eJournals

Fremdsprachen Lehren und Lernen
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2023
521 Gnutzmann Küster Schramm
ISSN 0932-6936 www.narr.digital www.narr.de Themenschwerpunkt: Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen C arola S urkamp , a ndreaS W irag Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ........................................................... 3 a ndreaS W irag Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht - unter Einbezug von Theater, Bildender Kunst, Musik und Literatur ................................. 11 l uiSa a lfeS Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen: (Selbst-)Portraits und ihr besonderes Potenzial für die Entwicklung von Empathiefähigkeit .......................... 27 a line W illemS Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen: Einblicke in den Forschungsstand mit einem Exkurs in die romanischen Sprachen ........................ 44 C hriStine g ardemann Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht .................................................................................. 59 a lmut h ille Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht: Erleben, Analysieren, selbst Verfassen und Präsentieren .................................................. 73 m iChaela S ambaniS Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht: Kreativität fördern, funktionalkommunikative Kompetenzen entfalten .............................................................. 88 ISBN 978-3-381-10321-8 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) 52. Jahrgang · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Birgit Schädlich, Karen Schramm und Britta Viebrock Themenschwerpunkt: Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen Koordination: Carola Surkamp und Andreas Wirag FLuL 52. Jahrgang · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgegeben von: Birgit Schädlich (Göttingen) · Karen Schramm (Wien) Britta Viebrock (Frankfurt) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Birgit Schädlich, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Romanische Philologie, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen, eMail: birgit.schaedlich@phil.uni-goettingen.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, eMail: karen.schramm@univie.ac.at Prof. Dr. Britta Viebrock, Goethe Universität Frankfurt, Institut für England- und Amerikastudien, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, eMail: viebrock@em.uni-frankfurt.de Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz- Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 68,- (print) bzw. € 79,- (print + online), Vorzugspreis für private Leser € 49,- (print), das Einzelheft € 42,-. (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, eMail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISBN 978-3-381-10321-8 · ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1997 - 2022) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): `` Neokommunikativer AA Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von C. Gnutzmann, F.G. Königs und L. Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) 46.2 (2017): Frühes Fremdsprachenlernen (koord. von Heiner Böttger) 47.1 (2018): Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koord. von Lutz Küster und Jochen Plikat) 47.2 (2018): Digitalisierung und Differenzierung (koord. von Torben Schmidt und Nicola Würffel 48.1 (2019): Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik (koord. von Mark Bechtel und Karen Schramm) 48.2 (2019): Sprachmittlung (koord. von Andrea Rössler und Birgit Schädlich) 49.1 (2020): Fremdsprachliches Schreiben (koord. von Hans P. Krings) 49.2 (2020): Aussprache lehren, lernen und evaluieren (koord. von Isabelle Mordellet-Roggenbuck und Julia Settinieri) 50.1 (2021) Bilingualer Unterricht. Aktuelle Herausforderungen und neue Chancen (koord. von Bärbel Diehr und Dominik Rumlich) 50.2 (2021) Berufsbezogenes Fremdsprachenlernen und -lehren (koord. von Karin Vogt und Hermann Funk) 51.1 (2022) Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe für alle (koord. Nikola Mayer) 51.2 (2022) Mehrsprachige Forschung - Mehrsprachigkeit in der Forschung: theoretische und empirische Herausforderungen aus internationaler Perspektive (koord. von Dagmar Abendroth-Timmer und Britta Viebrock) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt forschungsbasierte Beiträge zu allen für den Fremdsprachenunterricht und die Förderung der Mehrsprachigkeit relevanten Bereichen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. (Fortsetzung umseitig) Themenschwerpunkt: Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen Koordination: C AROLA S URKAMP , A NDREAS W IRAG C AROLA S URKAMP , A NDREAS W IRAG Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ....................................................... 3 A NDREAS W IRAG Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht - unter Einbezug von Theater, Bildender Kunst, Musik und Literatur ............................ 11 L UISA A LFES Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen: (Selbst-)Portraits und ihr besonderes Potenzial für die Entwicklung von Empathiefähigkeit ...................... 27 A LINE W ILLEMS Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen: Einblicke in den Forschungsstand mit einem Exkurs in die romanischen Sprachen ...................... 44 C HRISTINE G ARDEMANN Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht ..................................................................................... 59 A LMUT H ILLE Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht: Erleben, Analysieren, selbst Verfassen und Präsentieren .................................................. 73 M ICHAELA S AMBANIS Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht: Kreativität fördern, funktionalkommunikative Kompetenzen entfalten .............................................................. 88 52. Jahrgang • Heft 1 Herausgegeben von: Lutz K ÜSTER (Berlin), Birgit S CHÄDLICH (Göttingen), Karen S CHRAMM (Wien), Britta V IEBROCK (Frankfurt) © 2023 Narr Francke Attempto Verlag Internet: www.narr.de/ linguistik/ zeitschriften/ flul/ 52 • Heft 1 Nicht-thematis cher Teil A NIKA M ARXL , R ICARDO R ÖMHILD Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht. Ein Beitrag zur Ausdifferenzierung eines Leitkonzepts schulischer Bildung ............................... 102 Be sprechunge n Christian H ELMCHEN , Sílvia M ELO -P FEIFFER , Julia VON R OSEN (Hrsg.): Mehrsprachigkeit in der Schule. Ausgangspunkte, unterrichtliche Herausforderungen und methodischdidaktische Zielsetzungen. Tübingen: Narr 2021 (C HRISTIANE F ÄCKE ) ............................. 118 Cynthia F REUDENTHAL : Ökologische Diskurse im Fremdsprachenunterricht. München: iudicium 2021 (M IRIAM P IEBER ) ........................................................................................ 120 Akra C HOWCHONG : Sprachvermittlung in den Sozialen Medien. Eine soziolinguistische Untersuchung von DaF-Sprachlernvideos auf Videokanälen. Berlin: Erich Schmidt 2022 (K ATRIN H OFMANN ) .................................................................................................. 123 Phil B ENSON : Language Learning Environments. Spatial Perspectives on SLA. Bristol/ Blue Ridge Summit: Multilingual Matters 2021 (S ABINE J ENTGES ) .................................. 126 Bernt A HRENHOLZ , Martina R OST -R OTH (Hrsg.): Ein Blick zurück nach vorn: Frühe deutsche Forschung zu Zweitspracherwerb, Migration, Mehrsprachigkeit und zweitsprachbezogener Sprachdidaktik sowie ihre Bedeutung heute. Berlin/ Boston: De Gruyter 2021 (C HRISTINE C ZINGLAR ) .......................................................................... 128 Karin V OGT , Jürgen Q UETZ (Hrsg.): Der neue Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Berlin: Lang 2021(B IRGIT B IRKFELLNER ) ............... 131 Mark B ECHTEL , Tom R UDOLPH (Hrsg.): Reflexionskompetenz in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung. Theorien - Konzepte - Empirie . Berlin: Lang 2022 (B RITTA V IEBROCK ) .............................................................................................................. 134 Barbara R INDLISBACHER : Lesen in der Fremdsprache Französisch. Kompetenzen von Drittklässlerinnen und Drittklässlern mit unterschiedlichen Schrift- und Sprachfähigkeiten in der Erstsprache Deutsch. Münster: Waxmann 2021 (S YLVIE M ÉRON -M INUTH ).. 136 Manuela F RANKE , Kathleen P LÖTNER (Hrsg.): Rekonstruktion und Erneuerung. Die neue Lehrwerkgeneration als Spiegel fremdsprachendidaktischer Entwicklungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2022 (J OCHEN P LIKAT ) ................................................ 138 Vorschau 141 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 C AROLA S URKAMP , A NDREAS W IRAG * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Obwohl die Spur eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts sich bis ins 19. Jahrhundert, zu François Gouin (1831-1896) und seinen Theaterreihen oder zum Einsatz von Kunstbildern in frühen Lehrwerken, zurückverfolgen lässt, stellt eine übergreifende Diskussion der Potenziale und Einsatzmöglichkeiten verschiedener Künste im Fremdsprachenunterricht eine vergleichsweise junge Entwicklung dar. So findet sich erst seit den 2000er Jahren eine wachsende Anzahl von Publikationen aus den USA (D EASY 2002; C OREIL 2003), Großbritannien (M ALEY / P EACHEY 2015; A NDREWS / A LMOHAMMAD 2022) und Deutschland (B ERNSTEIN / L ERCHNER 2014; G EHRING 2017; M ENTZ / F LEINER 2018), die den Einbezug mehrerer Künste in den Fremdsprachenunterricht beleuchten. Unter ‚Kunst‘ werden dabei Bildende Kunst (Malerei, Grafik, Photographie, Bildhauerei, Architektur), Musik, Literatur und Darstellende Kunst (Theater, Tanz, Film) verstanden. Damit wird einem Kunstverständnis gefolgt, wie es in allgemeinen Nachschlagewerken zu finden ist, ohne dass dies jedoch expliziert wird. Im Brockhaus Kunst (B ROCKHAUS 2006: 494) wird Kunst definiert als Gesamtheit des vom Menschen Hervorgebrachten - im Gegensatz zur Natur -, das nicht durch eine Funktion eindeutig festgelegt ist oder sich darin erschöpft - im Gegensatz zur Technik -, zu dessen Voraussetzungen die Verbindung von hervorragendem Können und großem geistigem Vermögen gehören, das sich durch hohe gesellschaftliche und individuelle Geltung auszeichnet, ohne […] den Beweis der Richtigkeit einer Aussage antreten zu müssen. * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Carola S URKAMP , Georg-August-Universität Göttingen, Fachdidaktik des Englischen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 G ÖTTINGEN E-Mail: carola.surkamp@phil.uni-goettingen.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Filmdidaktik, Dramapädagogik, kulturelles Lernen, Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften. Dr. Andreas W IRAG , Georg-August-Universität Göttingen, Fachdidaktik des Englischen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 G ÖTTINGEN E-Mail: andreas.wirag@uni-goettingen.de Arbeitsbereiche: Die Künste im Fremdsprachenunterricht, Neurokognitiver Fremdsprachenerwerb, Empirische Forschungsmethoden. Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen 4 Carola Surkamp, Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 52 • Heft 1 Es geht um schöpferisches, kreatives Gestalten mit Sprache, Tönen, verschiedenen Werkstoffen oder dem Körper. Auch performative Künste wie Theater, Tanz, Oper oder Poetry Slam fallen also unter diese Definition. Sie verbinden in ihrer Ausübung ästhetisch-künstlerische mit körper(sprach)lichen Elementen (M 2019: 17) und sind aufgrund ihres Inszenierungscharakters eher prozessals produktorientiert. Zwar sind Literaturdidaktik, Dramapädagogik und Filmdidaktik mittlerweile als kunstbezogene Teilbereiche in die Fremdsprachendidaktik integriert, andere Künste, wie z.B. die Musik oder Bildkunst, erfahren allerdings erst seit Kurzem wachsende Aufmerksamkeit. Tenor der bisherigen Diskussion eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts ist, dass die Künste in vielfältiger Weise das sprachliche Lernen befördern können - und zwar sowohl im Hinblick auf rezeptive als auch auf produktive Kompetenzen. Die Beschäftigung mit Literatur, Hörspielen und Filmen trägt zur Entwicklung des Lese-, Hör- und Hör-Seh-Verstehens von Schüler: innen bei. Zudem werden die Künste insofern als motivierend angesehen, als Lernende sich nicht zuletzt in ihrer Freizeit mit ihnen beschäftigen, wenn sie Musik hören, Filme und Serien schauen oder Comics lesen. In literarischen Texten werden lebensweltnahe Themen verhandelt und Einblicke in Einzelschicksale gegeben, und in Filmen können Menschen in kommunikativen Situationen beobachtet und Gesprächsinhalte auch über Körpersprache erschlossen werden. Die Künste fungieren aber zugleich als vielfältiger Sprech- und Schreibanlass, wenn Lernende eigene Erfahrungen in die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk einbringen und ihre Lesarten artikulieren, wenn sie Bedeutungen mit anderen in der Fremdsprache aushandeln und dabei die eigene Perspektive kritisch-reflexiv hinterfragen oder wenn performative Künste Gelegenheit bieten, sich selbst auf kreative Weise (körper)sprachlich auszuprobieren. Weniger in den Blick genommen wurden in der Fremdsprachenforschung bislang Transfereffekte bei künstlerischen Tätigkeiten im Fremdsprachenunterricht, die sich nicht direkt auf fremdsprachliche Kompetenzen beziehen. Unter Transfereffekten werden im Bereich der kulturellen Bildung die „außerkünstlerischen Wirkungen künstlerischer Tätigkeiten“ (R ITTELMEYER 2013: 217) verstanden, wonach bei jeder Beschäftigung mit den Künsten „kognitive, soziale, emotionale und körperliche Qualitäten eingeübt werden, deren praktische Bedeutung weit über die künstlerische Sphäre hinausgeht“ (ebd.). In Studien zur kulturellen Bildung wird z.B. herausgestellt, dass die Künste nicht nur die Teilhabe an kulturellen Prozessen auf der rezeptiven Ebene (im Sinne der Erfahrung und des Genusses von Kunstwerken) und produktiven Ebene (im Sinne von aktiver Gestaltung von Musik, Theater, Literatur usw.) ermöglichen (L IEBAU 2017). Darüber hinaus wird der Beschäftigung mit den Künsten ein positiver Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung zugesprochen, u.a. durch die Förderung von Wahrnehmungs- und Empathiefähigkeit (R ITTELMEYER 2013). Damit kann Kunst dazu beitragen, verschiedene Eigenschaften von Schüler: innen zu fördern, die entweder in direkter Weise den Lernzielen des Fremdsprachenunterrichts entsprechen oder diese indirekt unterstützen. So sind z.B. Empathie und Offenheit einer Person direkte Bestandteile ihrer Interkulturellen Kommunikativen Kom- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 petenz, die bei Schüler: innen im Sinne der KMK-Bildungsstandards (2014: 19-20) entwickelt werden soll. Weitere kognitive, ästhetische und personale Fähigkeiten wie Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, Wahrnehmungsfähigkeit, Kreativität, Selbstvertrauen oder das Überwinden von Sprechangst können sich indirekt positiv auf fremdsprachliche Lernprozesse auswirken, indem sie z.B. die Sprechbereitschaft erhöhen oder Lernende experimentierfreudiger beim Ausprobieren neuer sprachlicher Strukturen werden lassen. Soziale Kompetenzen wie Kooperations- und Kompromissfähigkeit wiederum entsprechen allgemeinen Schlüsselkompetenzen und sind für das gemeinsame Lernen im fremdsprachlichen Klassenzimmer von großer Bedeutung. Alle genannten Fähigkeiten können plausibel über künstlerische Tätigkeiten in theater-, musik- oder literaturbezogenen bzw. bildnerischen Aufgaben im Fremdsprachenunterricht gefördert werden (vgl. W INNER / G OLDSTEIN / V INCENT -L ANCRIN 2013 für einen Überblick zur Kompetenzförderung durch Kulturangebote). Der Themenschwerpunkt greift diese Diskussionen auf und arbeitet heraus, inwiefern die Künste besondere Potenziale zu einer interdisziplinären Öffnung des Fremdsprachenunterrichts mit sich bringen. Diese fächerübergreifenden Potenziale betreffen nicht nur die Kooperation zwischen fremdsprachlichen und künstlerischen Feldern (in der Wissenschaft) oder Schulfächern (im Unterricht), sondern auch die Möglichkeit, spezifische Lernerträge, die durch die Künste eingelöst werden können, in den Fremdsprachenunterricht selbst zu integrieren. In der Fremdsprachenforschung liegen bereits Arbeiten vor, die sich jeweils einer einzelnen Kunstsparte widmen und deren Potenziale für das Lehren und Lernen von Sprachen herausstellen. Einschlägige Arbeiten für Theatermethoden im Fremdsprachenunterricht sind z.B. S CHEWE (1993) oder E VEN (2003); für die Literatur B REDELLA / B URWITZ -M ELZER (2004); für die Bildende Kunst H ECKE (2012) oder B ADSTÜBNER -K IZIK / L AY (2019); für Musik, Lieder und Songs F ALKENHAGEN / V OLKMANN (2019) sowie für den Film B LELL / G RÜNE - WALD / K EPSER / S URKAMP (2016). Es gibt bislang allerdings nur vereinzelte empirische Studien aus der Fremdsprachenforschung, welche die beschriebenen Wirkzusammenhänge über ihre theoretische Plausibilität hinaus fundieren. Wichtig ist daher der Blick in Bezugsdisziplinen wie die Kulturelle Bildung (z.B. W INNER / G OLDSTEIN / V INCENT - L ANCRIN 2013) oder die Persönlichkeitspsychologie (z.B. L ANGER / S TERN / S CHROE - DER 2020), welche die Wirkungen kultureller Bildungsangebote auch empirisch untersuchen. Ein solcher Blick ist notwendig, um zum einen die bislang meist auf Erfahrungswissen basierenden Annahmen der Fremdsprachendidaktik weiter abzusichern (oder zu hinterfragen) sowie, zum anderen, um neue Erkenntnisse in die Fremdsprachenforschung hineinzutragen, die aus diesen Bezugsfeldern stammen. In