultur“, so bewirbt der den Wettbewerb unterstützende Cornelsen-Verlag Francomics (Pressemeldung vom 26.09.2015). 16 „Francomics kann Französischlehrkräften ein willkommener Anlass sein, Lesekompetenz, Textverständnis, Mündlichkeit und Medienkompetenz ab dem 2. Lernjahr in einem motivierenden und klassenumspannenden Projekt zu trainieren“, wird in der Pressemeldung anschließend die Redaktionsleiterin für Französisch zitiert (ebd., Hervorhebung durch die Autorin). 3.2.1 Entdeckungsreise in die Welt der französischsprachigen Comics Die Comics für die vier Wettbewerbe stellen inhaltlich, ästhetisch und sprachlich in der Tat eine breite Auswahl aus dem reichen und vielfältigen aktuellen Angebot der französischsprachigen Comicproduktion für Kinder und Jugendliche dar. Sie reicht von humorvollen Comics, in denen Tiere die Protagonisten sind (Dipoula, Le grand méchant renard) über Abenteuergeschichten (Sagarmatha) und Detektivgeschichten (Clues) bis zu Dystopien (The End). Es werden Comics vorgestellt, die mit nur wenigen Wörtern auskommen und vor allem durch die Bilder sprechen (Le goût du chlore, L’écorce des choses), aber auch solche, die komplexe Bild-Text-Bezüge aufweisen (Mélodie du crépuscule, Zep). Zudem stammen die Verfasser*innen aus verschiedenen Ländern der Frankophonie, neben Frankreich aus der Schweiz (ZEP, M ARA ), aus 16 https: / / bildungsklick.de/ schule/ detail/ comics-im-franzoesischunterricht-cornelsen-unterstuetztschulwettbewerb-francomics (10.08.2021). 84 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 Belgien (Z ABUS , Z IDROU , W EBER ) und Gabun (P AHÉ ), ein Zeichner stammt aus Italien (C AMPI ), ein anderer aus Spanien (L AFEBRE ). Obwohl Comics in Frankreich schon seit langem als 9 ème art (9. Kunst) gelten und sich ihr Ansehen als literarische Gattung für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche dort nicht zuletzt in eigenen Comicmessen und Preisen niederschlägt, sind sie bis auf wenige Klassiker (Astérix, Tintin, Les Schtroumpfs, Lucky Luke) in Deutschland viel weniger bekannt als z.B. französische Erzählliteratur. Dabei werden Comics in der Französischdidaktik bereits seit den 1970er Jahren thematisiert (vgl. den Abriss in M ORYS 2018: 41-48) und für die unterschiedlichsten Zielsetzungen empfohlen (vgl. ebd.: 113-154). Sie sind auch in Lehrwerken „konsequent vertreten“ (ebd.: 170), in solchen für die Sek. I seien authentische Comics bis auf eine Ausnahme allerdings eher unterrepräsentiert. Die didaktische Gestaltung in den Lehrwerken für die Sek. I lege jedoch nahe, dass Comics „prinzipiell als ein Medium unter anderen betrachtet werden. Eine Auseinandersetzung mit BD-spezifischen Charakteristika wird - abgesehen von einzelnen Aufgaben zur Bildbeschreibung - durch die Aufgabenstellung nicht angeregt“ (ebd.: 170). Außerdem können in Lehrwerken selbstverständlich immer nur Ausschnitte abgedruckt werden. Der Wettbewerb stellt für Schüler*innen der Sek. I somit eine einzigartige Möglichkeit dar, Comics als eigenständige literarische Gattung kennenzulernen. 3.2.2 Comics als authentische Ganzschrift Comics gehören zu den ganz wenigen literarischen Texten, die auch in nicht-didaktisierter Form bereits für den Einsatz auf dem sprachlichen Niveau A2/ B1 in Frage kommen. Damit stellen sie gleichzeitig eine der wenigen Möglichkeiten für Sprachlerner*innen dar, sich trotz ihrer geringen sprachlichen Kompetenzen mit ihrem Alter gemäßen anspruchsvolleren Themen auseinandersetzen. Der hohe Bildanteil ermöglicht zudem, dass sie bereits in der Sek. I als Ganzschrift bewältigt werden können, und er regt dazu an, die ästhetische Gestaltung sowohl als Verständnishilfe zu nutzen als auch gezielt zu betrachten. Da diese Vorteile zwar für die Gattung im Allgemeinen, jedoch längst nicht auf jeden Jugend-Comic zutreffen, bedeutet die durch die Veranstalter*innen von Francomics getroffene Auswahl eine wertvolle Hilfestellung für Lehrende. 3.2.3 Bandes-annonces als Wettbewerbsprodukt In den beiden letzten Runden des Wettbewerbs sollten die Teilnehmer*innen Videos zu ihrem Comic-Favoriten erstellen. Vorgegeben waren bandes annonces (Buchtrailer) von max. zwei Minuten in französischer Sprache, die von den Schüler*innen selbst konzipiert und umgesetzt werden mussten. 17 Buchtrailer sind eine vergleichsweise neue Form der Werbung für Bücher, die Bezeichnung ist dem Kinotrailer ent- 17 Vgl. https: / / francomics.de/ allgemeines/ (15.08.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 85 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 lehnt. Sie werden von Autor*innen oder Verlagen in Auftrag gegeben, das gestalterische Spektrum reicht „von abgefilmten Buchcovern, mitgeschnittenen Autorenlesungen, Schrift- und Bildanimationen bis hin zu Buchtrailern, die mit realen Schauspielern arbeiten“, bislang habe sich „noch keine eigene Buchtrailer-Ästhetik durchgesetzt“. 18 Im Unterricht spielen sie noch keine große Rolle, ich habe lediglich einen Hinweis für den Deutschunterricht gefunden, das Erstellen von Buchtrailern zur Leseförderung und zur Abiturvorbereitung einzusetzen (vgl. Ideenpool Lesen o.J.). Bei Francomics fungiert das Video neben der Stimmabgabe als eigener Wettbewerbsbeitrag, für dessen Bewertung die Kriterien „Sprache, Argumentation und Kreativität“ zählen. 19 Technisch ist zudem eine „ausreichende Qualität“ hinsichtlich der Lautstärke und der Klarheit des Bildes verlangt (vgl. ebd.). Auf der Internetseite zum Wettbewerb sind insg. sieben Videos eingestellt, drei zum 3. Durchgang, vier zum 4. Durchgang, in dem der 1. Preis doppelt vergeben wurde. 20 Die Siegervideos stammen von Lerngruppen aus der 8.-10. Klasse. Die Schüler*innen haben das offene Format Buchtrailer ganz unterschiedlich umgesetzt: Vier der Videos sind eine Art verfilmte Rezension, d.h. sie geben die Handlung wieder und nennen die besonderen Qualitäten des Comic (Videos zu Macaroni, Le grand méchant renard, L’écorce des choses und Jamais). Die filmische Umsetzung ist dabei unterschiedlich: Für Macaroni wählten die Schüler*innen als Format einen Fernsehbeitrag mit einer Moderatorin und drei Expert*innen für den Inhalt, die grafische Darstellung und die Bewertung. Das Video zu Le grand méchant renard ist ähnlich wie ein animierter Zeichentrickfilm gestaltet: Auf einer Schultafel werden die im Off gesprochenen Hinweise zu den Punkten 1-5 (Zielgruppe, Inhalt und Figuren, Zeichnungen, Humor und Moral) jeweils mit aus dem Buch ausgeschnittenen Figurinen illustriert. Für Jamais lesen die Schülerinnen aus dem Off einen empfehlenden Brief an eine Freundin, wobei die angesprochenen Aspekte jeweils durch ausgeschnittene Panels aus dem Comic illustriert werden. Aufwändiger gestaltet ist das Video zu L’écorce des choses. Hier werden die einleitenden und abschließenden aus dem Off gesprochenen Sätze passend zum Inhalt des Comics von einem Mädchen in Gebärdensprache übersetzt. Dazwischen wird die Geschichte ebenfalls aus dem Off nacherzählt und dabei von Schüler*innen an unterschiedlichen Drehorten unter Nutzung theaterpädagogischer Mittel pantomimisch gespielt. Die drei anderen Videos orientieren sich in der Machart an professionellen Filmtrailern: Das Video zu Clues besteht aus mehreren kurzen, actionreich nachgespielten Szenen aus dem Comic, dazwischen werden Schlagzeilen eingeblendet; die beiden Videos zu The End sind aus mehreren nachgespielten Szenen aus dem Comic zusammengestellt; das Berliner Video lässt zusätzlich noch zwei Schüler in der Rolle von kommentierenden Comic-Spezialisten agieren. In diesen drei Videos spielt die Musik eine dominante Rolle: Im Video zu Clues ist Filmmusik aus „Fluch der Karibik“ 18 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Buchtrailer (12.04.2022). 19 https: / / francomics.de/ allgemines/ (15.08.2021). 20 https: / / francomics.de/ vergangene-editionen/ (12.08.2021). 86 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 unterlegt, im Berliner Video zu The End Mozarts Requiem und im bayrischen Video der im Comic angesprochene Song „The End“ der Band The Doors in einer Cover- Version. Die beiden Videos zu The End greifen mit ihrer monochromen Farbgebung die farbliche Gestaltung des Comics auf. Während die Ersteller*innen dieser drei Videos offenbar viel Wert auf die filmische Umsetzung sowie eine ansprechende, die Atmosphäre des Comics nachempfindende Gestaltung gelegt haben, zeichnen sich die ersten vier Videos durch ihre klare Struktur und überzeugende Argumentation aus. In allen Videos wird deutlich, dass die Schüler*innen die oben genannten Ziele Lesekompetenz, Textverständnis, Mündlichkeit und Medienkompetenz in beeindruckender Weise erreicht haben, zusätzlich auch Aspekte der in der Sek. I von den Bildungsstandards bislang nicht vorgesehenen literarisch-ästhetischen Kompetenz. Somit scheint die bande annonce ein flexibles und zugleich aussagekräftiges Format zu sein, um die persönliche Auseinandersetzung mit einem Comic anzuregen und zu gestalten. Dass Schüler*innen in der Auseinandersetzung mit dem Genre Comic offenbar von sich aus den Wunsch verspüren, gestalterisch tätig zu werden, wurde bereits im ersten Durchgang deutlich. Auch die damals eingereichten Produkte verdeutlichten, dass die Schüler*innen „ihre eigene Form der ästhetischen Auseinandersetzung mit den BD [Comics] entwickelt haben“ (M ORYS 2014: 11). Daher bleibt abzuwarten, wie gut sich das Medium Video eignet, um ihre Auseinandersetzung mit narrativen Texten wiederzugeben, so wie es im jeweils zweiten Jahr des Prix des lyçéens geplant ist. Für die Produkte gibt es kaum Vorgaben: „Das kreative Projekt wird im Rahmen des Unterrichts umgesetzt - in Gruppen oder individuell -, wobei die Schüler: innen sich frei nach dem [Sieger-]Roman von Wilfried N’Sondé inspirieren [lasssen], indem sie Elemente wie Ton, Monolog, Charaktere, Themen etc. aufgreifen. Der Fantasie sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt! “. 21 Als Belohnung winken der Siegergruppe eine Begegnung mit dem Autor und 15 Bücher für die Klassenbibliothek, für die Zweit- und Drittplatzierten sind ebenfalls Buchpreise vorgesehen, zusätzlich haben die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, ihre Stimme für den Publikumspreis (ein Abonnement für die Culturethèque) abzugeben. 4. Wettbewerbe - ein geeignetes Mittel für den schulischen Literaturunterricht? Prix des lyçéens und Francomics erfüllen vollumfänglich die Funktion von Schülerwettbewerben (s. Abschnitt 1): Sie stellen eine sinnvolle Ergänzung schulischer Angebote dar, indem sie für Schüler*innen ein attraktives Angebot bereithalten, sich auch über den Unterricht hinaus mit der französischen Sprache zu beschäftigen und sie in authentischen Situationen anzuwenden. Die dabei erbrachten Leistungen wer- 21 https: / / www.institutfrancais.de/ frankfurt-am-main/ bildung/ lehrprojekte/ prix-des-lyceens-allemands (15.08.2021). Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 87 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 den honoriert und öffentlich sichtbar gemacht. Die Wettbewerbe stellen auch insofern eine Ergänzung des Schulunterrichts dar, als Schüler*innen erleben können, dass literarische Texte und der Austausch über sie über ihre sonstige Funktion als schulischer Lern- und Prüfungsgegenstand hinaus relevant sind, und es Spaß machen und bereichernd sein kann, sich mit ihnen zu beschäftigen. Gleichzeitig werden die beiden Wettbewerbe der Funktion gerecht, eine Bereicherung des schulischen Unterrichts zu leisten. Sie stellen eine - offensichtlich gelungene - Auswahl aktueller französischer Originalliteratur bereit, sie liefern didaktisches Material, das die Lektüre und die Auseinandersetzung mit diesen Texten unterstützt, und sie erweitern die sonst üblichen didaktischen Möglichkeiten durch die Gelegenheit zur direkten Begegnung mit den Autor*innen. Die Wettbewerbe bedeuten somit ebenfalls eine praktische Unterstützung für die Lehrpersonen und sie geben durch die Fortbildungsveranstaltungen, Online-Angebote und die Gelegenheit zum Austausch mit Kolleg*innen ein Angebot zur persönlichen Fortbildung. Darüber hinaus stellen die Wettbewerbe eine Herausforderung für die schulische Beschäftigung mit literarischen Texten dar. Offensichtlich gelingt es durch das Wettbewerbsformat Schüler*innen tatsächlich zur Lektüre ganzer Texte im Original zu motivieren, was laut Aussage zahlreicher Lehrer*innen im herkömmlichen Unterricht schwierig bis unmöglich zu sein scheint. Außerdem gelingt - wie die Analyse der Ergebnisse belegt - eine ernsthafte und fundierte individuelle Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Texten. Die von B OBERG (2007: 25) und M ORYS (2018: 173-222) befragten Lehrpersonen berichten von zahlreichen weiteren positiven Effekten. Es scheint, dass durch das Wettbewerbsformat und die Ausdrucksmöglichkeiten, die das Produkt Videotrailer bereits Schüler*innen der Sek. I eröffnet, schulische Zielsetzungen erreicht werden können, die im herkömmlichen Unterricht nicht oder zumindest nicht in gleicher Weise erreicht werden können. Damit stellt sich abschießend die Frage, warum nicht mehr Lehrer*innen mit ihren Klassen an diesen Wettbewerben teilnehmen. Der wichtigste Grund dürfte der mit der Teilnahme an einem Wettbewerb erhöhte Zeit- und Arbeitsaufwand für Lehrer*innen und Schüler*innen sein. Außerdem sind damit terminliche Setzungen verbunden, die sich nicht immer einfach in die vorgegebenen schulischen Abläufe integrieren lassen. Nicht zuletzt verlangt die Teilnahme an einem Wettbewerb die Abkehr vom Gewohnten: Der vertraute, vergleichsweise berechenbare und dadurch in gewisser Weise bequeme Unterricht muss von Lehrer*innen und Schüler*innen verlassen werden, sie müssen sich auf Unbekanntes einlassen und die vielfältigen Herausforderungen gemeinsam bewältigen. Damit dies gelingt, stellen beide Wettbewerbe erprobtes Unterstützungsmaterial bereit. Und dass es sich nicht nur angesichts der Situation des Französischen als Schulfach, sondern auch angesichts der großen Heterogenität der Schüler*innen lohnt, sich auf diese Herausforderungen einzulassen, davon zeugen das positive Echo der Teilnehmer*innen und die Wettbewerbsergebnisse, die nicht nur auf den offiziellen Internetseiten der Veranstalter*innen, sondern auch auf zahlreichen Schulhomepages zu finden sind. Somit stimme ich der Forderung P ETERS (2019: 11) zu: „Schülerwettbewerbe gehören in den pädagogischen Werkzeugkasten jeder 88 Daniela Caspari DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 51 • Heft 1 Lehrkraft! “ Und ich möchte ergänzen, dass es sich ebenfalls lohnt, sie weiter didaktisch zu erforschen. Wettbewerbstitel B IDAULT , Cécile (2017): L’écorce des choses. Paris: Warum. DE P INS , Arthur (2010): La marche du crabe. Toulon Soleil. D ILLIES , Renaud / B OUCHARD , Christophe (2006): Mélodie au crépuscule. Genève: Paquet. D UHAMEL , Bruno (2018): Jamais. Charnay-lès-Mâcon: Bamboo. C AMPI , Thomas / Z ABUS , Vincent (2016): Macaroni. Marcinelle, Paris: Dupuis. L AFEBRE , Jordi / Z IDROU (2010): Lydie. Bruxelles: Dargaud. L EROY , Violaine (2008): La rue des autres. Montréal, Canada: La Pastèque. M ARA (2008): Clues. Paris: Akiléos. M ARDON , Grégory (2006): Leçon de choses. Paris: Dupuis. R ENNER , Benjamin (2015): Le grand méchant renard. Paris: Delcourt. S TI / P AHÉ (2008): Dipoula. Genève: Paquet. V IVÈS , Bastien (2008): Le goût du chlore. Bruxelles, Paris: KSTR. W EBER , Patrick / P ENNELLE , Renaud (2008): Sagarmatha. Paris: EP Éditions. ZEP (2018): The End. Paris: Rue de Sèvres. Literatur B OBERG , Britta (2007): „Selbst Jurymitglied sein - Ergebnisse einer Umfrage zum Prix des lycéens allemands“. In: Französisch heute 38.1, 20-27. B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank / R IEMER , Claudia (Hrsg.) (2015): Lernen an allen Orten? Die Rolle der Lernorte beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Arbeitspapiere der 35. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva / M EHLHORN , Grit / R IEMER , Claudia / B AUSCH , Richard / K RUMM , Hans- Jürgen (Hrsg.) (2016): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Francke. C ASPARI , Daniela (2014): „Fremdsprachenwettbewerbe“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht Basisheft 11.5, 16. C ASPARI , Daniela (2015): „Schulisches und außerschulisches Lernen verbinden. Eine (alt-)bekannte Forderung als aktuelle Herausforderung“. In: B URWITZ -M ELZER et al. (Hrsg.), 29-37. C ASPARI , Daniela (2021): „Der Französischunterricht in der Krise - und mit ihm die Bedeutung der Schulfremdsprachen außer Englisch“. In: G REIN , Matthias / S CHÄDLICH , Birgit / V ERNAL S CHMIDT , Janina (Hrsg.): Krise des Französischunterrichts? Empirische Forschung zur Frankoromanistik - Lehramtsstudierende im Fokus. Stuttgart: Metzler, 25-43. H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (2019): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Unveränderte 3. Auflage. Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett. Ideenpool Lesen [o.J]. Fachportal des Landesbildungsservers Baden-Württemberg. https: / / www.schule-bw.de/ themen-und-impulse/ ideenpool-lesen/ sekundarstufe/ sekundarstufe2 / methoden_konzepte_projekte/ leseprojekte/ lesefoerderung-buchtrailer (15.08.2021). J UNG , Udo H. (Hrsg.) (2009): Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. 5. durchges. Aufl. Frankfurt/ M: Lang. Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? 89 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0006 M ORYS , Nancy (2014): „So vielfältig können BD sein! Das Projekt „Francomics“. In: Praxis Fremdsprachenunterricht Französisch 11.3, 7-11. M ORYS , Nancy (2018): Bandes dessinées im Fremdsprachenunterricht Französisch. Annäherung an eine empirisch fundierte Teilbereichsdidaktik. Frankfurt/ M.: Lang. P ETERSEN , Stefan (2019): „Wettbewerbe im Umfeld außerschulischer Lernangebote - die Science Olympiaden“. Vortrag bei der 4. Fachtagung Schülerforschungszentren am 06. März 2019 in Erlangen. https: / / schuelerforschungszentren.de/ fileadmin/ Redaktion/ Tagungen/ 2019_Erlangen/ Vortrag_S tefan_Petersen_4._Fachtagung_SFZ.pdf (08.08.2021). S CHRÖDER , Konrad / H ERTEL , Elke (2009): „Wozu brauchen wir Fremdsprachenwettbewerbe? “ In: J UNG , 494-498. S URKAMP , Carola (Hrsg.) (2017): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/ Weimar: Metzler. T OMETTEN , Ute (2005): „Le Prix des Lycéens Allemands: Ein atelier de lecture in der Sekundarstufe II“. In: Der fremdsprachliche Unterricht. Französisch 39.77, 42-43. DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 N IKOLA M AYER * Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfacher Sprache Abstract. Texts in simple or simplified language have the power to enrich the EFL literary classroom. Since there is a vast number of graded readers or simple originals out there, we should benefit from them and use them to enhance reading in heterogeneous secondary classrooms. This article first outlines the ongoing discussion on the value of graded readers, especially in connection with learners’ perspectives and the aims of reading. The article then explores in detail the category of simplicity and how it manifests in young adult literature. To illustrate the practical use of simple texts, the results of selected extensive reading projects are briefly presented, along with the analysis of an exemplary literature project on Robinson Crusoe. Excerpts from guided interviews with three teachers who all carried out reading projects with graded readers are woven into the article to add experience-based knowledge. 1. Lektüren im Englischunterricht der Sekundarstufe I Das Lesen einer Lektüre auf Englisch in der Sekundarstufe I ist für die meisten Schüler*innen kein einfaches Unterfangen. Gerade deshalb ist das Prinzip der Einfachheit hierbei von zentraler Bedeutung. Durch eine Komplexitätsreduktion auf verschiedenen Ebenen (Layout, Sprache, Art des Erzählens) und durch unterstützende Elemente wie Visualisierungen bzw. Illustrationen, Vokabelhilfen, Begleitaufgaben etc. kann es gelingen, die Diskrepanz zwischen fremdsprachlicher Kompetenz und kognitivem Anspruch so zu gestalten, dass heterogene Gruppen von Schüler*innen zu einem jeweils individuell angemessenen, als authentisch erlebten und idealerweise genussreichen Leseerlebnis gelangen. Damit ist das Anliegen dieses Beitrags formuliert: Es geht darum, zu zeigen, dass Lektüren in einfacher Sprache für Fremdsprachenlernende der Sekundarstufe I, die auf einem unteren oder mittleren Sprachniveau (A1 - B1) rangieren (vgl. N ATION / W ARING 2020: 5f.) zu einem Erfolgserlebnis im Englischunterricht führen können, und zwar gerade dadurch, dass sie zugänglich und verstehbar, sozusagen barrierefrei, sind. Hierzu betrachte ich Lektüren aus zwei Perspek- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Nikola M AYER , Pädagogische Hochschule Zürich, Didaktik Englisch Sekundarstufe; Lagerstraße 2, CH 8090 Z ÜRICH . E-Mail: nikola.mayer@phzh.ch Arbeitsbereiche: Englischunterricht in der Sek I, Multimodales Lesen, Literatur im Fremdsprachenunterricht. Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 91 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 tiven, zum einen in der wohl bekanntesten Erscheinungsform als easy oder graded readers und zum anderen als Texte in einfacher Sprache und über die Kategorie der Einfachheit. 1.1 Leitfadeninterviews mit drei Englischlehrpersonen Um die theoretischen Aussagen mit praktischem Erfahrungswissen zu verbinden, habe ich drei Lehrpersonen interviewt, die alle drei graded readers in ihren Englischunterricht eingesetzt haben. Die Daten wurden über Leitfadeninterviews erhoben, transkribiert und dann nach den Kriterien der qualitativen Inhaltsanalyse kodiert (vgl. K UCKARTZ 2018) und mittels MAXQDA ausgewertet. Es folgt eine kurze Vorstellung der drei Lehrpersonen. LP1 ist Lehramtsstudentin und arbeitet als Teilzeitlehrperson an einer Schweizer Sekundarschule. Für ihre Masterarbeit hat sie ihren Unterricht mit dem Ansatz der Aktionsforschung während eines Leseprojekts mit graded readers in einer 8. Klasse beforscht. LP2 ist Lehramtsstudentin und arbeitet als Teilzeitlehrperson an einer Schweizer Sekundarschule. Das Leseprojekt mit graded readers hat sie in einer 9. Klasse im Wahlfach Englisch durchgeführt. Derzeit führt LP2 ein Leseprojekt mit einer Klassenlektüre bei der gleichen Gruppe durch. Zentrale Aussagen von LP1 und LP2 sind in den Text eingewoben. LP3 unterrichtet die Fächer Englisch und Französisch an einer Schweizer Privatschule. Sie hat mehrere Jahre in Deutschland an verschiedenen Schulformen (Gesamtschule, Gymnasium) und in verschiedenen Schulstufen unterrichtet. Das Robinson-Projekt, das in Abschnitt 3.2 vorgestellt wird, fand in ihrer 5. Klasse statt. Zentrale Aussagen von LP3 erscheinen im Zusammenhang mit diesem Projekt. 1.2 Graded readers im Englischunterricht Graded readers stellen für viele Schülerinnen und Schüler die Erstbegegnung mit Lektüren im Englischunterricht der Sekundarstufe I dar. Dabei bezeichnet man als Lektüren „alle didaktisch aufbereiteten Texte und Textsammlungen, die nicht Teil eines Lehrwerks sind“ (H ERMES 2017: 214). Originaltexte, wie sie in der Sekundarstufe II eingesetzt werden, zählen normalerweise nicht als Lektüren (vgl. ebd.). Allerdings ist diese Kategorisierung nicht trennscharf, denn es gibt durchaus Originaltexte, die zu den Lektüren gezählt werden und die gut in der Sekundarstufe I eingesetzt werden können. Für diese Texte, die bereits in einfacher Sprache verfasst wurden, steht die Bezeichnung simple originals (vgl. z.B. H ILL 2008: 185) die als Abgrenzung zu der sogenannten simplified literature / rewrites dient, bei der es sich um Vereinfachungen oder Neuschreibungen fremdsprachiger Originaltexte, zumeist Klassiker, handelt. H ERMES (z.B. 2016: 153; 2008: 271) spricht sich für die von D AY / B AMFORD (1998) und der Extensive Reading Foundation 1 (www.erfoundation.org) eingeführte, 1 Die Extensive Reading Foundation ist eine „non profit organization set up to further the interests of extensive reading. Its website has numerous practical resources […]“ (N ATION / W ARING 2020: 16). 92 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 offenere Bezeichnung language learner literature aus. D AY / B AMFORD betonen in ihrer Definition, dass es sich hierbei um eigenständige, vollwertige Texte handelt, die ein breites Spektrum an Inhalten und Formen umfassen können. Dies bezieht sich auch auf Texte der Jugendliteratur (Young Adult Literature): It [language learner literature] includes fiction and nonfiction, original writing, and texts adapted for language learners. […] language learner literature presupposes the integrity that marks all genuine writing: that it be not a lesser version of something else but a fully realized, complete-in-itself act of communication between author and audience. (D AY / B AMFORD 1998: 64) Der Begriff easy readers hat sich im deutschsprachigen Raum vor allem bei den Verlagen als Markenzeichen für aufbereitete Lektüren für den Englischunterricht bewahrt, wohingegen im englischsprachigen Raum vorwiegend von graded readers (im Folgenden kurz GRs) gesprochen wird (vgl. H ERMES 2016: 154). H ILL (2008: 185) charakterisiert GRs als Lektüren, die auf verschiedenen Niveaus angebotenen werden. Meist sind dies Abstufungen von 1 bis 6; allerdings gibt es kein einheitliches System, jeder Verlag wählt seinen eigenen Weg. Die einzelnen Level sind durch graduell anwachsende Lexis, Grammatik und Syntax gekennzeichnet. Der eingegrenzte Wortschatz (controlled or restricted vocabulary) wird nach den Kriterien Häufigkeit und Nützlichkeit (frequency and usability) ausgewählt, wohingegen bei der Syntax vor allem die Einfachheit (simplicity) prägend ist. Zudem wächst mit jeder Stufe die Länge des Textes; Format und Layout werden der ansteigenden Lesekompetenz angepasst, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass bei den höheren Niveaustufen (häufig ab B1), weniger oder keine (farbigen) Illustrationen mehr vorhanden sind. N ATION / W ARING bündeln diese Aspekte wie folgt: Graded readers are books especially written for learners of English as a foreign language. They are different from other books in that they are written with strict vocabulary control and with consideration of other factors affecting comprehensibility, such as grammatical difficulty, sentence complexity, use of illustrations, and simplicity of plot. Graded readers are written as a series with multiple levels with each adding more difficult language, but also building up the language of earlier levels systematically to provide reinforcement and consolidation. (2020: 17) GRs haftet seit den frühen 1970er Jahren der Makel minderwertiger Texte an. Die Extensive Reading Foundation und D AY / B AMFORD haben auch deshalb den Begriff der language learner literature geprägt (vgl. H ILL 2013). Die Hauptkritik richtet sich auf die mangelnde Authentizität der Texte: „[…] that restricted language is not authentic and so a poor model for learners and […] that to rewrite anything is an insult to the original“ (H ILL 2008: 185). Dieses Argument wird von H ILL (2013), H ERMES (2016: 153f.) sowie D AY / B AMFORD (1998: chapter 6) wiederholt aufgegriffen und widerlegt. Das überzeugendste Gegenargument liegt im Prinzip der Einfachheit begründet (s. Abschnitt 2), das die Zugänglichkeit und Verstehbarkeit von anderenfalls zu komplexen Texten ermöglicht. Fremdsprachenlernende verstehen Texte, die auf ihrem Sprachniveau oder sogar leicht darunter - „i minus 1 level, that is below Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 93 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 their linguistic ability“ lautet die Empfehlung von D AY / B AMFORD (1998: 53) - verfasst sind. Oder anders ausgedrückt: „Schüler oder Schülerinnen fragen nicht nach Authentizität, sondern nach Texten, die sie verstehen“ (H ERMES 2008: 275). Und das sind eben nicht die umfangreichen, anspruchsvollen Originaltexte von Robinson Crusoe oder Oliver Twist, sondern solche, die in einfacher Sprache, reduzierter Komplexität und in überschaubarem Umfang dargeboten werden. Und dann ist auch der Originaltext nicht mehr das Maß der Dinge, sondern Priorität hat, ob der Text für die Lesenden funktioniert. Dann wird Lesen in der Fremdsprache zu einem authentischen Erlebnis und die Texte „geben uns das Gefühl, dass wir einen ,richtigen‘ Autor lesen, zumindest dem Inhalt nach“ (K RINGS 2016: 205). Und erst dann kann sich ein Erfolgsgefühl einstellen, so wie das ein Schüler formuliert hat: „Ah, ich kann ja ein Buch lesen, ich verstehe das ja“ (LP1, Pos. 21). Auch die Schüler*innen zeigen ein Gespür für die Qualität der Texte. Hierbei scheint die Didaktisierung des Lesematerials eine Rolle zu spielen: „Es gibt solche, da wirkt es sehr wie für Sprachlernende gemacht und das mögen die Jugendlichen weniger“ (LP1, Pos. 39). Eine Schülerin nimmt ihren Text als nicht angemessen wahr: „Sie hatte The Picture of Dorian Gray ausgesucht. Sie fand es schade, dass es ein gekürzter Text war. Sie hat es gemerkt, weil plötzlich etwas auftauchte, was noch überhaupt nicht eingeführt wurde“ (LP2, Pos. 46). 