diesem Sinne nutzen auch die Beiträge in diesem Themenheft empirisch gewonnene Erkenntnisse aus Nachbardisziplinen wie der Psychologie, den Neurowissenschaften oder der Kulturellen Bildung, um ihre Aussagen über die Wirkzusammenhänge kunstbasierter Unterrichtsmethoden im Fremdsprachenunterricht zu untermauern. Sie nehmen z.B. die Empathieförderung durch Bildkunst (A LFES ) oder literarische Texte (G ARDEMANN ) in den Blick, die Wahrnehmungs- und Kooperationsfähigkeit durch Poetry Slams (H ILLE ), Kreativität durch den Einsatz von Theaterelementen 6 Carola Surkamp, Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 52 • Heft 1 (S AMBANIS ) oder die Förderung von Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen durch die Beschäftigung mit Musik (W ILLEMS ). Insgesamt stellen sie sich der Frage, ob bzw. wie über den Einbezug der Künste Lerngelegenheiten in den Fremdsprachenunterricht integriert werden können, die das Erreichen fremdsprachlicher Lernziele direkt oder indirekt unterstützen. Auf diese Weise soll eruiert werden, ob möglichweise ein bislang trotz verschiedener Studien insgesamt noch zu wenig beachtetes Potenzial der Künste für das fremdsprachliche Lehren und Lernen stärker in das Bewusstsein von Fremdsprachenforschung und -didaktik gehoben werden sollte. Umgekehrt möchte der Themenschwerpunkt aber zugleich darlegen, dass die Fremdsprachenforschung selbst einen Beitrag zur Frage nach den Transfereffekten kultureller Bildung leisten kann. Studien zum Einsatz der Künste im Fremdsprachenunterricht beleuchten schließlich das besondere Potenzial eines kunstbasierten Unterrichts aus fachspezifischer Perspektive. Die Forschung zur Kulturellen Bildung hat zwar schon gezeigt, dass sich die Wirksamkeit kultureller Angebote auch über das Ästhetisch-Künstlerische hinaus nachweisen lässt (z.B. W INNER / G OLDSTEIN / V IN - CENT -L ANCRIN 2013; G ROSZ / L EMP / R AMMSTEDT / L ECHNER 2022), doch diese Studien klären nicht abschließend, welche Aspekte der untersuchten Kulturangebote im Einzelnen für welche Bildungserträge verantwortlich sind. Dabei wäre es wichtig zu ergründen, welches Angebot welche Leistungen besonders herausfordert und welche - auch fachspezifischen - Lernerfahrungen damit jeweils ermöglicht werden (R ITTEL - MEYER 2016: 27; G OLDSTEIN / Y OUNG / T HOMPSON 2020). Zu diesen Fragen möchten die Beiträge des vorliegenden Heftes einige Antworten beisteuern. Zunächst stellt A NDREAS W IRAG ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht vor, das sich auf Theater, Bildende Kunst, Musik und Literatur bezieht. Unter einem Rahmenmodell wird eine schematische Darstellung des Unterrichts verstanden, welche die zentralen Elemente dieses Unterrichts enthält und sie so anordnet, wie sie sich in plausibler Weise beeinflussen müssten. Diese Kernelemente sind der Unterricht, hier also kunstbasierte Lehr-/ Lernmethoden, und die Lernerträge dieser Lehrmethoden, also die Lerneffekte, die diese auf die Kompetenzen von Schüler: innen haben können. Frühere Rahmenmodelle zum kunstbasierten Fremdsprachenunterricht gehen davon aus, dass dieser Unterricht zu einer Reihe von finalen, permanenten Kompetenzveränderungen der Lerner: innen führt. Das hier vorgestellte Rahmenmodell dagegen nimmt an, dass kunstbasierte Unterrichtserträge auf zwei aufeinanderfolgenden Ebenen bzw. in sich geschachtelt wirken. So bewirken kunstbasierte Lehrmethoden zunächst situative Zwischenerträge (z.B. eine vorübergehend erhöhte Motivation, Kreativität oder Zusammenarbeit) und im Anschluss daran abschließende, permanente Kompetenzveränderungen. Die situativen Zwischenerträge können dabei einen zusätzlichen Effekt auf die finalen Lernresultate haben, z.B. wenn eine erhöhte Motivation das fremdsprachliche Lernen steigert. Dauerhafte Änderungen von personalen oder sozialen Kompetenzen der Schüler: innen entsprechen den bereits beschriebenen Transfereffekten. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 L UISA A LFES legt in ihrem Beitrag zunächst eigene empirische Befunde zu der Frage vor, welche Funktionen Bilder in aktuellen Lehrwerken erfüllen. Sie kann zeigen, dass instruktive und illustrative Funktionen überwiegen, während bildästhetische Funktionen wenig genutzt werden. Im Anschluss diskutiert sie den Einsatz einer solchen ästhetischen Bildkunst in Form von Selbstporträts von Künstler: innen aus Zielsprachenländern für den Fremdsprachenunterricht. Diese Porträts sind in besonderer Weise geeignet, um Interkulturelle Kompetenzen wie das Empathievermögen von Lernenden zu fördern, da sie zu einer direkten Auseinandersetzung mit dem kulturellen Selbstbild des Künstlers bzw. der Künstlerin auffordern. Die Kunstdidaktik bietet vor diesem Hintergrund erprobte Unterrichtszugänge für die Bildbetrachtung und Bildproduktion an, die für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar gemacht werden können. Am Beispiel von Frida Kahlos Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States wird ein konkreter Vorschlag entwickelt. Daneben präsentiert der Beitrag aktuelle Studienergebnisse zum Sprachenlernen über Bildkunst, die sowohl Sprachzuwächse als auch Motivationseffekte für Schüler: innen belegen. Der Beitrag von A LINE W ILLEMS arbeitet den Einbezug von Musik in den Fremdsprachenunterricht als motivierende und vielseitig wirksame Lerngelegenheit für Schüler: innen heraus. Die Autorin stellt Ergebnisse empirischer Studien vor, die vorteilhafte Transfereffekte von Musik bzw. Musizieren auf das sprachliche Lernen nachweisen, z.B. für das Rhythmusgefühl, die phonologische Diskriminierungsfähigkeit, die Merkfähigkeit und die exekutiven Funktionen von Lernenden (d.h. mentale Prozesse, die Verhalten, Aufmerksamkeit und Gefühle gezielt steuern). Daneben zeigt die Autorin, dass das gemeinsame Singen oder Musizieren mit Instrumenten personale und soziale Kompetenzen von Schüler: innen fördern kann, z.B. ihr Selbstvertrauen, ihre Frustrationstoleranz oder ihre Kooperationsfähigkeit. Auch die Förderung Interkultureller Kommunikativer Kompetenzen über bpsw. den Vergleich von Aufführungspraktiken in verschiedenen Ländern wird als ein Potenzial herausgestellt. Schließlich beschreibt die Autorin Austauschprojekte mit internationalen Jugendorchestern als einen neuen Ansatz zur Einbindung von Musik in den Fremdsprachenunterricht. C HRISTINE G ARDEMANN beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, inwiefern literarische Texte Lernende zur Selbst- und Weltreflexion anregen können. Dieses Potenzial führt sie auf die Anregung zum Perspektivenwechsel zurück, die Lernende durch die Beschäftigung mit Literatur erfahren. Ein zentrales Konzept in G ARDE - MANN s Diskussion ist im Sinne einer pedagogy of discomfort nach Megan B OLER (1999) das (fremdsprachliche) literarische Klassenzimmer als irritationsfreundlicher Raum, in dem verschiedene, miteinander konfligierende Sichtweisen erfahren, entdeckt, in Beziehung gesetzt und miteinander verhandelt werden können, ohne notwendigerweise Uneindeutigkeiten abschließend aufzulösen. In methodischer Hinsicht wird dafür eine Anlehnung an das Modell der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter vorgeschlagen, woraus sich Auswirkungen auf die Textauswahl für den fremdsprachlichen Literaturunterricht ergeben. Die Autorin verdeutlicht dies am Beispiel des Jugendromans Ace of Spades von Faridah À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ aus dem Jahr 2021 und 8 Carola Surkamp, Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 52 • Heft 1 bezieht dabei kritisch Stellung zu etablierten literaturdidaktischen Ansätzen wie dem identifikatorischen Lesen literarischer Texte, das einer Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen womöglich im Wege steht. Im Beitrag von A LMUT H ILLE geht es um die Potenziale von Slam Poetry und Poetry Slams, wenn Lernende diese im Fremdsprachenunterricht erleben und analysieren sowie solche Texte selbst verfassen und auch präsentieren bzw. inszenieren. Ausgehend von einer genrespezifischen Auseinandersetzung mit dieser performativen Kunstform sowie einem historischen Überblick über Poetry Slams als Wettbewerbe in den USA und verschiedenen Ländern Europas nimmt die Autorin sowohl die direkte Förderung fremdsprachlicher kommunikativer Kompetenzen in den Blick als auch die Förderung von Persönlichkeitsmerkmalen wie ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und Selbstvertrauen bei der Verwendung der Fremdsprache, die durch die Beschäftigung mit Slam Poetry erreicht werden können. Hauptbezugspunkt ist dabei der DaF/ DaZ-Unterricht, zu dem erste empirische Erkenntnisse ebenso vorgestellt werden wie ein Phasenmodell zu einem Slam-Poetry-Workshop für die Sekundarstufe II bzw. den Sprachunterricht an Hochschulen. Der Beitrag von M ICHAELA S AMBANIS diskutiert abschließend die Verbindung von Theater, Kreativität und Fremdsprachenlernen. Die Autorin zeigt auf, wie die Kreativität von Lernenden insbesondere durch körperliche und ästhetische Erfahrungen während der Theaterarbeit aktiviert werden kann. Eine spontane Ideenfindung der Schüler: innen ist wiederum Grundlage für ein erfolgreiches Fremdsprachenlernen, das sowohl Routineals auch Stegreifhandlungen beinhaltet. Daneben ist Kreativität als eigenständige Schlüsselkompetenz von hoher Zukunftsrelevanz für die Lernenden. Der Beitrag stellt diejenigen neurologischen Schaltkreise dar, die an Kreativität beteiligt sind, und fundiert seine Argumentation durch Befunde aus den Neurowissenschaften. Schließlich werden ausgewählte Theatermethoden als passende Praxisimpulse für den Fremdsprachenunterricht präsentiert, die einen Anteil an Improvisation beinhalten und auf diese Weise die gewünschte Kreativitätsförderung einlösen. Die Beiträger: innen erkunden insgesamt jeweils die Potenziale einer ausgewählten Kunstsparte für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Der Schwerpunkt liegt auf Transfereffekten, die für den Fremdsprachenunterricht von besonderer Bedeutung sind. Somit werden im vorliegenden Themenheft Antworten auf die Fragen diskutiert, ob und in welcher Weise der Einsatz der Künste über deren Verwendung zur Förderung rezeptiver und produktiver sprachlicher Kompetenzen hinaus mit einem spezifischen Mehrwert für den Fremdsprachenunterricht verbunden ist. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 Literatur À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ , Faridah (2021): Ace of Spades. New York: MacMillan. A NDREWS , Jane / A LMOHAMMAD , Maryam (Hrsg.) (2022): Creating welcoming learning environments: Using creative Arts methods in language classrooms. Bristol: Multilingual Matters. B ADSTÜBNER -K IZIK , Camilla / L AY , Tristan (Hrsg.) (2019): Bildende Künste im Fremdsprachenunterricht. Themenheft der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 24.2. B ERNSTEIN , Nils / L ERCHNER , Charlotte (Hrsg.) (2014): Ästhetisches Lernen im DaF-/ DaZ-Unterricht. Göttingen: Universitätsverlag. B LELL , Gabriele / G RÜNEWALD , Andreas / K EPSER , Matthis / S URKAMP , Carola (Hrsg.) (2016): Film in den Fächern der sprachlichen Bildung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. B OLER , Megan (1999): Feeling Power: Emotions and Education. New York: Routledge. B ROCKHAUS GmbH ( 3 2006): Der Brockhaus Kunst: Künstler, Epochen, Sachbegriffe. Mannheim/ Leipzig: Brockhaus. B REDELLA , Lothar / B URWITZ -M ELZER , Eva (2004): Rezeptionsästhetische Literaturdidaktik mit Beispielen aus dem Fremdsprachenunterricht Englisch. Tübingen: Narr. C OREIL , Clyde (Hrsg.) (2003): The Journal of the Imagination in Language Learning and Teaching. Woodside, NY: Bastos Educational Books. D EASY , Richard (Hrsg.) (2002): Critical links. Learning in the Arts and student academic and social development. Washington: Arts Education Partnership. E VEN , Susanne (2003): Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium. F ALKENHAGEN , Charlott / V OLKMANN , Laurenz (Hrsg.) (2019): Musik im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr. G EHRING , Wolfgang (2017): Mit den Künsten Englisch unterrichten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. G OLDSTEIN , Thalia / Y OUNG , DaSean / T HOMPSON , Brittany (2020): „It’s all critical: Acting teachers’ beliefs about theater classes“. In: Frontiers in Psychology 11, Art. 775. https: / / doi.org/ 10.3389/ fpsyg.2020.00775 (30.11.2022). G ROSZ , Michael / L EMP , Julia / R AMMSTEDT , Beatrice / L ECHNER , Clemens (2022): „Personality change through Arts education: A review and call for further research“. In: Perspectives on Psychological Science 17.2, 360-384. H ECKE , Carola (2012): Visuelle Kompetenz im Fremdsprachenunterricht: Die Bildwissenschaft als Schlüssel für einen kompetenzorientierten Bildeinsatz. https: / / ediss.uni-goettingen.de/ handle/ 11858/ 00-1735-0000-000D-EF96-D (25.10.2022). K ULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2014): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18- Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (25.10.2022). L ANGER , Rebecca / S TERN , Alexander / S CHROEDER , Sascha (2020): „Transfereffekte Kultureller Bildung auf die Persönlichkeit: Forschungsstand und -desiderate“. In: P ÜRGSTALLER , Esther / K ONIETZKO , Sebastian / N EUBER , Nils (Hrsg.): Kulturelle Bildungsforschung. Methoden, Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: Springer, 41-53. L IEBAU , Eckart (2017): „Qualitätsentwicklung: Bedarf und Perspektiven“. In: R AT FÜR K ULTU - RELLE B ILDUNG E .V. (Hrsg.): Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen. Studie: Schulleitungsbefragung zur Gestaltung und Qualitätssicherung des kulturellen Ganztagsangebots. Essen: Gilbert & Gilbert, 17-26. 10 Carola Surkamp, Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0001 52 • Heft 1 M ALEY , Alan / P EACHEY , Nik (Hrsg.) (2015): Creativity in the English language classroom. London: British Council. M , Dragan (2019): „Prinzipien eines performativen Fremdsprachenunterrichts: Eine Bestandsaufnahme“. In: E VEN , Susanne / M , Dragan / S CHMENK , Barbara (Hrsg.): Lernbewegungen inszenieren: Performative Zugänge in der Sprach-, Literatur- und Kulturdidaktik. Tübingen: Narr Francke Attempto, 7-22. M ENTZ , Olivier / F LEINER , Micha (Hrsg.) (2018): The Arts in language teaching. International perspectives: Performative - aesthetic - transversal. Berlin: LIT. R ITTELMEYER , Christian (2013): „Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ihre kritische Kommentierung durch eine umfassende Theorie ästhetischer Bildung“. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 16, 217-231. R ITTELMEYER , Christian (2016): Bildende Wirkungen ästhetischer Erfahrungen: Wie kann man sie erforschen? Eine Rahmentheorie. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. S CHEWE , Manfred (1993): Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis. Oldenburg: Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. W INNER , Ellen / G OLDSTEIN , Thalia / V INCENT -L ANCRIN , Stéphan (2013): Art for Art’s sake? The impact of Arts education. Paris: OECD. 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 A NDREAS W IRAG * Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht - unter Einbezug von Theater, Bildender Kunst, Musik und Literatur Abstract. This article presents a framework model for a foreign-language classroom that makes use of the Arts (i.e., drama, visual arts, music, literature, etc.). This model contains the central elements of an Arts-based foreign-language instruction, which are arranged to form a plausible causal structure of the classroom teaching and student learning. As intermediate teaching outcomes, the model assumes changes in students’ personality states, i.e., changes in their current motivation, creativity, or empathy, which result from the students’ engagement with the Arts. As final teaching outcomes, the model assumes a development of students’ L2 competences, i.e., of their L2 speaking, listening, writing, reading, mediation, vocabulary, and grammar skills. The framework model is based on earlier accounts which assume that all teaching outcomes derive from an Arts-based foreign-language instruction as final teaching results. In contrast, the present framework assumes that Arts-based teaching outcomes are partially nested. 1. Der Fremdsprachenunterricht unter Einbezug der Künste: Ein Rahmenmodell Auch wenn, wie die Einführung in den Themenschwerpunkt skizziert, ab den 2000/ 2010er Jahren eine wachsende Forschungsdiskussion aller Künste im Fremdsprachenunterricht (d.h. Literatur, Theater, Bildende Kunst, Musik, Film usw.) beginnt (z.B. B ERNSTEIN / L ERCHNER 2014; G EHRING 2017; A NDREWS / A LMOHAM - MAD 2022), stellt diese Diskussion eine noch junge Entwicklung in der Fremdsprachendidaktik dar. Dabei hat eine Gesamtdiskussion aller Künste für den Fremdsprachenunterricht, die einen bündelnden Blick auf die Künste und ihre Möglichkeiten für fremdsprachliche Lehr-/ Lernprozesse wirft, große Potenziale. Eine solche Forschungsdiskussion konzentriert sich nicht auf eine Einzelkunst, für die sie weniger informativ ist (vgl. dazu die kunstspezifische Literatur in der Einleitung und die Beiträge im Themenheft), sondern nimmt einen verallgemeinernden Blick auf die Künste * Korrespondenzadresse: Dr. Andreas W IRAG , Georg-August-Universität Göttingen, Fachdidaktik des Englischen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 G ÖTTINGEN E-Mail: andreas.wirag@uni-goettingen.de Arbeitsbereiche: Die Künste im Fremdsprachenunterricht, Neurokognitiver Fremdsprachenerwerb, Empirische Forschungsmethoden. 12 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 ein. Dank dieser Abstraktion bzw. Verallgemeinerung kann sie Annahmen treffen, die gewissermaßen über ‚alle Künste hinweg‘ gültig sind. So können Aussagen zur Arbeit mit den Künsten im Fremdsprachenunterricht getroffen werden, die geteilte Merkmale, Einsätze und Wirkungen der Einzelkünste im Fremdsprachenunterricht beschreiben. Diese Aussagen auf einer mittleren Abstraktionsebene sind für Fremdsprachenforscher*innen und -lehrkräfte in mehrerer Hinsicht informativ. So sind die Befunde einer Gesamtdiskussion von Interesse für Forschende und Lehrkräfte unabhängig von ihren eigenen Kunstvorlieben oder -kenntnissen. Wenn eine Forscher*in oder Lehrer*in eine Einzelkunst in ihrer Tätigkeit nicht nutzt (z.B. Musik), dafür jedoch eine andere Kunst (z.B. Malerei), sind die Erkenntnisse einer Gesamtdiskussion für sie dennoch relevant. Darüber hinaus diskutiert die Gesamtbetrachtung aller Künste im Fremdsprachenunterricht über ihre Verallgemeinerung zwangsläufig auch ‚kleinere‘ Künste mit, die dort eine Nebenrolle einnehmen und nicht beforscht werden (z.B. Schmuck, Mode), aber auch ‚neue‘ Künste, die aufgrund der technischen Entwicklung eben erst im Begriff sind, zu entstehen (z.B. digitale Kunst, Virtual-Reality- Kunst). Sie alle werden in einer Gesamtdiskussion aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Künsten bereits ‚mitbesprochen‘. Aufgrund dieser noch jungen Diskussion der Künste im Fremdsprachenunterricht sind bislang noch keine Versuche unternommen worden, das komplexe Wirkungsgefüge eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts in einem gemeinsamen Rahmenmodell darzustellen. Unter einem kunstbasierten Fremdsprachenunterricht wird das Lehren und Erlernen einer Fremdsprache in einem angeleiteten Bildungsgang verstanden, der die Künste, d.h. Literatur, Theater, Bildende Kunst, Musik, Film u.a., mit einbezieht. Ein Rahmenmodell für den Unterricht wiederum stellt eine schematische Darstellung des Unterrichtsgefüges dar, welche die zentralen Elemente dieses Unterrichts benennt und so anordnet, dass sie in einem plausiblen Wirkungsgefüge verbunden sind. H ELMKE und K LIEME (2008: 301) bemerken dazu, mit Blick auf ihr Angebots-Nutzungs-Modell, dass „ein allgemeines Rahmenmodell […] dem Ziel dient, die Komplexität der Bedingungen und der Wirksamkeit des Unterrichts zu veranschaulichen“. 1 Somit enthält ein Rahmenmodell die wichtigsten Bestandteile eines Lehr- / Lernarrangements, hier also eines Fremdsprachenunterrichts unter Einsatz der Künste, sowie die Beziehungen dieser Bestandteile zueinander. Dabei stellen der ‚Unterricht‘, d.h. die genutzten Lehr-/ Lernmethoden, und die ‚Lernerträge‘, d.h. die Auswirkungen dieser Lehr-/ Lernmethoden auf die Kompetenzen der Schüler*innen, die unverzichtbaren Kernelemente eines Rahmenmodells dar. Umfassendere Rahmenmodelle, wie z.B. das Angebots-Nutzungs-Modell, enthalten darüber hinaus weitere Kontextfaktoren für das Lernen der Schüler*innen, wie Lehrkraft, Klasse, Schule, Familie usw. (vgl. H ELMKE 2017: 69-101). Letztlich hängt der Zuschnitt eines Rahmenmodells somit davon ab, über welche Elemente des Unterrichtsgefüges und ihrer 1 Das Angebots-Nutzungs-Modell, das auch der DESI-Studie (2008) zugrunde liegt, stellt das wohl bekannteste Rahmenmodell für die Bildungsforschung dar (vgl. für eine Darstellung H ELMKE 2017: 69- 101). Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 13 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 Verbindungen eine Aussage getroffen werden soll. Jedes Rahmenmodell, auch das hier vorgestellte, kann damit grundsätzlich um weitere, das Lernen kontextualisierende Bestandteile ergänzt werden. Das folgende Rahmenmodell für einen kunstbasierten Fremdsprachenunterricht nimmt zunächst die wesentlichen Elemente ‚Unterricht‘ und ‚Lernerträge‘ in den Blick. 2. Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht: Der aktuelle Forschungsstand Aus der Vorgängerliteratur liegt kein vollständiges Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht vor, das als aktueller Forschungsstand genutzt werden könnte. 2 Somit bieten sich frühere Darstellungen zum Fremdsprachenunterricht mit Kunsteinsatz an, die bereits Elemente eines späteren Rahmenmodells enthalten. Mit B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) und G EHRING (2017) liegen zwei größere Arbeiten aus der (deutschsprachigen) Fremdsprachendidaktik vor, die über eine Einzelkunst hinausgehen und bereits ‚die Künste‘ gesammelt diskutieren. Diese beiden Arbeiten bieten sich somit als Quellen bzw. aktueller Forschungsstand für das vorliegende Rahmenmodell an. Darüber hinaus könnten (technisch) alle weiteren Arbeiten zu den Einzelkünsten (vgl. die Einleitung und die Beiträge im Themenheft) als Forschungsstand mit einbezogen werden; diese umfangreiche Literatur und ihre Würdigung ginge jedoch über den Rahmen eines Einzelbeitrags hinaus. Aus forschungspragmatischer Sicht wurden daher die beiden größeren Arbeiten ausgewählt, die bereits mehrere Künste gesammelt diskutieren. Dieser Beitrag baut damit auf B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) und G EHRING (2017) auf und übernimmt ihre Bestandteile teilweise oder ganz in das neue Rahmenmodell. Aus diesem Grund werden diese beiden ‚Forschungsstand‘-Arbeiten im Folgenden ausführlicher vorgestellt und diskutiert. Wolfang G EHRING (2017) zählt in Mit den Künsten Englisch unterrichten zunächst sechs unterschiedliche Kompetenzen auf, die in einem kunstbasierten Fremdsprachenunterricht gefördert werden können. 3 Er nennt im Einzelnen (ebd.: 14-16) die a) kommunikative b) analytische c) ästhetische d) kulturelle 2 Eine Literatursuche im Fachportal Pädagogik nach „Rahmenmodell“ und „Kunst“/ „Künste“ ergibt keine Treffer. 3 Die Begriffe ‚Kompetenz‘, ‚Fähigkeit‘ und ‚Fertigkeit‘ treffen in diesem Beitrag keine inhaltliche Unterscheidung und sind alle im Sinne von Weinerts Kompetenzbegriff zu verstehen. Damit bezeichnen sie bei Personen verfügbare Merkmale, die zur Problemlösung eingesetzt werden können, verbunden mit der Bereitschaft, diese Merkmale im Bedarfsfall auch wirklich einzusetzen. Die ‚künstlerische Kompetenz‘ einer Schülerin kann damit z.B. zur ‚Problemlösung‘ genutzt werden, ein Kunstwerk zu verstehen oder zu produzieren. 14 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 e) strategische und f) soziale Kompetenz der Schüler*innen. Konkret gesprochen bezieht sich die a) ‚kommunikative Kompetenz‘ auf die Fähigkeit der Schüler*innen, in der Fremdsprache an Diskussionen über die Künste teilzunehmen, sich über künstlerische Eindrücke auszutauschen und die Fremdsprache in künstlerischen Aufführungen und Sprachprodukten zu verwenden. Die b) ‚analytische Kompetenz‘ beschreibt die Fertigkeit der Schüler*innen, künstlerische Ausdrucksformen zu beschreiben, die Bedeutungen von Kunstwerken einzuordnen und diese Kunstwerke zu bewerten. Die c) ‚ästhetische Kompetenz‘ der Lernenden bezieht sich auf ihre Fähigkeit, die Künste emotional zu erfassen und zu würdigen sowie sich künstlerischen Ausdrucksformen gegenüber offen zu zeigen. Die d) ‚kulturelle Kompetenz‘ beschreibt ihre Fähigkeit, der Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen in verschiedenen Kulturen Interesse entgegenzubringen sowie künstlerische Äußerungen der eigenen und anderer Kulturen zu würdigen. Die e) ‚strategische Kompetenz‘ bezieht sich auf die Fertigkeit der Schüler*innen, Lern- und Arbeitstechniken unter Einbezug der Künste anzuwenden, um auf diese Weise ihre sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern. Schließlich beschreibt die f) ‚soziale Kompetenz‘ der Schüler*innen ihre Fähigkeit, in der Gemeinschaft künstlerische Formen in der Fremdsprache zu rezipieren und zu produzieren sowie kooperativ an zielsprachlichen Aufführungen mitzuarbeiten. Wie deutlich wird, benennt G EHRING (2017) in seiner Systematisierung bereits eine Fülle von Lernerträgen, die plausibel durch einen kunstbasierten Fremdsprachenunterricht gefördert werden können. Die große Mehrzahl dieser Fähigkeiten bezieht sich dabei auf zentrale Bildungsplanziele für den Fremdsprachenunterricht, wie z.B. in den KMK-Standards festgehalten, d.h. die kommunikative, kulturelle, strategische, analytische und ästhetische Kompetenz der Schüler*innen (vgl. die „interkulturelle kommunikative Kompetenz“, die „Sprachlernkompetenz“ und die „Text- und Medienkompetenz“ in den KMK-B ILDUNGSSTANDARDS 2014: 19-21). Lediglich die in G EHRING (2017) beschriebene soziale Kompetenz im Umgang mit anderen Schüler*innen ist, als ein allgemein-pädagogisches Bildungsziel, nicht in den fremdsprachlichen KMK-Standards aufgeführt. An G EHRING s (2017) Systematisierung fällt auf, dass einige Lernerträge der Schüler*innen unerwähnt bleiben, die in zahlreichen Publikationen zu den Künsten im Fremdsprachenunterricht eine größere Rolle spielen. Als ein weiterer Lernertrag wäre daher die ‚künstlerische Kompetenz‘ der Schüler*innen zu nennen (z.B. G EIER 2006), d.h. ihre Fähigkeit, Kunstwerke und künstlerische Darbietungen zu gestalten, die eine nicht-alltägliche ästhetische Qualität aufweisen. In der Forschungsliteratur wird der Ästhetikbegriff sehr breit diskutiert und ist dort in der Regel wenig trennscharf. Als eine Arbeitsdefinition kann „ästhetisch“ daher als „gleichbedeutend mit »Schönheit« oder »sinnliche Qualität« von Gegenständen“ (S TADLER / W IENCH 2006: 291) beschrieben werden. In einem Fremdsprachenunterricht unter Einbezug der Künste, in dem Lernende sich wiederholt rezeptiv und produktiv mit Kunstwerken beschäfti- Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 15 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 gen, ist anzunehmen, dass ihre künstlerische Kompetenz in diesem Sinne gefördert wird. Als ein weiterer Lernertrag sind die ‚personalen Kompetenzen‘ der Schüler*innen zu nennen. Diese Kompetenzen beschreiben die Persönlichkeitsmerkmale eines/ r Lerner*in, welche nicht, wie die sozialen Kompetenzen, auf das Zusammensein und die Zusammenarbeit mit anderen bezogen sind. Hierunter fallen z.B. Kreativität, Offenheit, Empathie, Ausdauer, Selbstbewusstsein oder Zuverlässigkeit der Schüler*innen. Die Forschung im Bereich der Persönlichkeitspsychologie (z.B. L ANGER / S TERN / S CHROEDER 2020; G ROSZ et al. 2022) und der Kulturellen Bildung (z.B. D OM - KOWSKY 2011; R ITTELMEYER 2016) untersucht seit den Nullerjahren die Effekte künstlerischer Tätigkeiten auf die personalen Kompetenzen von Schüler*innen. Auch wenn bisher keine klaren empirischen Belege zu einer dauerhaften Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen durch künstlerische Tätigkeiten vorliegen 4 , gibt die laufende Forschung Hinweise darauf, dass die Kreativität, Offenheit, Empathie usw. der Schüler*innen zumindest für den Zeitraum des kunstbasierten Unterrichts selbst angehoben wird (vgl. für passende Befunde zu Fremdsprachangst und Theater W IRAG / S URKAMP 2022). Die beiden Lernerträge der künstlerischen und personalen Kompetenz, die G EHRING s (2017) Darstellung nicht enthält, sollten daher in das neue Rahmenmodell aufgenommen werden. Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) diskutiert in ihrer Habilitationsschrift Fremde Sprachen - Fremde Künste? den Einbezug von Musik und Bildender Kunst in den DaF/ DaZ-Unterricht. In ihrer Arbeit fasst sie die Lernerträge eines Fremdsprachenunterrichts unter Einbezug von Musik und Bildkunst mit Hilfe zweier Diagramme zusammen. Im Sinne der Übersichtlichkeit wird an dieser Stelle nur das Diagramm für die Bildkunst wiedergegeben (Abb. 1, S. 16). Unter der Abbildung werden, unter Bezug auf B ADSTÜBNER -K IZIK (2006: 78-82), die Kompetenzerträge für beide Künste, Musik und Bildkunst, im Fremdsprachenunterricht zusammenfassend beschrieben. Diese Zusammenfassung soll als Aussage über die Lernerträge für alle Künste, auf die sich das vorliegende Rahmenmodell bezieht, verstanden werden. 4 In ihrer Übersichtstudie zu „Transfereffekte Kultureller Bildung auf die Persönlichkeit“ ziehen L ANGER / S TERN / S CHROEDER (2020: 48) für eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung das folgende Fazit: „[Es] wird deutlich, dass die Forschung zu Transfereffekten [künstlerischer Tätigkeiten] in den letzten Jahren zugenommen hat. Jedoch ermöglicht der Umfang der aufgeführten Studien noch keine umfangreichen belastbaren Aussagen zum Bestehen von Transfereffekten auf die Persönlichkeit. Da wir uns auf veröffentlichte Zeitschriftenartikel aus einer sehr umfangreichen psychologischen Datenbank stützen, sollten wir mit unserer Recherche jedoch einen Großteil der methodisch aussagekräftigen Nachweise abgedeckt haben“. 16 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 Abb. 1: Lernerträge für die Bildende Kunst im Fremdsprachenunterricht in B ADSTÜBNER -K IZIK (2006: 79) Die Autorin führt in ihrem Überblick aus, dass die Künste im Fremdsprachenunterricht einen a) sprachrezipierenden, b) sprachproduzierenden, c) kunstrezipierenden, d) kunstproduzierenden, e) informativen sowie f) orientierenden Lernertrag für die Schüler*innen haben können. Im Einzelnen bezieht sich der a) ‚sprachrezipierende‘ Lernertrag auf die Fähigkeit der Schüler*innen, die Fremdsprache bei ihrem Umgang mit den Künsten erfolgreich zu verstehen, z.B. über Hören (z.B. Songs), Hör-/ Sehverstehen (z.B. Theaterstücke) oder Lesen (z.B. Literatur). Der b) ‚sprachproduzierende‘ Lernertrag beschreibt die Fertigkeit der Schüler*innen, ihre Gefühle, Sichtweisen oder ‚eigenen Geschichten‘ zu einem Kunstwerk in der Fremdsprache erfolgreich auszudrücken. Ein Kunstwerk oder eine künstlerische Darbietung wird damit zum Auslöser für fremdsprachliche Äußerungen der Lernenden. Die beiden Lernerträge a) und b) in B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) decken sich damit im Wesentlichen mit der kommunikativen Kompetenz in G EHRING (2017), wobei sie weiter in rezeptive und produktive Sprachverwendung unterteilt sind. Der c) ‚kunstrezipierende‘ Lernertrag der Schüler*innen bezieht sich auf ihre Fähigkeit, individuelle Gefühle, Gedanken oder Betrachtungen zu einem Kunstwerk zu entwickeln - womit dieser Ertrag der ästhetischen Kompetenz in G EHRING (2017) entspricht. Der d) ‚kunstproduzierende‘ Lernertrag wiederum beschreibt die Fertigkeit der Schüler*innen, Kunstwerke oder künstlerische Darbietungen eigenständig zu gestalten, z.B. die Anfertigung einer Collage, das Schreiben eines Songs oder die Aufführung einer Improvisation. Laut der Autorin bezieht sich diese kunstproduzierende orientierend informativ produktiv rezeptiv kunstrezipierend sprachrezipierend lernpsychologisch sprachproduzierend kunstproduzierend Bildkunst und ihre Nutzung im FSU Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 17 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 Kompetenz jedoch auf „den kreativen Vorgang [an sich], keinesfalls den künstlerischen Wert der dabei entstehenden Produkte“ (B ADSTÜBNER -K IZIK 2006: 79). Damit hebt sie sich von der für das Rahmenmodell vorgeschlagenen künstlerischen Kompetenz ab, wonach Schüler*innen Kunstwerke von nicht-alltäglicher ästhetischer Qualität entwerfen können. Der e) ‚informative‘ Lernertrag bezieht sich auf das landeskundliche Wissen der Schüler*innen über die Künste und Künstler*innen der Zielkulturen, d.h. über herausragende Kunstwerke, Sehenswürdigkeiten oder Persönlichkeiten der Zielländer. Dieser Lernertrag kann als Teilbereich der kulturellen Kompetenz in G EHRING (2017) betrachtet werden, wonach die Lernenden in der Lage sind, künstlerische Äußerungen anderer Kulturen zu würdigen. Abschließend liegt der f) ‚orientierende‘ Lernertrag eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts darin, dass die Künste Schüler*innen „auf bestimmte Themen und Phänomene aufmerksam machen und sie als Gegenstände spontaner oder länger anhaltender innerer Reflexion […] etablieren“ (B ADSTÜBNER -K IZIK 2006: 79). Auf diese Weise, so die Autorin, gelinge „ein Stück des Persönlichkeitsbildungsprozesses, der durch den Umgang mit Kunst ausgelöst werden kann“ (ebd.). Dieser letzte Lernertrag verweist (allem Anschein nach) auf die wesentliche Funktion von Kunst, komplexe Verhaltens-, Lebens- und Sinnfragen aufzuwerfen, auf die keine einfachen Antworten existieren, zu denen Heranwachsende aber dennoch, oder gerade aus diesem Grund, eine eigene Haltung entwickeln sollen. Der Versuch, diese Fragen vertieft und systematisch zu besprechen, ist für gewöhnlich Inhalt der interpretativen Anschlussbeschäftigung mit einem Kunstwerk (z.B. für Shakespeares Hamlet: „Should a murder be answered by another murder? “). Es scheint also der Fall zu sein, dass der orientierende Lernertrag aus dem kunstrezipierenden Ertrag, d.h. der Fähigkeit, individuelle Gefühle, Gedanken oder Betrachtungen zu einem Kunstwerk zu entwickeln, als eine Folge während des Rezeptionsgesprächs entsteht. Aus diesem Grund können beide Lernerträge - im Sinne einer sparsamen Theorieschreibung - im neuen Rahmenmodell mit Gewinn zusammengelegt werden. Wie auch G EHRING (2017) benennt B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) in ihrer Darstellung mehrere Lernerträge, die sichtbar auf die KMK-Bildungsplanziele bezogen sind, d.h. die sprachrezipierende und sprachproduzierende Fähigkeit der Schüler*innen. Die Mehrzahl der diskutierten Kompetenzerträge jedoch verweist auf Fähigkeiten im Umgang mit den Künsten, d.h. der kunstrezipierende, kunstproduzierende, informative und orientierende Lernertrag. Eine Förderung der Persönlichkeits- oder Sozialkompetenzen der Lerner*innen, wie in G EHRING (2017) und weiter oben beschrieben, wird in B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) nicht erwähnt. Betrachtet man die beiden Darstellungen der Lernerträge, die als Forschungsstand für das folgende Rahmenmodell verstanden werden können, fällt auf, dass die bisherigen