2. Lob der Einfachheit Das Prinzip bzw. die Kategorie der Einfachheit hat die fachdidaktische Diskussion neu belebt. Ein 2016 von B URWITZ -M ELZER und O’S ULLIVAN herausgegebener Sammelband trägt den Titel: Einfachheit in der Kinder- und Jugendliteratur: ein Gewinn für den Fremdsprachenunterricht. Ausgehend von einem breiten Textbegriff, der sowohl alle literarischen Gattungen als auch multimodale Texte umfasst (vgl. B UR - WITZ -M ELZER / O’S ULLIVAN 2016b: 8), werden Texte der Kinder- und Jugendliteratur, darunter auch Bearbeitungen von Originaltexten und Lektüren, aus dem Blickwinkel der Einfachheit auf ihre Relevanz für den Fremdsprachenunterricht untersucht. Das vermeintliche Gegensatzpaar „Einfachheit und Komplexität“ wird mit Blick auf Bilderbücher, Comics, Graphic Novels und Kinderbzw. Jugendliteratur kritisch hinterfragt und zur Formel der „Komplexität des Einfachen“ umgeformt. Dabei bleibt der grundsätzliche Entwicklungsprozess der Progression vom Einfachen hin zum Komplexen beibehalten. Eine literaturwissenschaftliche Definition von Einfachheit findet sich bei L YPP (2006), die Einfachheit als zentrale Kategorie der Kinderliteratur benennt: „Einfach wird ein Text genannt, der durch eine begrenzte Zahl elementarpoetischer Mittel strukturiert ist und auf diesem Weg Themen und Gegenstände von hoher Komplexität in vereinfachter Form darbietet“ (L YPP 2006: 93). Für L YPP ist Einfachheit ein „vermittelndes Prinzip“ des literarischen Lernens, das es ermöglicht, Brücken zu schlagen zwischen dem „Wissens-, Erfahrungs- und Sprachstand des erwachsenen Autors und den jungen Leserinnen und Lesern“ (ebd.: 94). 94 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 2.1 Sprachliche, formelle, konzeptuelle und ästhetische Einfachheit C ASPARI / S TEININGER (2016: 33f.) sehen im Prinzip der Einfachheit einen bislang wenig beachteten Weg, um Kinder- und Jugendliteratur zur Förderung ästhetisch und literarischer Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht einzusetzen und so über die bislang prägenden Argumente für die Verwendung dieser Texte, wie z.B. ein einfacheres Textverständnis und die Förderung von Lesemotivation, hinauszugehen. Einfachheit, so die Autor*innen, wird im fremdsprachendidaktischen Kontext zumeist auf sprachliche Einfachheit bezogen, um so Fremdsprachenlernenden Texte, die andernfalls sprachlich zu anspruchsvoll wären, zugänglich zu machen. C ASPARI / S TEININGER (2016: 35f.) verweisen auf C ONRADY (1994), der bei seinen Auswahlkriterien für Kinder- und Jugendbücher für den DaF-Unterricht auch Kriterien der Komplexitätsreduktion mit einem Fokus auf die literarische Konzeption anführt (z.B. überschaubare Handlung, Begrenzung von Raum und Zeit, wenige Figuren, geringer Textumfang etc.). Bei C ONRADY s Kriterien zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der literaturwissenschaftlichen Kategorie der Einfachheit und der sprachlichen Einfachheit. Zudem finden sich Kriterien, die den Blick auf die Gesamtrepräsentation und Rezeption des Textes lenken (Illustrationen, Fonts, Layout). Zur Veranschaulichung bilde ich hier eine angepasste Liste zu den Merkmalen von Texten in einfacher Sprache unter Rückbezug auf C ONRADY (1994, 23) und B ECKER (2020, unveröffentlichtes Skript) ab: Layout Sprache Art des Erzählens - kürzerer Umfang (ca. 60-100 Seiten) - Unterteilung in Kapitel und Unterkapitel - klare Gliederung durch Abschnitte und Absätze - Flattersatz - Illustrationen / Visualisierungen - größere Schrift - größere Abstände zwischen Buchstaben / Wörtern / Zeilen - einfache Schriftart (serifenlos) - kurze Sätze - einfache Satzkonstruktionen - eine Aussage pro Satz - wenige Fremdwörter, - alltägliche Sprache - wenige abstrakte Nomen - wenige Eigennamen - nicht geläufige Abkürzungen werden vermieden - wenige Hervorhebungen - keine oder wenige Aufzählungen innerhalb von Sätzen - Spannung (Aktion statt Reflexion) - keine oder wenige Zeitsprünge - keine oder wenige Perspektivwechsel - ein Handlungsstrang - klares Setting, gut eingeführte Ortswechsel - Identifikationsfiguren - wörtliche Rede / Dialoge - Tempus - häufig Präsens - klare, leicht zu entschlüsselnde Symbole, Metaphern, Vergleiche und Stereotypen Tab. 1: Merkmale von Texten in einfacher Sprache Der Ansatz von C ASPARI / S TEININGER verbindet Fachdidaktik und Literaturwissenschaft und umfasst 4 Dimensionen von Einfachheit, die hier kurz vorgestellt werden. Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 95 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 Bei der sprachlichen Einfachheit steht die Auswahl sprachlich angemessener Texte im Mittelpunkt. Beim fremdsprachlichen Lesen bezieht sich das vor allem auf das sprachliche Wissen, und hierbei besonders auf den als bekannt vorauszusetzenden Wortschatz und die Fähigkeit Lesestrategien zielführend einzusetzen (vgl. C ASPARI / S TEININGER 2016: 36). Da man bei authentischen Texten nicht von einer Passung zwischen Lehrwerk und Text ausgehen kann, sollte der Fokus bei der Textauswahl immer in Relation zu den Lesenden gesetzt werden. C ASPARI / S TEI - NINGER (2016: 37) verweisen bei der Suche nach einem sprachlich angemessenen Text auch auf das Potential von GRs. Mit Bezug auf die formelle Einfachheit geht es aus der Perspektive der Literaturdidaktik darum, „Wissen über literarische Texte zu erwerben und dieses Wissen auf konkrete Texte anzuwenden“ (C ASPARI / S TEININGER 2016: 38). Die reduzierte Komplexität einfacher Texte ermöglichtet es den Lesenden dennoch, „literarische Bauformen“ kennenzulernen. Dies können textbasierte Erzählungen und Romane sein, aber auch multimodale Texte (Bilderbücher, Comics), als jeweils typische Beispiele für die narrative Kategorie der Kinder- und Jugendliteratur. Die Komplexitätsreduktion im Rahmen von formeller Einfachheit betrifft strukturelle Aspekte wie die Raum- Zeitkonstellation, die Figurenkonstellation, die Erzählstränge (s. Tab. 1). Auf Text- Bild Kombinationen beruhende Texte sind vor allem dann Beispiele für Komplexitätsreduktion, wenn sich die beiden Komponenten ergänzen. Bei der ästhetischen Einfachheit sind Wirkpotential und Erfahrung die zentralen Begriffe. Verstehensprozesse, so die Grundannahme, basieren immer auf Erfahrungen. Da in literarischen Texten Erfahrungen aufgearbeitet und dargestellt werden, helfen Wirkmechanismen wie Multiperspektivität oder auch Leerstellen den Lesenden dabei, diese zu verstehen (C ASPARI / S TEININGER 2016: 40). Einfachheit im Sinne einer Komplexitätsreduktion ergibt sich hierbei aus dem begrenzten lebensweltlichen Erfahrungsraum der jugendlichen Leser*innen. Die Autor*innen gehen von der Annahme aus, dass das Wirkpotential des literarischen Textes diesen limitierten Erfahrungshorizont berücksichtigt und erweitert. Ästhetisches Lesen definieren sie unter Verweis auf R OSENBLATT 1981 als einen Prozess, bei dem die Lesenden die Effekte eines Textes wahrnehmen und gleichzeitig in eine Transaktion mit dem Text eintreten. Es gilt herauszufiltern, welcher Art der literarische Erfahrungsstand ist und was er bewirkt: „entweder als ein Aspekt des retrospektiven Nachvollzugs (Ähnliches habe ich auch erlebt) oder als ein Aspekt der nachvollziehbaren Projektion (Ähnliches könnte ich auch erleben)“ (C ASPARI / S TEININGER 2016: 41). Die konzeptuelle Einfachheit betrifft Themenfelder und so genannte Unbestimmtheitsaspekte. Diese können bei den Lesenden Schwierigkeiten erzeugen, die Essenz eines Textes zu entschlüsseln. C ASPARI / S TEININGER (2016: 41) führen zwei Bereiche an, aus denen sich Probleme ableiten lassen: zum einen sprachliche Konzepte, die, wenn es sich hierbei um „Konkreta“ handelt, gut mittels Bilder bestimmt oder semantisiert werden können; zum anderen Abstrakta, wie „Normen, Werte, ethische Fragen, Haltungen und damit einhergehende kulturelle Konzepte“ (ebd.), die für das Textverständnis wichtig sind. Der Bereich der konzeptuellen Einfachheit steht in 96 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 enger Verbindung mit den vorher thematisierten ästhetischen Erfahrungen. Für die Leser*innen werden Konzepte dann nachvollziehbar, wenn sie anhand von ästhetischen Erfahrungen übermittelt werden. Als letzten Aspekt führen C ASPARI / S TEININGER die Angemessenheit in der Passung zwischen einer Gruppe von Schüler*innen und dem Text (bzw. den Texten) als integrative Kategorie und zentrales Prinzip für die Analyse von Texten der Kinder- und Jugendliteratur an. Der Blick fällt auf den konkreten Fremdspracheunterricht und die dort verfolgten Zielsetzungen und unterrichtlichen Arrangements, also die im Kontext der Lektüre verwendeten Aufgaben und jegliche Formen der Unterstützung bzw. Scaffolds wie z.B. „Annotationen, Glossare, Illustrationen, Einführungen, Zusammenfassungen etc.“ (C ASPARI / S TEININGER 2016: 43). Aufgaben und Scaffolds kommt die doppelte Funktion zu, dass sie einerseits sprachlich und literarisch anspruchsvollere Texte zugänglich und somit einfacher machen können und andererseits einfache Texte durch kognitiv fordernde Aufgaben wie z.B. das Verfassen eines book reviews interessant und spannend machen können. 2.2 Angemessene Textauswahl in den Projekten der befragten Lehrpersonen Die Relevanz der Angemessenheit der Textauswahl findet sich auch bei H ERMES (2008: 270), die hierin eine der Kernkompetenzen von Lehrpersonen sieht, die Lektüren in ihrem Unterricht einsetzen wollen: Die breite Kenntnis von entsprechenden Texten muss einmünden in die Fähigkeit, ihre Angemessenheit für den schulischen Fremdsprachenunterricht ebenso wie ihr sprachliches, literarisches und methodisches Potenzial zu beurteilen, wobei die Zielvorstellung unabhängig vom Schultypus und der Lernstufe in einer sprachlich machbaren und motivierenden literarischen Begegnung liegen sollte. (Hervorhebung im Original) Bei den von mir befragten Lehrpersonen zeigt es sich, dass sie die Auswahl der Texte mit Bedacht und mit Blick auf ihre spezifische Klasse vorgenommen haben. Dabei spielen jeweils unterschiedliche Faktoren eine Rolle. LP1 wählt für das Aktionsforschungsprojekt Texte aus, die in Großbritannien angesiedelt sind und über die die Schüler*innen auch für das Land begeistert werden können. Sie beginnt mit der Klassenlektüre von Jonny Delgado (level 2, Teen Readers). Im zweiten Aktionszyklus wählen die Schüler*innen selbst ein Buch aus. Hierfür hat LP1 eine große Auswahl an Texten (60 Titel) bereitstellen können, da sie von der Bibliothek finanziell unterstützt wurde. Ihre Auswahlkriterien zeigen eine Nähe zum Studium und dem Text von H ESSE (2009: 12-16). Es ist ihr wichtig, „dass z.B. der Protagonist im selben Alter ist, oder dass das Thema Fußball irgendwie dabei ist, weil es ein paar Jungs vielleicht toll finden, etwas über den FC Liverpool zu lesen. Und da waren auch ein paar Liebesgeschichten“ (LP1, Pos. 23). Ihre Liste enthält GRs von diversen Verlagen. Es ist eine Mischung aus simplified originals / rewrites wie If only they could talk (A2, Klett) und Klassikern wie David Copperfield (B1, Teen ELi Readers), in Kombination mit simple originals wie Boy2Girl von Terence B LACKER (A2-B1, Klett). Zudem hat Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 97 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 sie einige anspruchsvollere Bücher wie Game on von Bali R AI (Reading Age 8, Interest Age Teen, Barrington Stoke) für stärkere Schüle*innen in die Liste aufgenommen: „Einzelne Klassiker habe ich dabeigehabt, zum Beispiel Jane Eyre, und das wurde von den Jugendlichen auch ausgewählt. Also so in eine andere Zeit reisen zu können, das haben jetzt einige geschätzt. Oder auch The Picture of Dorian Gray, das haben die Jugendlichen dann auch lesen wollen“ (LP1, Pos. 25). Vom Sprachniveau her deckt sie einen breiten Umfang ab - einige Bücher auf Niveau A1, der Großteil ist auf A2, noch einige auf B1 und die Bücher aus dem Barrington Stoke Verlag, die dem Niveau B1/ B2 entsprechen. LP2 hat bei den Büchern auf den in der Schule vorhandenen Bestand an Lektüren zugegriffen. Sie hat bereits eine Vorauswahl getroffen und darauf geachtet, dass die Interessen der Schüler*innen der 9. Klasse aufgegriffen wurden: „Ich wusste, die lesen gerne Fiction, SciFi oder Actionromane und sie schauen auch entsprechende Serien und Filme. Und es hat aber auch viele Mädchen, die sehr romantisch veranlagt sind“ (LP2, Pos. 16). Ihre Liste mit 11 Titeln kombiniert Klassiker wie The Great Gatsby (level 5, Pearson) und als Verfilmung bekannte Action Stories wie The Bourne Identity (level 4, Pearson) und Hidden Figures (level 5, B1, Helbling Readers). Gerade die Verbindung zu Filmen und Serien stieß bei ihren Schüler*innen auf Interesse, so dass sie einige Titel nachbestellte. Die Lektüren auf ihrer Liste rangieren zwischen Level 4 und 5, was dem Niveau A2/ B1 entspricht. Für das Folgeprojekt hat sich LP2 für eine Klassenlektüre, 1984 (Level 4, Pearson, retold by Mike Dean) entschieden, weil sie die Thematik für aktuell und wichtig erachtet „[…] ich möchte das ihnen mit auf den Weg geben. Gerade mit der Datenkontrolle und mit Nordkorea, finde ich, es passt besser denn je“ (LP2, Pos. 212). Sie hat sich bewusst für einen Text auf Level 4 entschieden, so dass der Text für die Neuntklässler gut bewältigbar ist und sie stärker auf das Lesen und die Diskussion des Textes fokussieren können. Den Pearson Verlag hat sie gewählt, weil sie bereits andere GRs aus dem Verlag kennt. Sie verweist auf ihre begrenzte Lehrerfahrung und die Entlastung, die sie durch die Aufgaben und Scaffolds der GRs erfährt: „Ich bin ja Berufseinsteigerin und parallel noch in der Ausbildung. Ich bin froh, wenn ich Material aussortieren kann […] und nicht alles neu generieren muss“ (LP2, Pos. 40). Die Lektüreauswahl der beiden Lehrpersonen zeigt Verbindungen zu den Erkenntnissen von N ATION / W ARING (2020). Besonders beliebt sind nach deren Studien bei Lesenden auf dem Anfänger- oder mittleren Niveau GRs mit Illustrationen, deren Titel den Lesenden bekannt sind und zu denen Verfilmungen vorliegen. (N ATION / W ARING 2020: 24). Diese Aspekte schaffen eine Verbindung zu einem Buch und fördern die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Zusätzlich empfehlen die Autoren als Einstieg mit einer Klassenlektüre zu beginnen (ibid.: 5) so wie das LP1 getan hat und dann dazu überzugehen, dass jede und jeder auf dem passenden Niveau, seinem oder ihrem Tempo und gemäß seinen oder ihren Interessen weiterlesen kann. 98 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 2.3 Kurzanalyse eines Textauszugs in einfacher Sprache - Lark von Anthony M C G OWAN Anhand einer kurzen Analyse eines Textauszugs in einfacher Sprache möchte ich nun zeigen, dass Einfachheit nicht bedeuten muss, dass ein Kompromiss in Bezug auf die literarische Qualität und das Lesevergnügen zugunsten der besseren Verstehbarkeit eingegangen wird. Das gewählte Beispiel ist aus dem britischen B ARRINGTON S TOKE Verlag 2 , der sich hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kindern und Jugendlichen, die sich beim Lesen schwertun, in die Welt der Bücher zu entführen. Das sind zum einen die so genannten reluctant readers, und zum anderen Kinder und Jugendliche mit Dyslexie 3 . Der Verlag unterscheidet nach dem Interessen geleiteten Alter der Lesenden (Interest Age, kurz IA) und kombiniert dieses mit verschiedenen Lesealtern (Reading Age, kurz RA): „Our books are ‘hi-lo’ meaning that the content is appropriate to the age of the reader but the text is edited to suit a lower reading age“ (website Barrington Stoke). Im Gegensatz zu GRs sind die Texte nicht didaktisch aufbereitet. Es gibt keine Vokabelhilfen und keine Aufgaben für den Einsatz im Unterricht. Der Verlag legt Wert darauf, dass die Bücher nicht als Literatur in einfacher Sprache erkennbar sind, sondern von der Aufmachung her (z.B. hinsichtlich des Coverdesigns) so aussehen wie reguläre Bücher für Kinder und Jugendliche. Der Textauszug ist dem Roman Lark entnommen und wie alle Texte des Verlags ein simple original. 2 „Every child can be a reader“ ist das Motto des B ARRINGTON S TOKE Verlags, der renommierten englischsprachigen Autor*innen den Auftrag gibt, mit einem limitierten Wortschatz Geschichten und Romane zu verfassen: „Authors were asked to keep their stories short, action-packed and age-appropriate, and not to ‘dumb down’ their style“ (K IDD 2013). 3 Bahnbrechend für die dyslexischen Leser*innen war es, dass Patience T HOMSON , Co-Verlagsgründerin und selbst Mutter eines Sohnes mit Dyslexie, gemeinsam mit einem Expertenteam ein spezielles Verfahren für die Seiteneinfärbung entwickelte. Die klassische schwarze Schrift auf weißem Untergrund erzeugt bei Lesenden mit Dyslexie eine visuelle Irritation. Der Barrington Stoke Verlag verwendet einen gelblichen Hintergrundston, der das Auge beruhigt: „The final result was a pale yellow, which reduces visual stress but does not interfere with the coloured acetate ‘filters’ many dyslexic children use when reading“ (Mairi K IDD , paragraph 5 online source). Ein serifenfreier Font, Flattersatz und ein übersichtlich gestaltetes Seitenlayout sind ebenfalls Merkmale dieses Erfolgskonzepts. Als Korrektiv für die Verstehbarkeit der Texte, lesen Kinder und Jugendliche als young reviewers die Textmanuskripte und geben Rückmeldung über potenzielle Problemstellen. Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 99 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 Lark von Antony M C G OWAN ist im Dyslexiefreundlichen Layout gestaltet, mit einem begrenzten Wortschatz verfasst für das Lesealter 9 (RA 9) und die Interessensgruppe der Teenager (IA Teen). Lesende der Klassen 9/ 10 können hier einen sprachlich und inhaltlich angemessenen Text finden. Der Roman handelt von zwei Brüdern, die bei einem Ausflug in einen Schneesturm geraten und den Weg verlieren. Der Dialog zwischen den beiden Brüdern charakterisiert das Verhältnis zwischen Nicky, dem Erzähler und jüngeren Bruder und Kenny, dem älteren der beiden Brüder, der eine Schule für Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen besucht. Die Merkmale der Einfachheit sind augenfällig: Der Text besteht aus kurzen, einfach gebauten Satzstrukturen mit viel wörtlicher Rede und einem begrenzten, aber nicht banalen Wortschatz. Die Sprache ist authentisch und „ungeschönt”, so wie der Verlag das propagiert. Das Layout ist übersichtlich mit Flattersatz und serifenfreier Schrift gestaltet. Die Abbildung der Lerche lockert die Seite auf und markiert die Relevanz des Titels. Trotz der knappen Satzstrukturen sind ästhetische Elemente im Text enthalten wie die poetische Beschreibung der Landschaft „The black skeletons of the trees climbing out of the frozen earth.“ und der Vergleich der Farbe des Himmels mit dem Rücken einer Möwe „a sort of pale grey, like a seagull’s back“ (M C G OWAN 2019: 1). 3. Was ist das Ziel? Extensives Lesen, Lesemotivation oder ästhetisches Lesen Es bleibt zu klären, mit welchem Ziel Lektüren im Englischunterricht der Sekundarstufe I eingesetzt werden. H ERMES (2007) unterstreicht, dass gerade bei lernschwächeren Schüler*innen das Lesen selbst und die Freude am Lesen gefördert werden sollte. K RASHEN (2004) hebt hervor, dass die Lesemotivation und „reading for pleasure“ ein starker Anschub für den Ausbau fremdsprachlicher Kompetenzen auch außerhalb der Schule sein könne. Auch für LP2 steht das Lesen in der Fremdsprache im Zentrum: „Im ersten Projekt war mein Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler ins Lesen kommen und einfach mal selbst ein Buch bearbeiten können“ (LP2, Pos. 14). LP1 macht während der Klassenlektüre die Erfahrung, dass die Lesemotivation bei einigen Schüler*innen hoch ist und sie Johnny Delgado schnell gelesen haben und weiterlesen möchten. Hierzu holt sie zusätzliche Lektüren ins Klassenzimmer: „[…] und da ist jetzt ein reger Austausch. Also einzelne haben da jetzt schon drei gelesen. Abb. 1: Lark 100 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 Und da passiert das, was eigentlich das Tollste ist daran, dass die so auf den Geschmack gekommen sind“ (LP1, Pos. 21). Beide Lehrpersonen haben für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Text den Schüler*innen produktionsorientierte Aufgaben in Form eines reading logs gegeben. Nach dem ersten Projekt resümieren beide, dass die Aufgaben wichtig und förderlich sind. LP1 kommentiert hierzu, dass besonders jene Aufgaben, die einen persönlichen Bezug zu den Hauptpersonen im Buch herzustellen, (schreib-)anregend für die Lernenden waren: […] Aufgaben wie: „Stell dir vor, du wärst dieser Protagonist. „Beschreib dein Leben, oder beschreib deinen Tag.“ Und dann schreiben sie zehn Seiten dazu. Also ich habe das Gefühl, diese Aufgaben regen wirklich an und weniger Aufgaben, wo man noch irgendwie ein, zwei Fragen beantworten muss. Die gehen gar nicht so in die Tiefe und haben nichts mit den Jugendlichen selbst zu tun. Das Lesen hat aber sehr viel mit einem selbst zu tun. (LP1, Pos. 47) LP2 macht eine bewusste Abgrenzung vom freien, lustbetonten Lesen hin zum kritischen, literarisch-ästhetischen Lesen: „Ich denke, das war spannend, dass ein Buch nicht nur zur Unterhaltung da ist, sondern dass man sich wirklich damit auseinandersetzt […] und sich zu einigen Dingen etwas überlegt und seine eigene Meinung formulieren kann.“ Beide Lehrpersonen entscheiden sich dazu, dass sie in Zukunft weniger steuern wollen. LP1 passt ihr reading log an (sie nennt es jetzt reading journal) und gibt den Schüler*innen mehr Freiheiten, sich zum Text zu äußern. LP2 reduziert die Anzahl und den Umfang der Aufgaben und geht dazu über, dass die Schüler*innen bei der Klassenlektüre von Orwells 1984 mehr über den Text diskutieren. 3.1 Extensive Reading N ATION / W ARING (2020) verweisen im Zusammenhang mit GRs auf extensive reading programs, die darauf ausgelegt sind, die Lesekompetenz, die Leseflüssigkeit, aber auch die grundsätzliche Motivation in der Fremdsprache zu lesen, zu fördern. Als gemeinsame Nenner der verschiedenen Ausprägungen von extensive reading programs benennen die Autoren, dass es bei allen um unabhängiges, leises Lesen einer größeren Anzahl von im Schwierigkeitsgrad angemessenen Texten, sehr häufig GRs, geht: „[…] they all involve each learner independently and silently reading a lot of material which is at the right level for them“ (N ATION / W ARING 2016: 3). Im internationalen Kontext, vor allem im asiatischen Raum, gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich damit befassen, verschiedene Aspekte der Leseförderung wie z.B. das Lernen von Vokabular, die Lesemotivation, Leseflüssigkeit, Leseverstehen empirisch zu beforschen (vgl. N ATION / W ARING 2020: Kapitel 3, 7, 8, 9). Eine aktuelle Studie zum extensive reading mit GRs (M ILLENER 2021), die mit Studierenden an einer japanischen Universität durchgeführt wurde, hebt einige Übereinstimmungen bei den Probanden hervor: „[…] many were motivated readers in their L1, most Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 101 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 established personal goals, and the post-reading quizzes appeared to elevate the readers post-reading satisfaction“ (M ILLENER 2021: 14) und macht konkrete Unterrichtsempfehlungen (ebd.): • gezieltes Lesetraining zur Förderung der Leseflüssigkeit (ca. 5-minütige Schnell-Lesephasen - timed-reading) in den Unterricht einbetten • individuelle online quizzes zu den GRs (z.B. mit MReader oder Xreading.com) durchführen • tabellarische Auflistung der gelesenen Bücher • ruhige Lesephasen während der Unterrichtszeit • individuelle Textauswahl in Bezug auf Textlänge, Thema und Genre Die Erfahrungen von LP1 und LP2 unterstreichen die Relevanz der persönlichen Textauswahl für die Lesemotivation. LP2 erfährt dies in der Abschlussbesprechung: „Am Schluss konnten sie eine Aufgabe aus dem Buch vorstellen und auch kurz eine Empfehlung abgeben […] Das war spannend, denn eigentlich fanden alle ihr Buch toll und interessant” (LP2, Pos. 44). Bei LP1 wählten die Schüler*innen im zweiten Aktionszyklus ihr Buch nach Interesse und Lesekompetenz aus. In ihrer Abschlussbefragung fand LP1 heraus, dass bei ihren Schüler*innen die Motivation, weitere Bücher zu lesen, daran geknüpft ist, dass sie mitbestimmen können, welche Bücher gelesen werden. M ILLENER s Studie kann als typisches Beispiel für ein extensive reading training im internationalen Kontext angesehen werden. Die im deutschen Raum durchgeführten Studien setzen den Fokus meist auf eine Kombination aus verschiedenen Aspekten der Leseförderung, wie z.B. die Studie von K IRCHHOFF (2009) zum extensiven Lesen in einer 6. Gymnasialklasse 4 und die von B IEBRICHER (2008), die in drei 9. Realschulklassen ein Treatment zum extensiven Lesen durchführte und belegen konnte, dass extensives Lesen zur Verbesserung der Lesekompetenz und der allgemeinen Sprachkompetenz führte und dass die Lesemotivation der Experimentalgruppen signifikant gesteigert werden konnte im Vergleich mit den Kontrollgruppen (vgl. auch B IE - BRICHER 2016). Eine aktuelle Studie stammt von G ERLACH / L ÜKE (2020), die eine Interventionsstudie zur Förderung der Lesekompetenz, Leseflüssigkeit und Lesemotivation durchgeführt haben und die abschließend die Empfehlung aussprechen, dass mehr Leseinterventionen in den Englischunterricht eingebaut werden sollten. Hierfür können internationalen Studien wie die von M ILLENER hilfreiche Impulse liefern. 