Systematisierungen zahlreiche Überschneidungen aufweisen. Diejenigen Kompetenzen, über die in der bisherigen Forschung Einigkeit bzw. Deckung besteht, können unproblematisch in das neue Rahmenmodell übernommen werden. Weitere Kompetenzen, die bisher nur in der Forschungsliteratur zum kunstbasierten Fremdspra- 18 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 chenunterricht, zur Persönlichkeitspsychologie oder zur Kulturellen Bildung diskutiert wurden, wie die künstlerischen und personalen Kompetenzen, können das neue Rahmenmodell ergänzen. Auf diese Weise können Befunde über Lernerträge, die aus kunstbezogener Unterrichtsarbeit entstehen, die in anderen Forschungsfeldern als der Fremdsprachendidaktik untersucht wurden, die Theorieschreibung in der Fremdsprachenforschung erweitern. Schließlich bietet es sich an, die verschiedenen Lernerträge, die sich für den Fremdsprachenunterricht unter Einbezug der Künste ergeben, im aktuellen Rahmenmodell im Sinne der Übersichtlichkeit inhaltlich zu gruppieren (s. Abb. 2, S. 20). Ein weiterer Aspekt, in dem die früheren Darstellungen sinnvoll erweitert werden können, betrifft die kausale Anordnung der verschiedenen Lernerträge eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts. In den bisherigen Modellen wird angenommen, dass alle Kompetenzzuwächse, die ein kunstbasierter Fremdsprachenunterricht hervorbringt, dessen finale und dauerhafte Enderträge darstellen. In diesem Verständnis führen die genutzten Lehr-/ Lernmethoden zu einer anhaltenden Veränderung der Fähigkeiten der Schüler*innen, sodass diese nach dem Unterricht z.B. die Fremdsprache flüssiger sprechen (sprachproduzierender Lernertrag), ästhetischere Kunstwerke gestalten (künstlerischer Lernertrag), eine größere Anzahl von Kunstwerken der Zielkulturen kennen (interkultureller Lernertrag), ihre Motivation im Fremdsprachenunterricht gesteigert haben (personaler Lernertrag) usw. Diese Art der Veränderung, die für tatsächliche Wissens- oder Fähigkeitskomponenten der Schüler*innen plausibel ist, ist jedoch nicht zwangsläufig für alle diskutierten Lernerträge naheliegend. So ist wenig glaubhaft, dass die erhöhte Motivation, die ein/ e Lerner*in z.B. beim Theaterspielen empfindet (D OMKOWSKY 2011: 522), von nun an zu ihrer dauerhaften Grundmotivation im Fremdsprachenunterricht wird. Auch eine gelungene Einfühlung in eine Romanfigur während einer Schreibübung überträgt sich nicht zwangsläufig auf die dauerhafte Fähigkeit der Schüler*innen zur Empathie im Alltag. Es scheint sich vielmehr um situative und vorübergehende Veränderungen dieser Lernermerkmale zu handeln, die durch einen kunstbasierten Fremdsprachenunterricht ausgelöst werden können. Diese vorübergehenden Änderungen dürften besonders die personalen (z.B. Motivation, Kreativität) und sozialen (z.B. Zusammenarbeit, Empathie) Kompetenzen der Schüler*innen betreffen, die in einer konkreten Unterrichtssituation erfordert und damit von den Lernenden in diese Situation eingebracht werden. So verlangt z.B. die Aufgabe, die Beziehung zweier Romanfiguren als Standbild mit den Mitschüler*innen darzustellen, situativ sowohl Kreativität als auch Zusammenarbeit und Absprachefähigkeit. Nach Abschluss der Aufgabe werden diese Lernermerkmale jedoch nicht mehr aufgerufen, womit nicht von einer dauerhaften Veränderung der Personeneigenschaften gesprochen werden kann. Gleichzeitig ist es möglich, dass die wiederholte situative Anwendung der personalen und sozialen Kompetenzen der Schüler*innen, vor allem wenn diese über das Maß ihrer Alltagsnutzung hinaus gefordert werden, zu einer Veränderung der entsprechenden dauerhaften Lernermerkmale führt (vgl. G ROSZ et al. 2022). Die dazugehörige Annahme aus der Persönlichkeitspsychologie wäre hier, dass sich die Kompeten- Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 19 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 zen der Schüler*innen, im Sinne von states, durch eine Unterrichtssituation, welche diese Kompetenzen gewissermaßen einfordert, erhöhen. So ruft z.B. eine Abschreibaufgabe keine Kreativität der Schüler*innen auf, eine (Theater-)Improvisationsaufgabe oder Song-Schreib-Aufgabe hingegen schon. Die Kreativität als state variiert dabei um den festen Grundwert der Kreativität eines Schülers, im Sinne eines trait. 5 Dabei verhält sich der state wie ein Gummiband, das von seinem trait-Ankerpunkt aus nach oben weggezogen wird und später wieder zu diesem Ankerpunkt zurückkehrt. Eine wissenschaftlich bislang ungeklärte Frage ist, ob eine wiederholte ‚Überdehnung‘ eines states zu einer dauerhaften Verschiebung seines trait-Ankerpunktes führt. G ROSZ und Kollegen*innen (2022: 362) beschreiben diesen Vorgang in einem Beitrag zu „Personality change through Arts education“ wie folgt: „Several models of personality development propose that long-term change in personality traits occurs because of repeated short-term state processes“. Das neue Rahmenmodell trägt dieser Überlegung Rechnung, indem es vorübergehende und dauerhafte Lernerträge unterscheidet und diese in ein geschachteltes Wirkungsgefüge bringt. Auf diese Weise können vorübergehende Lernerträge, wie eine situativ erhöhte Motivation oder Empathie (state), zur Erreichung dauerhafter Kompetenzveränderungen (trait) der Schüler*innen wirksam werden. 3. Ein neues Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht Das folgende Rahmenmodell veranschaulicht die zentralen Elemente eines Fremdsprachenunterrichts unter Einbezug der Künste. Wie skizziert enthält das Rahmenmodell die wesentlichen Bestandteile eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts sowie die Beziehungen dieser Elemente zueinander. Der ‚Unterricht‘, d.h. die genutzten Lehr-/ Lernmethoden, und die ‚Lernerträge‘, d.h. die Auswirkungen dieser Lehrmethoden auf die Kompetenzen der Schüler*innen, sind dabei die zentralen Bausteine. Das gesamte Rahmenmodell wird in Abbildung 2 ( S. 20) gezeigt. Die inhaltliche Beschreibung der Elemente des Rahmenmodells erfolgt, gemäß der Abfolge dieser Elemente im tatsächlichen Unterricht, von ‚Unterricht‘ (links) nach ‚Lernerträge‘ (rechts). 5 Das APA Dictionary of Psychology (2015) definiert trait und state aus der Persönlichkeitspsychologie wie folgt: „trait“ als „enduring personality characteristic that describes or determines an individual’s behavior across a range of situations“ (APA 2015: 1098), sowie „state“ als „status of an entity […] at a particular time that is characterized by relative stability of its basic components or elements [i.e., its trait]“ (APA 2015: 1026). 20 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 Abb. 2: Rahmenmodell für einen kunstbasierten Fremdsprachenunterricht Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 21 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 Das Element ‚Unterricht‘ stellt sich somit im Detail dar wie folgt: Der Unterricht, d.h. die genutzten Lehr-/ Lernmethoden, beziehen in einem kunstbasierten Fremdsprachenunterricht notwendigerweise die verschiedenen Künste mit ein. So lesen die Schüler*innen z.B. Romane oder Kurzgeschichten (Literatur), stellen Standbilder dar (Drama/ Theater), entwerfen Bildergeschichten (Comic/ Graphic Novel), hören Musik oder schreiben Songstrophen (Musik), tragen Poetry-Slam-Texte vor (Poetry Slam) usw. Die Künste können dabei in sprachliche Künste (z.B. Literatur, Drama/ Theater) und nicht-sprachliche Künste (z.B. Bildende Kunst, Tanz) unterschieden werden, in Abhängigkeit davon, ob die Künste einen (fremd-)sprachlichen Anteil haben (oder nicht). Die Musik als Kunst kann sowohl sprachlich (d.h. Lieder/ Songs mit Texten) als auch nicht-sprachlich (d.h. instrumental) auftreten. In der Bildenden Kunst können Plakate, Fotos, Gemälde usw. ebenfalls Schriftzüge und damit Sprachanteile enthalten. Da dies aber selten der Fall ist, wird die Bildkunst hier als nicht-sprachliche Kunst geführt. Im kunstbasierten Fremdsprachenunterricht findet nun ein rezeptiver oder produktiver Umgang mit den Künsten statt. Diese beiden Begriffe werden jedoch in der Fremdsprachendidaktik im Normalfall mit Bezug auf die Fremdsprache genutzt. Um Verwechslungen zu vermeiden, wird in diesem Beitrag der Zusatz k für „künstlerisch“ zu rezeptiv k und produktiv k hinzugefügt - lies: „Kunst rezipierend“ und „Kunst produzierend“. Ein rezeptiver k Umgang beinhaltet demnach die Wahrnehmung, Betrachtung oder Beobachtung der Künste oder der zu ihnen gehörigen Kunstwerke durch die Schüler*innen (z.B. das Betrachten eines Bildes). Ein produktiver k Umgang betrifft die Herstellung eigener Kunstwerke oder künstlerischer Darbietungen durch die Lerner*innen (z.B. das Erstellen eines Standbilds). Es versteht sich, dass die Künste im selben Unterricht sowohl rezeptiv k als auch produktiv k eingesetzt werden können. So können Schüler*innen z.B. verschiedene Kurzgeschichten zunächst lesen (rezeptiv k ) und im Anschluss eigene Kurzgeschichten schreiben (produktiv k ). Hier wäre, nebenbei bemerkt, ein klarer Anwendungsfall von „generischem Lernen“ bzw. „Lernen am Modell“ gegeben, wonach die Schüler*innen über die Begegnung mit Modelltexten die für die Kurzgeschichte konstitutiven Merkmale erfahren, um mit Hilfe dieses Musters später eigene Geschichten zu schreiben (vgl. H ALLET 2017 für das generische Lernen). Verbunden mit der Unterscheidung zwischen sprachlicher und nicht-sprachlicher Kunst und zwischen rezeptiver k und produktiver k Arbeitsweise mit den Künsten ist auch die Förderung der Fremdsprache der Schüler*innen im Unterricht. Hier kann die folgende Unterteilung getroffen werden: Die rein rezeptive k Arbeit mit sprachlicher Kunst erlaubt es, die rezeptiven kommunikativen Kompetenzen der Schüler*innen zu fördern (d.h. Lesen, Hör-/ Sehverstehen). Ein klassisches Beispiel wäre hier das Lesen von Literatur oder das Schauen eines Films. Die produktive k Arbeit mit sprachlicher Kunst ermöglicht es, die produktiven kommunikativen Kompetenzen der Schüler*innen zu fördern (d.h. Sprechen, Schreiben). Hier wären Beispiele das Schreiben neuer Songstrophen oder das Weiterführen einer Theaterszene. Die rezeptive k Arbeit mit nicht-sprachlicher Kunst wiederum kann ohne weitere 22 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 Aufträge an die Schüler*innen noch nicht zur Förderung der Fremdsprache genutzt werden. So erfordert das Betrachten eines Bildes oder das Hören von Instrumentalmusik naheliegenderweise keine Sprache. Hier müssen Lernende über geeignete Sprachaufträge aufgefordert werden, auf die rezipierten Kunstwerke Bezug zu nehmen. Passende Beispiele wären hier das Betrachten eines Gemäldes, das beschrieben wird (z.B. „What do you see here? “), das mit einer Geschichte gefüllt wird (z.B. „What is the person in the painting doing? “), das an eigene (Vor-)Erfahrungen anschließt (z.B. „Has anybody ever been to such a place? “) oder das inhaltlich interpretiert wird (z.B. „Which feelings do these dark colors convey? “) (vgl. O FFICE OF B ILINGUAL E DUCATION AND F OREIGN L ANGUAGE S TUDIES 2010: 14). Auch die produktive k Arbeit mit nicht-sprachlicher Kunst kann nur mit weiteren Aufträgen an die Schüler*innen zur Förderung der Fremdsprache eingesetzt werden. Denn auch hier erfordert das Malen eines Bildes oder die Aufführung einer Tanzfigur die Fremdsprache zunächst nicht. Passende Sprachaufträge an die Schüler*innen beziehen sich hier auf die (sprachliche) Dokumentation und (sprachliche) Präsentation ihrer künstlerischen Arbeit und der daraus entstandenen Kunstwerke. So können die Schüler*innen gebeten werden, ihre Vorüberlegungen (z.B. „What should your painting show? “) oder ihre Arbeitsschritte zu dokumentieren (z.B. „What did you do when? “), das eigene Kunstwerk vorzustellen (z.B. „Tell us about your work“) oder das eigene Werk inhaltlich zu interpretieren (z.B. „What did you want to express? “). Über diese Arbeitsaufträge an die Schüler*innen kann die Rezeption k und Produktion k der nicht-sprachlichen Künste ebenfalls zum Anlass zum Fremdsprachgebrauch, und damit Fremdsprachenerwerb, werden. Dabei gilt, dass diese Sprachaufträge zur Rezeption k und Produktion k ebenso genutzt werden können, um mit den sprachlichen Künsten zu arbeiten. Auch hier können, quasi zusätzlich zur Spracharbeit, die schon ‚in der Sprachkunst‘ selbst steckt, die Lerner*innen auf die Kunstwerke Bezug nehmen oder über ihre Arbeitsweise und Arbeitsergebnisse berichten. So kann im Unterrichtsverlauf z.B. für die sprachliche Kunst Literatur i) eine bestehende Kurzgeschichte gelesen (Lesen), ii) diese besprochen (Sprechen), iii) eine eigene Geschichte geschrieben (Schreiben), iv) diese dokumentiert (Schreiben) und schließlich v) vor der Lerngruppe vorgestellt werden (Sprechen). Im Rahmenmodell stellt sich das Element ‚Lernerträge‘, die über diesen Unterricht umgesetzt werden können, darüber hinaus wie folgt dar (s. Abb. 2, S. 20): Wie oben diskutiert, können die Lernerträge aus G EHRING (2017) und B ADSTÜBNER -K IZIK (2006) mit Gewinn um weitere Kompetenzen erweitert und neu angeordnet werden. So kann zwischen vorübergehenden Zwischenerträgen und dauerhaften Enderträgen unterschieden werden, wobei vorübergehende Lernerträge zur Erreichung dauerhafter Kompetenzveränderungen der Schüler*innen wirksam werden. Damit die Kompetenzerträge im neuen Rahmenmodell eine ausreichende Trennschärfe besitzen, werden sie erneut über Arbeitsdefinitionen beschrieben. Als Zwischenerträge eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts ergeben sich damit vorübergehende, durch die Kunstaufgaben aufgerufene Veränderungen der personalen und sozialen Kompetenzen der Schüler*innen: Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 23 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 Personale Kompetenzen: Die SuS nutzen Persönlichkeitseigenschaften oder -merkmale, die in ihrer Person begründet liegen und die zu einer erfolgreichen Aufgaben- oder Problembewältigung beitragen (z.B. Motivation, Aufmerksamkeit, Kreativität, Selbstbewusstsein, Offenheit für Erfahrungen). Soziale Kompetenzen: Die SuS nutzen Verhaltensweisen im Umgang mit anderen, die zu einer erfolgreichen Aufgaben- oder Problembewältigung in der Gemeinschaft beitragen (z.B. Zuverlässigkeit, Kompromissfähigkeit, Empathie, Toleranz). Diese Zwischenerträge der personalen und sozialen Kompetenzen werden nun zu Endlernerträgen, wenn sie, wie oben beschrieben, durch ihre wiederholte situative Anwendung (state), vor allem über das Alltagsmaß hinaus, zu einer Veränderung der dazugehörigen dauerhaften Persönlichkeitsmerkmale (trait) führen. Gleichzeitig beeinflussen die dargestellten Zwischenerträge die Endlernerträge der übrigen, d.h. der a) fremdsprachlichen und b) künstlerischen Kompetenzen der Schüler*innen (s. Abb. 2). So ist anzunehmen, dass eine situativ erhöhte Motivation, Aufmerksamkeit, Zuverlässigkeit usw., die durch künstlerische Aufgaben ausgelöst wird, auch die Lernerträge für diese übrigen Kompetenzen erhöht. Auf diese Weise dürften Schüler*innen, die motiviert, aufmerksam, zuverlässig usw. ‚bei der Sache‘ sind, einen höheren Lernertrag erreichen als Schüler*innen, die unbeteiligt, passiv und unfokussiert im Unterricht arbeiten (s. Michaela S AMBANIS ‘ Beitrag in diesem Heft). Als Enderträge eines Fremdsprachenunterrichts unter Einsatz der Künste ergeben sich für die a) ‚fremdsprachlichen Kompetenzen‘ im Rahmenmodell die folgenden Erträge: Kommunikative Kompetenzen: Die SuS verbessern ihre Fremdsprachenfähigkeit in den Bereichen Sprechen, Schreiben, Lesen, Hör-/ Sehverstehen und Sprachmittlung sowie im Wortschatz und der Grammatik. Strategische Sprachlernkompetenz: Die SuS können die Arbeit mit den Künsten bewusst nutzen, um das eigene Fremdsprachenlernen zu gestalten und voranzutreiben. Einige Beispiele für kunstbezogene Lernstrategien wären das extensive Lesen von Romanen oder Graphic Novels (mit Vokabel-Scaffolding), das Schauen von Filmen und Serien in der Zielsprache (mit Untertitel-Scaffolding), das Herausschreiben von Wortschatz aus Liedern, Büchern oder Serien, das Lesen und Anlegen von zielsprachlichen Wikipedia-Einträgen zu Kunstwerken und Künstler*innen, u.w.m. Für die b) ‚künstlerischen Kompetenzen‘ der Schüler*innen ergeben sich diese Endlernerträge: Künstlerisch-rezeptive Kompetenz: Die SuS verbessern ihre Fähigkeit, Kunstwerke/ -darbietungen inhaltlich und emotional zu erfassen, wobei sie Diskussionen über die Bedeutung von Kunstwerken führen, die Raum für unterschiedliche, individuelle Lesearten lassen. Künstlerisch-analytische Kompetenz: Die SuS verbessern ihre Fähigkeit, 24 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 Kunstwerke/ -darbietungen in Hinblick auf ihre strukturelle Beschaffenheit zu beschreiben. Künstlerisch-produktive Kompetenz: Die SuS verbessern ihre Fähigkeit, Kunstwerke oder künstlerische Darbietungen von nicht-alltäglicher ästhetischer Qualität zu gestalten. Künstlerisch-interkulturelle Kompetenz: Die SuS verbessern ihre Kenntnisse von und ihr Wissen über Kunstwerke/ -darbietungen und Künstler*innen der fremdsprachlichen Zielkulturen, wobei sie diesen Kunstwerken und Kunstschaffenden offen gegenüberstehen. Für die Enderträge der c) ‚persönlichen Kompetenzen‘ der Schüler*innen werden die gleichen Definitionen wie für die Zwischenerträge beschrieben angenommen. Jedoch verbessern sich die personalen und sozialen Kompetenzen der Lernenden in diesem Fall dauerhaft. 4. Fazit und Ausblick Das vorgestellte Rahmenmodell soll als schematische Darstellung eines kunstbasierten Fremdsprachenunterrichts verstanden werden, das die zentralen Elemente dieses Unterrichts benennt und in ein plausibles Wirkungsgefüge einordnet. Auf diese Weise werden ‚Unterricht‘ und ‚Lernerträge‘ des fremdsprachlichen Klassenzimmers mit Kunsteinsatz (d.h. Theater, Bildende Kunst, Musik, Literatur usw.) sichtbar und nachvollziehbar gemacht. Bisherige Darstellungen der Lernerträge wurden in das aktuelle Modell aufgenommen, womit an den aktuellen Forschungsstand angeschlossen wird (B ADSTÜBNER -K IZIK 2006; G EHRING 2017). Abschließend muss eine zentrale Beschränkung der Aussage des neuen Rahmenmodells hervorgehoben werden. Auch wenn die diskutierten Verbindungen (oder: Effekte, Auswirkungen) zwischen ‚Unterricht‘ bzw. Lehr-/ Lernmethoden und ‚Lernerträgen‘ der Schüler*innen eine grundlegende Plausibilität aufweisen, stellt auch das neue Rahmenmodell (wie auch die bisherigen Darstellungen) eine theoretische Modellierung der Wirkzusammenhänge dar. Zwar gilt für die Theoriebildung in der Fremdsprachendidaktik, wie L EGUTKE (2016: 41) schreibt, dass „[d]ie Entwicklung und kritische Erörterung von Modellen […] zu den zentralen Aufgaben theoretischer Forschung [gehört], denn Modelle haben die Funktion, komplexe Zusammenhänge und Abläufe verständlich zu machen“. Gleichzeitig ist das Rahmenmodell, als ein theoretisches Annahmengefüge, jedoch (vorläufig) nicht durch empirische Evidenz belegt bzw. nicht vollständig empirisch fundiert. Eine belastbare Aussage dazu, ob die vorgestellten Lernerträge in fremdsprachlichen Klassenzimmern auch tatsächlich eintreten, kann aus dem Modell heraus nicht getroffen werden. Eine empirische Überprüfung des Rahmenmodells ‚als Ganzes‘ dürfte aufgrund der Vielfalt seiner Annahmen auch in Zukunft nicht zu leisten sein. Denkbar wäre jedoch, die empirische Gültigkeit einzelner Verbindungen des Modells durch geeignete Studien zu überprüfen Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht 25 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 (z.B. das Malen/ Theaterspielen steigert die situative Motivation der Schüler*innen; eine wiederholte Steigerung der situativen Motivation steigert die dauerhafte Motivation im Fremdsprachenunterricht). Auf diese Weise kann das vorgestellte Rahmenmodell sukzessive empirisch überprüft und damit validiert (oder ggf. falsifiziert) werden. Dies bedeutet jedoch, dass das Rahmenmodell als ‚forschungsleitend‘ für nachfolgende empirische Studien verstanden werden sollte - und nicht als ‚handlungsleitend‘ für die konkrete Unterrichtspraxis. Literatur A NDREWS , Jane / A LMOHAMMAD , Maryam (Hrsg.) (2022): Creating welcoming learning environments: Using creative Arts methods in language classrooms. Bristol: Multilingual Matters. A MERICAN P SYCHOLOGICAL A SSOCIATION (APA) ( 2 2015): APA Dictionary of Psychology. Washington, DC: American Psychological Association. B ADSTÜBNER -K IZIK , Camilla (2006): Fremde Sprachen - Fremde Künste? Bild- und Musikkunst im interkulturellen Fremdsprachenunterricht: Das Fallbeispiel Deutsch als Fremdsprache in Polen B ERNSTEIN , Nils / L ERCHNER , Charlotte (Hrsg.) (2014): Ästhetisches Lernen im DaF-/ DaZ-Unterricht. Göttingen: Universitätsverlag. DESI-K ONSORTIUM (Hrsg.) (2008): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim: Beltz. D OMKOWSKY , Romi (2011): Theaterspielen - und seine Wirkungen. Berlin: Universität der Künste Berlin, Fakultät Darstellende Kunst. G EHRING , Wolfgang (2017): Mit den Künsten Englisch unterrichten. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. G EIER , Thomas ( 3 2006): „Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung. Eine Expertise - Zusammenfassung der Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“. In: E RPENBECK , John / T IMMERBERG , Vera (Hrsg.): Der Kompetenznachweis Kultur: Ein Nachweis von Schlüsselkompetenzen durch kulturelle Bildung. Remscheid: BKJ, 43-53. G ROSZ , Michael / L EMP , Julia / R AMMSTEDT , Beatrice / L ECHNER , Clemens (2022): „Personality change through Arts education: A review and call for further research“. In: Perspectives on Psychological Science 17.2, 360-384. H ALLET , Wolfgang ( 2 2017): „Generisches Lernen“. In: S URKAMP , Carola (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik: Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 105-106. H ELMKE , Andreas ( 7 2017): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Klett/ Kallmeyer. H ELMKE , Andreas / K LIEME , Eckhard (2008): „Unterricht und Entwicklung sprachlicher Kompetenzen“. In: DESI-K ONSORTIUM (Hrsg.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim: Beltz, 301-312. K ULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2014): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18- Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (22.06.2022). L ANGER , Rebecca / S TERN , Alexander / S CHROEDER , Sascha (2020): „Transfereffekte Kultureller Bildung auf die Persönlichkeit: Forschungsstand und -desiderate“. In: P ÜRGSTALLER , Esther / 26 Andreas Wirag DOI 10.24053/ FLuL-2023-0002 52 • Heft 1 K ONIETZKO , Sebastian / N EUBER , Nils (Hrsg.): Kulturelle Bildungsforschung. Methoden, Befunde und Perspektiven. Wiesbaden: Springer, 41-53. L EGUTKE , Michael (2016): „Theoretische Forschung“. In: C ASPARI , Daniela / K LIPPEL , Friederike / L EGUTKE , Michael / S CHRAMM , Karen (Hrsg.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr, 39-49. O FFICE OF B ILINGUAL E DUCATION AND F OREIGN L ANGUAGE S TUDIES (2010): Art as a tool for teachers of English language learners. https: / / sai.nyc/ EngThruArts/ ArtAsA-ToolForTeahertsOfEnglishLanguageLearners.pdf (22.06.2022). R ITTELMEYER , Christian (2016): Bildende Wirkungen ästhetischer Erfahrungen. Weinheim: Beltz Juventa. S TADLER , Wolf / W IENCH , Peter (Hrsg.) (2006): Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. Band 1: Aac - Barm. Eggolsheim: Dörfler. W IRAG , Andreas / S URKAMP , Carola (2022): „Boon or burden? Drama pedagogy elements and their relation to foreign-language anxiety in EFL drama clubs“. In: G IEBERT , Stefanie / G ÖKSEL , Eva (Hrsg.): Dramapädagogik-Tage 2020. Conference Proceedings of the 6th Annual Conference on Performative Language Teaching and Learning, 69-85. https: / / www.pedocs.de/ volltexte/ 2022/ 25295/ pdf/ Giebert_Goeksel_Dramapaedagogik- Tage_2020.pdf (05.10.22). 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 L UISA A LFES * Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen: (Selbst-)Portraits und ihr besonderes Potenzial für die Entwicklung von Empathiefähigkeit Abstract. This article takes an important step towards improving the theory and practice of foreign language teaching with (self-)portraits. It discusses their teaching potential and impact on students’ empathy towards cultural identities. The first part presents the current state of the art of working with pictures in the foreign language classroom. Then, this article approaches paintings from the perspective of arts education and explores avenues through which art can teach students foreign language competences including their ability to empathize with other cultures. Empirical studies which evaluate to what extent art works may contribute to language learning and developing empathy will be considered. This paper highlights current trends in the teaching of visual literacy and introduces the idea of working with (self-)portraits in foreign language education. In addition, it examines how practical learning opportunities can be created by analyzing visual input (here: a selfportrait of the painter Frida Kahlo) and how the students’ creation of their own portraits can be a meaningful tool in the language classroom. By doing so, the interplay of students’ personality traits and foreign language learning while working with fine arts will be discussed. 1. Einleitung Dass bildende Kunst in unserem alltäglichen Leben eine große Rolle spielt und daher auch im Fremdsprachenunterricht aufgegriffen werden sollte, ist offensichtlich. Bilder sind Teil unserer Kultur und Kommunikation, sie beeinflussen Wissen und Vorstellungen (vgl. KLINKER / N IEHOFF 2015). Sie bieten den Lernenden Perspektivenvielfalt an und ermöglichen es ihnen, selbst unterschiedliche Standpunkte und Positionen einzunehmen; dadurch wird ihre Phantasie gefördert (vgl. L IEBER 2008: 8). Zudem können anhand von Bildern unterstützende Lerngelegenheiten geschaffen werden, welche die Lernprozesse von Schüler: innen stimulieren (vgl. A LFES / VON E LBWART 2022: 29). Die Gründe für den Einsatz von bildender Kunst im Fremdsprachenunterricht sind so vielfältig wie die künstlerischen Artefakte selbst. Schon seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, mit Bildern im Fremdsprachenunterricht zu arbeiten und die visuelle * Korrespondenzadresse: Dr. Luisa A LFES , Universität Duisburg-Essen, Didaktik des Englischen, Universitätsstraße 12, 45141 E SSEN . E-Mail: luisa.alfes@uni-due.de Arbeitsbereiche: Bilder im Fremdsprachenunterricht, multimodale Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht, theoretisch-konzeptionelle Forschungsmethoden. 28 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Kompetenz von Lernenden zu fördern (vgl. Z IEGESAR 1978: 7; M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER - VON D ITFURTH 2004: 134f.; H ECKE 2010: 6). Bislang nehmen Bilder im Fremdsprachenunterricht meist nur eine instrumentelle Rolle ein und es wird allgemein davon ausgegangen, dass sie motivierend sind, Semantisierungs- und Grammatisierungsprozesse unterstützen, interkulturelles Lernen intensivieren und die Organisation und Visualisierung von Informationen fördern (vgl. H ECKE 2010: 48). Zeitgemäße und kompetenzorientierte Bildung sollte jedoch auch die bildfokussierte Arbeit im Fremdsprachenunterricht hervorheben, in der Bilder im Mittelpunkt des unterrichtlichen Geschehens stehen und nicht nur als Hilfsmittel dienen, um die eben genannten Aspekte zu fördern. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf dem interdisziplinären Umgang mit bildender Kunst im Fremdsprachenunterricht. Es wird ein theoretisch-konzeptioneller Ansatz präsentiert, wie Lernenden künstlerische Artefakte mit Hilfe von kunstdidaktischen Methoden im Fremdsprachenunterricht nahegebracht werden können. Dabei werden (Selbst-)Portraits genutzt, um die Förderung interkultureller Kompetenzen - mit speziellem Fokus auf dem Teilbereich der Empathiefähigkeit der Lernenden - zu analysieren. Am Beispiel eines Selbstportraits von Frida K AHLO wird im vorliegenden Beitrag dargestellt, dass methodische Ansätze aus der Kunstdidaktik im Fremdsprachenunterricht die Förderung des Empathieempfindens der Lernenden unterstützen können. Dieses Bild eignet sich, um den Lernenden Frida K AHLOS interkulturelle Erfahrungen zwischen Mexiko und den USA nahezubringen und so den Leser: innen exemplarisch darzustellen, welche methodischen Ansätze wie genutzt werden können. Das Bildgenre des (Selbst-)Portraits ist hier besonders wirkungsvoll, da es zeigt, wie und wo sich die jeweiligen Künstler: innen selbst wahrnehmen, und es den Lernenden ermöglicht wird, Begegnungen zu schaffen, neue (interkulturelle) Perspektiven einzunehmen und so mit den abgebildeten Charakteren ihr eigenes Empathieempfinden zu stärken. 2. Funktionen von Bildern im Fremdsprachenunterricht: eine Bestandsaufnahme Um die besondere Rolle von (Selbst-)Portraits für die Förderung des Empathieempfindens der Fremdsprachenlernenden darstellen zu können, erfolgt zunächst eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Rolle von Bildern allgemein im Fremdsprachenunterricht. Diese Funktionen lassen sich anhand von Lehrwerken erfassen, in denen visuelle Darstellungen omnipräsent sind. H ALLET (vgl. 2013: 215-219; 2015: 33-38) schreibt Bildern in Fremdsprachenlehrwerken sechs unterschiedliche Funktionen zu: illustrative Funktion: Bilder in dieser Funktion sind als ‚Beigabe‘ zum Text oder zur Aufgabe zu verstehen, ohne dass auf das Bild explizit Bezug genommen wird (z.B. eine Abbildung eines Kängurus neben einem Text über das australische Outback). Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 29 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 semantische Funktion: Hier ist bildliches Material gemeint, das von den Lernenden verbalisiert werden soll (z.B. eine Abbildung eines Schulhofs mit dem Arbeitsauftrag an Lernende, darüber zu sprechen). kognitive Funktion: Diese Abbildungen dienen als Unterstützung (scaffolding), um vor allem sprachliche Strukturen und Phänomene zugänglich zu machen und kognitive Prozesse anzustoßen (z.B. ein mit Sprechblasen ergänztes Foto, um einen Dialog zu beginnen). instruktive Funktion: Bilder in dieser Form können auch als ‚Icons‘ bezeichnet werden (z.B. ein Ohr neben der Instruktion das auf eine Hörverstehensaufgabe hinweist). repräsentationale Funktion: Diese Abbildungen dienen dem kulturellen, landeskundlichen und interkulturellen Lernen, indem Ausschnitte und Aspekte der zielsprachlichen Kultur, kulturhistorische Sachverhalte oder Lebensweisen dargestellt werden (z.B. ein Foto einer Sehenswürdigkeit in London). bildästhetische Funktion: Hier wird auf Bilder als ästhetisches Material für den Fremdsprachenunterricht Bezug genommen. H ALLET bezieht sich auf ein Beispiel in einem Lehrwerk, das Vexierbilder aus der Tate Gallery zeigt. Diese Abbildungen sind verbunden mit der Aufgabe an die Lernenden, zu beschreiben, ob sie die Bilder mögen, und später eine eigene Ausstellung zu entwickeln; unter diese Kategorie werden vor allem Artefakte der bildenden Künste wie bspw. Gemälde - und damit auch (Selbst-)Portraits von berühmten Künstler: innen - gefasst. H ALLET (2013: 215) bezeichnet seine Beschreibungen der Funktionen von Bildern in Lehrwerken als nicht repräsentativ aufgrund der „fehlenden quantitativen empirischen Absicherung“. Die Aussagen zur Häufigkeit (z.B. Bilder mit illustrativer Funktion als eine der „häufigsten Verwendungsweisen“ oder Bilder mit bildästhetischer Funktion als „ein eher seltenes Beispiel“; ebd.: 215, 218), werden durch eine subjektive Einschätzung auf Basis der Analyse einer Doppelseite aus einem Lehrwerk getroffen. Aus diesem Grund erfolgt im Folgenden eine kurze Bestandsaufnahme der oben aufgeführten sechs Funktionen von Bildern in aktuellen Schulbüchern. Exemplarisch wird diese Bestandsaufnahme anhand der Schulbücher Camden Town 3 (H ANUS et al. 2014), English G Access 5 (R ADEMACHER 2017), Green Line 2 (W EIß - HAAR / H Aß 2007) und On Track 1 (H OLTKAMP / R OBB B ENNE 2018) durchgeführt. Diese vier Schulbücher wurden zufällig aus den in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Lehrwerken für das Gymnasium (G9) ausgewählt (vgl. Verzeichnis für Lehrmittel, S CHUL - MINISTERIUM NRW 2013-2020). Sie dienen als Basis für eine Zufallsstichprobe von Abbildungen, die einen Eindruck über die Funktionen von Bildern in aktuellen Lehrwerken vermitteln soll. Für diesen Beitrag wurden jeweils zufällig 10 Seiten aus jedem Schulbuch ausgewählt und die auf diesen Seiten abgedruckten Bilder den oben genannten Funktionen zugeordnet. Bei der Zufallsauswahl wurden alle Seiten im jeweiligen Lehrwerk außer dem Impressum und den Deckblättern berücksichtigt. 30 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Abb. 1: Ergebnisse einer Zufallsstichprobe zu den Funktionen von Bildern in Lehrwerken für Gymnasien in NRW Die Übersicht liefert einen Einblick, welche Funktionen Bilder zu welchen Anteilen in den Lehrwerken einnehmen. Durch die zufällige Auswahl der Seiten hat die Bestandsaufnahme einen gewissen Anspruch auf Repräsentativität. Es wurden insgesamt 40 Seiten (10 Seiten pro Lehrbuch) auf ihre Repräsentation von Bildern untersucht. Dabei wurden insgesamt 98 Bilder gezählt. Auch wenn nicht alle Bilder eine eindeutig abgrenzbare Funktion hatten bzw. auch durchaus verschiedenen Kategorien hätten zugeordnet werden können, wurden sie durch die Autorin ihrer besonders charakteristischen Funktion im jeweiligen Kontext zugeordnet. Die meisten Bilder haben in dieser Stichprobe eine illustrative Funktion (41,84%) und instruktive Funktion (44,9%). Damit heben sich die beiden Kategorien deutlich von den anderen Kategorien ab. Bilder mit semantischer Funktion (8,2%), kognitiver Funktion (1,02%), repräsentationaler Funktion (4,08%) und bildästhetischer Funktion (0%) kommen kaum bzw. überhaupt nicht in der Stichprobe vor. Die Stichprobe über die Funktionen von Bildern in Lernmaterialien deckt sich auch mit den Aussagen von u.a. H ALLET (2013), S CHOPPE (2020) und N IEHOFF (2007), wonach vor allem Bilder mit illustrativer Funktion und Bilder mit instruktiver Funktion in Lernmaterialien verwendet werden. Bislang liegt der Fokus des Einsatzes von Bildern im Fremdsprachenunterricht auf jenen mit illustrativer und instruktiver Funktion, die vor allem das sprachliche Lernen 41,8 8,2 1,02 44,9 4,08 05 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Anzahl der Bilder Zufallsstichprobe zu den Funktionen von Bildern in vier Lehrwerken für Gymnasien in NRW Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 31 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 unterstützen. Da die Förderung der interkulturellen Kompetenzen einen weiteren, zentralen Zielbereich des Fremdsprachenlernens darstellt, sollten Bilder aber nicht nur das sprachliche Lernen unterstützen, sondern auch für die Ausbildung der interkulturellen Kompetenzen genutzt werden, welche z.B. durch Bilder mit bildästhetischer Funktion gesteigert werden kann. Häufig spiegeln sich kulturelle Einflüsse in Bildern mit bildästhetischer Funktion wider. Wie die Bestandsaufnahme zeigt, wird Bildkunst mit bildästhetischer Funktion noch (zu) wenig im lehrwerksbasiertem Fremdsprachenunterricht genutzt. Sie sind daher ein wichtiger Baustein für die folgende interdisziplinäre sowie theoretisch-konzeptionelle Forschung. 