3.2 Literarisch-ästhetisches Lesen: Das Robinson-Projekt Am Ende des Schuljahres 2021 liest LP3 in ihrer 5. Klasse Robinson Crusoe als GR. Dies wird hier als Beispiel für ein ästhetisch-literarisch ausgerichtetes Leseprojekt angeführt. Die Klasse besteht aus 17 Schüler*innen, die aufgrund von Covid 19 in 4 Bei K IRCHHOFF wurden reading charts eingesetzt, auf denen notiert wurde, wie oft ein Buch ausgeliehen und gelesen wurde und wie das Buch von den Leser*innen bewertet wird. 102 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 Halbklassen unterrichtet werden. Die Lehrkraft bezeichnet das Englischniveau der Fünftklässler*innen als hoch (A1) und verweist darauf, dass einige Kinder auch zu Hause Englisch sprechen. Die Arbeit am Lehrbuch ist zum Zeitpunkt des Projekts abgeschlossen. Ihre Motivation für das Leseprojekt beschreibt LP3 wie folgt: „Den Schüler*innen das Interesse oder eine erste Motivation zu geben, mit ansatzweise einer klassischen Literatur zu arbeiten oder die Freude daran zu entdecken, das ist meine Motivation gewesen“ (LP3, Pos. 6). Das Projekt erstreckte sich über fünf Wochen. Der Fokus lag auf dem Lesen der Lektüre, dem Sprechen darüber und der Bearbeitung von handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben. Dabei war es LP3 wichtig, dass auch bildnerisch-kreative Aufgaben integriert wurden: • Mind-Map zu keywords (Chapter 1, Penguin Reader) • List of things to take to an island and explanation of choices • Painting of Robinson’s house, labels and written description • Worksheet with vocabulary training and true/ false statements (chapters 1-5, Penguin Reader) • Summary of chapter 8 (Penguin Reader), 5-10 aspects • Modelling a footprint (chapter 6, Penguin Reader) - vgl. Abb. 1 • Dialogue between Robinson and Friday (chapter 5, ELi Reader) - acted out in front of the class • Diary entry of Robinson after his return to England Das Leseprojekt wurde von mir begleitet und beforscht. Neben dem Interview mit LP3 wurde ein Fragebogen von den Schüler*innen (n=17) am Ende des Projekts ausgefüllt und ausgewertet. Von der Mehrzahl der Kinder durfte das Dossier mit den Aufgaben als Datenmaterial verwendet werden. Die Entscheidung, mit Robinson Crusoe zu arbeiten, hat LP3 vor dem Hintergrund der Corona Pandemie gefällt. In der Lockdown-Situation sieht sie eine Parallele zu der Situation von Robinson Crusoe auf der Insel: „Die Schüler*innen haben wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt, wie es ist, einfach zu Hause zu sein, abgeschottet von den Freunden und anderen nahen Personen wie z.B. den Großeltern“ (LP3, Pos. 14). Da an der Schule der inzwischen vergriffene GR aus dem Penguin Verlag aus dem Jahr 2000 vorhanden ist, wählt sie zuerst diesen Text und begründet dies mit dem sprachlich angemessenen Vokabular (600 headwords, Level 2, Elementary) und den kurzen Kapiteln. Diesen Text lesen die Schüler*innen bis Kapitel 8; mit dem Auftreten von Friday setzt LP3 einen zweiten Reader ein, diesmal aus dem ELi Abb 2. : The footprint Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 103 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 Verlag, der vom Niveau ähnlich aufbereitet ist: 600 headwords, Stage 1, Elementary, A1. Bei diesem Text sind die Kapitel wesentlich länger und umfassender; insgesamt sind es 6 Kapitel, die jeweils zwischen 6 und 8 Seiten lang sind, wohingegen der Penguin Reader in 15 Kapitel mit mehreren Unterkapiteln unterteilt ist. Im Anschluss an jedes Kapitel findet sich im Eli Reader eine Doppelseite mit Aufgaben zu Sprache und Inhalt. Der ELi Text (2015) offeriert thematische Vertiefungsangebote zu Daniel Defoe, dem Sklavenhandel und Verfilmungen der Crusoe Thematik. LP3 nimmt den ELi Reader als komplexer wahr und sieht eine Steigerung in der Leseanforderung der Schüler*innen aufgrund der Kapitellänge: „Das war eine eindeutige Steigerung für die Schüler, die sie aber als positiv empfunden haben. Sie hatten bereits einen guten Einstieg und waren daher sehr motiviert“ (LP3, Pos. 16). Die Antworten der Schüler*innen aus dem Fragebogen spiegeln die Einordnung von LP3. 13 Schüler*innen favorisieren den Eli Reader, obwohl sie ihn als schwieriger empfinden. Als Begründungen nennen die Schüler*innen zum einen, dass sie mehr am Stück lesen konnten - „[…], weil es mehr zum Lesen gab“ (FB, S4); für einige war es motivierend, dass der Text eine größere Herausforderung darstellte - „[…], weil die Wörter schwerer wurden” (FB, S9). Vor allem aber waren es inhaltliche Gründe, die von den Schüler*innen als positive Aspekte des E LI Readers benannt wurden, wie „there was more action“ (FB, S14) und, dass jetzt Friday Teil der Geschichte war - „Obwohl es schwieriger war, hat er mir wegen Friday besser gefallen” (FB, S5), Die Frage, ob sie in Zukunft gerne ähnliche Bücher auf Englisch lesen würden, bejahen 14 Schüler*innen, vorwiegend mit dem Argument, dass sie Abenteuergeschichten mögen. Eine Schülerin mochte es zwar, dass der Text in der Vergangenheit spielt, würde aber gerne auch einen modernen Text lesen; ein Schüler möchte lieber einen Krimi lesen und ein anderer Schüler möchte ohne Begründung nicht weiter auf Englisch lesen. Insgesamt ist die Resonanz der Schüler*innen auf das Robinson-Projekt positiv und auch die Lehrperson fühlt sich darin bestärkt, dass man Schüler*innen doch für Klassiker und Bücher begeistern kann: „[…], dass Lesen kein verlorenes Gut ist heutzutage, sondern dass man es den Schülern so anbieten muss, und dass man hinterher durchaus Schüler*innen hat, die sich dem Lesen öffnen“ (LP3, Pos 44). Dabei ist sie sich dessen bewusst, dass die Robinson-Thematik von den Schüler*innen vor allem als Abenteuer- und Überlebensgeschichte wahrgenommen wurde. Tiefergehende Themen wie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel oder die Beziehung zwischen Robinson und Friday wurden in diesem Projekt nur im Ansatz aufgegriffen. 5. Fazit Lektürearbeit in der Sekundarstufe I ist ein Balanceakt zwischen der grundsätzlichen Motivation in der fremden Sprache zu lesen, der Kunst, sprachlich angemessene und inhaltlich interessante Texte für die jeweilige Gruppe oder die einzelnen Schüler*innen zu finden und dem engen zeitlichen Korsett, das vor allem die Arbeit am 104 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 Lehrwerk vorgibt. Auch wenn es nur einzelne Stimmen sind, zeigen die praxisnahen Einblicke in die Arbeit im Klassenzimmer über die drei Lehrpersonen, dass es möglich ist, mit angemessenen Texten bei den Schüler*innen etwas anzustoßen, so dass Lesen in der Fremdsprache als Erfolg erlebt werden kann. Das breite Angebot von englischsprachigen GRs der Verlage, die zwar jeweils ein eigenes System und einen eigenen Wortschatzaufbau verfolgen, offeriert die Möglichkeit, dass über extensives Lesen von Texten auf demselben Level, sprachliche Kompetenzen ausgebaut werden können und so die Forderung von N ATION / W ARING eingelöst werden kann: „[…] quantity of input is important so that the readers meet words, phrases and grammatical features time and time again and build a network of knowledge and relationships between them“ (N ATION / W ARING 2020: 10). Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem Liesel H ERMES für den Einsatz von GRs eingesetzt und deren Potential für verschiedene Gruppen von Lernenden und verschiedene Intentionen des Lesens herausgestrichen. H ERMES betont immer wieder, dass GRs „einen wichtigen Beitrag zu Entwicklung des Leseverstehens und Lesetempos, zur Lernerautonomie und - bei entsprechender Textauswahl - auch zur Freude am fremdsprachlichen Lesen leisten“ (H ERMES 2016: 160). Dies gilt, wie eingangs benannt, in besonderer Weise für die Schüler*innen der Sekundarstufe I, die sich auf einem Kompetenzniveau zwischen A1 und B1 bewegen. Ihnen bieten GRs sprachlich zugängliche und thematisch ansprechende Texte, die von simplified originals bzw. rewrites von Klassikern der englischsprachigen Literatur bis hin zu neu verfassten und an jugendliche Leser*innen gerichtete simple originals reichen. Das Prinzip der Einfachheit in der Kinder- und Jugendliteratur, das auch in diesen Texten zum Tragen kommt, kann bewirken, dass neue Perspektiven eingenommen und die Vielfalt und Qualität von Texten in einfacher Sprache stärker als bisher als barrierefreie Lektüren im Fremdsprachenunterricht wahrgenommen werden. 5 Literatur Primärtexte B LACKER , Terence (2015): Boy2Girl. Stuttgart: Klett. B ROOKS , Kevin (2006): Jonny Delgado: Private Detective. Copenhagen: Teen Readers [ursprünglich Barrington Stoke]. D EFOE , Daniel (2000): Robinson Crusoe: Penguin Readers Level 2. London: Penguin. 5 Damit tut sich auch ein weiter zu erschließendes Forschungsfeld auf: Es braucht mehr empirische Untersuchungen und Forschung zur Arbeit mit Texten in einfacher Sprache bezogen auf die oben angesprochenen Aspekte wie z.B. extensives Lesen, die Lesemotivation etc.. Auch Dokumentationen und Analysen von Leseprojekten mit Klassenlektüren oder als selbstregulierte Lernangebote sind wichtig, um den Effekt, den dies für die Motivation und den Ausbau der sprachlichen Kompetenzen der Schüler*innen hat, aufzuzeigen. N ATION / W ARING (2020: 178-180) haben einen Katalog mit Forschungsfragen zusammengestellt, die spannende Impulse für zukünftige Forschungsarbeiten bieten können. Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfache Sprache 105 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 D EFOE , Daniel (2015): Robinson Crusoe: Young Adult ELI Readers. Loreto, IT: Eli / Stuttgart: Klett Sprachen. H ERRIOT , James (2010): If Only They Could Talk: A2 Easy Readers. Stuttgart: Klett Sprachen. F ITZGERALD , F. Scott ( 2 2008): The Great Gatsby: Penguin Readers Level 5. London: Pearson. L UDLUM , Robert (2010): The Bourne Identity: Pearson English Readers Level 4. London: Pearson. M C G OWAN , Anthony (2019): Lark. Edinburgh: Barrington Stoke. O RWELL , George (2008): 1984: Penguin Readers Level 4. London: Pearson. R AI , Bali (2015): Game on. Edinburgh: Barrington Stoke. S HETTERLY , Margot Lee (2020): Hidden Figures: Helbling Readers Level 5. Esslingen: Helbling. Sekundärtexte B ECKER , Maria (2020): „Leichte Literatur“. Unveröff. Skript zu einer Weiterbildungsveranstaltung am Schweizer Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM). B IEBRICHER , Christine (2008): Lesen in der Fremdsprache: Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tübingen: Narr. B IEBRICHER , Christine (2016): Darstellung der Referenzarbeit: B IEBRICHER , Christine (2008). „Lesen in der Fremdsprache“. In: C ASPARI et al. (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr, 410-14. B URWITZ -M ELZER , Eva / O’S ULLIVAN , Emer (Hrsg.) (2016a): Einfachheit in der Kinder- und Jugendliteratur: ein Gewinn für den Fremdsprachenunterricht. Wien: Praesens. B URWITZ -M ELZER , Eva / O’S ULLIVAN , Emer (2016b): „Einleitung“. In: Dies. (2016a): 7-14. C ASPARI , Daniela / S TEINIGER , Ivo (2016): „Einfachheit in kinder- und jugendliterarischen Texten aus fremdsprachendidaktischer Sicht“. In: B URWITZ -M ELZER / O’S ULLIVAN (2016a): 33-49. C ASPARI , Daniela / K LIPPEL , Friederike / L EGUTKE , Michael K. / S CHRAMM , Karen (Hrsg.) (2016): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr. C ONRADY , Peter (1994): „Bücher sind zum Lesen da - Jugendbücher für Deutsch als Fremdsprache. Darstellung von konstitutiven Elementen und Konsequenzen für Analysen und Auswahl“. In: Zielsprache Deutsch 25.1, 19-24. D AY , Richard / B AMFORD , Julian (1998): Extensive Reading in the Second Language Classroom. Cambridge: Cambridge University Press. G ERLACH , David / L ÜKE , Mareen (2020): „Förderung von Lesekompetenz im Englischunterricht: Ergebnisse einer Interventionsstudie“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 31.2, 159- 182. H ERMES , Liesel (2007): „To read or not to read: A plea for graded readers“. In: K INDERMANN , Wolf (Hrsg.): Transcending Boundaries: Essays in Honor of Gisela Hermann-Brenneke. Berlin: LIT, 105-126. H ERMES , Liesel (2008): „Original und Bearbeitung: Literarische Texte in der Fremdsprachenlehrerausbildung“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37, 68-82. H ERMES , Liesel (2016): „Graded Readers im Fremdsprachenunterricht“. In: B URWITZ -M ELZER / O’S ULLIVAN (2016a): 153-162. H ERMES , Liesel ( 2 2017): „Lektüren“. In: S URKAMP (Hrsg.): 214-215. H ESSE , Mechthild (2009): Teenage Fiction in the Active English Classroom. Stuttgart: Klett. H ILL , David (2008): „Survey Review: Graded Readers in English“. In: English Language Teaching Journal 62.2, 184-204. H ILL , David (2013): „Survey Review. Graded Readers“. In: English Language Teaching Journal 67.1, 85-125. 106 Nikola Mayer DOI 10.24053/ FLuL-2022-0007 51 • Heft 1 K IDD , Mairi (2013): „Mairi Kidd Talks to Bookbag about the Founding of Barrington Stoke“. http: / / www.thebookbag.co.uk/ reviews/ Mairi_Kidd_Talks_To_Bookbag_About_The_Founding _Of_Barrington_Stoke (20/ 10/ 2021). K IRCHHOFF , Petra (2009): „Extensives Lesen in der Unterstufe des Gymnasiums“. In: Forum Sprache 2, 105-120. K RASHEN , Stephen ( 2 2004): The Power of Reading. Insights from the research. Portsmouth: Heinemann. K RINGS , Hans (2016): Fremdsprachenlernen mit System: Das grosse Handbuch der besten Strategien für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis. Hamburg: Buske. K UCKARTZ , Udo (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim und Basel: Beltz. L YPP , Maria (2006): „Einfachheit“. In: K LIEWER , Heinz-Jürgen / P OHL , Inge (Hrsg.): Lexikon Deutschdidaktik. Band 1: A-L. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 93-95. M ILLINER , Brett (2021): „Stories of Avid Extensive Readers in a University-Level EFL Course“. In: Journal of Extensive Reading 8.1, 1-15. N ATION , I. S. Paul / W ARING , Rob (2020): Teaching Extensive Reading in Another Language. New York and London: Routledge. S URKAMP , Carola (Hrsg.) ( 2 2017): Metzlers Lexikon Fremdsprachendidaktik: Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler. 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 B RITTA F REITAG -H ILD * Young Adult Literature und critical literacy - politische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht Abstract. This paper explores the role that Young Adult Literature can play for developing foreign language learners’ critical literacy in secondary schools. Drawing on Paulo F REIRE ’s Critical Pedagogy and approaches in literature and language pedagogy, critical literacy is understood as learners’ competence to critically reflect and question established beliefs, texts, representations and power relationships with the aim of participating in social transformation. The paper argues that critical literacy can be seen as a central goal of literature classes and illustrates how it can be transferred into classroom practice. Several texts are presented to show how learners may be encouraged to critically reflect social, political and environmental issues of global importance, such as climate change, racism, or social justice, thus developing skills they need to become critical agents of change. 1. Einleitung Welche Rolle können Literatur und Literaturunterricht in einer Zeit übernehmen, die von Krisen geschüttelt ist? Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind vielfältig und komplex, sie betreffen nicht nur das Leben vieler Einzelner, sondern die Weltgesellschaft und zukünftige Generationen insgesamt. Neben der Pandemie, die unser Leben nach wie vor prägt, gibt es eine Reihe weiterer globaler Problemlagen: Armut und zunehmende soziale Ungleichheiten, der Zugang zu hochwertiger, inklusiver Bildung und Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Bedarf nach Arbeitsplätzen und sicheren Arbeitsbedingungen, der Zugang zu Trinkwasser und der schonende Umgang mit natürlichen Ressourcen, eine nachhaltige Lebensweise sowie der sich zuspitzende Klimawandel und schließlich Kriege und andere gewaltsame, extremistische und terroristische Auseinandersetzungen, die den Frieden bedrohen und Menschen in unsichere Krisensituationen führen. Um diesen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen, unterzeichneten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Jahr 2015 die Agenda 2030 - ein ambitioniertes Aktionsprogramm, in dem 17 Nachhaltigkeitsziele, die Sustainable Development Goals (SDGs), formuliert wurden, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen. Hochwertige, inklusive Bildung erhält hier eine * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Britta F REITAG -H ILD , Universität Potsdam, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Am Neuen Palais 10, 14469 P OTSDAM . E-Mail: freitagh@uni-potsdam.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Kulturdidaktik, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Generisches Lernen. 108 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 zentrale Rolle, um Individuen und Gemeinschaften zu verantwortungsvollem Handeln als Weltbürger*innen in der Weltgesellschaft zu befähigen und um ihnen zu ermöglichen, als critical agents of change den sozialen Wandel mitzugestalten (vgl. UN 2015). Auch in der Fremdsprachendidaktik wird derzeit darüber nachgedacht, welchen Beitrag der Fremdsprachenunterricht für die Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Herausforderungen leisten kann (vgl. z.B. die Beiträge in B URWITZ - M ELZER / R IEMER / S CHMELZER 2021). Der vorliegende Beitrag nimmt insbesondere die Literatur bzw. den fremdsprachlichen Literaturunterricht in den Blick. Die grundlegende Annahme lautet, dass Werke der Young Adult Literature aufgrund ihrer Thematik und ihrer literarischen Gestaltung besonders dazu geeignet sind, die Auseinandersetzung von Lernenden in der Sekundarstufe I mit diesen Problemlagen anzuregen. Unter Rückgriff auf Paulo F REIRE (1970) als Vertreter der Critical Pedagogy wird critical literacy verstanden als eine Kompetenz, Repräsentationen, Texte, Machtstrukturen etc. kritisch zu hinterfragen und im Sinne einer transformatorischen Pädagogik auch zu verändern. Aktuelle Kinder- und Jugendliteratur lädt nicht nur mit ihren jugendlichen Protagonist*innen Leser*innen zur Identifikation ein, sondern verhandelt darüber hinaus auch moralische und ethische Fragen der Gegenwart und entwirft literarische Szenarien, in denen junge Menschen gegen Missstände und Restriktionen aufbegehren, in denen sie gesellschaftliche Veränderungen anstoßen und in diesem Sinne zu agents of change werden. Der vorliegende Text erörtert daher die Frage, welchen Beitrag Werke der englischsprachigen Young Adult Literature - insbesondere solche mit Themen wie social justice und Nachhaltigkeit - für die Entwicklung einer critical literacy spielen können und wie die Auseinandersetzung mit diesen Werken im Fremdsprachenunterricht zur politischen Bildung beitragen kann. 2. Literaturunterricht als transformative Bildung: Themen für die Fridays for Future-Generation Während sich die fremdsprachliche Literaturdidaktik in den letzten Jahren intensiv mit der Frage nach dem Beitrag des fremdsprachlichen Literaturunterrichts zum literarischen Kompetenzerwerb auseinandergesetzt hat (vgl. z.B. H ALLET / S URKAMP / K RÄMER 2015), steht hier die Frage nach der Förderung einer Reflexionsfähigkeit durch die Auseinandersetzung mit kritischen und ernsten Themen im Literaturunterricht im Mittelpunkt. Dabei bezieht sich der Begriff der Reflexion auf das Nachdenken und die Beurteilung der im Text dargestellten Denk- und Verhaltensweisen, auf die kritische Reflexion der Wertvorstellungen literarischer Figuren und ihrer (literarischen) Lebenswelt, aber auch auf die bewusste Wahrnehmung, wie der Leseprozess durch den Text, z.B. durch die Erzählperspektive oder andere Verfahren der Sympathielenkung, gesteuert wird. Aus literaturdidaktischer Sicht kommt der Ausbildung einer solchen kritischen, distanzierten Lesehaltung neben dem einfühlenden, empathischen Lesen besondere Bedeutung zu: H ALLET (2009: 83) zufolge kommt die bil- Young Adult Literature und critical literacy 109 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 dende Funktion des Literaturunterrichts vor allem durch die Förderung solcher reflexiven Fähigkeiten zum Tragen, „denn in der Reflexion thematisieren sich Leser/ innen als agents, also als kulturelle Akteurinnen und Akteure und als Individuen, die sich denkend, ethisch wertend und handelnd in ein Verhältnis zur Welt setzen.“ Ein solches Verständnis von Lernenden als critical agents, die sich aktiv und handelnd in die Gestaltung der Welt einbringen, passt zum Selbstverständnis der „Generation Greta“ (H URRELMANN / A LBRECHT 2020), die sich in den letzten Jahren z.B. in der Fridays for Future-Bewegung zunehmend politisch zu Wort meldet. Es erscheint daher nur folgerichtig, wenn auch der Fremdsprachenunterricht und der fremdsprachliche Literaturunterricht die Fragen stellen und die Themen behandeln, die viele junge Menschen bewegen und die sie mitgestalten wollen. Dazu gehören zuvorderst die drängenden Fragen nach der Zukunft unseres Planeten und unserer Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen. Aber auch andere, oftmals existenzielle soziale und politische Fragen und Themen wie z.B. Ausgrenzung und Unterdrückung, Rassismus oder soziale Ungleichheit können und sollten in den fremdsprachlichen Literaturunterricht integriert werden, um Lernende als kulturelle Akteurinnen und Akteure in gesellschaftliche Prozesse zu involvieren und ihre Fähigkeiten als critical agents of change auszubilden. Zugleich sind dies Themen, die zentral in Texten der Young Adult Literature verhandelt werden. Wenn Lernende in gesellschaftlichen Transformationsprozessen eine aktive Rolle einnehmen wollen und sollen, benötigen sie entsprechende Kompetenzen, Einstellungen und Fähigkeiten. Dazu kann Bildung insgesamt, aber auch der fremdsprachliche Literaturunterricht, einen wesentlichen Beitrag leisten: Literarische Texte lösen Irritationen aus und fordern Lernende heraus, weil sie ethische und moralische Fragen verhandeln. Damit regen sie Lernende zur gemeinsamen Reflexion von Themen an, die den Einzelnen wie auch die Gesellschaft als Ganzes betreffen, ermutigen zur Stellungnahme und zum Handeln. So lässt sich Literaturunterricht im Sinne transformativer Bildung verstehen, der eine Veränderung individueller Bedeutungsperspektiven ebenso wie gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen vermag (vgl. WBGU 2011; S INGER -B RODOWSKI 2016). Damit fördert die Auseinandersetzung mit Literatur im Fremdsprachenunterricht diejenigen Fähigkeiten, die zur Veränderung und Mitgestaltung von Gesellschaft benötigt werden und die sich im Folgenden unter Rückgriff auf das Konzept der critical literacy näher bestimmen lassen. 3. Critical literacy als Lernziel für den Literaturunterricht Das Konzept der critical literacy geht zurück auf Ansätze der Critical Pedagogy, die mit F REIRES (1970) Pedagogy of the Oppressed verbunden ist. Es beruht auf der Grundannahme, dass unsere Welt sozial konstruiert ist und Sprache das zentrale Medium ist, über das wir uns die Welt erschließen, sie zugleich aber auch verändern können - „reading the word“ wird hier mit der Idee „reading the world“ verknüpft (vgl. F REIRE / M ACEDO 1987). Nach F REIRE ermöglicht Sprache nicht nur Dialog und 110 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 erfüllt damit eine kommunikative Funktion, sondern beinhaltet auch reflexive (reflection) und performative Dimensionen (action): Das ‚Erlesen‘ der Welt, die Beschreibung oder Bezeichnung der Umgebung mit eigenen Worten, versteht er als dialogischen und zugleich emanzipatorischen Akt der Lernenden im Sinne von Empowerment, mit dem sie selbst als Akteure mit ihrer eigenen Stimme die Welt verändern und auf diese Weise zur ‚Humanisierung‘ derselben beitragen: „If it is in speaking their word that people, by naming the world, transform it, dialogue imposes itself as the way by which they achieve significance as human beings“ (F REIRE 1970: 68). Das Konzept der critical literacy als Zielsetzung der Critical Pedagogy wurde in diverse Bildungskontexte übertragen und hat auch in der Fremdsprachenforschung (vgl. G UILHERME 2002; A KBARI 2008; L UKE 2012; sowie die Beiträge in G ERLACH 2020) und Literaturdidaktik Aufmerksamkeit erfahren (vgl. z.B. M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004a; M ATZ 2020). Hier wird critical literacy oft im Zusammenhang mit der reader response theory betrachtet und verstanden als eine kritische Perspektive, ein kritischer Akt des Lesens, bei dem Leserinnen und Leser über die Informationsentnahme (efferent reading) sowie über das ästhetische und einfühlende Lesen (aesthetic reading) hinaus gehen und einen distanzierten Blick auf den Text einnehmen, um seine Bedeutung zu reflektieren, um zu verstehen, welche Sicht er auf die Gesellschaft und lebensweltliche Diskurse einnimmt, und auch um das eigene Leseerlebnis und die Lenkung durch den Text kritisch zu betrachten. In der Rolle des kritischen Lesers geht es darum, einerseits Denk- und Verhaltensweisen der literarischen Figuren zu beurteilen und andererseits zu reflektieren, wie ein Text gestaltet ist, welche individuellen oder gesellschaftlichen Stimmen er aufgreift oder ausblendet, wie er die Leserinnen und Leser in ihrer Sinngebung lenkt und welche Funktion einem Text z.B. innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses zukommt. Aus Sicht der Critical Pedagogy zielt critical literacy aber nicht nur auf ein tiefergehendes, kritisches Textverständnis, sondern erfüllt zugleich eine gesellschaftliche bzw. politische Funktion: „Reading the word and the world“ (F REIRE / M ACEDO 1987) beziehen sich nämlich nicht nur auf literarische Texte, sondern generell auf die kritische Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen in der Gesellschaft, die sich in sprachlichen und literarischen, aber auch anderen Formen bzw. Modi der Repräsentation manifestieren können. Das Lernziel der critical literacy beruht auf einem weiten Textverständnis, das sich nicht nur auf Texte im engeren Sinne, sondern ganz allgemein auf die Wahrnehmung und kritische Reflexion gesellschaftlicher (Macht-) Verhältnisse, der Zusammenhänge zwischen Sprache und Macht sowie der Bedingungen des Zusammenlebens und der Gestaltung von Beziehungen innerhalb der Gesellschaft beziehen kann: Reading from a critical stance requires both the ability and the deliberate inclination to think critically about - to analyze and evaluate - information sources (e.g. texts, media, lyrics, hypertext), meaningfully question their origin and purpose; and take action by representing alternative perspectives. The goal is for readers to become text critics in everyday life - to comprehend information sources from a critical stance as naturally as they comprehend from the aesthetic and efferent stances. (M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004b: 53f.) Young Adult Literature und critical literacy 111 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 Die Zielsetzung, als „text critics in everyday life“ (ebd.) einen kritischen Blick auf Lebenswelt und Gesellschaft zu werfen, wird verbunden mit taking action: Es geht also nicht ausschließlich um kritische Reflexion, um Bewusstmachung und Beurteilung von Texten, Situationen, gesellschaftlichen Bedingungen und Machtverhältnissen, sondern auch um Handeln, um eine Reaktion der Lernenden auf den Text oder den betrachteten Sachverhalt, um das Einbringen einer alternativen Sicht, Perspektive oder Interpretation durch die Lernenden selbst. Das Wissen darüber, wie Sprache Bedeutung produziert und wie Sprache und Macht miteinander verbunden sind, ermöglicht es Lernenden, dieses Wissen für ihr eigenes Handeln zu nutzen, etablierte Bedeutungen oder Sprachverwendungen zu hinterfragen, umzudeuten und auf diese Weise zur Veränderung beizutragen. Wenn Lernende lernen, Sprache oder gesellschaftliche Diskurse kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen oder herauszufordern, sie umzudeuten oder alternative Repräsentationen zu produzieren, kann auch der fremdsprachliche Literaturunterricht einen wichtigen Beitrag zu ihrer Partizipationsfähigkeit und zur Teilhabe an gesellschaftlicher Transformation leisten. Die Ausbildung von critical literacy wird nicht nur von Vertretern der Critical Pedagogy, sondern auch in der Literaturdidaktik mit dem Anspruch verbunden, gesellschaftliche Veränderungen im Sinne von social justice anzustoßen und aktive Teilhabe der Lernenden an Transformationsprozessen, z.B. in Form von social activism, zu ermöglichen (vgl. S TOVER / B ACH 2012). Diese Form der Politisierung von Literaturunterricht darf allerdings weder zur Überwältigung der Lernenden oder zur Instrumentalisierung für politische Zwecke noch zur Engführung bei der Auseinandersetzung mit einem literarischen Text führen: Weder die Lesart eines Textes noch die Urteile und Reaktionen der Lernenden auf den Text dürfen von der Lehrkraft auf eine bestimmte Perspektive hin eingeengt oder vorweggenommen werden. Vielmehr muss es darum gehen, die Vielfalt möglicher Interpretationen und Perspektiven auszuloten und Lernende auf dieser Grundlage zu eigenständigen Urteilen zu ermutigen. In Anlehnung an J UCHLERS (2015: 9) narrativen Ansatz einer hermeneutischen Politikdidaktik lässt sich Literatur so einsetzen, um Lernenden „einen verstehenden Zugang zum Politischen zu ermöglichen und sie auf dieser Grundlage zur politischen Urteilsbildung zu befähigen.“ Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Ziel, Lernende der Sekundarstufe I zu critical readers auszubilden, einen hohen Anspruch darstellt. Jedoch lassen sich dafür in der Literaturdidaktik etablierte Verfahren identifizieren, die im Folgenden skizziert werden. 4. Literaturdidaktische Zugänge zur Förderung von critical literacy Die Förderung von critical literacy ist nicht beschränkt auf einzelne Disziplinen, sondern muss als allgemeines Bildungsziel betrachtet werden. Zugleich ist die Frage berechtigt, welche fachspezifischen Inhalte, hier aus der Sicht des fremdsprachlichen Literaturunterrichts, sich eignen, um den kritischen Blick der Lernenden auf Texte, aber auch auf gesellschaftliche Strukturen und Bedingungen zu fördern. Das bildungs- 112 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 relevante Potenzial literarischer Texte für die Entwicklung reflexiver Fähigkeiten, von kulturellem Verstehen sowie von Empathie- und Urteilsfähigkeit steht dabei außer Frage (vgl. B REDELLA 2012). Diese Fähigkeiten sind wichtige Teilkompetenzen und Voraussetzungen für die kulturelle Handlungsfähigkeit der Lernenden und für ihre Partizipation und Mitgestaltung kultureller und gesellschaftlicher Prozesse. Zugleich wird in der Diskussion über kompetenzorientierten Unterricht auch hervorgehoben, dass sich die zu erwerbenden Kompetenzen stets nur im Tun, im Handeln in einer konkreten Anforderungssituation entwickeln lassen. Insofern ist der Prozess des Verstehens und der Reflexion, der bei der Rezeption literarischer Texte im Unterricht zunächst im Vordergrund steht, zu verbinden mit Möglichkeiten für die Lernenden zum Handeln, zur Partizipation und Mitgestaltung. Hier bietet das Konzept der critical literacy Ansatzpunkte, weil nach F REIRE - wie oben gesehen - Reflexion (reflection) mit Aktion (action), mit Partizipation und Mitgestaltung auch im Sinne der Transformation (transformation) von Gesellschaft verbunden wird. Im Folgenden gilt es daher zu erörtern, welche Aspekte bzw. Dimensionen im Literaturunterricht für die Förderung von critical literacy besonders zu berücksichtigen sind. Nach J ANKS (2014: 17) beginnt die Fähigkeit, Texte kritisch zu lesen, mit der Erkenntnis, dass es sich bei Texten nicht um neutrale Abbilder der Wirklichkeit, sondern um „partial re-presentations of the world“ handelt. Bei der Produktion einer Äußerung oder eines Textes müssen Sprecher*innen oder Autor*innen auswählen, welche Worte, welche sprachlich-diskursiven Strukturen ihre kommunikative Absicht angemessen ausdrücken können. Damit gibt die Art der Sprachverwendung, die Wahl einer bestimmten sprachlichen (oder anderen semiotischen) Form zugleich Hinweise auf die subjektive Positionierung der Sprecher*innen, die im Sprach- und Literaturunterricht reflektiert und analysiert werden kann: „In the process of re-presenting the world, text-makers have to make many choices. […] Every choice foregrounds what was selected and hides, silences or backgrounds what was not selected. Focusing on the selections gives us an opportunity to notice them and to think about their effects“ (ebd.: 17f.). Ziel bei der Entwicklung der Fähigkeit zum kritischen Lesen muss es daher sein, solche discursive choices bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren bzw. zu verstehen, auf welche Weise Wortwahl bzw. Sprachverwendung mit besonderen Interessen oder politischer Macht verbunden sein können. Nicht alle Entscheidungen bei der Formulierung einer sprachlichen Äußerung werden bewusst getroffen; dennoch kommt es für die Entwicklung von critical literacy darauf an, kritische Fragen zu stellen und mit Lernenden gemeinsam darüber nachzudenken, inwiefern eine bestimmte Wortwahl, Erzählperspektive oder die argumentative Darstellung eines Sachverhalts eine Positionierung beinhaltet: We need to ask critical questions: Who benefits and who is disadvantaged by the position on offer? Who does it include? Who does it exclude? How has the situation or the person or the action been construed? Are there other possible ways of interpreting what took place? What are the possible social consequences of this view of the world? In effect these are all just versions of the key question for critical literacy: Whose interests are served? (ebd.: 15) Young Adult Literature und critical literacy 113 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 Um im Literaturunterricht also neben Lesemotivation, Leseverstehen und Empathie auch das kritische Lesen zu fördern, müssen reflexive Fähigkeiten geschult werden. Der kritische Blick auf Fragen wie z.B., welche Erfahrungen und Sichtweisen in einem Text Gehör finden, ausgeblendet oder als weniger glaubhaft dargestellt werden, lassen sich (teilweise sprachlich vereinfacht) auch mit Lernenden der Sekundarstufe I reflektieren. M C L AUGHLIN / D E V OOGD (vgl. 2004a: 17f.) verweisen dabei auf vier Dimensionen zur Förderung von critical literacy, die für die Gestaltung des Literaturunterrichts Anwendung finden können - sie geben sowohl eine Orientierung bei der Textauswahl als auch Hinweise auf geeignete literaturdidaktische Zugänge, die der jeweiligen Altersstufe und dem fremdsprachlichen Können der Lernenden in der Sekundarstufe I angepasst werden müssen: 1) Irritationen auslösen: Critical literacy zielt darauf, etablierte oder für selbstverständlich gehaltene Denk- und Sichtweisen zu hinterfragen (vgl. ebd.: 17). Dafür eignen sich Texte, die selbst ungewohnte oder für die Lernenden fremde Perspektiven präsentieren bzw. inszenieren und dadurch gewohnte Sichtweisen aufbrechen. Um etablierte Denk- und Sichtweisen aufzubrechen, kann es hilfreich sein, solche Irritationen einerseits als Denkanstöße und als Motivation für das Leseerlebnis und den kommunikativen Austausch zu nutzen; andererseits darf die Irritation nicht dazu führen, dass das Leseerlebnis vorzeitig abgebrochen wird, weil die Lernenden keinen Zugang zum Text finden. Hierfür sind entsprechende Unterstützungsangebote von Seiten der Lehrkraft sinnvoll, die von den Besonderheiten des Textes ausgehen sollten. Darüber hinaus kann auch die kritische Analyse eines literarischen Textes - z.B. mit Blick auf die Erzählperspektive, repräsentierte Figurenperspektiven, ausgeblendete Stimmen oder Sichtweisen - dazu beitragen, für selbstverständlich gehaltene Denkweisen oder gewohnte Interpretationen zu hinterfragen. 2) Multiperspektivität erfahrbar machen: Das Aufbrechen gewohnter, typischer oder etablierter Sichtweisen lässt sich durch die Erfahrung von Multiperspektivität unterstützen (vgl. M C L AUGHLIN / D E V OOGD 2004a: 17); diese kann entweder durch die Reflexion und Differenzierung der verschiedenen (Figuren-)Perspektiven innerhalb eines Textes oder aber durch Perspektivenwechsel gefördert werden, wenn z.B. eine Situation oder Erfahrung aus dem Text aus einer nicht repräsentierten Figurenperspektive geschildert wird. Entsprechende Aufgaben sollten anregen, ein Erlebnis aus der Sicht einer Figur zu schildern, die im Text selbst z.B. nur Beobachter ist oder in die Leser*innen keinen Einblick erhalten. M C L AUGHLIN / D E V OOGD (2004a) schlagen außerdem die Transformation einer Erzählung in eine andere Zeit, ein anderes Setting und die Veränderung der Erzählperspektive oder der Protagonisten vor, die mit sprachlichem Scaffolding auch für Lernende der Sekundarstufe I umsetzbar sind (Veränderung von gender, race, ethnicity, class, age, etc.). 3) Soziopolitische Fragen reflektieren: Critical literacy zielt darauf, gesellschaftliche Machtkonstellationen zu hinterfragen, so dass bei der Literaturbetrachtung besonderer Wert auf die Analyse und Reflexion von Fragen gesellschaftlicher bzw. politischer Macht und Machtkonstellationen zwischen einzelnen Figuren und zwischen bzw. innerhalb gesellschaftlicher Gruppen gelegt wird (vgl. ebd.: 18). Auf diese 114 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 Weise können Lernende u.a. einen verstehenden Zugang zu den in literarischen Texten inszenierten Machtunterschieden gewinnen, repräsentierte und inszenierte Denk- und Verhaltensweisen genauer untersuchen und reflektieren. Dieser Fokus bietet sich insbesondere für Literatur an, in der ohnehin aktuelle gesellschaftliche Themen und soziopolitische Fragestellungen verhandelt werden (vgl. Abschnitt 5). Welche Themen sich für die jeweiligen Altersstufen der Sekundarstufe I eignen, sollte vom vorhandenen Weltwissen der Lernenden abhängig gemacht werden, das für ein angemessenes Textverständnis erforderlich ist. 4) Partizipation und soziales Engagement fördern: Da die Förderung von critical literacy nicht nur auf Reflexion zielt, sondern auch auf die Übernahme von Verantwortung und die Befähigung zu Teilhabe (vgl. ebd.), sollte das Lesen von Literatur auch verbunden werden mit dem Nachdenken darüber, was sich konkret in der eigenen Umgebung und in der Gesellschaft verändern muss, um gegen Ungleichheit in der Gesellschaft oder Weltgesellschaft anzugehen (z.B. in Bezug auf die Verteilung von Wohlstand und Reichtum, Zugang zu Bildung, das Zugeständnis politischer Rechte und gesellschaftliche Teilhabe) und um Gesellschaft inklusiver zu machen. Diese Dimension beinhaltet die Forderung, dass Literatur in Beziehung zur Lebenswelt der Lernenden gesetzt werden muss und mit ihnen gemeinsam Möglichkeiten zur Partizipation ausgelotet werden. Diese können u.a. im Erstellen eines politischen Schreibens, in der Entwicklung eines Unterstützungsangebots für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, in der Umsetzung einer Ausstellung zu einem für relevant erachteten Thema bestehen, auf das die Literatur ihre Aufmerksamkeit gelenkt hat. Auch in unteren Jahrgangsstufen lassen sich z.B. Ideen oder Handlungsempfehlungen für eine inklusive oder nachhaltige Schul- oder Klassengemeinschaft in der Fremdsprache formulieren. Die vier Dimensionen von critical literacy sind dabei alle gleichermaßen relevant für den Unterricht, und sie sind auch unabhängig voneinander im Unterricht oder für die Auswahl geeigneter Texte und Aufgaben einsetzbar. Welche Texte sich nun zur Ausbildung von critical literacy eignen und welche Zugangsweisen sich dafür anbieten, lässt sich im Folgenden exemplarisch anhand von Beispieltexten skizzieren; dafür wurden insbesondere Texte ausgewählt, die mit social justice, racism und climate change besonders aktuelle Themen verhandeln. 5. Young Adult Literature und die Förderung von critical literacy Die Themen, Genres und Ausprägungen der Young Adult Literature bieten vielfältige Möglichkeiten für den fremdsprachlichen Literaturunterricht, um junge Menschen zur Auseinandersetzung mit aktuellen, relevanten und für sie bedeutsamen Themen und Problemlagen heutiger und zukünftiger Gesellschaften zu motivieren. Wenngleich sich diese Werke keineswegs als ein einheitliches Genre präsentieren, so zeichnen sie sich zusammen betrachtet dadurch aus, dass ihre jugendlichen Protagonist*innen Situationen, Konflikte und Herausforderungen erleben, die andere Jugendliche in ähn- Young Adult Literature und critical literacy 115 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 licher Weise erfahren oder mit denen sie in ähnlicher Weise konfrontiert werden könnten (vgl. H AYN / K APLAN 2012: 1). Je nach Genre, ob es sich z.B. um einen realistischen Jugendroman, eine Dystopie oder Fantasy-Geschichte handelt, verändern sich das Setting, die Beziehungen der Protagonist*innen und ihre Konflikte sowie ihre Handlungsspielräume. Die im Folgenden vorgestellten Texte behandeln soziale und politische Themen wie z.B. Rassismus und die Bedrohung der Tierwelt und unseres Planeten durch den Menschen sowie den menschengemachten Klimawandel. Einige Texte lassen sich dem Bereich der realistischen Young Adult Fiction zuordnen und ermöglichen eine kritische Sicht auf unsere heutige Gesellschaft; andere entwerfen dystopische Zukunftsvisionen, die aber zugleich den Blick auf aktuelle Problemlagen lenken und die Frage aufwerfen, was zu tun ist, um derartige Szenarien zu verhindern. Für alle Texte gilt, dass sie - jeweils mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - geeignet sind, um die vier Dimensionen von critical literacy im Literaturunterricht der Sekundarstufe I zu fördern und auf diese Weise Fähigkeiten der Lernenden auszubilden, um als critical agents of change einen aktiven Beitrag zur Gestaltung einer inklusiven und nachhaltigen Gesellschaft leisten zu können. Der realistische Jugendroman The Hate U Give von Angie T HOMAS (2017) erzählt aus Sicht der jugendlichen Starr Carter die Ereignisse nach dem Tod ihres Freundes Khalil, der während einer Polizeikontrolle von einem ,weißen‘ Polizisten erschossen wird. Leserinnen und Leser erleben aus der Innenperspektive und in zahlreichen dialogischen Passagen, wie Starr versucht, mit ihrer Rolle als Zeugin der erlebten Ungerechtigkeit, dem alltäglichen Rassismus gegenüber Afroamerikaner*innen in der amerikanischen Gesellschaft umzugehen und in der eigenen Familie, gegenüber Freunden, den Medien und der Polizei eine Stimme zu finden. Starr ist die Einzige, die Khalils Unschuld bezeugen kann, ihre Eltern versuchen sie jedoch zu schützen, und so muss Starr zunächst für sich selbst klären, welche Rolle sie einnehmen will. Bis Starr schließlich die bewusste Entscheidung trifft, dass sie ihre Stimme auch in öffentlichen Protesten für Khalil (und damit auch für andere Opfer von Polizeigewalt und institutionellem Rassismus) einsetzt, erlebt sie zunächst eine ganze Reihe von Situationen, in denen sie selbst oder ihre Familie den offenen und latenten Rassismus zu spüren bekommen: die unbewussten, verletzenden Äußerungen ihrer Freundin; die Befragung Starrs auf der Polizeiwache, die eher den Schusswaffengebrauch des Polizisten zu rechtfertigen versucht als die Unschuld Khalils zu beweisen; der brutale und erniedrigende Umgang mit Starrs Vater Maverick durch eine Polizeistreife. Die Identifikation mit Starr wird jugendlichen Leserinnen und Lesern ab Klasse 9/ 10 insofern erleichtert, als sie nicht nur als Ich-Erzählerin der Geschichte fungiert, sondern auch mit altersspezifischen Themen und Problemen eines Teenagers - Freundschaft, Liebe, Unabhängigkeit - beschäftigt ist. Zugleich inszeniert der Roman Starrs coming of age und ihre Identitätsfindung als einen Weg des finding your voice und der bewussten Entscheidung für social activism. Wenngleich der Roman u.a. auf problematische Narrative von black on black crime zurückgreift, insofern Khalil und andere Schwarze aus Starrs Umgebung in kriminelle Machenschaften und Drogen- 116 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 geschäfte verwickelt sind, ermöglicht der Jugendroman doch die Auseinandersetzung mit soziopolitischen Fragestellungen als einer wichtigen Dimension von critical literacy: Indem die Lernenden den Alltag Starrs erleben, macht der Roman die komplexen Zusammenhänge und Dimensionen unterschiedlicher Formen von Rassismus (offen vs. latent, individuell vs. institutionell) und der erwiesenen Benachteiligung von People of Color in der Gesellschaft auf einer individuellen Ebene greifbar. Zugleich können Aufgaben dazu anregen, Äußerungen und Verhaltensweisen mit Blick auf latent rassistische Denkweisen zu analysieren und zu hinterfragen sowie über Möglichkeiten des Umgangs mit solchen Situationen nachzudenken (vgl. F REITAG -H ILD 2021). In diesem Sinne eignet sich der Roman in vielfältiger Weise, Lernende zu einem kritischen Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zu befähigen und ihre eigene Rolle als change agents zu reflektieren. Allerdings ist mit Blick auf den Romanumfang, das notwendige Kontextwissen zur African-American history und der Thematik eine Auseinandersetzung mit dem Roman als Ganzes erst ab Klasse 10 zu empfehlen. Die Buchreihe Seekers des Autorenteams mit dem Pseudonym Erin H UNTER lässt sich der environmentalist fiction zuordnen und widmet sich den Geschichten von drei jungen Bären, die in der Wildnis Nordamerikas unterwegs sind, Abenteuer überstehen und dabei lernen müssen zu überleben. Der erste Band, The Quest Begins (H UNTER 2009), erzählt abwechselnd von der Eisbärin Kallik, der Schwarzbärin Lusa und dem Grizzlybären Toklo: Der Lebensraum von Kalliks Familie, die zunächst mit Bruder und Mutter auf dem Eis lebt, gerät durch die zunehmende Wärme und die heißen Sommermonate in Gefahr. Das Eis schmilzt schneller als gewöhnlich und macht es unmöglich, sich ausreichend mit Nahrung zu versorgen, bevor die Bären den Sommer an Land verbringen müssen. Das schmelzende Eis wird zur Bedrohung für die Bärenfamilie, und der Versuch, von einer Eisscholle zur nächsten zu schwimmen, endet schließlich tödlich für Kalliks Mutter, die von Orkas angegriffen wird, und trennt Bruder und Schwester, so dass Kallik alleine weiterziehen muss. Die Schwarzbärin Lusa hingegen wächst von Tierpflegern umsorgt im Zoo auf und träumt vom Leben in der Wildnis. Sie reißt aus, um Toklo, den Sohn einer sterbenden Grizzlybärin, in den Wäldern Nordamerikas zu finden und diesem eine Nachricht seiner Mutter zu überbringen. Die Geschichten werden in der personalen Erzählsituation aus der Perspektive der drei Bärenkinder erzählt, so dass die Leserinnen und Leser deren fiktionalisierte Wahrnehmung der Ereignisse aus der Innensicht miterleben. Die heiße Sonne wird in der Wahrnehmung der Bären zum ‚Feuerhimmel‘ (burn-sky), die Besucher im Zoo zu ‚Flachgesichtern‘ (flat-faces) und Autos zu ‚Feuerbiestern‘ (firebeasts). Der Klimawandel und auch der Eingriff des Menschen in die Natur (z.B. durch den Bau von Schnellstraßen und Eisenbahnlinien) wird für die Bären zunehmend zum Problem, weil so ihr natürlicher Lebensraum und ihre Jagdgebiete zerstört werden. So werden sie entweder vom Menschen abhängig wie Toklos Mutter oder von ihnen gejagt und eingefangen, wenn sie sich zu nah an Menschensiedlungen heranwagen wie Kallik. Der inszenierte Perspektivenwechsel führt jugendlichen Leserinnen und Lesern Young Adult Literature und critical literacy 117 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 anschaulich vor Augen, wie Klimawandel und die Zerstörung des Lebensraums der Tiere das Schicksal der Bärenkinder beeinflussen und regt zur Reflexion über die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels an. Dabei wird das bedeutsame Thema verbunden mit spannenden und sprachlich leicht zugänglichen Geschichten, die die Themen bereits in den unteren Jahrgangsstufen der Sekundarstufe (Klasse 7/ 8) erschließen und die in der gesamten Lerngruppe auch auszugsweise oder alternativ als individuelle Lektüre gelesen werden können. Wenngleich davon ausgegangen werden kann, dass die jungen Leserinnen und Leser der Mittelstufe bereits mit dem Thema Klimawandel vertraut sind, bietet es sich an, zur weiteren Förderung von critical literacy die Lektüre eines Kinderromans wie Seekers zu verbinden mit der Erarbeitung oder individuellen Lektüre von Sachbüchern oder einer Recherche zu dem Thema. Ausgehend von den erzählten Erlebnissen der Bärenkinder und ihrer Schicksale können Rechercheaufträge zur Lebensweise bzw. zu den Lebensumständen von Bären ein Verständnis der Problematik fördern. Damit sollten die Geschichten nicht einfach als Sprungbrett für die Auseinandersetzung mit einem Sachthema verstanden werden. Vielmehr kann die Lektüre im Sinne eines ecocritical reading - also mit einem besonderen Blick auf die dargestellten Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt - dazu genutzt werden, um mithilfe der (fiktionalisierten) Erzählungen über Auswirkungen des Klimawandels auf Mensch und Umwelt ins Gespräch zu kommen. Die Verbindung von environmentalist und climate fiction lässt sich auch bereits in der Unterstufe (Klasse 5/ 6) mit dem Bilderbuch Greta and the Giants von Zoë T UCKER (2019) in den Englischunterricht integrieren. Die illustrierte Geschichte von Greta mit märchenhaften Elementen (sprechende Tiere, Riesen) ist inspiriert von der Fridays for Future Bewegung und von Greta Thunbergs Geschichte, die in einem Nachwort auch an die Leserinnen und Leser rekapituliert und mit einem call to action verknüpft wird: Das Mädchen Greta wird hier von den Tieren des Waldes zu Hilfe gerufen, weil Riesen rücksichtslos deren Lebensraum zerstören, um Häuser und Städte zu bauen. Gretas Idee für einen Protest, der wie Greta Thunbergs Skolstrejk För Klimatet mit einem einfachen Plakat beginnt, andere zum Mitmachen bewegt und am Ende in eine mitreißende Bewegung mündet, bringt die Riesen schließlich zum Umdenken, und so führt das Happy End der Geschichte zur Erkenntnis, dass sich das Erheben der eigenen Stimme und gemeinsames Handeln in Form von social activism lohnt, um für eine bessere und nachhaltige Zukunft zu kämpfen. Hier kann die von F REIRE eingeforderte Verbindung von reflection und action für die Entwicklung von critical literacy greifen, wenn Gretas Geschichte als Redeanlass genutzt wird, um über die Problematik des Klimawandels und des Umgangs des Menschen mit natürlichen Ressourcen zu sprechen und der Austausch dazu motiviert, über die eigene Rolle nachzudenken, welchen konkreten Beitrag die Lernenden ggf. selbst mit ihrem Engagement oder ihrer Stimme für Umwelt- und Klimaschutz leisten wollen. Einen ganz anderen Zugang zu dem Thema wählt Saci L LOYD (2008) mit ihrem dystopischen Roman The Carbon Diaries 2015. Das Leben in London, wo Laura Brown mit ihrer Familie lebt, ähnelt dem heutigen in weiten Teilen. Jedoch hat ein 118 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 großer Sturm große Teile Englands zerstört bzw. verwüstet und die englische Regierung hat zum Jahresbeginn als erster Staat innerhalb der EU - der Brexit spielt hier noch keine Rolle - ein carbon rationing system eingeführt, um die Bevölkerung zum Einsparen von CO2 zu bewegen und damit den Klimawandel aufzuhalten oder zumindest zu bremsen. Das System wird - wie die (fiktionalen) Zeitungsausschnitte in Lauras Tagebucheinträgen deutlich machen - von Politiker*innen als großer Durchbruch bejubelt und Europa und auch die USA (repräsentiert in der Stimme von Lauras Cousine, die in E-Mails und Textnachrichten zu Wort kommt) blicken mit einer Mischung aus Anerkennung und Ungläubigkeit auf die Entwicklungen, die die CO2- Einschränkungen für den Lebensstandard der Briten mit sich bringen. Die anfänglichen Strategien der Familie Brown zum Umgang mit dem neuen System, das mit einer personalisierten Carbon Card und Strafen zur Durchsetzung der Energierationen einher geht, werden schnell auf eine harte Probe gestellt - Lauras Schwester Kim ist nicht bereit sich einzuschränken und möchte ihr altes Leben zurück. Lauras Vater, ein Dozent für Travel & Tourism, verliert seine Arbeitsstelle, und auch Lauras Mutter hat Schwierigkeiten, auf Bequemlichkeiten und Luxusgüter zu verzichten. Die Familie bricht auseinander, die Wetterextreme (Stürme, Dürre, Waldbrände, Flut) spitzen sich zu und die Browns finden erst am Ende des Jahres wieder zueinander zurück, als London aufgrund einer Flut im Chaos zu versinken droht und die Sorge der Browns um die Sicherheit und Gesundheit der eigenen Familie sie wieder vereint, auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt. Das Zukunftsszenario, das entworfen wird, zeichnet ein düsteres Bild sowohl mit Blick auf den Klimawandel als auch auf die Gesellschaft und erweist sich angesichts zunehmender Wetterextreme und Klimaprognosen und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen zu Klimaschutz und Energiewende als höchst aktuell. Insofern ist die Nähe der Romanwelt zu unserer Gegenwart unübersehbar. Das Aufbegehren von Lauras Familie gegen die Einschränkungen der früheren Freiheiten führt aber nicht wie in den dystopischen Gesellschaften von The Giver von Lois L OWRY (1993), The Hunger Games von Suzanne C OLLINS (2008) oder Divergent von Veronica R OTH (2011) zur Überwindung eines totalitären Regimes, das eine alternative Welt geschaffen hat, in der individuelle Freiheiten, Grund- und Menschenrechte zugunsten der Gemeinschaft oder einer auserwählten Elite aufgegeben wurden (vgl. H ILL 2012: 103). Laura Brown ist keine mutige Protagonistin, wie wir sie aus The Giver oder The Hunger Games kennen, die wie Jonas oder Katniss als agent of change einen Weg aus einer totalitären Gesellschaft zeigen könnte. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, dass sie trotz allem, was um sie herum geschieht, sich selbst und ihrer Familie treu bleibt und insofern in allem Chaos und trotz der üblichen Teenager-Themen für ihre Familie eine gewisse Stabilität und Zusammenhalt verkörpert. Mit Blick auf die Förderung von critical literacy lässt sich der Roman mit seiner realistischen, aber düsteren Zukunftsvision nutzen, um über alternative Lebensweisen zur Dekarbonisierung unserer Gesellschaft nachzudenken. Am Beispiel von Laura und ihrer Familie können Lernende über mögliche Zukunftsszenarien ins Gespräch kommen: Which social and climate-specific changes seem realistic, probable or exag- Young Adult Literature und critical literacy 119 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 gerated? Whose attitudes or behaviour seem desirable or problematic in your eyes? How do the changes in society affect the characters’ lives and (what) do they learn from these experiences? Which individual and collective values do the protagonists represent and which of these values seem relevant for our society and the world as a whole? In jedem Fall regt die Dystopie die Auseinandersetzung mit relevanten Fragen unserer Zeit an und ermutigt Leserinnen und Leser der Klassenstufen 9/ 10, Antworten auf drängende Fragen zu finden: „What can I do to prevent such a world? How can we survive? How can we remain human? “ (ebd.: 101). Das Potenzial der ausgewählten Geschichten liegt darin, dass ihre Protagonist*innen nicht nur aufgrund des Alters als geeignete Identifikationsfiguren für die junge Generation fungieren, sondern sie sich ebenso wie ihre Leserinnen und Leser in einer Lebensphase befinden, in der sie die eigene Rolle in der Gesellschaft, wer sie sind und wer sie sein wollen, in der sie ihre eigene Stimme und Identität erst finden müssen. Die vorgestellten Texte der Young Adult Literature laden insofern zur Identifikation mit den jungen Protagonist*innen ein, verhandeln aber zugleich moralische und ethische Fragen der Gegenwart, die mit den drängenden Fragen unseres Zusammenlebens verbunden sind. Indem die Lernenden sich im fremdsprachlichen Literaturunterricht mit diesen Fragen kritisch auseinandersetzen, können sie ihre Fähigkeiten einer critical literacy entwickeln, um sich als kulturelle Akteurinnen und Akteure in die Gestaltung einer nachhaltigen und inklusiven Welt und ihrer eigenen Zukunft einzubringen. Literatur Primärliteratur C OLLINS , Suzanne (2008): The Hunger Games. New York: Scholastic. H UNTER , Erin (2009): Seekers: The Quest Begins. London: HarperCollins. L LOYD , Saci (2008): The Carbon Diaries 2015. London: Hodder Children’s Books. L OWRY , Lois (1993): The Giver. London: HarperCollins. R OTH , Veronica (2011): Divergent. London: HarperCollins. T HOMAS , Angie (2017): The Hate U Give. New York: Balzer & Bray. T UCKER , Zoë (2019): Greta and the Giants. London: Quarto Publishing. Sekundärliteratur A KBARI , Ramin (2008): „Transforming lives: introducing critical pedagogy into ELT classrooms“. In: ELT Journal 62.3, 276-283. B REDELLA , Lothar (2012): Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva / R IEMER , Claudia / S CHMELTER , Lars (Hrsg.) (2021): Entwicklung von Nachhaltigkeit beim Lehren und Lernen von Zweit- und Fremdsprachen. Tübingen: Narr. F REIRE , Paulo (1970): Pedagogy of the Oppressed. New York: The Continuum. 120 Britta Freitag-Hild DOI 10.24053/ FLuL-2022-0008 51 • Heft 1 F REIRE , Paulo / M ACEDO , Donaldo (1987): Literacy: Reading the Word and the World. South Hadley, MA: Bergin & Garvey. F REITAG -H ILD , Britta (2021): „‚Nobody around but us and the cop‘. Mit dem Jugendroman The Hate U Give Rassismus-Erlebnisse aufspüren, kommentieren und nacherzählen“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 173, 32-39. G ERLACH , David (Hrsg.) (2020): Kritische Fremdsprachendidaktik. Grundlagen, Ziele, Beispiele. Tübingen: Narr. G UILHERME , Maria Manuela (2002): Critical Citizens for an Intercultural World: Foreign Language Education as Cultural Politics. Clevedon: Multilingual Matters. H ALLET , Wolfgang (2009): „Romanlektüre und Kompetenzentwicklung: Vom narrativen Diskurs zur Diskursfähigkeit“. In: H ALLET , Wolfgang / N ÜNNING , Ansgar (Hrsg.): Romandidaktik. Theoretische Grundlagen, Methoden, Lektüreanregungen. Trier: WVT, 73-88. H ALLET , Wolfgang / S URKAMP , Carola / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.) (2015): Literaturkompetenzen Englisch. Modellierung - Curriculum - Unterrichtsbeispiele. Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett. H AYN , Judith A. / K APLAN , Jeffrey, S. (Hrsg.) (2012): Teaching Young Adult Literature Today. Plymouth: Rowman & Littlefield. H ILL , Crag (2012): „Dystopian novels. What imagined futures tell young readers about the present and the future“. In: H AYN / K APLAN (Hrsg.), 99-115. H URRELMANN , Klaus / A LBRECHT , Erik (2020): Generation Greta. Was sie denkt, was sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Weinheim: Beltz. J ANKS , Hilary (2014): Doing Critical Literacy. New York/ London: Routledge. J UCHLER , Ingo (Hrsg.) (2015): Hermeneutische Politikdidaktik. Perspektiven der politischen Ethik. Wiesbaden: Springer. L UKE , Allan (2012): „Critical literacy: foundational notes“. In: Theory into Practice 51.1, 4-11. M ATZ , Frauke (2020): „Taking a stance: The role of critical literacies in learning with literature in a world at risk“. In: G ERLACH , David (Hrsg.), 53-67. M C L AUGHLIN , Maureen/ D E V OOGD , Glenn L. (2004a): Critical Literacy: Enhancing Students’ Comprehension of Text. New York: Scholastic. M C L AUGHLIN , Maureen/ D E V OOGD , Glenn L. (2004b): „Critical literacy as comprehension: expanding reader response“. In: Journal of Adolescent & Adult Literacy 48.1, 52-62. S INGER -B RODOWSKI , Mandy (2016): „Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee“. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 39.1, 13-17. S TOVER , Lois T. / B ACH , Jacqueline (2012): „Young Adult Literature as a Call to Social Activism“. In: H AYN / K APLAN (Hrsg.), 203-222. UN [U NITED N ATIONS G ENERAL A SSEMBLY ] (2015): Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. https: / / sustainabledevelopment.un.org/ content/ documents/ 21252030%20Agenda%20for%20Su stainable%20Development%20web.pdf (22/ 12/ 2021). WBGU [W ISSENSCHAFTLICHER B EIRAT DER B UNDESREGIERUNG G LOBALE U MWELTVERÄNDE - RUNGEN ] (2011): Hauptgutachten Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. https: / / www.wbgu.de/ fileadmin/ user_upload/ wbgu/ publikationen/ hauptgutachten/ hg2011/ pdf/ wbgu_jg2011.pdf (31/ 01/ 2022). 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 D ORIS A BITZSCH , E WOUT VAN DER K NAAP * Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens Abstract. This paper deals with a research area of the ERASMUS+ project Developing Teaching Competencies for Extensive Reading Programs (LEELU, 2016-2019), an international teacher training intervention on the topic of extensive or free voluntary reading. Subject-specific pedagogy experiences and insights of teachers who established this programme in German as a foreign language in grade 10 are highlighted. In Italy, the Netherlands and Hungary, teachers brought principles of free voluntary reading into practice and developed them further cooperatively. An open-ended teacher survey reveals the success of the programme. Interview transcripts deepen the results of the findings. 1. Einführung Im ERASMUS+-Projekt LEELU 1 wurde eine internationale LehrerInnenbildungsmaßnahme zum Thema freies Lesen durchgeführt und es wurde in Zusammenarbeit zwischen vier Universitäten 2 und neun Schulen 3 in drei Ländern ein Konzept für den extensiven Leseunterricht in Klasse 10 erprobt. Unzureichende Lesekompetenz von Jugendlichen (vgl. R EISS 2016) war Ausgangspunkt für das Projekt. Durch die * Korrespondenzadressen: Doris A BITZSCH , MA; Prof. Dr. Ewout VAN DER K NAAP , Universiteit Utrecht, Faculteit Geesteswetenschappen, Departement Talen, Literatuur en Communicatie, Duitse taal en cultuur, Trans 10, 3512 JK Utrecht, die Niederlande E-Mail: d.abitzsch@uu.nl; e.w.vanderknaap@uu.nl Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik, Deutschsprachige Literatur, fremdsprachliche Literaturdidaktik. 1 „Lehrkompetenzentwicklung für Extensiven Leseunterricht“. Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung tragen allein die Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben. 2 Loránd Tudományegyetem Budapest (HU), Università degli Studi di Palermo (I), Universiteit Utrecht (NL), Universität Wien (A) 3 Teilnehmende Schulen: Istituto Tecnico Economico per il Turismo Marco Polo (Palermo, I), Liceo Classico Statale Umberto I (Palermo, I), Liceo Linguistico Statale Ninni Cassarà (Palermo, I), Gerrit Rietveld College (Utrecht, NL), St. Bonifatius College (Utrecht, NL), Willem de Zwijger College (Papendrecht, NL), ELTE Apáczai Csere János Gyakorló Gimnázium és Kollégium (Budapest, HU), ELTE Trefort Ágoston Gyokorló Gimnázium (Budapest, HU), Madách Imre Gimnázium (Budapest, HU) N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 122 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Integration von freiem Lesen in den Unterricht an weiterführenden Schulen wurde u.a. angestrebt, Lesekompetenz zu fördern. Dieses Konzept umfasst fachdidaktische Prinzipien für die Gestaltung des freien Lesens und einen Bücherkatalog mit Lehrmaterialien, die den Lehrpersonen der teilnehmenden Schulen als Arbeitsmaterial zur Verfügung gestellt wurden und knüpft an dem Bedürfnis nach Verbesserung der Lese- und allgemeinen Sprachkompetenz, sowie deren positiven Effekte auf die Lesemotivation von SchülerInnen an (vgl. A BITZSCH et al. 2019; A BITZSCH / VAN DER K NAAP 2019). Im Projekt ging es um das Erfahrungslernen von Lehrpersonen, die in Tandems aus LehramtsstudentInnen und erfahrenen Lehrpersonen gemeinsam ein extensives Leseprogramm in Deutsch als Fremdsprache implementierten. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich demnach mit den (fach)didaktischen Erkenntnissen, die die beteiligten Lehrpersonen während der Ausführung gewonnen und miteinander geteilt haben, und die zur Weiterentwicklung der fachdidaktischen Prinzipien und Arbeitsmaterialien verwendet wurden. Für die Dokumentation des Lernens der Lehrpersonen und den effektiven Einsatz des Programms zum freien Lesen wurden spezifische LEELU-Zielkompetenzen festgelegt. Wie praktikabel das Programm aus Sicht der betroffenen Lehrpersonen ist, wird durch Erkenntnisse einer schriftlichen Befragung dargestellt, die zum einen die Akzeptanz und Umsetzung des freien Lesens untersucht und zum anderen die Erfahrung der LehrerInnen in Bezug auf die Förderung von Autonomie und Motivation auf Seiten der SchülerInnen fokussiert. Darüber hinaus werden Gesprächsprotokolle nach Handlungsalternativen analysiert, um entstandene Probleme und gefundene Lösungsansätze zur Interpretation und Illustration heranzuziehen. 2. Zum Vorgehen im LEELU-Projekt Neben der Fokussierung auf die Weiterentwicklung fachdidaktischer Prinzipien des extensiven („freien“) Lesens verfolgte das Projekt einen multiperspektivischen Ansatz innerhalb der LehrerInnenbildungsforschung (vgl. H OFFMANN / D AWIDOWICZ 2017; S CHRAMM / D AWIDOWICZ / H OFMANN 2019). Basierend auf Prinzipien des Educational Design Research (P LOMP 2013) und des Konzepts einer professionellen Lerngemeinschaft wurden ca. 7 Monate Einheiten zum freien Lesen in den Unterricht integriert. Über diese Einheiten wurde auf Schulniveau, national und international wöchentlich zurückgeblickt und Verbesserungsmöglichkeiten wurden angewandt. Auf diese Weise sollte ein Konzept auf verschiedenen Ebenen entwickelt werden, das auf videobasierter (teilweise digitaler) kollegialer Kooperation zwischen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen basierte (vgl. H OFMANN 2021). In Italien, den Niederlanden und Ungarn waren 18 Lehrpersonen (pro Schule ein Tandem aus LehramtsstudentInnen und erfahrenen Lehrpersonen) aktiv, die sich in verschiedenen Konstellationen persönlich und videobasiert, über die Prinzipien des freien Lesens verständigten. Dabei unterstützten sie Beobachtungsbögen und Videoaufnahmen des Unterrichts. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 123 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Der Artikel nimmt die Frage in den Fokus, wie die Lehrkräfte die Umsetzung des freien Lesens in den Unterricht reflektieren. Dazu werden zunächst der Inhalt der Intervention und die Art und Weise, wie die LehrerInnen zur Reflexion angeregt werden, dargestellt. 2.1 Konzept des freien Lesens Fiktionale Texte spielen im Lesefertigkeitstraining meistens eine geringe Rolle. Dennoch können auch fiktionale Texte für die Förderung von Sprachfertigkeit benutzt werden. Die Technik des extensiven Lesens bietet sich an, um LeserInnen so viel wie möglich mit der Fremdsprache in Kontakt zu bringen. Dieses Vorgehen kann bei jeglichen Textsorten angewandt werden. Dem Oberbegriff „extensives Lesen“ untergeordnet wird das „freie Lesen“, bei dem SchülerInnen und Lehrpersonen während der Unterrichtszeit mehrmals wöchentlich längere Texte eines angemessenen Schwierigkeitsgrads in individueller Auswahl und in individuellem Tempo lesen, um eine Förderung der allgemeinen Sprachkompetenz anzustreben (vgl. K RASHEN 2004). SchülerInnen, die bewusst und engagiert lesen, haben bessere Lernstrategien und höhere Lernerfolge (vgl. OECD 2016). Für unterschiedliche Aspekte der Sprachentwicklung werden in internationalen Untersuchungen positive Effekte freien Lesens festgestellt (vgl. K RASHEN 2004, 2011; J EON / D AY 2016; N AKANISHI , 2015; Y AMASHITA 2015; H ORST 2005; E LLEY 1991). Im LEELU-Projekt wurden ferner Fortschritte im allgemeinen Sprachstand im Vergleich zu den Kontrollgruppen untersucht (A BITZSCH et al. 2019). Ansätze für das freie Lesen sind zwar international diskutiert (vgl. P ILGREEN 2000; M ACALISTER 2015), allerdings sind Erhebungen von Projekten in diesem Bereich selten auf die Sekundarstufe ausgerichtet. Zudem lagen vor dem LEELU-Projekt noch keine Programme zum freien Lesen im Bereich Deutsch als Fremdsprache vor. Wesentliche Bedingungen des freien Lesens sind ein attraktives Angebot an Texten und eine entspannte Atmosphäre zum Lesen. Für den Erfolg des freien Lesens ist eine gute Ausstattung entscheidend; als Lehrkraft kann man auf eine gute (Schul-)Bibliothek nicht verzichten. Mehrere Studien haben gezeigt, dass freies Lesen im Klassenzimmer einen stärkeren positiven Effekt hat, je länger der Zeitraum des freien Lesens dauert. Programme, die ein Jahr oder länger dauern, erzielen ausnahmslos höhere Punktzahlen beim Textverständnis (vgl. K RASHEN 2004). Im Projekt wurden ausschließlich physische Bücher benutzt. Wege des digitalen Lesens wurden nicht untersucht und sind bezüglich des freien Lesens auch noch nicht überzeugend dargestellt. 2.2 Grundbedingungen für das freie Lesen Im LEELU-Projekt wurden den Schulklassen alle Materialien bereitgestellt. Dabei handelte es sich um eine Klassenbibliothek mit auf der Grundlage spezifischer Kriterien ausgewählter Lektüre (vgl. A BITZSCH / VAN DER K NAAP 2019). Die Lektüreaus- 124 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 wahl unterschied sich in den einzelnen teilnehmenden Ländern aufgrund der unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzung der SchülerInnen und Lehrplanvorgaben (vgl. A BITZSCH et al. 2019). Die SchülerInnen sollten während eines Zeitraums von 7 Monaten aus der Lektüre dieser Klassenbibliothek zweibis dreimal pro Woche 20 Minuten lesen können. Darüber hinaus wurde den LehrerInnen Material zur Dokumentation ihrer Beobachtungen und den SchülerInnen zur Bewertung von gelesenen Büchern zur Verfügung gestellt. Die LehrerInnen verfügten auch über Material und Vorschlägen zur Anregung von Reflexion sowie Strategientraining. 4 Die Lehrpersonen und SchülerInnen wurden außerdem durch die zuvor formulierten Prinzipien unterstützt (A BITZSCH et al. 2019; vgl. D AY / B AMFORD 2002): 1. Stellen Sie einfachen Lesestoff zur Verfügung. Achten Sie dabei dennoch darauf, dass der Lesestoff verschiedene Niveaus bedient. 2. Achten Sie darauf, dass der angebotene Lesestoff aus abwechslungsreichen Themen besteht. Stellen Sie deshalb auch Comics und Zeitschriften zur Verfügung. 3. Ermutigen und unterstützen Sie die SchülerInnen bei der Auswahl des Lesestoffs. 4. Geben Sie den SchülerInnen die Chance, so viel wie möglich zu lesen. 5. Stellen Sie sicher, dass die gewählten Titel ein hohes Lesetempo fördern. 6. Machen Sie den SchülerInnen deutlich, dass das Ziel des Lesens Entspannung, Information und allgemeines Verständnis ist. 7. Halten Sie die SchülerInnen dazu an, leise und individuell zu lesen. 8. Denken Sie daran, dass das Lesen bereits die Belohnung ist. Wenn die Umstände gut sind, reicht Ermutigung. Loben Sie keine Preise aus, testen sie die SchülerInnen nicht und lassen Sie keine Zusammenfassungen schreiben oder Lesetagebücher führen. 9. Erläutern Sie, dass SchülerInnen Bücher nicht zu Ende lesen müssen. 10. Seien Sie ein Vorbild und lesen Sie zur gleichen Zeit wie die SchülerInnen. 11. Schließen Sie sich mit Ihren Kolleginnen und Kollegen über das Programm kurz. 12. Lassen Sie die SchülerInnen die Titel der gelesenen Texte und deren persönliche Bewertung notieren. Behalten Sie diese Notizen für Ihre eigene Übersicht. Alle teilnehmenden Lehrkräfte wurden vor Beginn des freien Lesens in einer einwöchigen Präsenzveranstaltung gemeinsam zu den Grundbedingungen fortgebildet. In Bezug auf das freie Lesen lernten die LehrerInnen während dieser Fortbildung den Bücherkatalog kennen und entwickelten sie auf der Grundlage der für alle teilnehmenden Länder geltenden Prinzipien erste Verfahren zum Einsatz des freien Lesens in ihren spezifischen nationalen und schulinternen Kontexten. 2.3 LehrerInnenbildungskonzept Ansetzend an frühere Forschungsergebnisse zu professionellen Lerngemeinschaften und Ko-Konstruktion (vgl. u.a. B AUM / I DEL / U LLRICH 2012; D AWIDOWICZ / S CHRAMM 2016; W IPPERFÜRTH 2016) wurde im LEELU-Projekt ein Vorgehen konzipiert, durchgeführt und evaluiert, das Tandems bestehend aus erfahrenen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen zum Besprechen und Analysieren ihres eigenen Unterrichts 4 Alle Materialien sind unter https: / / www.leelu.eu/ material/ zugänglich. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 125 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 und des Unterrichts von anderen anregt. Angelehnt an Erkenntnisse von W IPPER - FÜRTH (2015) wurde dabei auf die Kombination von LehramtsstudentInnen und erfahrenen LehrerInnen gesetzt, um deren unterschiedlichen Erfahrungshintergründe und Perspektiven für die Bereicherung des kollegialen Austauschs fruchtbar zu machen. Die TeilnehmerInnen haben sich bei ihrem Austausch nicht nur auf ihren individuellen Schulkontext konzentriert, sondern auch schulübergreifend auf lokaler und internationaler Ebene zusammengearbeitet, um so die Perspektiven aller Lehrpersonen zu erweitern und durch Reflexion die individuelle professionelle (Weiter)Bildung zu unterstützen. Dieser Perspektivenwechsel und die dazugehörende Reflexion fand zunächst in jeder Schule zwischen erfahrenen LehrerInnen und LehramtsstudentInnen in Partnerarbeit und zumeist in Präsenz statt. Auf der Grundlage videographierter Unterrichtssequenzen durchlief jede Lehrperson mehrfach einen Reflexionszyklus, der sowohl Beobachtung, Analyse im gemeinsamen Gespräch als auch individuelle Reflexion beinhaltet (vgl. D AWIDOWICZ et al. 2019). Um den kollegialen Austausch und Ko- Konstruktion zu fördern, wurde in den Gesprächen auf ein Nachvollziehen und Verstehen hingearbeitet. Die Lehrpersonen wurden dazu angehalten, verschiedene Interpretationen zu den jeweiligen Unterrichtssituationen zu besprechen, um so neue Ziele und Handlungsalternativen für zukünftige Unterrichtssequenzen gemeinsam zu entwickeln. Die Tandems wurden zu Beginn des Projektzeitraums vom LEELU-Team beim Durchlaufen des Reflexionszyklus unterstützt und begleitet. Im Laufe des Projektes veränderte sich die Rolle der Projektmitarbeiterin von der einer Moderatorin zu der einer Protokollantin und Organisatorin. Auf lokaler und internationaler Ebene fanden für den kollegialen Austausch Videokonferenzen statt. Zuvor wählte jedes Tandem Videoausschnitte aus, die es zeigen und besprechen wollte. Insgesamt nahmen alle LehrerInnen und LehramtsstudentInnen an drei lokalen und an drei internationalen Gesprächen teil, bei den internationalen in jeweils unterschiedlichen Konstellationen mit je einem Tandem pro Land. In diesen Gesprächen ging es darum schulinterne (international auch länderspezifische) Herausforderungen und deren Lösungsansätze darzustellen. Außerdem sollten die Lehrpersonen miteinander teilen, welche Erkenntnisse sie über das Konzept des freien Lesens entwickelt haben (vgl. H OFFMANN 2019; H OFMANN 2021; S CHRAMM 2020). Auf diese Weise sollte das Ziel erreicht werden, weitere mögliche Handlungsalternativen kennenzulernen, bewährtes Unterrichtshandeln auszubauen, und schulinternes konstruiertes Wissen mithilfe einer Außenperspektive zu erweitern. 3. Erfahrungslernen der LehrerInnen Bislang wurden Prinzipien des freien Lesens, die für Lehrkräfte erstellt worden sind (vgl. ERF 2011; H ILL 1992), nicht hinsichtlich der LehrerInnenperspektive untersucht. Ein Projektziel war es deshalb, ein auf verschiedene Unterrichtskontexte über- 126 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 tragbares Konzept freien Leseunterrichts zu erarbeiten, und in der Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen in drei Ländern weiterzuentwickeln. 3.1 Zielkompetenzen für LehrerInnen Die teilnehmenden LehrerInnen und LehramtsstudentInnen zeichnen sich durch eine starke Heterogenität aus, was Ausbildung(sjahre), Bildungskontext und Arbeitsjahre betrifft. Daher wurde zur Gewährleistung der internationalen Vergleichbarkeit das Europäische Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung (EPOSA, Newby et al. 2007) für die Festlegung der Zielkompetenzen verwendet, indem aus den dortigen Kann-Beschreibungen Deskriptoren gewählt wurden, die unmittelbar mit dem primären Prozess der Unterrichtsgestaltung in Zusammenhang stehen und gleichzeitig an die Ausgangspunkte des freien Lesens anschließen (Tabelle 1). Einige dieser Deskriptoren wurden umformuliert sowie ergänzt, um die gesamte Palette der didaktischen Prinzipien des freien Lesens abzudecken. Die Deskriptoren verhalten sich komplementär zu den fachdidaktischen Prinzipien (vgl. 2.3). Kategorie Bereich Deskriptor Kontext Ressourcen und institutionelle Beschränkungen Ich kann organisatorische Einschränkungen an meiner Schule erkennen (z.B. Raum-, Stundenplanänderung) und meinen Unterricht entsprechend anpassen. (modifiziert) Methodik Lesen Ich kann SchülerInnen verdeutlichen, dass die Ziele des Lesens ausschließlich Vergnügen und Entspannung sind. Ich kann SchülerInnen, die Schwierigkeiten bei der Buchauswahl haben, dazu anleiten, ihre Interessen und Fähigkeiten (sprachliche und literarische Kompetenz) zu ermitteln und passenden Buchkriterien zuzuordnen. Ich kann SchülerInnen, die Schwierigkeiten bei der Lektüre haben, dazu anleiten, die Gründe für ihre Schwierigkeiten zu ermitteln und passende Problemlösungsstrategien anzuwenden. Durchführen einer Unterrichtsstunde Klassenführung Ich bin in der Lage, gemäß den Bedürfnissen der SchülerInnen und Anforderungen des freien Lesens unterschiedliche Rollen einzunehmen (Person, die Information zur Verfügung stellt, VermittlerIn, Aufsichtsperson etc.). (modifiziert) Ich kann das freie Lesen auf verbindliche Weise beginnen und zielgerichtet beenden. (modifiziert) Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 127 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Kategorie Bereich Deskriptor Ich kann für eine Atmosphäre im Klassenzimmer sorgen, in der alle SchülerInnen still lesen können. Sprache im Unterrichtsraum Ich bin in der Lage zu entscheiden, wann der Einsatz der Erstsprache in bspw. Beratungs- und Reflexionsgesprächen der Zielsprache vorzuziehen ist. (modifiziert) Selbstständiges Lernen LernerInnenautonomie Ich kann SchülerInnen dazu anleiten, über die Bedeutung des Lesens und die Lesekompetenz zu reflektieren. Ich kann SchülerInnen dazu anleiten, die Bedeutung der Prinzipien des freien Lesens (kein Einsatz von Wörterbüchern; Auswahl leichter Lektüre; etc.) zu erkennen und die Verantwortung für die Umsetzung dieser zu übernehmen. Diagnostik (nicht im EPOSA) Ich kann erkennen, wenn SchülerInnen Schwierigkeiten bei der Buchauswahl oder Lektüre haben. Ich kann auf Basis von Beobachtung und Leitfragen in Beratungsgesprächen die literarische Kompetenz, die Lesekompetenz und die Konzentrationsfähigkeit von SchülerInnen einschätzen. Tab. 1: Zielkompetenzen (vgl. A BITZSCH et al. 2019) 4. TeilnehmerInnen und Verfahren Die teilnehmenden Schulen gehören zum Ausbildungsnetzwerk der involvierten Lehrerbildungsinstitute. Im Hinblick auf die unter 3 beschriebenen Zielkompetenzen nahmen alle TeilnehmerInnen an der Befragung teil. Neben dieser schriftlichen Befragung zu ihren Eindrücken und Erfahrungen dienen mündliche Gesprächsäußerungen der Beantwortung der Forschungsfragen. An den jeweils drei teilnehmenden Schulen pro Land nahmen eine erfahrene Lehrkraft und ein/ e LehramtsstudentIn am Projekt teil (n=18). 4.1 Fragebogen Die beteiligten LehrerInnen wurden zweimal über ihre Projekt-Erfahrungen befragt: Anfang Juli 2017 und Ende April 2018. Die erste Befragung fand im Anschluss an die Fortbildungswoche statt (s. 2.3). Dabei wurde auf die Erwartungen der LehrerInnen an das freie Lesen in ihrem Kontext fokussiert. Die zweite Befragung wurde nach 128 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Abschluss der Intervention durchgeführt. Beide Meinungsbefragungen bestehen aus zwei Teilen: Der erste Teil handelt vom Leseverhalten der SchülerInnen (die separat befragt wurden) 5 , im zweiten Teil wird nach der Praktikabilität des Projekts gefragt. Der erste Befragungsteil zum Leseverhalten der SchülerInnen bezieht sich auf die Eindrücke der Lehrkräfte zur Autonomie und Lesestrategien sowie zur Lesemotivation und Einstellung in der von ihnen unterrichteten Klasse. Die Items zur LernerInnenautonomie beruhen auf MARSI (Metacognitive Awareness of Reading Strategies Inventory, vgl. M OKHTARI / R EICHARD 2002). Die 30 Items des MARSI-Bogen wurden zur Beschränkung des Arbeitsaufwands auf 10 Items eingekürzt. Die ausgewählten Items stehen in direktem Zusammenhang zu den Prinzipien des freien Lesens und sind über die Strategien global (4), problem solving (3) und support reading (3) verteilt. 6 Die Antworten wurden auf einer Fünferskala erhoben. Der Teil des Fragebogens zur Motivation und Einstellung bezüglich des Lesens beruht auf S CHAFFNER / S CHIEFELE (2016) und wurde zum Teil mit der Entwicklung der literarischen Kompetenz in Verbindung gebracht. Ebenfalls zur Beschränkung des Arbeitsaufwands für die SchülerInnen und aufgrund des unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhangs zwischen dem Konzept des freien Lesens und spezifischen Items des Originalfragebogens wurden für die Dimensionen curiosity und involvement 10 der 34 Items für die Befragung ausgewählt. In beiden Teilen wurde zudem Bezug genommen auf das Lesen in der Freizeit in der Erstbzw. Schulsprache der SchülerInnen und auf das Lesen an der Schule im Schulfach Deutsch. Die Antworten wurden auf einer Viererskala erhoben. Der zweite Befragungsteil fokussiert die Erfahrungen der Lehrkräfte hinsichtlich der praktischen Ausführung des freien Lesens im Unterricht. Die Items beruhen auf den von VAN DEN B RANDEN (2009) beschriebenen acht Merkmalen, die für die Akzeptanz und Umsetzung von Innovationen im Unterricht durch (Fremdsprachen)LehrerInnen als förderlich gesehen werden können. Insgesamt wurden 18 Items zu den Merkmalen compatibility, complexity, feasibility, concreteness, problemorientedness formuliert. Die Formulierung der Items stand dabei im direkten Zusammenhang mit den Prinzipien des freien Lesens und deren Anwendung im LEELU- Projekt (s. 2.2). 7 Antworten wurden auf einer Viererskala erhoben. Darüber hinaus bekamen die TeilnehmerInnen 4 offene Fragen zu den Vor- und Nachteilen, die sie bei der Ausführung des freien Lesens für sich selbst und die SchülerInnen feststellten. 5 Die Reliabilität der Items war akzeptabel und wurde bei den SchülerInnen gemessen. 6 global: 1. I have a purpose in mind when I am reading; 2. I think about what I know to help me understand what I read; 3. I use context clues to help me understand what I am reading; 4. I check my understanding when I come across conflicting information; problem solving: 5. I try to get back on track when I lose concentration; 6. I try to picture or visualize information to help remember what I read; 7. I try to guess the meaning of unknown words or phrases; support reading: 8. I summarize what I read to reflect on important information in the text; 9. I paraphrase (restate ideas in my own words) to better understand what I read; 10. I go back and forth in the text to find relationships among ideas in it. 7 Beispielsweise: In den letzten Monaten haben mich die angebotenen Methoden und Materialien zum Führen von Beratungsgesprächen und Reflexionsgesprächen mit den SchülerInnen bei der Einführung des Programms für freies Lesen unterstützt. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 129 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 4.2 Inhaltsanalyse Da im vorliegenden Artikel auf die Eindrücke und Erfahrungen der Lehrpersonen während der Intervention eingegangen werden soll, werden lediglich die Ergebnisse der zweiten Befragung betrachtet. Zusätzlich wurden die erstellten Gesprächsprotokolle der Tandemgespräche, der lokalen und internationalen Gespräche (s. 2.3) und die transkribierten internationalen Gespräche mit einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach einer deduktiven Vorgehensweise ausgewertet, um sowohl weitere Rückschlüsse auf die Praktikabilität ziehen zu können als auch die von den LehrerInnen im Gespräch und Unterricht entwickelten und erprobten fachdidaktischen Handlungsalternativen zu kategorisieren und zu beschreiben. Dazu wurde zunächst der Zeitraum des freien Lesens in drei Zeitabschnitte eingeteilt, um Sicht auf sich verändernde Problematiken zu erhalten: Startphase (Sept. - Okt. 2017), Festigungsphase (Nov. 2017 - Jan. 2018) und Automatisierungsphase (Feb. - April 2018). Als Kategorien für die Analyse der Protokolle und Transkripte dienten die festgelegten Zielkompetenzen für Lehrkräfte, verteilt über die Kompetenzgebiete: Kontext, Methode, Durchführung einer Unterrichtsstunde, Selbstständiges Lernen, Diagnostik (s. 3.1). Hinzu kam die Kategorie “weitere” für zusätzliche fachdidaktische Handlungen in Bezug auf das freie Lesen, die nicht durch die beschriebenen Prinzipien und festgelegten Zielkompetenzen abgedeckt wurden. Anschließend wurden die Gesprächsprotokolle und Transkripte auf festgestellte Probleme und deren Handlungsalternativen untersucht und es wurde das gesamte Material kodiert. 