3. Förderung von visual literacy durch Bilder mit bildästhetischer Funktion Bilder mit bildästhetischer Funktion, die noch eine untergeordnete Rolle im Fremdsprachenunterricht spielen, sollten im Unterricht selbst zum Lerngegenstand gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist visual literacy hervorzuheben. Schon seit mehreren Jahrzehnten wird die Aufnahme der visuellen Kompetenz in die Fremdsprachen- Curricula gefordert (vgl. H ECKE / S URKAMP 2015: 14-18; H ECKE 2010: 4-6). Visual literacy wird oft vereinfacht dargestellt als Fähigkeit der Lernenden, Bilder zu verstehen und mittels Bildern kommunizieren zu können (vgl. H ALLET 2013: 214). Mit Blick auf die Komplexität von Bildern mit bildästhetischer Funktion ist eine umfänglichere Definition angemessen. Im Anschluss an H ATTWIG et al. (2011: 1) kann visual literacy wie folgt beschrieben werden: Visual literacy is a set of abilities that enables an individual to effectively find, interpret, evaluate, use, and create images and visual media. Visual literacy skills equip a learner to understand and analyse the contextual, cultural, ethical, aesthetic, intellectual, and technical components involved in the production and use of visual materials. A visually literate individual is both a critical consumer of visual media and a competent contributor to a body of shared knowledge and culture. Mit visual literacy ist also nicht etwa das Erlernen des Dekodierens von offensichtlichen Icons, wie das Symbol einer CD als Hinweis auf die Audio-Materialien gemeint, sondern die viel komplexere Kompetenz zum kritischen Lesen und Verstehen von Bildern. Betrachter: innen werden zu kritischen Konsument: innen eines Bildes, wenn sie alle Komponenten innerhalb und außerhalb eines Bildes verstehen. Lernende müssen im Sinne der visual literacy also mit einer Art Equipment ausgestattet werden, das ihnen hilft, die einzelnen Komponenten zu identifizieren, zu analysieren und kritisch zu reflektieren, auch wenn dies bislang noch nicht explizit in den Fremdsprachen- Curricula gefordert wird. Bereits seit vielen Jahren bestehen Forderungen danach, Bilder in allen Fächern einzusetzen und die visual literacy der Lernenden zu fördern. „Bilder [hier: Bilder mit bildästhetischer Funktion] als zentrales Kulturphänomen können und müssen ihren Platz im Unterricht aller Fächer haben“ lautet S CHOPPES 32 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 (2020: 179) Appell als Kunstpädagoge für den regelmäßigen Einsatz von und der intensiven Beschäftigung mit Bildern (vgl. auch B ERING et al. 2006: 57). Da vor allem Bilder mit bildästhetischer Funktion oft komplexe Inhalte aufweisen, die es im Fremdsprachenunterricht zu dekodieren gilt, können Methoden der Kunstdidaktik helfen, um die visuelle Kompetenz der Lernenden zu fördern. 4. Das Unterrichtsfach Kunst als Bezugsdisziplin für den Umgang mit Bildkunst im Fremdsprachenunterricht Kunstunterricht trägt dazu bei, dass Lernende innerhalb des Kunstunterrichts, aber auch in anderen Fächern und außerhalb der Schule, ästhetische Erfahrungen machen, sowohl produktiv im eigenen künstlerischen Gestalten als auch rezeptiv in der Betrachtung von Kunstwerken. Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen - in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts (K IRCHNER / O TTO 1998: 4). Der kompetenzorientierte Kunstunterricht lässt sich grob in die beiden Lernbereiche ‚Produktion‘ und ‚Rezeption‘ aufschlüsseln, wobei beide im Unterricht häufig inhaltlich miteinander verknüpft sind (vgl. K IRCHNER / K IRSCHENMANN 2017: 216). Die bildnerische Kompetenz (d.h. Produktion und Rezeption) „entwickelt sich in Wechselwirkung von Herstellen und Anschauen, von Gesprächen über Bilder, der Gestaltung von Bildern, im Anwenden von Wissen über Bilder ebenso wie im Gebrauch von Bildern“ (ebd.). Auch wenn die beiden Bereiche eng miteinander verwoben sind, sollen sie dennoch im Folgenden als Unterteilung dienen, um Bildkunst für den Fremdsprachenunterricht so genuin und transparent wie möglich einzubinden (s. auch den Beitrag von Andreas W IRAG zu einem Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht in diesem Heft). Dabei ist zu beachten, dass im Unterrichtsfach Kunst mit der Bildproduktion und der Bildrezeption andere Lernziele verfolgt werden als im Fremdsprachenunterricht. Im Fremdsprachenunterricht finden Bilder bisher im rezeptiven und im produktiven Bereich Eingang. Sie werden oft instrumentalisierend genutzt, um die fremdsprachlichen Lernziele zu verfolgen (vgl. G EHRING 2017: 25; H ALLET 2015: 39; H ECKE 2010: 9-11), z.B. in der Bildrezeption, in der Lernende ihre Sprechkompetenzen trainieren, wenn sie ein Bild beschreiben, oder ihre interkulturellen Kompetenzen, wenn sie Fotos aus einer anglophonen Stadt sehen und so über die Zielkultur lernen. In der Bildproduktion werden Bilder bislang z.B. eingesetzt, um Szenen aus einem gelesenen Text zu illustrieren (vgl. P EEZ 2011: 174, 176; H ALLET 2013: 219). Diese unterrichtlichen Konzepte im Zusammenspiel von bildlichem und sprachlichem Lernen wurden bislang kaum empirisch im Fremdsprachenunterricht erforscht. Aus dem Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 33 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 Bereich Deutsch als Zweitbzw. Fremdsprache (DaZ/ DaF) liegen jedoch einige wenige empirische Befunde vor, die im Folgenden vorgestellt werden. 4.1 Empirische Erkenntnisse über das Sprachenlernen mit bildender Kunst In einem longitudinalen Praxisforschungsprojekt zur integrierten Sprachbildung im Fach Kunst, das 2010-2011 durchgeführt wurde, erhob F OHR (2022) Daten über die Bildbeschreibungskompetenz von DaZ-Lernenden im Alter von 10-12 Jahren. Anhand des Gemäldes Die Bauernhochzeit von Pieter Bruegel d. Ä. (1568) wurden die Kompetenzen zur Beschreibung des Bildes von 16 DaZ-Lernenden mit Förderbedarf in der Zielsprache Deutsch sowie die entsprechenden Fähigkeiten einer Bezugsgruppe (d.h. zwei 5. Klassen mit 48 Kindern) untersucht (vgl. F OHR 2022: 45). In Einzelinterviews wurde den Lernenden das Bild Die Bauernhochzeit gezeigt, nachdem sie sich im DaZ-Unterricht mit dem Kunstwerk auseinandergesetzt hatten. Anstatt das Bild strukturiert zu beschreiben, waren die Aussagen der Proband: innen häufig gekennzeichnet durch wertende Äußerungen über das Bild und durch Hintergrundwissen über das Kunstwerk, welches sie im Unterricht erworben hatten (ebd.: 59f.). Die Autorin fasst die Ergebnisse ihrer Studie so zusammen: „[A]usgehend von der Auswertung der Daten zur Kunstkommunikation der zweisprachig aufwachsenden Probanden*innen [kann] vermutet werden, dass sie Probleme mit dem nachvollziehbaren und logischen Beschreiben von Kunstwerken haben“ (ebd.: 60). Dennoch, so F OHR (ebd.: 59), konnten die Zweitsprachenlernenden „eigene Ideen und fiktive Erzählungen zu den Bildgegenständen entwickeln“. Aus ihrer Studie ergaben sich somit zwei Schlussfolgerungen: Schüler: innen benötigen sprachliche Unterstützung, um ihnen vorliegende Bilder beschreiben zu können. Ohne vorherige Erarbeitung und Übung waren die Zweitsprachlernenden nicht in der Lage, „auf die Bildform, z.B. den Aufbau des Bildes, die Lage der Bildgegenstände oder die farbliche Gestaltung und ihre Wirkung ein[zu]gehen“ (ebd.: 59). Schüler: innen konnten das im Unterricht erarbeitete Wissen verbalisieren und über die Kunstwerke sprechen. Dies zeigt, welches Potenzial die Bezugsdisziplin Kunst für das Erlernen einer (Fremd-)Sprache birgt. Eine weitere empirische Studie aus dem DaZ/ DaF-Unterricht ist im Projekt Sprache durch Kunst entstanden, einer Kooperation zwischen dem DaZ/ DaF-Institut der Universität Duisburg-Essen und dem Museum Folkwang. Auch dieses Projekt untersucht das Potenzial der Beschäftigung mit Kunstwerken für das Erlernen einer Sprache. Der Grundgedanke ist, schulisches und außerschulisches Lernen miteinander zu verbinden, indem Lernende gezielte Förderung der deutschen Sprache im Rahmen der kreativen Auseinandersetzung mit Kunst im Museum Folkwang erfahren. Dies geschah über eine Vor- und Nachbereitung der Museumsbesuche im Deutschunterricht; verglichen wurden die Ergebnisse mit jenen Kontrollgruppen, die ausschließlich im Museum gefördert wurden (vgl. B AUR et al. 2013: 249f.). Insgesamt nahmen 281 34 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Schüler: innen (5./ 6. Jahrgangsstufe) an den Projektphasen im Museum und an den Schulen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien) teil. Untersucht wurde u.a., ob sich Unterschiede in den Förderergebnissen zwischen den Gruppen ergeben, die ausschließlich im Museum gefördert wurden, und denjenigen, bei denen die Förderung im Museum und in der Schule stattfand. Gemessen wurden diese Unterschiede im Zuwachs der Sprachkompetenz der Schüler: innen in der Zeit von 2011-2013 über Sprachtests (C-Test nach B AUR / S PETTMANN 2008). Ergebnisse aus dem Vergleich der beiden Gruppen zeigen, dass der Zuwachs der Sprachkompetenz der Lernenden mit Förderung im Museum und im Schulunterricht deutlich höher ist als der Lernzuwachs im Museum ohne schulische Förderung (z.B. Lernzuwachs im Sprachtest ca. 6% ohne schulische Förderung gegenüber ca. 18% mit schulischer Förderung an einer Hauptschule) (vgl. B AUR et al. 2013: 255). Die Studie zeigt zudem, dass die Schüler: innen die Arbeit mit Bildern als motivierend empfunden haben und dass sie ihre Sprachkompetenzen durch Kunst im Museum steigern konnten; die schwächeren Lernenden konnten über alle Schultypen hinweg von der Förderung am stärksten profitieren (vgl. ebd.). Für stärkere Schüler: innen an Gymnasien fiel der Lernzuwachs mit nur 2% eher gering aus. Hier zeigte sich aber, dass diese Gruppe den motivierenden Zugang zu einem neuen Bereich der kulturellen Bildung als besonders profitabel erachtete. Aus dieser Studie lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten: Der Sprachzuwachs von Schüler: innen mit Förderung im Museum und im Schulunterricht fällt höher aus als der Lernzuwachs im Museum ohne schulische Förderung. Schüler: innen erachten die Arbeit mit Kunstwerken im Museum als motivierend. Schwächere Schüler: innen profitieren besonders von der Arbeit mit Kunstwerken im Museum und der begleitenden Sprachförderung im schulischen Unterricht. Durch die beiden Studien aus dem DaZ/ DaF-Bereich konnte aufgezeigt werden, dass Lernende von der Arbeit mit Kunstwerken im Fremdsprachenunterricht profitieren, wobei dazu die Arbeit mit Kunstwerken und die Spracharbeit eng ineinandergreifen müssen. Auch wenn Schüler: innen das Lernen mit Kunstwerken generell als motivierend empfinden und in der Lage sind, Wissen über Kunstwerke zu verbalisieren, benötigen sie sprachliche Unterstützung, um das Potenzial für die Arbeit mit Kunst im Fremdsprachenunterricht möglichst auszuschöpfen. 4.2 Die Arbeit mit (Selbst-)Portraits im Unterricht: Methodische Ansätze aus dem Fach Kunst In den bisherigen Bestrebungen, Bildkunst und sprachliches Lernen zu verknüpfen, spielte die Methodik der Kunstdidaktik noch keine Rolle. Bildkunst wird vor allem mit Blick auf das sprachliche Lernen in ihrem Potenzial untersucht oder in Konzepten zur Bildrezeption, in der Lernziele und Methoden des Fremdsprachenunterrichts ver- Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 35 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 knüpft werden (vgl. H ECKE 2010). Weniger wurde Bildkunst mit Blick auf den kunstmethodischen Umgang mit Bildern betrachtet, den vor allem komplexe Bilder mit bildästhetischer Funktion erfordern. Zudem wurde Bildkunst noch nicht intensiv im Hinblick auf das interkulturelle Lernen im Unterricht eingesetzt. Beide Ansätze werden im weiteren Verlauf des Beitrags berücksichtigt, um das Empathieempfinden der Lernenden im Umgang mit (Selbst-)Portraits zu fördern. Im Sinne der visual literacy darf nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass Lernende die Bilder verstehen, die sie sehen; sie benötigen methodische und sprachliche Unterstützung, die ihnen das Dekodieren von visuellem Material erleichtert. Vor diesem Hintergrund beschreibt S CHOPPE (2020: 39) sechs Schritte zur Bildbetrachtung, um sich einem Kunstwerk im Unterricht zu nähern: 1. Erster Eindruck 2. Abgleich mit eigenen Interessen, Ideen, Vorerfahrungen und Fragen 3. Bestandsaufnahme von Bildgegenständen und Motiven 4. Analyse formaler Phänomene 5. Erschließung von Bildgehalten mit anschließender Erschließung des Kontextes durch weiteren Input 6. Verknüpfungen erstellen, das Verständnis vertiefen, eine abschließende Bilanz ziehen Auch in der Produktion von Werken im Kunstunterricht ist eine strukturierte Herangehensweise nützlich. W IRTH (2014: 107) sieht folgende Phasen als konstitutiv für einen guten Kunstunterricht an: 1. Exploration 2. Inspiration, Ideenfindung 3. Festhalten, Konkretisieren der Idee oder Differenzieren von Beobachtungen, Wahrnehmungen 4. Planung der Präsentation von Ergebnissen einer Exploration oder der Realisierung einer Idee als Inszenierung, Aktion, Bildwerk, Modell 5. Erörtern und Auswerten von Arbeitsergebnissen 6. Anknüpfungspunkte für die Weiterarbeit oder Aufsuchen anderer Gegenstands-, Sach- oder Aufgabenbereiche: Überarbeiten, Modifizieren oder Beginn eines neuen Projekts Sowohl in der Bildrezeption nach S CHOPPE (2020) als auch in der Bildproduktion nach W IRTH (2014) wird deutlich, dass ein strukturierter, kleinschrittiger Ansatz verfolgt wird, um sich mit Bildern im Unterricht auseinanderzusetzen. Diese jeweils sechs Schritte dienen später als Grundlage für den theoretisch-konzeptionellen Ansatz zur Arbeit mit (Selbst-)Portraits im Fremdsprachenunterricht. 36 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 5. Empathiefähigkeit durch Bildkunst am Beispiel von (Selbst-)Portraits im Fremdsprachenunterricht Um das Potenzial von (Selbst-)Portraits für das kulturelle Lernen im Fremdsprachenunterricht zu erfassen, werden zunächst besondere Eigenschaften von (Selbst-)Portraits betrachtet, bevor die Fähigkeit zum Empathieempfinden als Teilbereich des kulturellen Lernens beleuchtet wird. Diese Erkenntnisse können dann explizit auf Frida K AHLO s Bild Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States bezogen werden. (Selbst-)Portraits wohnt ein besonderes Potenzial für das Fremdsprachenlernen inne: „Wenn man einem Menschen oder einem Tier ins Gesicht sieht, geschieht mit uns etwas ganz anderes, als wenn wir einen Gegenstand oder eine Landschaft betrachten“ (S OWA / U HLIG 2015: 555). Durch das Betrachten von Selbstportraits im Unterricht wird zwischen den Lernenden und der abgebildeten Person eine Sphäre interpersonaler Begegnung geschaffen. Dabei wird nahezu fraglos vorausgesetzt, dass „sich im Gesicht des Menschen die dahinterstehende Persönlichkeit zeigt, ausdrückt und für den Betrachter im weitesten Sinne ‚lesbar‘ mitteilt“ (ebd.: 556). (Selbst-)Portraits bieten im Vergleich zu anderen künstlerischen Artefakten vielfältige Lernchancen. Sie dienen den Lernenden als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit der eigenen Person sowie mit anderen Personen und Kulturen. Das für den Fremdsprachenunterricht bedeutende interkulturelle Lernen kann mit (Selbst-)Portraits stattfinden. „Interkulturelles Lernen“ beschreibt die „Entwicklung der gesamten Persönlichkeit des Lernenden und seines Identitätsgefühls als Reaktion auf die bereichernde Erfahrung des Andersseins anderer Sprachen und Kulturen“ (E UROPARAT 2001: 14). Als Teilziel des interkulturellen Lernens wird die Fähigkeit zum Empathieempfinden verstanden (vgl. ebd: 105; F REITAG -H ILD 2018: 169f.), wobei Empathie in Lehr- und Lernkontexten Bestandteil der sozialen Kompetenzen ist und als soziale Perspektivübernahme verstanden wird, die sowohl auf der emotionalen als auch kognitiven Ebene stattfinden kann (vgl. W ILD / M ÖLLER 2020: 427). Empathiefähigkeit ist damit ein wichtiger Bestandteil des interkulturellen Lernens, um sich mit anderen Kulturen, Menschen, Perspektiven, Haltungen und Werten auseinanderzusetzen, und als eine Folge essentiell im Fremdsprachenunterricht. Durch den Einbezug von (Selbst-)Portraits in den Englischunterricht können Lernende einen verbindenden und empathischen Zugang zur Zielkultur erlangen. Mit den Ergebnissen einer Studie von A RNOLD / M EGGS / G REER (2014) lassen sich diese Aussagen untermauern. In dieser Studie wurden 44 Lehramtsstudierende der East Carolina University mit offenen Fragebögen zu ihren Persönlichkeitsmerkmalen befragt, nachdem sie Selbstportraits der Künstlerin Deidre S CHERER analysiert hatten. Ziel dieser Studie war es, zu untersuchen, wie das ästhetische Verständnis und die Fähigkeit zur Empathie durch die Portraitanalysen im Kunstmuseum beeinflusst werden. Das zentrale Ergebnis der Studie war die Erkenntnis, dass die Begegnung mit Deidre S CHERER s Portraits es den Teilnehmenden erlaubte, Empathie zu empfinden. So beschreiben die Proband: innen beispielsweise, wie sich ihr Verständnis von Krankheit Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 37 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 und Tod (Sujets in Scherers Bildern) nach der Analyse der Portraits im Museum auch auf ihren individuellen Bereich verändert hatte (vgl. ebd. : 332). Die Autor: innen fassen die Ergebnisse ihrer Studie wie folgt zusammen: This educational strategy [and exposure to art] allowed students to connect vicariously with the subjects depicted in Scherer’s images in order to experience their feelings […]. This connection to the feelings of others is a form of empathy (ebd.: 344). Es entsteht also bei der Betrachtung von (Selbst-)Portraits eine Wechselwirkung zwischen Bild und Betrachter: in, die wiederum Auswirkungen auf das Empathieempfinden der Betrachter: in in ihrem persönlichen Umfeld hat. Diese Wirkungsweisen von Bildern sollen im Folgenden auch für den Fremdsprachenunterricht genutzt werden. Die