5. Ergebnisse Zunächst werden die Ergebnisse der schriftlichen Befragung dargestellt. Daran schließt sich eine Darstellung der wichtigsten Befunde aus den Inhaltsanalysen der Gespräche an. 5.1 Befragung Die SchülerInnen, so betonen die Lehrkräfte, haben durch das Projekt mehr Erfahrung mit der Lektüre von deutschsprachigen Büchern gesammelt. Manche Lesestrategien werden von den SchülerInnen ziemlich oft verwendet, wie das Einsetzen von Vorkenntnissen (4,2) oder das Benutzen von Kontextinformationen (4,5), andere Strategien zum Textverstehen werden hingegen weniger verwendet. Zusammenfassungen (2,4) sollten im Projekt nicht erstellt werden. 8 Der Frage, ob freies Lesen geeignet war, die Lesefertigkeit der SchülerInnen zu verbessern, stimmen alle Lehrkräfte zu, bei der Einschätzung der Verbesserung der literarischen Kompetenz im Deutschen 8 Dass nach Eindruck der LehrerInnen die anderen Sprachfertigkeiten, wie das Sprechen und das Hörverstehen, nicht im gleichen zeitlichen Rahmen und primär gefördert wurden, stimmt mit dem Fokus des Projekts überein. 130 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 sind die Lehrkräfte etwas vorsichtiger. Die LehrerInnen nahmen eine Stärkung der Autonomie der SchülerInnen durch das Projekt wahr. So habe es den SchülerInnen sehr gefallen, selbst ein Buch zu wählen und selbstständig über für sie interessante Themen zu lesen. Bezüglich der Motivationssteigerung fürs Fach schwanken die Lehrkräfte Ungarns zwischen eindeutiger Bejahung und vorsichtiger Bejahung, während die Lehrkräfte Italiens und der Niederlande etwas skeptischer sind. Gespräche mit SchülerInnen verdeutlichten aber, dass diese dem DaF-Unterricht mit freiem Lesen den Vorzug zu gelenkteren Unterrichtsverfahren gaben. Im zweiten Teil der Befragung gaben die LehrerInnen weiterhin an, dass sie hinsichtlich der sprachlichen Eignung der Titel zufrieden waren. Allerdings waren sie nicht immer überzeugt, dass die Bücher für freies Lesen für die Zielgruppe inhaltlich passend waren. Dies ist angesichts der Schwierigkeit für relative Anfänger angemessene Bücher zu finden, und im Hinblick auf die Beratungsfunktion, die von den LehrerInnen zu erlernen war, nachvollziehbar. Bei der persönlichen Buchauswahl sei der Bücherkatalog auf der Website von den SchülerInnen aber wenig benutzt worden, was sicherlich ein Beratungsaspekt ist. Überdies haben die niederländischen Lehrkräfte bemerkt, dass nicht alle SchülerInnen mit der Selbstständigkeit umgehen können und ihre Motivation gering ist. Sie lesen im Allgemeinen nicht gerne, waren deswegen nicht so motiviert, deutschsprachige Bücher zu lesen und konnten darum wahrscheinlich auch nicht so gut mit der Autonomie umgehen. Die Bemerkungen der italienischen Lehrpersonen ähneln denen der niederländischen Lehrpersonen. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen den drei Ländern. In Ungarn haben die SchülerInnen sich darüber beklagt, dass sie zu wenig Zeit für das Lesen hatten und deswegen den roten Faden verloren hätten. Sie waren laut Einschätzung der LehrerInnen sehr motiviert. Gemäß der effortless reading hypothesis (vgl. K RASHEN 2011) können LeserInnen sich nur in einem Buch verlieren, wenn Verständlichkeit keine Hürde ist. Nach der Einschätzung der LehrerInnen könnten ihre SchülerInnen während des Lesens von Texten in der Erstsprache oft oder sogar normalerweise alles um sich herum vergessen (3,3), hingegen würde das beim Lesen im Deutschunterricht fast nie oder nur selten gelingen (2,3). Die Nachhaltigkeit des freien Lesens scheint gesichert zu sein, denn auf die Aussage „Ich konnte in den letzten Monaten das freie Lesen in den Rahmen meines persönlichen Schulkontexts (Curriculum, Stundenpläne, Räume, Klassengröße) integrieren.“ wird mehrheitlich zustimmend geantwortet. 5.2 Gespräche Vorweg muss erwähnt werden, dass die Heterogenität der teilnehmenden LehrerInnen und ihre diversen Schulkontexte dazu führen, dass kein einheitliches Problem mit einem oder mehreren spezifischen Aspekten des freien Lesens erkannt werden kann. Infolgedessen sind die von den LehrerInnen entwickelten Handlungsalternativen zunächst stark von den eigenen schulinternen und lokalen Gepflogenheiten geprägt. Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 131 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 Dennoch wurden auch Handlungsalternativen aus den internationalen Gesprächen mit in die eigene Schulpraxis überführt und ausprobiert. Deutlich wird dies z.B. an der unterschiedlichen Ausprägung des Gesprächsbedarfs im Bereich Sprache im Unterrichtsraum. Dieses Thema taucht vielfältig in den schulinternen und lokalen Gesprächen der teilnehmenden LehrerInnen in den Niederlanden auf und wurde über den gesamten Projektzeitraum mit unterschiedlicher Schwerpunktlegung ausgebaut. LehrerInnen entwickelten eine Vorgehensweise, in der sie bewusst entschieden, welche Gespräche in der Zielsprache (vorwiegend individuelle Beratungsgespräche) und welche Gespräche im Allgemeinen in der Erstsprache (vorwiegend Reflexionsgespräche zu Leseprozessen) geführt wurden. L1: Beide [Sprachen], aber wenn sie, also einfach nur wirklich Reflexionen schreiben, dann Italienisch, weil die Schüler nicht wirklich ein hohes Niveau haben. Aber die Vokabeln, die sich die Schüler merken wollen, sind ja natürlich auf Deutsch. […] L2: Wie wir das machen: Also wenn wir im Klassenverband um eine Reflexion bitten, dann fragen wir auf Deutsch und meistens reagieren die Schüler dann einfach auf Niederländisch. Und wenn das so eine Art persönliche Reflexion oder ein Reflexionsgespräch ist, dann machen wir das meist auf Niederländisch, weil sich die Schüler dann wohler fühlen und sie sich auch besser ausdrücken können. 9 Der Einsatz von Beratungsgesprächen war in allen Phasen des freien Lesens als fachdidaktische Handlung zu beobachten. Vor allem bei der inhaltlichen Auswahl der Bücher (Bereich: Lesen, Kategorie: Methode) setzten die LehrerInnen in der Startphase auf individuelle Beratungsgespräche, wenn sie feststellten, dass SchülerInnen Bücher aufgrund des Covers oder des Titels auswählten, letztendlich vom Inhalt enttäuscht waren und somit teilweise keine weitere Lesemotivation aufbringen konnten. In den Beratungsgesprächen stellten LehrerInnen fest, dass SchülerInnen schwer beschreiben konnten, was sie gern lesen. Daher wurde in allen Schulen auf Beratung im Klassenverband gesetzt, um gemeinsam über Lesegeschmack zu reflektieren und somit Vorbilder für SchülerInnen mit geringerer Lesefreude zu kreieren. An Schulen in Italien wurde dieses Vorgehen außerdem verwendet, um die Konzentration in den Lesephasen zu gewährleisten. Dazu wurden Bewertungsposter entwickelt und im Klassenraum aufgehängt. Im Bereich LernerInnenautonomie der Kategorie Selbstständiges Lernen kam an einigen Schulen in Ungarn Fragen zur Begrifflichkeit „frei“ auf. Die Entscheidungsfreiheit, die ihnen bei der Auswahl und auch Ablage der Bücher geschenkt wurde, nutzen die SchülerInnen nur teilweise, weil sie sich nicht trauten, ein Buch aufgrund von Nichtgefallen zurückzugeben und durch ein anderes Buch auszutauschen. Die LehrerInnen begegneten diesem widersprüchlichen Empfinden der SchülerInnen mit individuellen Beratungsgesprächen und dem Auflösen der schulischen Atmosphäre, indem sie versuchten, die Leseumstände dem Lesen in der Freizeit anzugleichen (andere Sitzordnung, Essen/ Trinken). 9 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wurden diese und folgende Zitate minimal sprachlich bereinigt. 132 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 Den gesamten Projektzeitraum betrachtend wird sichtbar, dass besonders in den EPOSA-Bereichen Lesen (Kategorie: Methodik) und Klassenführung (Kategorie: Durchführung einer Unterrichtsstunde) fachdidaktische Fragestellungen mit KollegInnen erörtert wurden. Beispielhaft zeigt dies, dass die LehrerInnen konstant an einer (Weiter)Entwicklung des Handlungsrepertoires und somit der Konkretisierung der Prinzipien des freien Lesens gearbeitet haben. So standen in der Startphase des Schuljahres vor allen Fragen bezüglich des Beginns des freien Lesens im Mittelpunkt: Welcher Moment innerhalb einer Unterrichtsstunde ist geeignet, um frei zu lesen? In dieser Phase tauchten Probleme in Bezug auf unklare Instruktionen, Dauer der Buchauswahl/ des Bücherholens auf. Während dieser ersten Monate entwickelten die LehrerInnen sowohl schulintern als auch auf lokalem und internationalem Niveau verschiedene Handlungsalternativen, wie z.B. die Verwendung von Lesezeichen oder separate Aufbewahrung der jeweils von den SchülerInnen gelesenen Bücher. In der Festigungsphase beschäftigten sich die LehrerInnen mit Fragen zur Überleitung vom freien Lesen zum weiteren Verlauf der Unterrichtsstunde und dem Zeitpunkt des freien Lesens innerhalb der Unterrichtsstunde. Sie probierten aus, ob ein Verlegen des freien Lesens an das Ende der Unterrichtsstunde dazu führte, dass SchülerInnen das Lesen mehr als Entspannung wahrnahmen und dadurch einfacher eintauchen konnten. In der Automatisierungsphase spielten Fragen zum Start des freien Lesens kaum noch eine Rolle, da an allen Schulen ähnliche Methoden gefunden wurden, die zu einem schnellen Lesebeginn führten. Dahingegen gingen die LehrerInnen auf die Suche nach geeigneten Handlungsalternativen für das Einleiten des Endes der Lesephase, da einige SchülerInnen angaben, dass die Lesephase zu kurz war und zu abrupt abgeschlossen wurde, um ihr Lesebedürfnis zu stillen. Andere SchülerInnen gaben an, Konzentrationsprobleme zu Beginn des freien Lesens und dadurch zu wenig Zeit zum Lesen zu haben. Einige Schulen sind in dieser Phase auf ein zuvor nicht vorgesehenes Ausleihverfahren für die Bücher übergegangen. Einige LehrerInnen wiederum entschieden sich, verstärkt individuelle Beratungs- und Reflexionsgespräche einzusetzen, um Konzentrationsproblemen auf den Grund zu gehen und dafür Lösungen zu finden. L3: […] Aber das Problem ist, sie sind einunddreißig in der Klasse, wir haben also große Klassen. Und dann ist es natürlich schwierig, die Konzentration zwanzig Minuten zu haben. Also die Schüler sprechen miteinander und sie sind nicht so konzentriert. […] L4: […] zum Beispiel am Freitagnachmittag könnte ich das vielleicht auch nicht schaffen […]. Wir sagen, wenn wir alle zwanzig Minuten ruhig lesen, dann können wir zehn Minuten früher weg, zum Beispiel. Eine Art Belohnung für die Anstrengung. L5: […]Wir haben eine Extralesestunde eingeplant und ich muss es euch sagen, dass ich unseren Direktor bat auch mit zu lesen […] Also damit er auch spürt und fühlt, wie das abläuft. Zwanzig Minuten hat er zusammen mit mir, mit den Schülern gelesen und anschließend haben wir in der Muttersprache über das Projekt und die Erfolge geredet. Das war auch eine Art der Reflexion und die Schüler waren absolut enthusiastisch. Das ist eine Klasse mit sechzehn Schülern. Also das ist wirklich Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 133 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 keine kleine Klasse, also einunddreißig sind wirklich enorm viel. Könnt ihr nicht einmal diese große Klasse teilen und einmal das ausprobieren? […] L4: […] mir gefällt aber auch die Idee, dass man die Klasse mal teilt. Und zwar würde ich die Klasse allerdings nicht teilen, um einfach den normalen Leseunterricht zu machen, weil du, naja, im wirklichen Leben seid ihr halt auch nicht zu zweit, sondern bist du alleine mit der Klasse mit einunddreißig Schülern. Aber ich würde dann jetzt schon den Vorteil nutzen, dass ihr jetzt zu zweit seid, um vielleicht eine Reflexionsstunde getrennt zu machen, dass man halt jeweils mit den fünfzehn Schülern reflektiert, anstatt mit einunddreißig. […] Noch vor dem Start des freien Lesens ergaben sich für LehrerInnen an verschiedenen Standorten Probleme mit den Räumlichkeiten und der Bücheraufbewahrung (Kategorie: Kontext, Bereich: Ressourcen und institutionelle Beschränkungen). Dafür wurden Lösungen, wie die Verwendung eines Rollkoffers oder die Verlegung des Deutschunterrichts in die Schulbibliothek gefunden. Aus einer anderen Teilstudie des Projekts geht hervor, dass die Beratungsphasen beim freien Lesen Lehrpersonen vor Schwierigkeiten stellen, die länderspezifisch unterschiedlich sein können. Die Schulrealitäten unterscheiden sich stark und es bedarf in der LehrerInnenausbildung eines scharfen Auges auf die Lehr- und Lerntraditionen (vgl. H OFFMANN 2019). 6. Fazit und Diskussion Durch einen multiperspektivischen Ansatz ist im LEELU-Projekt versucht worden, die Sicht auf das fachdidaktische Handeln von Lehrkräften zu schärfen und die Praktikabilität des freien Lesens im Fremdsprachenunterricht (Deutsch) an Sekundarschulen zu evaluieren. Die Ergebnisse des Artikels in Bezug auf die Einsichten der LehrerInnen zur Autonomie und Motivation der SchülerInnen wären mit Erkenntnissen, die aus einer quantitativen Analyse der SchülerInnenbefragung zu gewinnen wäre, zu vergleichen. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob die Ergänzung der fachdidaktischen Prinzipien um ausgewählte Deskriptoren des EPOSA zur benötigten Trennschärfe bei der deduktiven Inhaltsanalyse entscheidend beitrüge. Eine eventuelle erweiterte induktive Kategorienbildung, die auch zur Ergänzung der Prinzipien des freien Lesens führen könnte, wäre zu überlegen. Verbinden wir die Positionen der Lehrkräfte mit den Zielkompetenzen im Projekt, dann fällt in der Kategorie des Kontextes auf, dass reguläre Schulen und Abläufe des Schulalltags prinzipiell nicht eingerichtet sind für das freie Lesen, aber mit kleinen Eingriffen in Raumplanung und Möblierung gute Möglichkeiten geschaffen werden können. Schulen mit einem positiven Leseklima geben Lehrer- und SchülerInnen hierfür genug Raum. Allerdings mangelt es den LehrerInnen an Zeit, was dazu führt, dass dem time-on-task-Prinzip des freien Lesens nicht immer entsprochen werden kann. Für die Kategorien Methodik, selbständiges Lernen und Diagnostik ist zu beobachten, dass der Austausch der Lehrpersonen in allen Gesprächskonstellationen erheblich zur Verbesserung der Durchführbarkeit beigetragen hat, indem sie die zuvor beschriebe- 134 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 nen Prinzipien durch ihr Handeln konkretisiert haben. Es stellt sich dabei die Frage, inwiefern eine stärkere Integration der Didaktik des freien Lesens die erzielten Erfahrungen im Bereich Autonomie und Motivation noch positiver beeinflussen könnte. 10 In der vorliegenden Studie wurde deutlich, dass freies Lesen für den Fremdsprachenunterricht gewinnbringend sein kann, wenn Lehrkräfte sich mit der Didaktik, die dafür notwendig ist, auseinandersetzen. In Lehreraus- und -fortbildungen wären Module zum freien Lesen zu integrieren. Literatur A BITZSCH , Doris / VAN DER K NAAP , Ewout / A BBATE , Roberta / D AWIDOWICZ , Marta / F ELD - K NAPP , Ilona / H OFMANN , Katrin / H OFFMANN , Sabine / P ERGE , Gabriella / S CHRAMM , Karen (2019): Freies Lesen im LEELU-LehrerInnenbildungsprojekt. Vom Forschungsstand zu einer Handreichung für den Unterricht. [Endfassung vom 31.08.2019] https: / / leelu.eu/ wp-content/ uploads/ sites/ 164/ 2019/ 08/ Konzeptpapier-zum-Freien-Lesen-im- LEELU-Projekt-Endfassung-2019.pdf (10.04.2021) A BITZSCH , Doris / V AN DER K NAAP , Ewout (2019): „Literatur im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen. Zur Auswahl eines Katalogs für freies Lesen im Bereich des Deutschen als Fremdsprache“. In: Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Faches Deutsch als Fremdsprache 56.3, 131-141. B AUM , Elisabeth / I DEL , Till-Sebastian / U LLRICH , Heiner (2012): „Einleitung zu: Kollegialität und Kooperation in der Schule“. In: B AUM , Elisabeth / I DEL , Till-Sebastian / U LLRICH , Heiner (Hrsg.). Kollegialität und Kooperation in der Schule. Wiesbaden: Springer, 9-25. VAN DEN B RANDEN , Kris (2009): „Diffusion and implementation of innovations“. In: L ONG , Michael H. / D OUGHTY , Catherine J. (Hrsg.). The Handbook of Language Teaching. West Sussex: Wiley Blackwell, 659-672. D AWIDOWICZ , Marta / S CHRAMM , Karen / A BBATE , Roberta / A BITZSCH , Doris / F ELD -K NAPP , Ilona / H OFMANN , Katrin / H OFFMANN , Sabine / P ERGE , Gabriella / VAN DER K NAAP , Ewout (2019): Erfahrungsbasiertheit, kollegiale Kooperation und videobasierte Reflexion als Prinzipien des LEELU-LehrerInnenbildungsprojekts. [Endfassung vom 31.08.2019] https: / / leelu.eu/ wp-content/ uploads/ sites/ 164/ 2019/ 08/ Konzeptpapier-zur- Lehrerbildungsma%C3%9Fnahme-im-LEELU-Projekt-Endfassung-2019.pdf (10.04.2021) D AWIDOWICZ , Marta / S CHRAMM , Karen (2016): „‘Am wichtigsten ist mir, wenn ich eure Videos anschaue, dass ich selbst etwas für mich mitnehme‘ - Videobasierte kollegiale Kooperation zu DaF-Unterricht“. In: IDV Magazin 89.1, 12-20. D AY , Richard D. / B AMFORD , Julian. (2002): „Top ten principles for teaching extensive reading“. In: Reading in a Foreign Language 14.2, 136-141. E LLEY , Warwick B. (1991): „Acquiring literacy in a second language: The effect of book-based programs“. In: Language Learning 41.3, 375-411. ERF (2011): The Extensive Reading Foundation’s Guide to Extensive Reading. https: / / erfoundation.org/ wordpress/ guides/ (10.04.2021) H ILL , David R. (1992): The EPER guide to organising programmes of extensive reading. Edinburgh: University of Edinburgh. 10 Entsprechende methodische Herangehensweisen und Umsetzungen aus der Praxis finden sich in A BITZSCH et al. (2019: 25ff). Erkenntnisse von DaF-Lehrpersonen zur Didaktik des freien Lesens 135 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 H OFFMANN , Sabine / D AWIDOWICZ , Marta (2017): „Internationalisierung und Hochschulkooperationen am Beispiel des Erasmus+-Projekts Lehrkompetenzentwicklung für extensiven Leseunterricht“. In: A LBERT , Ruth / A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ , Sylwia / J ENTGES , Sabine (Hrsg.): Hochschulen international vernetzen - Internationale Lehrkooperationen in der Germanistik und in Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 129-140. H OFFMANN , Sabine (2019): „Beratung beim Extensiven Leseunterricht im DaF-Unterricht“. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 24.2, 427-457. H OFMANN , Katrin (2021): „Strukturelle Gelingensbedingungen videogestützter Lehrpersonengespräche über DaF-Unterricht: Eine Interviewstudie zu Paar- und Gruppeninteraktionen“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 50.1, 106-123. H ORST , Marlise (2005): „Learning L2 vocabulary through extensive reading: A measurement study“. In: Canadian Modern Language Review 61.3, 355-382. J EON , Eun-Young / D AY , Richard (2016): „The effectiveness of ER on reading proficiency. A metaanalysis“. In: Reading in a Foreign Language 28.2, 246-265. K RASHEN , Stephen (2004): The power of reading. Insights from the research. London, Libraries Unlimited. K RASHEN , Stephen (2011): Free voluntary reading. Santa Barbara: Libraries Unlimited. M OKHTARI , Kouider / R EICHARD , Carla A. (2002): „Assessing students' metacognitive awareness of reading strategies“. In: Journal of Educational Psychology 94.2, 249-259. N AKANISHI , Takayuki (2015): „A meta-analysis of extensive reading research“. In: TESOL Quarterly 49.1, 6-37. N EWBY , David / A LLAN , Rebecca / F ENNER , Anne-Brit / J ONES , Barry / K OMOROWSKA , Hanna / S OGHIKYAN , Kristine (2007): Europäisches Portfolio für Fremdsprachenlehrende in Ausbildung. Europarat. Online: http: / / archive.ecml.at/ mtp2/ publications/ C3_Epostl_D_internet.pdf (10.04.2021) OECD (2016): PISA 2015. Ergebnisse (Band I): Exzellenz und Chancengerechtigkeit in der Bildung. Bielefeld: Bertelsmann. P ILGREEN , Janice L. (2000): The SSR handbook. How to organize and manage a sustained silent reading program. Portsmouth: Boyton/ Cook. P LOMP , Tjeerd (2013): „Educational Design Research: An Introduction“. In: P LOMP , Tjeerd / N IEVEEN , Nienke (Hrsg.): Educational Design Research. Enschede: SLO. R EISS , Kristina / S ÄLZER , Christine / S CHIEPE -T ISKA , Anja / K LIEME , Eckhard / K ÖLLER , Olaf (Hrsg.) (2016): PISA 2015. Eine Studie zwischen Kontinuität und Innovation. Münster: Waxmann. S CHAFFNER , Ulrich / S CHIEFELE , Ellen (2016): „Factorial and Construct Validity of a New Instrument for the Assessment of Reading Motivation“. In: Reading Research Quarterly 51.2, 221- 237. S CHRAMM , Karen / D AWIDOWICZ , Marta / H OFMANN , Katrin (2019): „Erfahrungsbasiertheit, kollegiale Kooperation und videobasierte Reflexion als Prinzipien des LEELU- LehrerInnenbildungsprojekts“. In: R AITANIEMI , Mia / A CKE , Hanna / H ELIN , Irmeli / S CHLABACH , Joachim / S CHMIDT , Christopher M. / W AGNER , Doris / Z ICHEL -W ESSALOWSKI , Jana (Hrsg.). Die vielen Gesichter der Germanistik. Tagungsband der finnischen Germanistik in Turku 2017. Frankfurt/ M: Lang, 53-66. S CHRAMM , Karen (2020): „Social video-Austausch über extensiven DaF-Leseunterricht: Vielfalt und Gemeinsamkeiten von Lehrpersonen im internationalen LEELU-Projekt“. In: M UROI , Yoshiyuki (Hrsg.): Einheit in der Vielfalt? Germanistik zwischen Divergenz und Konvergenz. München: Iudicium, 693-705. 136 Doris Abitzsch, Ewout van der Knaap DOI 10.24053/ FLuL-2022-0009 51 • Heft 1 W IPPERFÜRTH , Manuela (2015): Professional vision in Lehrernetzwerken. Berufssprache als ein Weg und ein Ziel von Lehrerprofessionalisierung. Münster: Waxmann. W IPPERFÜRTH , Manuela (2016): „Sprachlosigkeit in der LehrerInnenbildung? Reflexive best practise in dialogue“. In: K LIPPEL , Frederike (Hrsg.): Teaching Languages - Sprachen lehren. Münster: Waxmann, 123-143. Y AMASHITA , Junko (2015): „In search of the nature of extensive reading in L2: Cognitive, affective, and pedagogical perspectives“. In: Reading in a Foreign Language 27.1, 168-181. 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0010 Josefine F ELGNER : Effekte bilingualen Lernens. Eine Untersuchung an sächsischen Schulen. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2020, 178 Seiten [19,90 €]; Anhang erreichbar unter: https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de: bsz: 15-qucosa2-390494 In aktuellen Publikationen werden die vorliegenden Forschungsergebnisse zu potenziellen Wirkungen des bilingualen Unterrichts auf die fremdsprachlichen und fachlichen Kompetenzen der Schüler * sehr vorsichtig interpretiert. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die scheinbaren Ergebnisse des bilingualen Unterrichts ggf. anderenorts ihren Ursprung haben. Vor diesem Hintergrund hätte man so klare Aussagen zu Effekten bilingualen Unterrichts und die Ableitung umfangreicher Forderungen oder zumindest Empfehlungen, wie sie von F ELGNER im Fazit ihrer Publikation vorgenommen werden, nicht mehr erwartet. Dort schreibt sie sehr selbstbewusst u.a., dass ihre Arbeit „einen wesentlichen Beitrag zu den bisherigen Forschungsergebnissen bezüglich der Effekte bilingualen Sachfachunterrichts“ (S. 148) beisteuern könne. Auch „inhaltliche Implikationen für die Schul- und Unterrichtspraxis“ (ebd.) ließen sich daraus ableiten. Denn ihre Studie habe gezeigt, dass „Schüler/ -innen am Gymnasium bezüglich ihrer allgemeinen Sprachkompetenzen im Englischen deutlich von einem bilingualen Unterrichtsangebot in französischer Sprache profitieren“ (ebd.). Ziel der Studie war es, die „Auswirkungen des bilingualen Sachfachunterrichts in französischer Sprache (bzw. der L2 der Lernenden) auf das Erlernen der schulischen Fremdsprache Englisch (die L3 der Lernenden) zu untersuchen“ (S. 9). Die Auswirkungen werden dann de facto heruntergebrochen auf die „globale Sprachkompetenz in Englisch“, die anhand der Punktwerte, die Schüler zum Zeitpunkt der Untersuchung in einem C-Test erreichen, abgelesen wird. Um wesentliche Einflussgrößen auf diese Ergebnisse erfassen zu können, greift F ELGNER auf ein Modell zur Qualitätskontrolle und -sicherung in der Schule und im Unterricht zurück. Damit versucht sie den Forschungsstand zu verschiedenen Formen immersiven, mehrsprachigen bzw. bilingualen Lehrens und Lernens sowie der Bilingualismusforschung einzuordnen (s. zu dieser Vermengung der Forschungsfelder auch unten). Die Auswertung der Daten erfolgt in zwei Schritten: Die deskriptiven und bivariaten Kennwerte werden zunächst mit SPSS (Version 23) ausgewertet. Daran schließen sich umfangreiche Regressionsanalysen und Mehrebenenanalysen an, die mit Stata (Version 15) durchgeführt werden. Hier soll nur das zentrale Ergebnis festgehalten werden: Die Gruppe der Schüler im deutsch-französischen bilingualen Lehrgang schneidet mit ihren Ergebnissen im C-Test deutlich besser ab als die anderen in die Studie eingebundenen Schülergruppen. Auf der zweiten Analyseebene zeigt sich dann, dass dasjenige Regressionsmodell, das die Unterschiede der englischen Sprachkompetenz (gemessen mit einem C-Test) nicht nur unter Rückgriff auf die Variable „Teilnahme am bilingualen Unterricht“ betrachtet, sondern auch die Variablengruppen 1 (Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund und Zweisprachigkeit) und 2 (Fähigkeitsselbstkonzept, Lernmotivation und Selbstwirksamkeit) mit einbezieht, 39% der Gesamtvarianz vorhersagen kann (S. 123). „Die Teilnahme am bilingualen Unterricht [...] und die beiden affektiven * Nach reiflicher Überlegung und diversen Versuchen mit sog. gendersensiblen Formen des Schreibens kehre ich bewusst zur generischen Schreibweise zurück; die Gründe dafür diskutiere ich gerne im persönlichen Gespräch. B e s p r e c h u n g e n 138 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0010 51 • Heft 1 Faktoren [Fähigkeitsselbstkonzept und Lernmotivation] bilden somit die bedeutsamsten Prädikatoren in Bezug auf die allgemeine Sprachkompetenz im Englischen“ (S. 128). Ausgehend von diesem Befund kommt F ELGNER dann zu den eingangs zitierten weitreichenden Folgerungen. Dies verwundert insofern, als F ELGNER selbst in den vorangegangenen Ausführungen immer wieder auch auf Limitationen ihrer Studie aufmerksam macht. So weist sie an verschiedenen Stellen auf das Problem der für eine Regressionsanalyse mit 17 Faktoren sehr kleinen Stichprobe - noch dazu mit geschachtelten Gruppen - hin (u.a. S. 130f.). In den einschlägigen forschungsmethodischen Handbüchern geht man von einem Mindestverhältnis von 1: 10 aus, von vielen Autoren wird jedoch für deutlich höhere Teilnehmerzahlen plädiert. Daher sollte man gerade diese Limitation im Auge behalten. Sowohl die Bedeutung der Klassenzusammensetzung - in bilingual unterrichteten Klassen hauptsächlich Mädchen, ambitionierte Lerner, ein entsprechend störungsfreierer Unterricht und „dementsprechend mit erhöhter echter Lernzeit“ (S. 140) - als auch die potenziell unterschiedliche Unterrichtsgestaltung durch die Lehrpersonen in den verschiedenen Klassen (S. 144) werden von F ELGNER als mögliche Erklärungen für die guten C-Test-Ergebnisse in Englisch herangezogen. Aber „die Schulkultur, die Leistungsbereitschaft in der Klasse sowie die Unterrichtsebene, v.a. die individuelle Gestaltung des Unterrichts durch die Lehrkraft [sind] im Studiendesign nicht berücksichtigt worden. Dies schränkt die Interpretation der Befunde durchaus ein“ (S. 147). Dem kann man vor dem Hintergrund des herangezogenen Modells, bei dem die hier genannten Faktoren ganz oben in der Rangliste zur Erklärung von Lernerfolg stehen, nur zustimmen. Allerdings, so fährt F ELGNER (S. 147f.) ihre Argumentation fort, „muss auch klar formuliert werden, dass eine solch umfangreiche Erhebung im Rahmen einer Einzelfalluntersuchung kaum möglich ist und im Sinne einer Forschungsethik, verstanden als Verantwortung gegenüber den Probanden, auch kaum vertretbar ist“ (S. 147f.). Auch hier ist man geneigt, der Autorin zuzustimmen, man hätte sich allerdings gewünscht, dass sie schon zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich spätestens bei der Anlage der Studie die aufgrund der konzeptuellen Grundlage notwendigen forschungsmethodologischen Schritte getan hätte; möglicherweise hätte dies sogar zu einer Reformulierung der anfänglichen Zielsetzung und Fragestellung geführt. Denn keinesfalls würde man im Anschluss an all die einschränkenden Sätze erwarten, dass von der Studie behauptet wird, dass mit ihr „die Effekte [deutsch-französisch] bilingualen Sachfachunterrichts auf das Erlernen des Englischen [...] belegt werden konnten“ (S. 148). Noch weniger würde man erwarten, dass auch „didaktische Empfehlungen für die Unterrichtspraxis“ (S. 149) gegeben werden sollen, war die Unterrichtspraxis doch gar nicht Gegenstand der Untersuchung. So bleibt am Ende nicht viel übrig. Der Eindruck, der sich beim Lesen der einleitenden Kapitel zur Zielstellung der Arbeit, ihrer Problemstellung und zu den theoretischen Bezügen und vorliegenden empirischen Evidenzen schon einstellte, wird am Ende leider bestätigt. Zentrale Begriffe wie „(Teil-)Immersion“, „lebensweltliche Bilingualität/ Zweisprachigkeit“, „bilingualer Unterricht“ usw. werden nicht nur unzureichend klar definiert und abgegrenzt. Sie werden vor allem nicht stringent verwendet. Dies gilt auch für die aus anderen Untersuchungen vorliegenden Forschungsergebnisse in den genannten Bereichen. Auf einige symptomatische Stellen aus dem Schlusskapitel, die sich in ähnlicher Form auch in den konzeptuellen Kapiteln 2 und 3 finden, möchte ich hinweisen: Nachdem die Bedeutung der Ergebnisse der französischdeutsch bilingual unterrichteten Schüler im C-Test Englisch hervorgehoben wurde, schreibt F ELGNER (S. 138f.), dass diese Ergebnisse mit den Ergebnissen einer Studie zu den Staatlichen Europa-Schulen in Berlin „in Einklang gebracht werden“ können. Auch dort habe sich für den dual-immersiven Unterricht gezeigt, dass er positiven Einfluss habe - nur um dann darauf hinzuweisen, dass sich die Organisationsformen doch deutlich unterschieden, dass es sich hier um eine „natürliche Zweisprachigkeit“ handle und dass Erkenntnisse aus diesem Bereich nicht auf Besprechungen 139 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0011 das unterrichtliche Fremdsprachenlernen übertragen werden sollten. Warum dann noch auf den „additiven Effekt von Bilingualität“ (S. 142) und die Nutzung bilingualer Lernangebote von lebensweltlich Zweisprachigen (S. 147) verwiesen wird, erklärt F ELGNER nicht. Fazit: Eine saubere Statistik macht noch keine gute Studie aus. Gute Studien sind charakterisiert durch konzeptuell klare und transparente Fragestellungen, die mit validen Instrumenten operationalisiert werden. Dies setzt zunächst einmal eine intensive, reflektierte und kohärente Auseinandersetzung mit den vorliegenden Erkenntnissen zum Themenfeld voraus. Wenn die daraus entwickelten Fragen dann ein Untersuchungsdesign einfordern, das zu umfangreich für die Forschenden oder die Forschungsteilnehmer und ihre Ressourcen wird oder das ethische Grenzen überschreitet, dann sollten lieber die Fragen verworfen werden, als sie mit ungeeigneten Mitteln zu erforschen. Wichtiger aber noch scheint mir, dass Ergebnisse statistischer Berechnungen nicht unberechtigter Weise als Beleg für eigene Annahmen genutzt werden. Hier sei an den in Handbüchern zu quantitativen Forschungsmethoden und entsprechenden statistischen Auswertungen immer wiederkehrenden Lehrsatz erinnert, dass Korrelationen allein noch keine Kausalitäten sind. Korrelationen weisen auf mögliche Zusammenhänge hin; diese müssen aber durch weitere Untersuchungen geprüft werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die untersuchten Stichproben nur sehr klein sind bzw. sein können. Es wäre gut, wenn das Buch mit einem entsprechenden Warnhinweis versehen werden könnte, damit es nicht allzu schnell oder aus Unachtsamkeit für die falschen bildungs- und schulpolitischen, didaktischen oder forschungsplanerischen Schritte genutzt werden kann. Wuppertal L ARS S CHMELTER Lutz K ÜSTER (Hrsg.): Prendre la parole: Reflexive und übende Zugänge zum Sprechen im Französischunterricht. Hannover: Klett/ Kallmeyer 2020, 135 Seiten [19,95 €] Das vorliegende Werk stellt ein Arbeitsergebnis der Sektion Französisch der Klett Akademie für Fremdsprachendidaktik dar. Es richtet sich laut Klappentext an Französischlehrende der Sekundarstufen, Referendare/ innen sowie Lehrer/ innenfortbildner/ innen und soll praxisorientiert bei der Förderung der Sprechkompetenz im Französischunterricht unterstützen. Der titelgebende Ausdruck „prendre la parole“ ist dabei als ein Sprechen „mit eigener Stimme“ (S. 8) zu verstehen, bei dem eigene Gedanken und Empfindungen artikuliert werden. Dafür müssen Lernende Sprechhemmungen abbauen, mit Mitlernenden sinnhaft ins Gespräch kommen und die fremde Sprache als Kommunikationsmittel erleben. Besonderer Wert wird neben einem subjektorientierten Ansatz reflexiven Kompetenzen zugesprochen sowie einem Übungsbegriff, „der auf den individuellen Erfahrungshorizont der Schülerinnen und Schüler bezogen und in ein umfassenderes Bildungsverständnis integriert wird“ (Klappentext). Nach einer Einführung des Herausgebers folgen drei thematische Blöcke: „Lerntheoretische Fundierungen“, „Kompetenzentwicklung im Bereich des Sprechens“ und „Wege der Sprechförderung im Französischunterricht“. Die „Lerntheoretische[n] Fundierungen“ beginnt Daniela C ASPARI mit „Ansätze[n] reflexiven Lernens“. Letztere verschreiben sich dem bewussten und intensiven „Nachdenken über Prozesse, Verfahren, Ergebnisse und Ziele des eigenen Lernens“ (S. 11) und betrachten Lernende in konstruktivistischem Sinne als Individuum. Die Autorin plädiert angesichts der zunehmenden Heterogenität der Lerngruppen für eine Implementierung reflexiven Lernens als durchgängiges Prinzip modernen Fremdsprachenunterrichts und hebt die Verquickung mit allen in den Bildungsstandards aufgeführten Kompetenzen hervor. Im Teilkapitel „Bildung, 140 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0011 51 • Heft 1 Reflexion, Übungen“ verbindet Malte B RINKMANN reflexives Lernen mit der Bildungstheorie von Wilhelm von Humboldt, die „auf eine Veränderung und Transformation des Verhältnisses zu sich und zur Welt“ (S. 17) zielt, und beleuchtet Sprachenbildung im Lichte der Wechselwirkung zwischen „Selbst-Verstehen und Fremd-Verstehen“ (S. 19). Diesbezüglich betont er die Bedeutung von (Selbst-)Reflexion in einem bildungstheoretischen Verständnis in enger Verbindung mit Language Awareness. In einem nächsten Teilkapitel wendet er diese Ausführungen auf das Üben an und fokussiert damit den Lernprozess und die eigene Weiterentwicklung anhand von Negativerfahrungen wie gemachten Fehlern. Den dritten Teil des Bandes eröffnet erneut Daniela C ASPARI mit „Psycholinguistischen Grundlagen“ und „Kompetenzmodelle[n] des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens und der Bildungsstandards“. Nachdem sie die Komplexität der Sprechkompetenz mit Bezug auf ausgewählte Sprachproduktionsmodelle dargelegt hat, identifiziert und analysiert sie Stellen im GeR, an denen Sprechen und mündliche Interaktion dargestellt werden, und die darauf basierende Modellierung in den Bildungsstandards. Es folgen Ausführungen zur „Sprechförderung im Französischunterricht als Teil einer mehrsprachigkeitssensiblen Sprachbildung“, verfasst von Daniela C ASPARI und Birgit S CHÄDLICH . Zunächst gehen die Autorinnen auf das Dogma der Einsprachigkeit und die breite Vielfalt an Realisierungsmöglichkeiten in der Unterrichtsrealität ein. Anschließend machen sie Vorschläge, wie Lehrkräfte in der Planung und Reflexion ihres Unterrichts Sprachenwechsel bewusst und zielführend einbinden können. Sie unterbreiten das Konzept der „reflektierten Mehrsprachigkeit“ (S. 40), das Mehrsprachigkeit als Unterrichtsgegenstand, Teil des Unterrichtsdiskurses, Voraussetzung und Ziel des Fremdsprachenunterrichts betrachtet. Im Teilkapitel „Bildende und identitätsstiftende Funktionen“ deklariert Lutz K ÜSTER echte kommunikative Redebedürfnisse zu persönlich bedeutsamen Inhalten als Grundvoraussetzung für zielführende Sprechförderung sowie Persönlichkeitsbildung, auch in Vorbereitung auf gesellschaftliche Anforderungen. Lernende sollen im Klassenzimmer als „Ermöglichungsraum“ (S. 47) Teilhabe im Kleinen einüben können - und das nicht zuletzt durch eigene Redebeiträge. K ÜSTER illustriert, wie z.B. die sanfte Gewöhnung an das Aussprechen der fremden Sprache durch die Übernahme einer (selbst gewählten) fremden Identität erleichtert werden kann, etwa in der Auseinandersetzung mit einem literarischen Text oder im Rahmen einer simulation globale. Im Teilkapitel „Sprachbewusstheit und Sprachlernbewusstheit im Kontext fremdsprachlichen Sprechens“ zeichnet Lutz K ÜSTER im Anschluss zunächst die Geschichte der beiden zentralen Begriffe nach, bevor er die Sprachbewussheitsdimensionen kognitiv, affektiv, politisch und interkulturell auffächert. Als unterrichtliche Anregungen schlägt er u.a. die entdeckende Sensibilisierung für situationsadäquate Registerwahl und expressive Ausdrücke vor sowie Diskussionen über Empfindungen beim Sprechen auf Französisch und Sprachmittlungsaufgaben mit interkulturellem Fokus. Auch das Teilkapitel „Leitlinien mündlicher Fehlerkorrektur“ ist von Lutz K ÜSTER verfasst. In diesem begreift er Fehler als „Motor“ (S. 64) für die eigene Lernentwicklung, wofür er ein positives „Fehlerklima“ (S. 64) als unerlässlich erachtet. Er problematisiert sodann die Kriterien „Korrektheit“ und „Verständlichkeit“, betont die Bedeutung der Selbstkorrektur bei Performanzfehlern und skizziert Leitlinien wie die sehr sparsame Verwendung unterbrechender Korrekturen. Im letzten Teilkapitel, „Überprüfung der Sprechkompetenz - von top down zu bottom up (Praxisbericht)“, schildert Inge R EIN -S PARENBERG ihre Erfahrungen mit Kommunikationsprüfungen als Inhalt im Lehramtsstudium, als seltene Realität in der Berufspraxis und als neu zu konzipierendes Format. Sie berichtet von Initiativen, Vorbehalten von Kollegen/ innen, Durchführungserfahrungen, Lehrer/ innenfortbildungen und der zunehmenden Anzahl mündlicher Prüfungen in ihrem Umfeld. Der vierte Teil, „Wege der Sprechförderung im Französischunterricht“, gliedert sich in fünf Besprechungen 141 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0011 Teilkapitel. Falk S TAUB und Christa W ECK zeichnen in „Ansätze der Lehrwerksgestaltung“ die Entwicklung der Einbindung von Mündlichkeit in Lehrwerke nach und analysieren den aktuellen Stand. Sie problematisieren die Vermittlung von Mündlichkeit über ein (schriftliches) Lehrwerk, die Schnelllebigkeit der Alltagssprache, das im Klassenraum zu verwendende Register, die Rolle der Lehrkraft bei der Umsetzung von Sprechübungen sowie Differenzierungs- und Bewertungsherausforderungen. Aus den Ergebnissen einer fragebogengestützten Befragung von Lehrkräften zu ihrem Umgang mit Mündlichkeitsangeboten in Lehrwerken, ihren Erfahrungen und Wünschen leiten die Autorin und der Autor Anforderungen an neue Lehrwerke hinsichtlich der Schulung von Aussprachekompetenz sowie spontanem und freiem Sprechen ab. Im zweiten Teilkapitel wenden sich Mark B ECHTEL und Inge R EIN -S PARENBERG „Lernaufgaben zur Förderung des Sprechens im Anfangsunterricht“ zu. Sie präsentieren das Format „Lernaufgabe“ als besonders geeignete Möglichkeit, einen realitätsnahen Sprechanlass zu schaffen, und thematisieren deren Einbindung in einen „Lernaufgabenparcours/ -zirkel“ mit Übungs- und Reflexionsphasen. Sie definieren dafür zunächst die beiden Begriffe, bevor sie die Schritte der Rückwärtsplanung einer Lernaufgabe zum Thema „Mon collège“ darlegen. Mit „Sprechen in der Unterrichtsinteraktion“ beschäftigen sich im dritten Teilkapitel Birgit S CHÄDLICH und Falk S TAUB . Sie schlagen Kriterien vor, wie Lehrkräfte die Verwendung der Unterrichtssprache im Vorhinein „reflektieren, den Unterricht also ‚mündlich […] durchdenken‘“ (S. 95) können. Ihre „Fluchtpunkte der Sprechförderung“ (S. 97) sind eine starke inhaltliche Ausrichtung sowie der Einsatz von scaffolding-Maßnahmen. Ferner beleuchten sie das Kontinuum zwischen automatisiertem Üben und freiem Sprechen sowie das Verhältnis von Übung, Reflexion und Korrektur. Heike S CHAUMBURG und Christopher M ISCHKE zeigen in „Digitale Medien zur Förderung der Sprechkompetenz im Französischunterricht“ auf, wie das „‚Zwischenschalten‘ digitaler Medien zur Förderung des Sprechens zweckmäßig sein kann“ (S. 103). Sie skizzieren Unterstützungspotenziale bei der Konzeption und Formulierung einer Sprechabsicht, der Artikulation und (Selbst-)Überwachung, bevor sie zwei Praxisbeispiele vorstellen: jemandem per Messenger-Dienst den Weg weisen und einen Audioguide erstellen. Abschließend zeigen sie auf, wie reflexives Lernen und Üben durch digitale Medien unterstützt werden kann. Der letzte Beitrag behandelt „Theaterpraktische Verfahren zur Förderung der Sprechkompetenz im Französischunterricht“. Christopher M ISCHKE und Katharina W IELAND illustrieren darin, wie durch szenisches Spiel inklusive Mimik, Gestik, Körpersprache und Bewegung realitätsnäheres und - mit etwas Gewöhnung - ‚hemmungsloseres‘ Sprechen erreicht werden kann. Nach einer Klärung zentraler Begrifflichkeiten und Charakteristika stellen sie Einstiegs-, Körper-, Sprech- und Stimmübungen vor sowie Improvisations- und Dialogübungen, das Spiel mit Requisiten und Nachbereitungsübungen. Der Band wird beschlossen durch ein „Schlusswort“, das die Ziele der Arbeit der Klett Akademie für Fremdsprachendidaktik offenlegt und zur Zusendung von „Rückmeldungen jedweder Art“ (S. 123) zu vorliegender Veröffentlichung einlädt. Es folgt eine Auflistung der im Band verwendeten Literatur und ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, denen beim Verfassen des vorliegenden Werkes eine optimale Balance zwischen Theorie und Praxis gelungen ist. Dies macht das Werk zu einem lohnenswerten Fortbildungs- und Nachschlagewerk zu aktuellen Erkenntnissen und unterrichtspraktischen Wegen der Sprechförderung. Als solches wird es sicherlich auch an Hochschulen fremdsprachendidaktische Veranstaltungen bereichern und sorgt im Idealfall dafür, dass reflexives Lernen nach seiner Integration in die Lehrerausbildung nun auch verstärkt im schulischen Fremdsprachenunterricht implementiert wird - und dies nicht nur im Bereich des Sprechens. Münster C ORINNA K OCH 142 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0012 51 • Heft 1 Christine E. P OTEAU (ed.): Effects of Service Learning in Foreign and Second Language Courses. London: Routledge 2021, 170 Seiten [96,00 £]. „Lerne und tue Gutes“, das ist die zentrale Idee von Service Learning (SL). Bereits seit den 1960er Jahren haben Colleges und Universitäten in den USA die Implementierung von SL als vielversprechende Lehr- und Lernform vorangetrieben, die fachspezifische Inhalte (Learning) mit ehrenamtlichem Engagement (Service) verbindet. Im deutschen Sprachraum findet das Konzept seit Anfang der 2000er Jahre Verbreitung an (Hoch-)Schulen. Studierende arbeiten kostenfrei in Projekten mit Kooperationspartnern, oft gemeinnützigen Organisationen, und entwickeln im Rahmen dieser sozial motivierten berufspraktischen Tätigkeit (über-)fachliche und persönlichkeitsbildende Kompetenzen. Der vorliegende Band widmet sich SL-Projekten, in denen Studierende unterschiedlichster Fachdisziplinen ihre sprachlichen und interkulturellen Kompetenzen in der gemeinnützigen Arbeit nutzen und erweitern. Zu Beginn versucht sich die Herausgeberin an einer Systematisierung der SL-Projekte mit sprachlichem Schwerpunkt. Dabei werden einerseits vier Subkategorien von SL unterschieden: Anwaltschaft („Advocacy SL“), indirektes SL („Indirect SL“), projektbasiertes SL („Projectbased SL“) und forschungsbasiertes SL („Research-based SL“). Andererseits werden zwei Hauptkategorien benannt - direktes und indirektes SL, die sich hinsichtlich des vorhandenen physischen Kontaktes der Studierenden zu den Hilfsbedürftigen bzw. den Mitarbeitern der gemeinnützigen Organisationen unterscheiden. Diese Einteilung entbehrt einer gewissen Logik, da indirektes SL sowohl als Hauptals auch Unterkategorie genannt wird und letztlich alle im Band beschriebenen Projekte eine gewisse Forschungsorientierung und natürlich Verantwortungsübernahme im Sinne einer Anwaltschaft aufweisen. Entsprechend arbiträr erscheint die Reihenfolge, nach der die Beiträge im Buch angeordnet sind. In Kapitel 2 untersucht Joe T ERANTINO die Entwicklung des Angstniveaus von 18 Studierenden in den USA in Bezug auf die Nutzung der Fremdsprache Spanisch während eines 15wöchigen Konversationskurses mit SL als obligatorischem Bestandteil. Ziel war es, mit Hilfe eines Mixed-Methods-Ansatzes (Angstinventar, Interviews, Reflexionsjournals), die Angstentwicklung der Studierenden bzgl. ihrer Nutzung der zu erlernenden Fremdsprache Spanisch zu messen und Ursachen, Auswirkungen und Veränderungen dieser Angst zu dokumentieren. Die Studierenden halfen in einer ortsansässigen Suppenküche aus, in der vornehmlich spanisch sprechende Mitarbeiter*innen arbeiteten. Die Studie zeigt, dass sich die Angst der Studierenden vor der Nutzung der spanischen Sprache in der Praxis negativ auf ihre Sprachleistungen, ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre Kommunikationsbereitschaft auswirkte. Studierenden mit erhöhter Angst nutzten anstelle des Spanischen oft die englische Sprache zur Konversation und produzierten häufiger grammatikalische Fehler. Es konnte gezeigt werden, dass die Bereitschaft der Student*innen, sich auf Spanisch zu unterhalten, während des SL-Projektes zunahm. Vor allem drei Faktoren wirkten sich der Studie zufolge angstreduzierend aus: (a) die freundliche Zugewandtheit der Muttersprachler*innen, (b) die Selbstwahrnehmung und (c) die Anwesenheit von Dozent*innen oder Kommiliton*innen. Es gelang diesem SL-Projekt, das sprachliche Selbstvertrauen der Studierenden und damit deren fremdsprachliche Kompetenzen zu fördern. Das in Kapitel 3 beschriebene SL-Projekt von Jeanette S ANCHEZ -N ARANJO richtete sich an US-amerikanische Medizinstudent*innen mit Englisch als Erst- und Spanisch als Fremdsprache. Im Rahmen eines Fachsprachenkurses sollten die Studierenden mithilfe von SL- Aktivitäten ihre fachspezifischen Sprachkenntnisse in Spanisch verbessern und interkulturelle Kompetenzen erhöhen. Das SL-Programm umfasste zwei Hauptkomponenten: 15 Stunden gemeinnützige Arbeit (Medikamente verteilen sowie Unterstützung in der Kinder- und Jugendhilfe) sowie das Schreiben von Reflexionspapieren („reaction/ reflection papers“, S. 36), die Besprechungen 143 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0012 neben Aufzeichnungen aus der teilnehmenden Beobachtung der Forschenden als Datengrundlage für die Untersuchung dienten. Die Ergebnisse der Studie sind wenig überraschend: Das SL-Programm half den Studierenden dabei, Verantwortung in der Gemeinschaft zu übernehmen und eine Verbindung zwischen ihrem praktischen Tun und ihrem theoretischen Wissen herzustellen. Manche stellten zudem während des Programms fest, dass sie ein höheres spanisches Sprachniveau benötigten, um mit Patienten adäquat kommunizieren zu können. Schließlich bemerkten einige der Student*innen durch die praktischen Erfahrungen, dass sie vor dem praktischen Einsatz ein falsches Bild von der spanischsprechenden Gemeinschaft hatten. In Kapitel 4 wendet sich der Fokus vom Ertrag der Studierenden zum Gewinn der Gemeinschaft. Die Autorin des Kapitels konzentriert sich hier auf drei ausgewählte SL-Programme. Mithilfe einer anonymisierten Online-Befragung sollten die Leiter*innen der kooperierenden Organisationen angeben, wie sie die potenziellen Auswirkungen von SL auf ihre Gemeinde einschätzten. Die Umfrageergebnisse zeigen einen positiven Einfluss der jeweiligen SL- Programme auf die verschiedenen Organisationen. Die Befragten gaben an, dass die Dienste, welche die Student*innen für ihre Gemeinschaft leisteten, diese positiv beeinflussten. Aus diesem Grund würden sie SL-Programme nicht nur selbst gerne weiterführen, sondern auch anderen Organisationen empfehlen. Die Tatsache, dass lediglich drei Personen an der Befragung teilgenommen haben, stellt nicht nur die Reliabilität, sondern auch die Relevanz dieser Ergebnisse in Frage. In Kapitel 5 beleuchten Jennifer S HANNAHAN et al. im Kontext zweier English for Academic Purposes-Kurse einer US-amerikanischen Universität das Potenzial von „diologue journals“ (DJs) für die studentische Genese einer kritischen Bewusstheit ihrer SL-Aktivitäten sowie für die Entwicklung ihrer schriftsprachlichen Kompetenzen. Das in zwei achtwöchigen Kursen erhobene Datenmaterial umfasste die DJs 13 internationaler Studierender, ein abschließendes Essay, Post-Einzelinterviews sowie eine Fokusgruppendiskussion. Die Kodierung des Datenmaterials erfolgte hinsichtlich der Kategorien „kritische Perspektiven“, „Rolle der Studierenden als Teilnehmende einer globalen community“ sowie „Reflexionen der Entwicklung ihrer Schreibkompetenzen“. Im Ergebnis verweisen die Autor*innen auf die Entwicklung von rein deskriptiven Texten hin zu solchen, die nach Ansicht der Autor*innen ein vertieftes Reflexionsverständnis sowie ein erhöhtes kritisches Bewusstsein erkennen lassen. Die Entwicklung wird zurückgeführt auf die Verwendung zahlreicher diskursiver Strategien der Dozierenden im schriftlichen Dialog der DJs. Kapitel 6 fragt nach der Auswirkung synchron-online durchgeführten SLs auf die professionellen Kompetenzen einer angehenden TESOL-Lehrkraft sowie auf die zielsprachlichen Kompetenzen eines Lernenden. In einem Zeitraum von zehn Wochen wurden Unterrichtsstunden zur Vermittlung grammatikalischer Strukturen des Englischen videographiert. Im Zuge der deskriptiven Fallanalyse wurden neben Unterrichtsbeobachtungen schriftliche Reflexionen sowie ein Abschlussbericht seitens der angehenden Lehrkraft sowie eine WhatsApp Korrespondenz mit dem Lernenden ausgewertet. Die Autorin Marcella F ARINA kommt zu dem Schluss, dass sich die Kernelemente traditionellen SL wie Respekt, Reziprozität, Relevanz und Reflexion auch im online durchgeführten Unterricht finden. Bezüglich der Reziprozität wird herausgestellt, dass der „mutual sense of service“ (S. 125) darin bestünde, dass die angehende Lehrkraft den Zugang zu Lernenden zu würdigen wisse, und umgekehrt der Lernende den Zugang zu fremdsprachlichen Instruktionen. Eine solche Perspektive überzeugt wenig hinsichtlich des eigentlichen Anliegens von SL (s.o.). Weiterhin wird hervorgehoben, dass die Synchronität des Onlineformats der Förderung authentischen Sprachgebrauchs und der Einübung lehrkraftseitiger Handlungsmuster ebenso zuträglich sei wie Präsenzpraktika. Zwar adressiert die Autorin die eingeschränkte Aussagekraft der Untersuchung aufgrund der geringen Anzahl 144 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0013 51 • Heft 1 der Teilnehmenden, gleichwohl werden aber weitreichende Schlüsse aus der Untersuchung gezogen. In Kapitel 7 stellt Emauele O CCHIPINTO ein study-abroad Programm für US-amerikanische Studierende vor. Durch gemeinnützige Arbeit in Italien soll ein vollständiges "Eintauchen" in die italienische Umgebung ermöglicht sowie die Entwicklung kultureller und sprachlicher Kompetenzen gefördert werden. Gerahmt werden die vierwöchigen Aufenthalte von Interviews zur Erfassung der mündlichen Sprachkompetenzen der Studierenden. Neben Sprachunterricht erhalten die Studierenden in praktischen SL-Aktivitäten die Möglichkeit, in lebensweltlichen Situationen unter Verwendung des Italienischen sprachhandelnd tätig zu sein. Kern der studentischen Auseinandersetzungen mit ihren Erfahrungen stellen die Verfassung eines „cultural journals“ sowie eines „community-based learning journals“ dar, beide angereichert mit Reflexionsimpulsen zur Förderung einer „reflective intercultural competence (RIC)“ (S. 140). Die Textauszüge werden den RIC Kategorien „contact, culture shock, superficial understanding, deep understanding, and social acting“ (S. 140) zugeordnet, die eine Entwicklung von anfänglicher Distanzierung zur Zielkultur hin zu aktiver Mitgestaltung selbiger illustrieren. Der Autor resümiert, dass sich die Mehrheit der Studierenden den letzten beiden Kategorien zuordnen lässt. Weitere, positive Resultate seien eine gesteigerte Sprachkompetenz der Studierenden sowie deren Motivation, ihre universitären Italienischstudien weiter zu verfolgen. Der Band bestätigt bereits vorhandene Erkenntnisse: SL ist ein geeigneter Lehr-/ Lernansatz, um Erfahrungen aus der außerschulischen Welt für die eigene Professionalisierung zu sammeln und gleichzeitig einen Nutzen für die Gemeinschaft zu erzielen. Bzgl. der Frage, wie SL für Studierende sprachlicher Fächer effektiv gestaltet werden kann, liefert der Band bestenfalls Anregungen, leider jedoch weder nachahmenswerte Projektideen noch fundierte Antworten. Wenngleich durchaus davon auszugehen ist, dass SL einen Mehrwert auch für diesen Zweck bieten kann, lässt sich diese Schlussfolgerung nicht aus den hier vereinten Projekten und Studien ableiten. Einerseits ist die Qualität einiger Studien im Hinblick auf das Forschungsdesign sehr niedrig, andererseits sind die Projekte im Rahmen sehr unterschiedlicher Studienfächer entstanden, in denen das Lernen von Fremdsprachen und der Erwerb interkultureller Kompetenzen eine sichtbar andere Bedeutung einnimmt als dies in Studienfächern mit sprachlich/ kulturellem Schwerpunkt der Fall ist. Einschränkend kommt hinzu, dass viele Beiträge die Darstellung der Genese verwendeter Begrifflichkeiten und Konzepte missen lassen, ebenso wie eine kohärente Darlegung theoretischer Hintergründe. Frankfurt, M. D ANIELA E LSNER , H EIKE N IESEN Gisela M AYR : Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Eine unterrichtsempirische Studie zur Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz in der Sekundarstufe II. Tübingen: Narr Francke Attempto 2020, 476 Seiten [78,00 €] Die vorliegende Dissertationsstudie untersucht mithilfe von mehrsprachigen Unterrichtsmodulen, wie sich mehrsprachige kommunikative Kompetenz (MKK) entwickelt und welche Lernprozesse hierbei stattfinden (S. 17). Die explorativ-interpretativ angelegte Studie ist in Südtirol angesiedelt. Für die Unterrichtsplanung wird die komplexe Kompetenzaufgabe nach Hallet für mehrsprachigen Unterricht adaptiert. Die mehrsprachigen Kompetenzaufgaben als solche stehen jedoch nicht im Fokus der Untersuchung, sondern vielmehr die Erfassung und Definition von Kompetenzbereichen und die Formulierung von Deskriptoren (S. 131). In Teil I des Buchs werden zunächst bildungspolitische Dokumente, der Gemeinsame Besprechungen 145 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0013 europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) und der 2018 erschienene Begleitband sowie der Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA), der in großem Maße Grundlage bei der Entwicklung des Mehrsprachencurriculums Südtirol (MSCS) war (S. 40), diskutiert. Neben der häufig formulierten Feststellung, dass der GER sowohl eine genauere Definition als auch Deskriptoren zu mehrsprachiger Kompetenz vermissen lässt (S. 34), wird hier und bei den anderen Dokumenten - auch dem Begleitband - insbesondere die (jedoch nicht immer ganz) fehlende Berücksichtigung des savoir s’engager nach B YRAMS Modell interkultureller kommunikativer Kompetenz kritisiert (S. 45). Im folgenden Kapitel wird ein Entwurf komplexer mehrsprachiger Lernaufgaben zu benachbarten Ansätzen und Perspektiven wie Mehrsprachigkeitsdidaktik, Tertiärsprachenlernen und CLIL in Beziehung gesetzt. Die Autorin stellt verschiedene Facetten einer Mehrsprachigkeit fördernden Aufgabe heraus und argumentiert überzeugend für die Notwendigkeit einer stärkeren Integration von lebensweltlicher und schulischer Mehrsprachigkeit. An manchen Stellen könnte jedoch der Eindruck entstehen, dass diese Unterscheidung der Darstellung bisheriger mehrsprachigkeitsdidaktischer Zielsetzungen nicht immer gerecht wird (z.B. auf S. 71f.), diese eher auf eine grammatisch-lexikalische Ebene reduziert werden und Interkomprehension ausschließlich auf Prozesse innerhalb von Sprachfamilien bezogen wird (S. 57). Sinnvoll erscheint die Konzeption bisheriger mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze als Bestandteile eines umfassenderen „holistische[n] aufgabenorientierte[n], Rahmenmodell[s]“ (S. 138-139). Bei der theoretischen Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenzen im zweiten Teil der Arbeit rekurriert die Verfasserin u.a. auf psycholinguistische und soziolinguistische Ansätze, die erforderlich sind, um der Komplexität von MKK gerecht zu werden. Besonders zu erwähnen sind auch die Kapitel zu mehrsprachigen Gesprächspraktiken wie Code-switching und Translanguaging sowie MKK und Emotionen. Es gelingt der Autorin, die Notwendigkeit einer Erweiterung der Konzeption von mehrsprachiger kommunikativer Kompetenz um u.a. diese Dimensionen zu veranschaulichen, indem sie im Laufe der Kapitel ihre konzeptionellen Überlegungen immer wieder eng auf den Forschungskontext und die sprachliche Situation in Südtirol bezieht und ‚Vorverweise‘ auf Befunde der Studie einbaut. Teil III des Buchs widmet sich dem Zusammenspiel von Spracheinstellungen, Spracherwerb und Emotion vor dem Hintergrund der sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklung Südtirols. Die Datenerhebung erfolgte über einen Zeitraum von neun Monaten im Rahmen eines qualitativ-explorativen mehrmethodischen Forschungsdesigns an der Schule, an der die Verfasserin selbst tätig ist, mit SchülerInnen im Alter von 15 und 16 Jahren. Der Unterricht wurde von Sprachlehrpersonen aus dem Kollegium gehalten und die Forscherin war währenddessen in der Klasse anwesend. Es kamen Fragebögen zur Sprachbiographie, Audioaufzeichnungen (von mehrsprachiger Kommunikation in Gruppenarbeit), Videoaufzeichnungen (von SchülerInnenprodukten wie z.B. Beiträge zu mehrsprachigen poetry slams), stimulated recalls und retrospektive Interviews sowie ein Forschungstagebuch zum Einsatz. Für die Audioaufzeichnungen von Aushandlungsprozessen wurden SchülerInnen nach dem Prinzip der maximalen Kontrastierung ausgewählt und zwei Gruppen zugeordnet (zu den Auswahlkriterien s. S. 153). Sprachproduktionen wie mehrsprachige Gedichte und Reden (s. Anhang, S. 461-471), Äußerungen in Aushandlungsprozessen bei Gruppenarbeit und aus stimulated recalls sowie retrospektive Interviews von vier Lernenden sind Gegenstand von Einzelfallanalysen. Die Audiodateien wurden anhand der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack ausgewertet. In Anlehnung an die Grounded Theory wurden aus gewonnenen Daten ermittelte Codes für die weitere Datenerhebung genutzt (S. 170). Vor den Kapiteln zu den Einzelfallanalysen werden vier Ausschnitte aus Aushandlungsprozessen von SchülerInnen vorgestellt und analysiert. Durch die vorangegangene Darstellung des 146 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0013 51 • Heft 1 betreffenden mehrsprachigen Moduls (zu Political Speeches) und die Transkriptionen sind die Interpretationen, z.B. zu den Funktionen von Code-switching, sehr gut nachzuvollziehen, eines der Gütekriterien qualitativer Forschung. Die Arbeit liefert äußerst interessante Einblicke in die Aushandlungsprozesse der beteiligten LernerInnen (z.B. zum Thema „Patriotismus“, S. 229- 235). In den Einzelfallanalysen werden die Aushandlungsprozesse diachron analysiert, um mögliche Veränderungen im Verhalten der Schülerinnen nachzeichnen zu können (alle vier Personen, die die Einzelfälle bilden, sind weiblichen Geschlechts). Die Aufzeichnungen werden zu Stellungnahmen aus den stimulated recalls und retrospektiven Interviews in Beziehung gesetzt. Die Einzelfälle spiegeln verschiedene Sprachenprofile bzw. -biographien des Südtiroler Kontextes wider. Der mehrmethodische Ansatz sowie die im Rahmen der Datenerhebung berücksichtigte Zeitspanne erlauben einen Nachvollzug der Entwicklungen der SchülerInnen, z.B. der einsprachig aufgewachsenen Amelie, die sich nach und nach für Sprachwechsel öffnet und deren Potenzial erkennt, oder jene von Sarah, der es in zunehmendem Maße gelingt, alle bei ihr vorhandenen sprachlichen und strategischen Ressourcen interkomprehensiv für eine Aufgabe und mehrsprachige Interaktion zu aktivieren sowie ihre lebensweltliche Praxis des Translanguaging auf bildungssprachliche Bereiche anzuwenden. Auch die Befunde zum sprachlichen Verhalten der SchülerInnen in den Aushandlungsprozessen im Zusammenhang mit Emotionen und Sprachbildern sind wichtig. Der/ die Leser/ in erfährt beispielsweise von einem neu eingewanderten Schüler, der (noch) kein Italienisch spricht, und von der Rücksichtnahme seiner Arbeitsgruppe, die auf die Verwendung dieser Sprache verzichtet (S. 264-265). Auch Ladinisch als sog. „Minderheitensprache“ (S. 286) und Auswirkungen der Wahrnehmung „sprachliche[r] Hierarchien“ (S. 310) auf Emotionen und sprachliches Verhalten werden angesprochen. Die Abschnitte zu den Analysen der Aushandlungsprozesse und der Einzelfälle münden jeweils in eine Zusammenstellung von Codes, die sich in den Daten widerspiegeln wie „durch die eigenen Sprachkenntnisse regulierend in das Gespräch eingreifen“ (S. 322) und den savoirs zugeordnet werden. Die einzelnen Aspekte der theoretischen Modellierung mehrsprachiger kommunikativer Kompetenzen werden im Anschluss mit Indikatoren in den Daten abgeglichen. Für manche konnten keine Entsprechungen gefunden werden, wie beispielsweise „CS [= Codeswitching] für impliziten Adressatenwechsel“ (S. 394). Auf der anderen Seite brachte die Datenauswertung neue Kernkategorien hervor, die durch keinen der anderen Bereiche von MKK erfasst werden konnten (S. 407-409): „[m]ehrsprachiges Recherchieren im Internet“, „[m]ehrsprachiges Schreiben“ und „[m]ehrsprachiges literarisches Lernen“. Die aus dem Datenabgleich gewonnenen Indikatoren werden schließlich in Form von Deskriptoren den savoirs zugeordnet. Aufgrund der geringen Datenmenge wird auf Niveaustufen und eine Graduierung verzichtet (S. 411), was allerdings bekanntermaßen, beispielsweise im Bereich savoir être, ohnehin schwierig wäre. Durch die vorgelegte Arbeit soll „ein erstes Modell geschaffen werden, in dem die Komplexität sowohl lebensweltlicher als auch bildungspolitischer Relevanz der mehrsprachigen kommunikativen Kompetenz (MKK) erfasst und für Lehrpersonen veranschaulicht wird.“ (S. 427). Es ist als eine Ergänzung des Mehrsprachencurriculums Südtirol und als ein Instrument zur Ausarbeitung, Durchführung und Evaluation aufgabenorientierter mehrsprachiger Unterrichtsarrangements intendiert (ebd.). Inwieweit das Instrument über den Kontext Südtirols und dessen besondere sprachliche und kulturelle Bedingungen hinaus eine für die Planung mehrsprachigen Unterrichts hilfreiche Unterstützung darstellt, könnten Folgeuntersuchungen und Unterrichtsreihen in anderen Umgebungen zeigen. So räumt die Verfasserin ein, dass im Falle ihrer Studie die „Lernenden bereits in der Pilotphase eine sehr positive Haltung“ gegen- Besprechungen 147 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0014 über mehrsprachigen Lernarrangements zeigten (S. 388) und dass die Deskriptoren nicht als „Standards (...) für einen ‚guten‘ [Anführungszeichen im Original] mehrsprachigen Unterricht“ (S. 411) zu verstehen seien. Sie stellen jedoch einen Versuch dar, die Vielfalt mehrsprachigkeitsdidaktischer Überlegungen wie Mehrsprachigkeitsförderung und Sprachmittlung, Mehrsprachigkeitsförderung und Literatur sowie Mehrsprachigkeitsförderung und mehrsprachige Kommunikationssituationen in einem Modell zu bündeln. Rostock S TEFFI M ORKÖTTER Anastasia D RACKERT , Mirka M AINZER -M URRENHOFF , Anna S OLTYSKA , Anna T IMUKOVA (Hrsg.): Testen bildungssprachlicher Kompetenzen und akademischer Sprachkompetenzen. Zugänge für Schule und Hochschule. Berlin: Lang 2020, 326 Seiten [69,95 €] Der Sammelband, der im Nachgang an das im November 2018 in Bochum durchgeführte Symposium „Testen bildungssprachlicher Kompetenzen und akademischer Sprachkompetenzen - Synergien zwischen Schule und Hochschule erkennen und nutzen“ entstanden ist, widmet sich einem im bildungsinstitutionellen Bereich drängenden und aktuellen Desiderat. Die elf in die beiden Bereiche ‚Kontext Schule‘ und ‚Kontext Hochschule‘ unterteilten Beiträge gehen aus unterschiedlichen Perspektiven Fragen nach dem Testen von Bildungssprache an. Im Fokus stehen dabei neben dem Testkonstrukt auch einzelne Test- und Prüfungsverfahren in unterschiedlichen schulischen und universitären Lehr- und Lernkontexten. Der erste Teil des Bandes (Kontext Schule) wird mit einem konzeptionellen Beitrag von Frauke M ATZ , Michael R OGGE und Dominik R UMLICH eröffnet, die sich mündlichen Prüfformen im Englischunterricht der Sekundarstufe II widmen. Im Kontext des pluriliteracies-Ansatzes verstehen die AutorInnen den Aufbau bildungssprachlicher Kompetenz als Aufbau von cognitive discourse functions (CDFs) wie Beschreiben und Argumentieren, die SprecherInnen dabei helfen, (im Beitrag nicht immer trennscharf abgrenzbare) Genres und Schemata situationsangemessen zu meistern. Am Beispiel des TED-Talks wird ein solches Genre im Kontext eines mündliches Prüfformats erprobt und in Hinblick auf potentielle Bewertungskriterien hin beleuchtet, wobei offengelassen wird, inwiefern sich die diskutierten Kriterien für die Formulierung eines kontextübergreifenden Testkonstrukts eignen. Christiane D ALTON -P UFFER richtet den Blick auf das Content and Language Integrated Learning (CLIL) in der Sekundarstufe. Ausgehend vom Konstrukt Academic English/ Language, dem englischsprachigen Pendant zu ‚Bildungssprache‘, werden unterschiedliche Zugänge ausgeführt, die der Operationalisierung des Konstrukts dienen. Es wird deutlich, dass sich hier Ansätze bewährt haben, die auf funktionalen Sprachtheorien aufbauen, allen voran der Systemisch Funktionalen Linguistik nach Halliday. Eine Operationalisierung sprachlicher Strukturen erfolgt hierbei also vor dem Hintergrund von Sprachverwendungssituationen und Kommunikationskontexten. Ausgehend von einer solch funktionalen Einbettung sprachlicher Strukturen ist im Bereich des Testens und Prüfens bildungssprachlicher Kompetenz ein „Trend zu integrierten Aufgabenstellungen“ (S. 50) auszumachen, bspw. mit Blick auf die stärkere Berücksichtigung von Genres. Der Beitrag bietet das Potential, aktuelle Diskurse zu Bildungssprache im deutschsprachigen Raum zu reflektieren, einzuordnen sowie in Anlehnung an ebendiese weiterzuentwickeln. Mirka M AINZER -M URRENHOFF und Lisa B ERKEL -O TTO geben in ihrem Beitrag einen Überblick über Ansätze zur Erfassung bildungssprachlicher Kompetenz im DaZ-Bereich und arbei- 148 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0014 51 • Heft 1 ten systematisch heraus, wie die einzelnen Ansätze versuchen, das Konstrukt der Bildungssprache bzw. bildungssprachlichen Kompetenz zu operationalisieren und wie die einzelnen Operationalisierungsansätze in Diagnoseinstrumente überführt werden. Da das Testkonstrukt je nach Ansatz äußerst unterschiedlich operationalisiert wird, werfen die AutorInnen die berechtigte Frage nach der Validität der im Beitrag analysierten und auf die Erfassung bildungssprachlicher Kompetenz ausgerichteter Diagnoseverfahren auf und fordern eine stärkere Orientierung an funktionalen Sprachtheorien in dem Sinne ein, dass bildungssprachliche Strukturen stärker vor dem Hintergrund ihrer kontext- und verwendungsspezifischen Funktionen betrachtet werden müssen. Davon ausgehend, so die AutorInnen, müssten integrativ und handlungsorientiert ausgerichtete Ansätze zur Konstruktbeschreibung stärker Berücksichtigung finden als bisher. Raja R EBLES empirischer Beitrag untersucht Klausuren im Fach Politik von GymnasialschülerInnen der Jahrgangsstufe 10 (n=45). Ziel der korpusanalytischen Studie ist die Identifikation ausgewählter bildungssprachlicher Merkmale, die im ersten Teil des Beitrags überzeugend auf Basis theoretischer Ansätze und empirischer Erkenntnisse hergeleitet werden. Die Autorin kommt zu dem Fazit, dass hypotaktische Strukturen, Passivkonstruktionen sowie attribuierte Nominalphrasen systematisch vorkommen und geeignete Merkmale bildungssprachlicher Kompetenzen im untersuchten Korpus zu sein scheinen. Die Ergebnisse stellen einen wichtigen Beitrag zur Identifikation von Indikatoren für bildungssprachliche Kompetenz dar, auch wenn, wie die Autorin selbst anmerkt, eine entsprechende Validierung dieser Annahme aussteht. Der ebenfalls empirische Beitrag von Grit M EHLHORN widmet sich Sprachmittlungsaufgaben als potentiellem Mittel einer sog. Zweisprachigkeitsdiagnostik mehrsprachiger SchülerInnen mit den Herkunftssprachen Russisch und Polnisch. Die Ergebnisse der longitudinalen Studie mit 40 Jugendlichen weisen darauf hin, dass die Jugendlichen, wenn auch in Abhängigkeit der Kontaktintensität zur Herkunftssprache, Sprachmittlungsaufgaben meistern und im Bereich der aufgabenspezifischen Fachlexik Kompensationsstrategien entwickeln. Dies wird vor dem Hintergrund des Diagnosepotentials von Sprachmittlungsaufgaben diskutiert. Auch wenn der Beitrag für Ansätze einer gesamtsprachlichen Diagnostik als wertvoll einzustufen ist, bleibt sein Bezug zur Rolle bildungssprachlicher Kompetenzen eher vage. Der zweite Teil des Bandes zum ‚Kontext Hochschule‘ wird von einem empirischen Beitrag von Anastasia D RACKERT und Anna T IMUKOVA eröffnet, der sich mit der Eignung von C-Tests für die Einschätzung allgemein- und bildungssprachlicher Sprachkompetenz bei SprecherInnen mit der Herkunftssprache Russisch (n=89) befasst. Untersucht wird mithilfe eines differenzierten Bewertungsrasters, das neben der Worterkennung auch zwischen Flexions- und Orthographiefehlern differenziert, welche Ergebnisse SprecherInnen mit der Herkunftssprache Russisch (im Beitrag als HerkunftssprecherInnen bezeichnet) im Vergleich zu FremdsprachlernerInnen (n=119) erzielen. Die Autorinnen kommt zu dem Fazit, dass eine differenzierte Betrachtung von Lösungen notwendig ist, um die sprachlichen Fähigkeiten von HerkunftssprecherInnen angemessen einstufen zu können. Ob der C-Test auch spezifische bildungssprachliche Kompetenzen erfasst, bleibt jedoch offen. Sonja Z IMMERMANN widmet sich in einem ebenfalls empirischen Beitrag der Frage, wie internationale StudienbewerberInnen (n=19) mit integrierten und computerbasierten Schreibaufgaben umgehen, deren Einsatz im Kontext einer Digitalisierung des TestDaF diskutiert wird. Die mittels eye tracking und anschließenden stimulated recall-Interviews erhobenen Daten zeigen, dass TeilnehmerInnen aufgrund der Bearbeitung der Aufgabe am Computer einen höheren Verarbeitungs- und Planungsaufwand zeigen, was bei der Vorbereitung von Teilnehmenden auf die TestDaF-Prüfung zu berücksichtigen sei. Aufschlussreich ist die methodisch innovativ angelegte Studie für die Erforschung komplexer Schreibprozesse sowie für die Weitentwick- Besprechungen 149 51 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2022-0014 lung von Aufgabenformaten, eher vage bleibt jedoch leider der Bezug des Beitrags zu bildungssprachlicher Kompetenz. Der konzeptionell angelegte Beitrag von Annemarie H ÜLSMANN versucht, am Beispiel von Passivkonstruktionen und Nominalisierungen Aufgabenformate im Rahmen der Deutschen Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH) zu konzipieren, die der Funktionalität und Kontextgebundenheit dieser Strukturen Rechnung tragen. Ausgehend von der Feststellung, dass in der bisherigen Form vorliegende Transformationsaufgaben (Passiv zu Aktiv oder Nominalzu Verbalstil umwandeln) nicht zielführend seien, um die Strukturen funktional und kontextangemessen verwenden zu können, werden in gelungener Weise unterschiedliche geschlossene und halboffene (DSH-kompatible) Aufgabentypen präsentiert und diskutiert. Der Beitrag liefert sinnvolle sowie reflektierte Überlegungen zur Kompatibilität standardisierter Testformate und zur funktionalen Einbettung bildungssprachlicher Strukturen. Auch Christian K REKELER widmet sich in seinem konzeptionellen Beitrag Aufgabentypen im DSH. Im Fokus steht die Frage, welche Formen der standardisierten Leistungsbeurteilung sich eignen, um im Fremdsprachunterricht als lernförderlich in Hinblick auf den Aufbau bildungssprachlicher Kompetenz eingestuft werden zu können. Die Evaluation isolierter sowie integrativer Schreib- und Projektaufgaben (zu letzteren gehört z.B. die Erstellung einer Radiomeldung für eine Nachrichtensendung) ergibt, dass besonders integrative Aufgabentypen geeignete Formen einer nicht-standardisierten Leistungsbeurteilung sein könnten. Ob, wie der Beitrag vermutet, integrative Schreibaufgaben dabei auch bildungssprachliche Kompetenzen erfassen können, harrt einer empirischen Überprüfung. In ihrem diskurs- und gesprächsanalytisch angelegten Beitrag geht Almut S CHÖN der Frage nach, wie geflüchtete LernerInnen in studienvorbereitenden Sprachkursen mündliche Prüfungssituationen meistern. Anhand von zwei Beispielanalysen stellt der Beitrag dar, wie die Aufgabenstellung (mündliche Präsentation samt Textzusammenfassung und persönlicher Meinung) ausgestaltet wird, welche Redemittel die Prüflinge verwenden und wie sie ihren Prüfungsbeitrag strukturieren. Die Studie folgt klassischen gesprächsanalytischen Prinzipien, geht jedoch nur am Rande auf das Testkonstrukt Bildungssprache ein. In welcher Weise sich das im Fokus stehende Prüfungsformat konkret zur validen Erfassung (spezifischer) bildungssprachlicher Kompetenzen - jenseits von bspw. kohärenzstiftender Redemittel - eignet, bleibt deshalb vage. Zu den erkenntnisreichsten und methodisch innovativsten Beiträgen des Bandes gehört die umfassende empirische Studie von Katrin W ISNIEWSKI , Jupp M ÖHRING , Wolfgang L ENHARD und Jennifer S EEGER . Mithilfe eines umfangreichen multifaktoriellen Designs arbeiten die AutorInnen heraus, dass die (wissenschafts-)sprachlichen Kompetenzen von BildungsausländerInnen (n=141) trotz GeR-bezogener Hochschulzugangstests immens divergieren. Es zeigt sich zudem ein deutlicher Zusammenhang zwischen Kompetenzunterschieden, der individuellen Studiensituation sowie individuellen Lebensbedingungen. Der Beitrag wirft die wichtige Frage nach der Validität von Hochschulzugangsprüfungen zur Erfassung studienbezogener Sprachkompetenzen auf und fordert auf Basis der Ergebnisse eine durchgehende Sprachbildung von BildungsausländerInnen im Laufe des Studiums. Der Band vereint einen multiperspektivischen Blick auf das übergeordnete Thema und ermöglicht dadurch Erkenntnisgewinne in Hinblick auf drängende Fragen nach dem Testkonstrukt und seiner validen Erfassung. Zugleich offenbart grade die Zweiteilung in Schule und Hochschule institutionsspezifische Desiderate: Während die Beiträge im ersten Teil (Kontext Schule) v.a. Fragen nach dem Testkonstrukt aufwerfen, dominieren im zweiten Teil (Kontext Hochschule) Beiträge, die konkrete Test- und Prüfverfahren sowie Aufgabenformate in den Fokus rücken. Diese Asymmetrie der Forschungsfragen offenbart einen missing link zwischen der Frage nach dem Testkonstrukt und dem tatsächlichen Testen, nämlich empirische und dabei 150 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0014 51 • Heft 1 auf die sprachliche Entwicklung und konkrete sprachliche Kompetenzen hin ausgerichtete Studien. Diese sind Bedingung dafür, um sich einerseits an ein operationalisierbares Testkonstrukt anzunähern und andererseits erfassen zu können, ob die grade im Hochschulbereich oftmals zum Einsatz kommenden Sprachprüfungen tatsächlich diejenigen bildungssprachlichen Kompetenzen erfassen, die sie erfassen sollen. Auch wenn der Band diesen missing link nicht explizit hervorhebt, veranschaulicht er doch deutlich, worin drängende Fragen im Themenfeld ‚Testen bildungssprachlicher Kompetenzen‘ liegen und hebt darüber hinaus hervor, dass ein multiperspektivischer Blick für alle Seiten lohnenswert ist, damit die Entwicklung von Test- und Prüfungsformen in der Schule vorangeht und die Frage nach der Validität der zahlreichen Tests und Prüfungen in der Hochschule stärker in den Fokus rückt. Vor diesem Hintergrund leistet der Band einen wichtigen Beitrag zur Spezifizierung konkreter Forschungsdesiderate. Gießen J ANA G AMPER 51 • Heft 1 Vorschau auf Jahrgang 51.2 Der von D AGMAR A BENDROTH -T IMMER (Universität Siegen) und B RITTA V IEBROCK (Goethe- Universität Frankfurt) koordinierte Themenschwerpunkt für das Heft 51.2 trägt den Titel Mehrsprachige Forschung - Mehrsprachigkeit in der Forschung: theoretische und empirische Herausforderungen aus internationaler Perspektive. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, individuelle Plurilingualität und deren Bedeutung für Schule und Unterricht sind zentrale Themen der fremdsprachendidaktischen Forschung. Dies ist zunächst Forschung zu Spracherwerbsprozessen von Lernenden verbunden mit Entwürfen mehrsprachigkeitsdidaktischer Bildungsangebote (Interkomprehension, Tertiärsprachen, Gesamtsprachencurriculum, CLIL etc.) und ihrer möglichen Wirkung. Weiterhin sind Einstellungen von Lehrenden und Lernenden zu Mehrsprachigkeit Gegenstand von Forschung und von Tragweite für bildungs- und gesellschaftspolitische Empfehlungen. Da Mehrsprachigkeit als Forschungsressource selbst bisher nur selten reflektiert worden ist, geht das geplante Themenheft über diese Dimension der Konzepte hinaus und befasst sich mit der Analyse der theoretischen und methodologischen Herausforderungen von Forschung über Mehrsprachigkeit und Forschung mit mehrsprachigen Forschungspartner: innen sowie von Forschung in mehrsprachigen internationalen Zusammenhängen. Im Fokus stehen plurilinguale Forscher: innen in mehrsprachigen Forschungsteams und die Frage, wie diese ihre individuellen sprachlichen Ressourcen im Forschungskontext nutzen, dessen thematischer Fokus wiederum die Mehrsprachigkeit ist. Die Beiträge nehmen Chancen und Herausforderungen mehrsprachiger Forschungsansätze in den Blick, systematisieren spezifische Entscheidungsfelder (z.B. hinsichtlich der Erhebung, Auswertung, Dissemination mehrsprachiger Daten) und reflektieren die Voraussetzungen, Optionen und Bedingungen der beteiligten Akteur: innen (Forscher: innen, Studienteilnehmer: innen, akademischer Kontext). Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: Constanze B RADLAW , Britta H UFEISEN , Stefanie N ÖLLE -B ECKER (TU Darmstadt): Das Konzept der funktionalen Mehrsprachigkeit im Kontext der Internationalisierung deutscher Hochschulen Christian K OCH (Universität Siegen): Die Verarbeitung von mehrsprachigen Gesprächsaufnahmen. Vorschläge zur Transkription mündlicher Sprachdaten in der Fremdsprachenforschung Katja L OCHTMAN (Vrije Universiteit Brussel): Multilingual researcher education at the Vrije Universiteit Brussel: a case study. Grit M EHLHORN (Universität Leipzig): Forschungsmethodische Herausforderungen in der Mehrsprachigkeitsforschung am Beispiel eines longitudinalen Verbundprojekts mit bilingualen Jugendlichen David S OLER O RTÍNEZ and Caterina S UGRAÑES E RNEST (Universitat Ramon Llull): Understanding the plurilingual researcher in context Britta V IEBROCK (Goethe-Universität Frankfurt), Gabriela M EIER (University of Exeter), Randa A L S ABAHI (Alyamamah University): DISSECTing multilingual research in the field of language education: a framework for researcher development V o r s c h a u 152 Vorschau 51 • Heft 1 Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 52.1 Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen (koordiniert von A NDREAS W IRAG und C AROLA S URKAMP ) Hinweis in eigener Sache Zum Jahresbeginn 2022 nimmt B IRGIT S CHÄDLICH (Georg-August-Universität Göttingen) ihre Tätigkeit im Herausgeber: innen-Team auf. Wir freuen uns über die Verstärkung. BUCHTIPP Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm (Hrsg.) Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik Ein Handbuch 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2022, 538 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-8233-8432-8 eISBN 978-3-8233-9432-7 Das bewährte Handbuch wurde für die 2. Auflage um neue Kapitel erweitert sowie überarbeitet und aktualisiert. Ausgehend von Grundsatzfragen zu Forschungstraditionen, zu historischer, theoretischer und empirischer Forschungsausrichtung und zur Forschungsethik werden die unterschiedlichen Verfahren der Erhebung, Auswertung und Analyse von ausgewiesenen Expert: innen erläutert. Die Darstellungen individueller Forschungsverfahren beziehen sich auf Referenzarbeiten, in denen diese Verfahren eingesetzt werden. Grafische Darstellungen und Literaturempfehlungen liefern zusätzliche Hilfen. Fremdsprachendidaktische Forschung wird im Handbuch aus mehreren Perspektiven thematisiert: Es geht um die Gestaltung des Forschungsprozesses von der Ideenfindung über die Literaturrecherche und Erarbeitung des Designs bis zur Publikation. Dies schließt Hilfen und Handlungsempfehlungen für die Betreuung wissenschaftlicher Arbeiten ein. Zudem behandelt der Band die Entwicklung fremdsprachendidaktischer Forschung und ihre Positionierung im aktuellen wissenschaftlichen und (bildungs-)politischen Kontext. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1994 - 2021) 23 (1994): Wörterbücher und ihre Benutzer (koord. von Ekkehard Zöfgen) 24 (1995): Kontrastivität und kontrastives Lernen (koord. von Claus Gnutzmann) 25 (1996): Innovativ-alternative Methoden (koord. von Gert Henrici) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): `` Neokommunikativer AA Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von C. Gnutzmann, F.G. Königs und L. Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) 46.2 (2017): Frühes Fremdsprachenlernen (koord. von Heiner Böttger) 47.1 (2018): Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koord. von Lutz Küster und Jochen Plikat) 47.2 (2018): Digitalisierung und Differenzierung (koord. von Torben Schmidt und Nicola Würffel 48.1 (2019): Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik (koord. von Mark Bechtel und Karen Schramm) 48.2 (2019): Sprachmittlung (koord. von Andrea Rössler und Birgit Schädlich) 49.1 (2020): Fremdsprachliches Schreiben (koord. von Hans P. Krings) 49.2 (2020): Aussprache lehren, lernen und evaluieren (koord. von Isabelle Mordellet-Roggenbuck und Julia Settinieri) 50.1 (2021) Bilingualer Unterricht. Aktuelle Herausforderungen und neue Chancen (koord. von Bärbel Diehr und Dominik Rumlich) 50.2 (2021) Berufsbezogenes Fremdsprachenlernen und -lehren (koord. von Karin Vogt und Hermann Funk) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt forschungsbasierte Beiträge zu allen für den Fremdsprachenunterricht und die Förderung der Mehrsprachigkeit relevanten Bereichen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. ISSN 0932-6936 www.narr.digital www.narr.de Themenschwerpunkt: Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe I für alle N ikola M ayer Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ........................................................... 3 C hristoph o liver M ayer Frankophone Jugendliteratur im Französischunterricht der Sekundarstufe I: Simon Boulerices Le dernier qui sort éteint la lumière .......................................... 10 e lisabeth l ehrNer te l iNdert Schulische Vermittlung fremdsprachlicher Lesekompetenz im DaF-Unterricht der Sekundarstufe I .......................................................................................... 23 h eiko k ist , a NNika k olb Picturebooks for teenagers? Erzählen mit Bild und Text in der Sekundarstufe ......... 41 s abiNe b iNder Reading South Africa as an Adolescent .............................................................. 59 d aNiela C aspari Literaturwettbewerbe - ein sinnvoller Beitrag für den fremdsprachlichen Literaturunterricht? Überlegungen zu den französischen Wettbewerben Prix des lycéens und Francomics ........................................................................ 74 N ikola M ayer Breaking down barriers - Englische Lektüre in einfacher Sprache ......................... 90 b ritta F reitag -h ild Young Adult Literature und critical literacy - politische Bildung im fremdsprachlichen Literaturunterricht ............................................................... 107 ISBN 978-3-8233-1200-0