dargestellten Erkenntnisse sind Ausgangspunkt für eine Analyse des Kunstwerkes Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States von Frida K AHLO (1932) und dienen als Grundlage, um theoretisch-konzeptionelle und methodische Ansätze für die Arbeit mit (Selbst-)Portraits im Fremdsprachenunterricht darzustellen. Abb. 2: Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States, Frida K AHLO (1932) 38 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Das Bild von Frida K AHLO wird in Tabelle 1 anhand der sechs Schritte von S CHOPPE (2020) auf einer Metaebene betrachtet, um die Potenziale der Beschäftigung mit (Selbst-)Portraits für den Fremdsprachenunterricht zu erläutern. Analyseschritte Durchführung und mögliche Analyseschwerpunkte im Fremdsprachenunterricht 1. Erster Eindruck Schüler: innen sehen das Bild und äußern ihren ersten Eindruck 2. Abgleich mit eigenen Interessen, Ideen, Vorerfahrungen und Fragen Schüler: innen gleichen ihre ersten Eindrücke mit ihren Interessen ab 3. Bestandsaufnahme von Bildgegenständen und Motiven Schüler: innen nennen die abgebildeten Gegenstände und Motive, z.B.: - Abbildung der Künstlerin im Kleid, sie trägt eine mexikanische Flagge in der Hand, Tempelanlage, Schornsteine, exotische Pflanzen 4. Analyse formaler Phänomene Schüler: innen analysieren formale Aspekte, z.B.: - Komposition: das Bild lässt sich in zwei Teile aufteilen, die US-amerikanische rechte Seite und die linke mexikanische Seite, unterteilt durch die Künstlerin in der Mitte - Farbe: prägnante, rosa gekleidete Frida K AHLO in der Mitte des Bildes, US-amerikanische Seite in verschiedenen Grautönen und mexikanische Seite vor allem in Erdtönen, aber auch einzelne Farbakzente wie die Blumen im Vordergrund 5. Erschließung von Bildgehalten mit anschließender Erschließung des Kontextes durch weiteren Input Schüler: innen erschließen Bildgehalte und Kontext, z.B.: - Vier Schornsteine mit der Aufschrift „FORD“ verweisen auf die industriell geprägten USA - Totenköpfe deuten auf die Traditionen und das religiös geprägte Mexiko hin 6. Verknüpfungen erstellen, das Verständnis vertiefen, eine abschließende Bilanz ziehen Schüler: innen verknüpfen ihr erlangtes Wissen und vertiefen ihr Verständnis, z.B.: - Vergleich zu eigenen kulturellen Besonderheiten und Erfahrungen Tab. 1: Analyse des Bildes Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States von Frida K AHLO (1932) Wie in Tabelle 1 dargestellt, dienen die ersten beiden Schritte dem Einstieg in die Arbeit mit dem Bild. Vor allem die Schritte 4-6 erfordern, dass sich die Lernenden mit der im Bild dargestellten Person und ihren kulturellen Hintergründen beschäftigen. Sie laden zu einem Perspektivwechsel ein, in dem die Lernenden sich mit den kulturellen Faktoren des Bildes befassen. Der Umgang mit diesem Selbstportrait im Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 39 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 Englischunterricht kann Auswirkungen auf die kulturellen Wahrnehmungen der Lernenden haben, da er einen Zugang zu interkulturellen Zusammenhängen eröffnet. Durch die schrittweise Analyse des Bildes können sich die Lernenden nicht nur Wissen über die USA und Mexiko und deren Differenzen aneignen; das Kunstwerk kann darüber hinaus zur Ausbildung der Empathiefähigkeit der Lernenden beitragen. Durch diese Art der Analyse wird es den Lernenden ermöglicht, sich in die Lage der menschlichen Schicksale hineinzuversetzen und in einem letzten Schritt Verknüpfungen, z.B. mit den eigenen kulturellen Selbstzuschreibungen, herzustellen. Mit der Analyse dieses Selbstportraits können künstlerische Erscheinungsformen als kulturelle Codes der Länder und Kulturen wahrgenommen werden. Das Kunstwerk wird damit zu einer kulturellen Schatzkiste, die zum Erwerb von Empathiefähigkeit der Lernenden beitragen kann. Sie können durch das Betrachten und die Arbeit mit Portraits ihre kulturellen Kompetenzen entfalten, indem sie andere Perspektiven auf der emotionalen und kognitiven Ebene einnehmen. 6. Empathieentwicklung über die Arbeit mit Selbstportraits im Englischunterricht: Ein Unterrichtsmodell Die methodischen Vorschläge aus der Kunstdidaktik dienen nun als Grundlage, um ein theoretisch-konzeptionelles Modell für die unterrichtliche Arbeit mit Frida K AHLOS Selbstportrait zu entwerfen (Abb. 3, S. 40). 40 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Bildrezeption SECHS SCHRITTE ZUR BILDREZEPTION 1. Erster Eindruck 2. Abgleich mit eigenen Interessen/ Ideen 3. Bestandsaufnahme 4. Analyse formaler Phänomene 5. Erschließung von Bildgehalten mit anschließender Erschließung des Kontextes durch weiteren Input 6. Verknüpfung und Bilanz Bildproduktion SECHS SCHRITTE ZUR BILDPRODUKTION 1. Exploration 2. Inspiration, Ideenfindung 3. Festhalten, Konkretisieren der Idee oder Differenzieren von Beobachtungen, Wahrnehmungen 4. Planung der Präsentation von Ergebnissen einer Exploration oder der Realisierung einer Idee als Inszenierung, Aktion, Bildwerk, Modell 5. Erörtern und Auswerten von Arbeitsergebnissen 6. Anknüpfungspunkte für die Weiterarbeit oder Aufsuchen anderer Gegenstands-, Sach- oder Aufgabenbereiche: Überarbeiten, Modifizieren oder Beginn eines neuen Projekts Abb. 3: Unterrichtsmodell „Selbstportraits im Englischunterricht lesen und gestalten am Beispiel Self-Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States von Frida K AHLO (1932)“ Sowohl die Bildrezeption als auch die Bildproduktion und das ständige Zusammenspiel der beiden Prozesse fördern die bildnerische Kompetenz der Lernenden. Die Durchführung der sechs Schritte zur Bildbetrachtung nach S CHOPPE (2020) hilft den Lernenden, kulturelle Symbolisierungen und Wirklichkeiten - hier im Selbstportrait von Frida K AHLO - zu verstehen. Mit Hilfe der dargestellten Person erkennen sie, dass es sich zwar um ein Individuum handelt, aber vor allem im fünften Schritt erschließen sie den erweiterten Kontext der Zerrissenheit zwischen den beiden Ländern und Kulturen Mexiko und USA. In den sechs Schritten nach W IRTH (2014) zur Bildproduktion mit der Aufgabe - „(in) between cultures? Imagine you feel torn between two different worlds. Which features of different cultural backgrounds would you paint (background) and how would you depict yourself (foreground)? Create a self-portrait.“ - intensivieren die Lernenden ihr Bildverständnis und beziehen es gleichzeitig auf ihre eigene Lebenswelt. Sie erfassen die inszenierten Wirklichkeiten zwischen den Nationen Mexiko und USA und nehmen kulturelle Verschiedenheiten wahr. Die Lernenden Erstellung eigener Portraits zum Thema (in) between cultures Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 41 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 setzen sich mit kulturellen Symbolen auseinander (Schritte 1-4). Hier können Bilder gemalt, mit Hilfe von Fotos, Zeitungsauschnitten usw. collagiert oder als digitale Portraits gestaltet werden. Durch das Darstellen der eigenen kulturellen Besonderheiten und dem Vergleich mit den kulturellen Symbolen in Frida K AHLOS Bild erkennen die Lernenden, wie alltäglich kulturelle Unterschiede und Besonderheiten sind (Schritte 5-6). Dadurch wird ihnen ein Perspektivwechsel ermöglicht, der ihr Empathieempfinden fördert. In beiden Bereichen, sowohl in der Bildrezeption als auch -produktion, muss unter Verweis auf die vorgestellten Studien beachtet werden, dass die Lernenden sprachliche Unterstützung, z.B. durch das Bereitstellen von Phrasen oder Vokabeln, erhalten. 7. Fazit und Ausblick Künstlerische Artefakte im Allgemeinen und (Selbst-)Portraits im Speziellen haben einen unverzichtbaren Wert für die Ausbildung der Empathiefähigkeit von Lernenden und sollten auch im Fremdsprachenunterricht eine zentrale Rolle spielen. Ihr Mehrwert für das Lernen einer Fremdsprache konnte bereits durch empirische Studien nachgewiesen werden. Um allerdings das volle Potenzial von bildender Kunst für den Fremdsprachenunterricht auszuschöpfen, bedarf es einer Berücksichtigung geeigneter Methoden aus dem kunstdidaktischen Bereich, die das Bildverständnis der Lernenden intensivieren. Dabei ist sowohl die Bildrezeption als auch die bislang noch vernachlässigte Bildproduktion von großer Bedeutung für das Bildverständnis. Diese theoretischen Vorschläge gilt es nun weiterzuentwickeln und anhand empirischer Studien detaillierter zu untersuchen. Solchen Studien können Forschungsfragen wie z.B. „Welche fremdsprachlichen Kompetenzen können Lernende bei der Arbeit mit Selbstportraits im Englischunterricht erweitern? “ oder „Inwiefern können Lernende in der Rezeption und Produktion von Selbstportraits ihre Fähigkeiten im Bereich Empathie weiterentwickeln? “ zugrunde liegen. Es lässt sich also das Desiderat identifizieren, mit bildender Kunst - hier am Beispiel von (Selbst-)Portraits - im Fremdsprachenunterricht mit Hilfe kunstdidaktischer Methoden zu unterrichten und diesen Unterricht empirisch zu beforschen. Literatur A LFES , Luisa / VON E LBWART , Katharina (2022): „Painting America: teaching U.S.-American history and fostering visual literacy through art in the EFL classroom“. In: Teaching the United States: Past, Present, and Future Visions F&E Edition 27, 27-38. A RNOLD , Alice / M EGGS , Susan M. / G REER , Annette G. (2014): „Empathy and aesthetic experience in the art museum“. In: International Journal of Education Through Art 10.3, 331-347. B AUR , Rupprecht S. / O KONSKA , Dorota / R OLL , Heike / S CHÄFER , Andrea (2013): „Sprache im Farbenrausch -Sprachförderung und Mehrsprachigkeit im Rahmen des Projekts ‚Sprache durch 42 Luisa Alfes DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 52 • Heft 1 Kunst‘“. In: D ECKER -E RNST , Yvonne / O OMEN -W ELKE , Ingelore (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache: Beiträge zur durchgängigen Sprachbildung. Stuttgart: Klett, 249-270. B AUR , Rupprecht / S PETTMANN , Melanie (2008): „Sprachstandsmessung und Sprachförderung mit dem C-Test“. In: A HRENHOLZ , Bernt / O OMEN -W ELKE , Ingelore (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 430-441. B ERING , Kunibert / H EIMANN , Ulrich / L ITTKE , Joachim / N IEHOFF , Rolf / R OOCH , Alarich (2006): Kunstdidaktik. Oberhausen: Athena. E UROPARAT FÜR KULTURELLE Z USAMMENARBEIT (Hrsg.) (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin / München: Langenscheidt. F REITAG -H ILD , Britta (2018): „Teaching culture - intercultural competence, transcultural learning, global education“. In: S URKAMP , Carola / V IEBROCK , Britta (Hrsg.): Teaching English as a Foreign Language. Stuttgart: Metzler, 159-175. F OHR , Tanja (2022): „Mündliches Beschreiben von Bildern im Kontext des Kunstunterrichts zwischen schulsprachlichen Erwartungen und fachlichen Anforderungen - Bildbeschreibungen von DaZ-Lernenden in der Sekundarstufe I, Klasse 5“. In: D IMOVA , Dimka / M ÜLLER , Jennifer / S IEBOLD , Kathrin / T EEPKER , Frauke / T HALLER , Florian (Hrsg.): DaF und DaZ im Zeichen von Tradition und Innovation. Göttingen: Universitätsverlag, 33-65. G EHRING , Wolfgang (2017): Mit den Künsten Englisch unterrichten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. H ALLET , Wolfgang (2015): „Viewing cultures: kulturelles Sehen und Bildverstehen im Fremdsprachenunterricht“. In: H ECKE , Carola / S URKAMP , Carola (Hrsg.): Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr, 26-54. H ALLET , Wolfgang (2013): „Die Visualisierung des Fremdsprachenlernens - Funktionen von Bildern und visual literacy im Fremdsprachenunterricht“. In: L IEBER , Gabriele (Hrsg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 213-223. H ANUS , Pamela / I BE , Frauke / K LEMM , Petra / R EUTER , Christoph / W AUER , Sylvia (Hrsg.) (2014): Camden Town 3. Schülerbuch. Gymnasien. Braunschweig: Diesterweg. H ATTWIG , Denise / B URGESS , Joanna / B USSERT , Kaila / M EDAILLE , Ann (2011): ACRL Visual Literacy Competency Standards for Higher Education. Association of College & Research Libraries. http: / / www.acrl.org/ ala/ mgrps/ divs/ acrl/ standards/ visualliteracy.pdf (13.09.2022). H ECKE , Carola (2010): Visuelle Kompetenz im Fremdsprachenunterricht: Die Bildwissenschaft als Schlüssel für einen kompetenzorientierten Bildeinsatz. https: / / ediss.uni-goettingen.de/ handle/ 11858/ 00-1735-0000-000D-EF96-D (08.08.2022). H ECKE , Carola / S URKAMP , Carola (Hrsg.) (2015): Bilder im Fremdsprachenunterricht. Neue Ansätze, Kompetenzen und Methoden. Tübingen: Narr. H OLTKAMP , Helga / R OBB B ENNE , Rebecca (Hrsg.) (2018): On Track 1. Schülerbuch. Gymnasium. Braunschweig / Paderborn: Westermann/ Schöningh. K AHLO , Frida (1932): „Self Portrait Along the Border Line Between Mexico and the United States“. Öl auf Leinwand, ca. 32 x 35 cm. Museum Detroit Institute of Arts. K IRCHNER , Constanze / K IRSCHENMANN , Johannes (2017): Kunst unterrichten: didaktische Grundlagen und schülerorientierte Vermittlung. Seelze: Klett-Kallmeyer. K IRCHNER , Constanze / O TTO , Gunter (1998): „Praxis und Konzept des Kunstunterrichts“. In: K UNST +U NTERRICHT 223/ 224, 4-11. K LINKER , Martin / N IEHOFF , Rolf (2015): „Deshalb Kunstunterricht! “. https: / / static.bdk-online.info/ bis2020/ 2015/ 08/ Deshalb-Kunstunterricht_Endfassung.pdf (30.6.2022). Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen 43 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0003 L IEBER , Gabriele (Hrsg.) (2008): Lehren und Lernen mit Bildern - ein Handbuch zur Bilddidaktik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. M ÜLLER -H ARTMANN , Andreas / S CHOCKER - VON D ITFURTH , Marita (2004): Introduction to English Language Teaching. Stuttgart: Klett. N IEHOFF , Rolf (2007): „Zur Rolle des Faches Kunst und zu den Aufgaben der Kunstpädagogen im fächerverbindenden Kontext“. In: B ERING , Kunibert / N IEHOFF , Rolf (Hrsg.): Vom Bilde aus… Beiträge des Faches Kunst für andere Fächer. Oberhausen: Athena, 9-22. P EEZ , Georg (2011): Kunstunterricht - fächerverbindend und fachüberschreitend: Ansätze, Beispiele und Methoden für die Klassenstufen 5 bis 13. München: kopaed. R ADEMACHER , Jörg (Hrsg.) (2017): English G Access Abschlussband 5: 9. Schuljahr. Schülerbuch. Berlin Cornelsen. S CHOPPE , Andreas (2020): Bildzugänge: methodische Impulse für den Unterricht. Hannover: Klett Kallmeyer. S CHULMINISTERIUM NRW (2013-2020): Verzeichnis der zugelassenen Lernmittel in NRW. https: / / www.schulministerium.nrw.de/ BiPo/ VZL/ lernmittel (08.08.2022). S OWA , Hubert / U HLIG , Bettina (2015): „Porträtieren - der Blick ins Gesicht des Anderen. Aktuelle kunstpädagogische Potenziale einer dialogischen Kunstpraxis“. In: G LAS , Alexander / H EINEN , Ulrich / K RAUTZ , Jochen / M ILLER , Monika / S OWA , Hubert / U HLIG , Bettina (Hrsg.): Kunst- gik. München: Kopaed, 555-567. W EISSHAAR , Harald / H Aß , Frank (Hrsg.) (2007): Green Line 2: Schulbuch Gymnasium. Stuttgart: Klett. W ILD , Elke / M ÖLLER , Jens (2020): Pädagogische Psychologie. Berlin/ Heidelberg: Springer. W IRTH , Ingo (2014): Kunst-Methodik: Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. Z IEGESAR , Detlef von (1978): „Das Bild als Motivation zum kommunikativen Sprechen“. In: Englisch 1, 7-15. DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 A LINE W ILLEMS * Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen: Einblicke in den Forschungsstand mit einem Exkurs in die romanischen Sprachen Abstract. Integrating music into foreign language teaching is not a new phenomenon, but has been considered a standard approach to promoting linguistic and intercultural competences in learners for decades. However, the most recent research shows that music, and especially making music by oneself, can have numerous other influences on foreign language learners, most of which are referred to as ‘transfer effects’. This article examines both the transfer effects of active music making on the promotion of communicative and intercultural competences as well as on other personality traits that can support foreign language learning. The results of several studies are critically reflected and further research is encouraged. In the final section, it is highlighted how the learning of Romance languages in particular can benefit from a connection to making music. 1. Einleitung Musik gilt vor allem in Form von Liedern seit langem als fester Bestandteil des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen. So finden sich seit über 100 Jahren entsprechende Materialien in Lehrwerken (vgl. K ÜHN 1887: 12f.; R AUCH 2019). Der Blick in ältere und neuere Lehrwerksgenerationen sowie auf die Publikationen zu Musik im Fremdsprachenunterricht zeigt, dass Lieder seit vielen Jahren mit dem Anliegen der Motivationssteigerung in einem medial abwechslungsreichen Unterricht genutzt werden - z.B. in Aktivierungsphasen oder im Rahmen von Hörverstehensübungen (vgl. G RIGORIADOU / H EMPEL 2014; D EGRAVE 2019). Vielfach wird Musik dabei auf ihren Unterhaltungscharakter reduziert und von Seiten der Lehrkräfte als divertimento (von ital. ‚Zerstreuung, Unterhaltung‘) verstanden. Gleichzeitig empfinden einige Lernende dieselbe Situation eher als grave (von ital. ‚ernst, schwer‘), weil sie mehr oder weniger gezwungen werden, sich mit fremdsprachigen und/ oder -kulturellen musikalischen Werken zu beschäftigen. Diese entsprechen mitunter nicht ihrem persönlichen Geschmack; darüber hinaus kann das Verständnis der fremden Sprache durch die musikalische Instrumentierung oder die sprachliche Darstellung * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Aline W ILLEMS , Universität zu Köln, Philosophische Fakultät, FG V: Moderne Sprachen und Kulturen, Weyertal 137, 50931 K ÖLN E-Mail: a.willems@uni-koeln.de Arbeitsbereiche: Didaktik der modernen Fremdsprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Niederländisch, Russisch), Musik im Fremdsprachenunterricht, Mehrsprachigkeitsdidaktik. Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 45 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 selbst erschwert sein. Dabei ließe sich die Motivation der Schüler*innen, auch mal etwas anzuhören, das zunächst befremdlich, belustigend oder gar cringe erscheinen mag, mitunter steigern, indem man ihnen die Vorteile bewusst macht, die eine solche Auseinandersetzung mit sich bringt. Denn die Ausweitung von Hörgewohnheiten, die Analyse grundlegender musikalischer Strukturen und die Interpretation potentieller Aussageabsichten der Komponist*innen bzw. die Einbettung der Werke in den zugehörigen zielkulturellen Diskurs stellen wesentlich breitere Lerngelegenheiten dar als eine bloße Förderung der funktionalen kommunikativen oder interkulturellen Kompetenzen (vgl. R ADOCY / B OYLE 2012; H ONING 2021; H ALLAM / H IMONIDES 2022). Darüber hinaus ist die Bandbreite der Möglichkeiten zum Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht zur Förderung der Handlungsorientierung und learner agency enorm: Sie reicht vom selbsttätigen Musizieren - bspw. Singen - bis hin zu einer bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Hörgewohnheiten. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf den Möglichkeiten, die sich durch Musizieren für das Fremdsprachenlernen ergeben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Lehrkräfte zwingend über umfangreiche eigene musikalische Kompetenzen verfügen müssen. Musikalische Aufgaben können durchaus in die Hände kompetenter Schüler*innen gegeben werden, um kleine und größere Sequenzen musikalisch zu gestalten, bei etwas umfangreicheren Projekten bietet sich die Kooperation in überfachlichen Teams - von Fremdsprachen- und Musiklehrer*innen - an. Als ein weiteres Argument gegen einen stärkeren Einbezug eines selbsttätigen Musizierens in den Fremdsprachenunterricht wird gerne der erhöhte Zeitbedarf angeführt. Zunächst ist dem zuzustimmen: Wenn z.B. das Singen eines Liedes eingeübt wird, statt es nur ‚aus der Konserve‘ anzuhören, dauert dies schlicht länger. Auf den nächsten Seiten wird jedoch deutlich werden, dass musikalische Selbsttätigkeit eine Fülle von Transfereffekten mit sich bringt, die im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung den erhöhten Zeitbedarf leicht verschmerzen lassen. Im Folgenden soll darum zunächst ein Blick auf jene Transfereffekte geworfen werden, die sich hinsichtlich der funktionalen kommunikativen Kompetenzen beim Einbezug von Musik ins Fremdsprachenlernen ergeben können (Kap. 2). Anschließend werden die Lernbereiche jenseits der funktionalen kommunikativen Kompetenzen beleuchtet, die sich mitunter nicht explizit in den Bildungsstandards oder länderspezifischen curricularen Vorgaben des Fremdsprachenunterrichts finden (Kap. 3). Dazu wird der - relativ überschaubare - Stand der Forschung vorgestellt. Aus den dort diskutierten Desideraten können Forschungsfragen generiert werden, die es mittelbis langfristig in fachdidaktischen und interdisziplinären Studien zu bearbeiten gilt. Schließlich liegen häufig erste Daten aus anderen Wissenschaftsfeldern, wie z.B. den Neuro- oder Musikwissenschaften, vor, die jedoch noch nicht spezifisch für den fremdsprachlichen Unterricht erhoben wurden. Im letzten Schritt, der praktische Vorschläge zur Einbindung von Musik ins Fremdsprachenlernen diskutiert, die über die bekannten traditionellen Wege hinausgehen 1 , wird der Fokus auf die romanischen 1 Für vertiefende Darstellungen des traditionellen Einsatzes von Musik im Fremdsprachenunterricht, mit 46 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 Fremdsprachen und damit im deutschsprachigen Raum zumeist Französisch, Spanisch und Italienisch gelegt. Diese werden überwiegend als zweite und dritte Fremdsprache erlernt, wodurch sich fremdsprachdidaktische Besonderheiten ergeben. Außerdem lassen sich in den romanischen Sprachen - mitunter leichter als in anderen Fremdsprachen - authentische Lernsettings kreieren, weil z.B. das Italienische lange Zeit als Sprache der Musik dominierte und kein*e Musiker*in eines Orchesters ohne rudimentäre Italienischkenntnisse auskommt, wenn es z.B. gilt, Vortragsbezeichnungen zu erkennen. Darüber hinaus lassen sich für die romanischen Sprachen mehrsprachigkeitsdidaktisch ausgerichtete Lernräume schaffen, in denen jeweils andere romanische Sprachen ebenso im Sinne der Interkomprehension zum Einsatz kommen und parallel Sprachlernstrategien eingeführt und gefestigt werden können. Schließlich werden die romanischen Sprachen in geographisch von Deutschland nicht weit entfernten Ländern bzw. Regionen gesprochen, sodass musikalische Projekte mit Zielsprachensprecher*innen umsetzbar wären, die bei den Lernenden mehr zu fördern vermögen als die interkulturelle Diskursfähigkeit (vgl. H ALLET 2016: 7-97). Ziel dieser Praxisvorschläge soll es sein, Lehrkräften Wege aufzuzeigen, wie sie den Schüler*innen über die Auseinandersetzung mit Musik einen alternativen Zugang zum Lernen der Fremdsprachen aufzuzeigen, den sie im besten Fall eher als divertimento erleben denn als verkopftes Schulfach bzw. als grave. 2. Transfereffekte beim Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht zur Förderung funktionaler kommunikativer Kompetenzen Als ‚Transfer‘ wird in der Pädagogischen Psychologie allgemein „[d]ie erfolgreiche Anwendung angeeigneten Wissens bzw. erworbener Fertigkeiten im Rahmen einer neuen, in der Situation der Wissensbzw. Fertigkeitsaneignung noch nicht vorgekommenen Anforderung“ (M ÄHLER / S TERN 2018: 842) bezeichnet. Im Rahmen dieses Beitrags soll Transfer zunächst aus der Perspektive der Neurowissenschaften betrachtet werden. Dabei wird aufgezeigt, welche Auswirkungen sich auf fremdsprachliche Kompetenzen und weitere Fähigkeiten, die für die interkulturelle Diskursfähigkeit benötigt werden, ergeben können, wenn Lernende selbsttätig mit Musik in Kontakt treten - also nicht nur als vermeintlich passive Rezipient*innen agieren. Diesem Transfer liegt die Annahme zugrunde, dass durch die Auseinandersetzung mit Musik spezifische Hirnareale trainiert werden, die ebenfalls beim Fremdsprachenlernen und in fremdsprachlichen Kommunikationssituationen aktiv sind. In diesem Zusammenhang ist es zunächst zweitrangig, welche konkrete Kombination von Muttersprache/ n und Zielfremdsprache/ n in Einzelstudien untersucht wurde. Darum wird an dieser dem an dieser Stelle auch die Förderung von audio literacy und interkultureller kommunikativer Kompetenz gemeint ist, vgl. B LELL (2017a, b); B LELL / K UPETZ (2010); V OLKMANN (2019); G OURVENNEC (2017) - und die entsprechenden Kapitel in aktuellen Einführungswerken in die Fremdsprachendidaktik, vgl. L ANGE / G RÜNEWALD (2017); V ENCES (2019). Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 47 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 Stelle (noch) keine Fokussierung auf die romanischen Sprachen als Fremdsprachen vorgenommen, sondern das Lernen fremder Sprachen allgemein betrachtet. Die Ergebnisse der Einzelstudien können jedoch kritisch reflektiert auch auf abweichende Sprachkombinationen übertragen werden. In den letzten Jahrzehnten wurde die Forschung zum Einfluss von Musik auf das Gehirn stark ausgebaut (z.B. T HOMPSON / O LSEN 2021; O DENDAAL / L EVÄNEN / W ESTERLUND 2019; S CHERDER 2017; K OELSCH 2019a), wobei auch der Zusammenhang von Sprache und Musik im Gehirn vielfältig untersucht wurde (z.B. P ATEL 2008; S CHÖN / M ORILLON 2019; O DENDAAL / L EVÄNEN / W ESTERLUND 2019). Ebenso wurden mögliche Transfereffekte von Musik auf das Fremdsprachenlernen in den letzten Jahren mehrfach beleuchtet (z.B. S CHÖN / M ORILLON 2019; W ILLEMS 2019; D EGRAVE 2019). Allerdings wird sowohl in den Überblicksarbeiten als auch in den Einzelstudien immer wieder auf die potentiellen Limitationen der Untersuchungen und die Herausforderungen beim Vergleich der Ergebnisse zwischen Studien hingewiesen (vgl. O DENDAAL / L EVÄNEN / W ESTERLUND 2019: 9f.). Exemplarisch kann hier genannt werden, dass es sich bei der Mehrheit der Beiträge um Korrelations- und nicht um Kausalitätsstudien handelt, dass die meisten Fälle als Laborstudien konzipiert wurden, bei denen eine Übertragung der Erkenntnisse auf die lebensweltliche Realität des Fremdsprachenunterrichts als problematisch erscheint und dass die Stichprobengrößen mitunter gering ausfallen, womit die Generalisierbarkeit der Ergebnisse in Frage gestellt wird. Darüber hinaus weisen O DENDAAL und Kollegen*innen (ebd.) in einer Metaanalyse zu Transfereffekten von Musik darauf hin, dass häufig Kontrollgruppen fehlen oder deren Zusammensetzung nicht vergleichbar zur Experimentalgruppe ist. Ebenso ist die Vergleichbarkeit der Studien untereinander erschwert, da unterschiedliche Messverfahren eingesetzt werden und die Art und Weise des Einsatzes von Musik bzw. die Definitionen, wer als Musiker*in bzw. Nicht-Musiker*in gilt, massiv divergieren. Trotz der benannten Herausforderungen hinsichtlich der Studienlage kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es Transfereffekte von Musik auf das Lernen von Fremdsprachen gibt, indem diejenigen Hirnareale, die auch für die Sprachverarbeitung genutzt werden, durch musikalische Aktivitäten stärker trainiert werden als durch die vergleichsweise automatisch ablaufende Verarbeitung von Sprache. Dies führt zu einer Verbesserung der allgemeinen Leistungsfähigkeit dieser Hirnbereiche, welche wiederum positive Auswirkungen auf die Sprachverarbeitungen hat (vgl. W ILLEMS 2019). P ATEL (2011: 1f.; Hervorhebungen im Original) fasst die Voraussetzungen für das Auftreten solcher Transfereffekte in seiner als plausibel einzuschätzenden OPERA-Hypothese wie folgt zusammen: Overlap: there is overlap in the brain networks that process an acoustic feature used in both speech and music, Precision: music places higher demands on these networks than does speech, in terms of the precision of processing, Emotion: the musical activities that engage this network elicit strong positive emotion, 48 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 Repetition: the musical activities that engage this network are frequently repeated, and Attention: the musical activities that engage this network are associated with focused attention. Gleichwohl lassen sich diese fünf Aussagen kritisch betrachten. Auch wenn die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen davon ausgeht, dass eine messbare Hirnaktivität in Hirnregionen, denen die Zuständigkeit für unterschiedliche Aufgaben zugeschrieben wird (z.B. Musik und Sprache), ebenfalls Transfereffekte auf von einer Stimulierung nicht betroffene Aktivitäten hat (Overlap), ist diese Annahmen jedoch nicht mit letzter Sicherheit verifiziert. Die Wahrscheinlichkeit der Korrektheit dieser Aussage scheint jedoch vor dem heutigen Erkenntnisstand und den verfügbaren Methoden der Messung als sehr hoch. P ATEL (ebd.) geht in seiner Hypothese davon aus, dass musikalische Aktivitäten starke positive Emotionen auslösen (Emotion). Für eine Vielzahl musikalischer Aktivitäten erscheint diese Aussage als plausibel. Dennoch lassen sich auch leicht Gegenbeispiele konstruieren, in denen entweder negative oder gar keine Emotionen evoziert werden: Wer selbst aktiv musiziert, dem/ der fallen schnell Situationen ein, in denen bspw. beim Einüben eines neuen Musikstücks Gefühle wie Frustration, Ärger, Verzweiflung oder Resignation hervorgerufen werden; wer selbst versucht, junge Musiker*innen zum Üben zu animieren, wird mitunter auch auf eine ablehnende Haltung treffen. Darüber hinaus können Musikstücke als Erinnerungs- Trigger an vergangene Situationen und Erlebnisse fungieren. Sollten diese wiederum mit negativen Emotionen verbunden sein, wird die musikalische Aktivität - also z.B. das Anhören des Stückes - ebenfalls kaum positive Gefühle auslösen. 2 Auch die Aussage zur Wiederholung (Repetition) birgt eine Herausforderung: Es ist weder in Studien erforscht noch anderweitig festgelegt worden, wie häufig eine musikalische Aktivität wiederholt werden muss, um messbare positive Auswirkungen auf die neuronalen Strukturen und damit ebenso auf die Sprachverarbeitung zu haben. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass je früher im Leben ein Mensch mit dem aktiven Musizieren beginnt und je länger und intensiver er/ sie dieses fortsetzt, die hier diskutierten Effekte stärker ausgeprägt sind (vgl. H ALLAM / H IMONIDES 2022). In den Studien zum Einfluss musikalischer Aktivität auf die Sprachverarbeitung (häufig Hören, Lesen, Merken/ Lernen von bislang unbekannten Wörtern) wird jedoch immer wieder auf Versuchspersonen zurückgegriffen, die sich bezüglich ihres Musikbeginns sehr unterscheiden, ohne diesen Beginn als eigene Variable zu definieren, sodass auch diese Aussage als vage verstanden werden muss. Trotz der aufgezeigten Kritikpunkte erscheint die OPERA-Hypothese - sofern die genannten Einschränkungen mitbedacht 2 Anzumerken bleibt ebenfalls, dass auch die Auseinandersetzung mit Musik im fremdsprachlichen Unterricht negative Emotionen evozieren kann, wenn bspw. eine damit verbundene Fremdheitserfahrung in eine Abwehrhaltung der Lernenden umschlägt. In solchen Fällen besteht die Gefahr, dass die Musik eben keine positiven Effekte auf das Fremdsprachenlernen ausübt. Hier gilt es, als Lehrkraft besonders sensibel für die Reaktionen der Lernenden auf die Musik zu sein und bei Bedarf moderierend einzugreifen, um über eine Kognitivierung dieser negativen Emotionen diesen ihre potentielle Wirkmacht zu nehmen oder die Entscheidung zu treffen, die Lerngruppe nicht mehr dem entsprechenden Musikstück auszusetzen. Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 49 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 werden - als plausibel und hilfreich, um zu überlegen, wie musikalische Aktivitäten beschaffen sein könnten, um Transfereffekte auf die funktionalen kommunikativen Kompetenzen zu erzielen. Grundsätzlich bietet sich für musikalische Aktivitäten im Unterricht eine Vielfalt von Möglichkeiten an, die sowohl im schulischen Kontext als auch in der Freizeit der Lernenden angesiedelt sein können. Zum Beispiel scheint die „musical metric sensitivity“, also das Rhythmusgefühl, ein guter Prädiktor für die Lesekompetenz von Schüler*innen zu sein. Es wird daher angenommen, dass sich ein gezieltes Rhythmustraining vorteilhaft auf den Leseprozess und das Leseverstehen von Lernenden auswirkt (vgl. W EIS / G RANOT / A HISSAR 2014) und ihre Aussprachefähigkeiten fördern kann (vgl. B AILLS / P RIETO 2021). Im Schulunterricht kann dazu auf gezieltes Rhythmustraining zurückgegriffen werden - zunächst im Musikunterricht oder in außerunterrichtlichen Formaten wie Chor oder Orchester. Bekannt sind dabei Methoden wie Bodypercussion, Sprechkanons, Beatboxing (z.B. B USCHENDORFF 2010: 5-30) und zahlreiche weitere Übungen mit Schlaginstrumenten (gerne in Anlehnung an Stomp oder andere der Lebenswelt der Lernenden entstammende Ensembles). Da die stete Wiederholung eines musikalischen Trainings, im Idealfall verbunden mit positiven Emotionen und einer Fokussierung der Aufmerksamkeit, als vorteilhaft erachtet wird (vgl. P ATEL 2011 - Emotion, Repetition, Attention), sollten entsprechende Rhythmusübungen auch in den Fremdsprachenunterricht integriert werden. Dies kann entweder ohne sprachliche Elemente oder unter Einbezug der Fremdsprache, z.B. in der Auseinandersetzung mit und aktiven Gestaltung von Rap-Musik (z.B. B ARTOSCH 2019; B LUTNER 2019; V INZENTIUS 2018), geschehen. Wie die Vorschläge in den genannten Sekundärquellen zum Einsatz von Rap im Fremdsprachenunterricht zeigen, werden damit sehr unterschiedliche fremdsprachliche Lehr-/ Lernziele in verschiedenen Klassenstufen verfolgt, die in erster Linie den curricularen Vorgaben Rechnung tragen. Gleichzeitig und häufig eher unbemerkt bzw. unintendiert findet dabei jedoch ein Rhythmustraining statt, das wiederum vorteilhafte neuronale Transfereffekte auslösen kann (vgl. P ATEL 2011 - Overlap). Neben Rhythmus stellt Klang, u.a. definiert über die Tonhöhe, einen weiteren elementaren Bestandteil von Musik dar. Einige Studien legen nahe, dass Menschen, die bereits in ihrer Kindheit aktiv musiziert haben, im Vergleich zu nicht Musizierenden über erhöhte phonologische Diskriminationsfähigkeiten - sowohl rezeptiv als auch produktiv - verfügen (vgl. S LEVC / M IYAKE 2006). Gleichzeitig finden sich Untersuchungen, die diese Zusammenhänge nicht unterstützen (vgl. S WAMINATHAN / S CHEL - LENBERG 2017; B HATARA / Y EUNG / N AZZI 2015). Darum werden die klanglichen Aspekte in diesem Beitrag nicht weiter fokussiert. An dieser Stelle muss abgewartet werden, bis eine eindeutigere Studienlage aus den Neurowissenschaften und im Idealfall der fremdsprachendidaktischen Forschung zur entsprechenden Fragestellung vorliegt. Dennoch lassen sich weitere musikalische Aktivitäten ausmachen, die im Fremdsprachenunterricht positiv genutzt werden können: Seit langem ist bekannt, dass die Merkfähigkeit von neuen Wörtern bzw. von neuen chunks über das Singen gesteigert werden kann (vgl. S CHERDER 2017: 27 ). Darüber hinaus scheinen aktiv 50 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 musizierende Menschen per se einen Vorteil beim Vokabellernen mitzubringen (vgl. D ITTINGER et al. 2016). Dieser Umstand lässt sich jedoch schwerlich zur unmittelbaren Förderung des Wortschatzerwerbs im Fremdsprachenunterricht nutzen, sondern lediglich als Argument zur Erweiterung der musikalischen Förderung von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Musik beim Vokabellernen situationsspezifisch als Primer 3 hinsichtlich semantischer Netzwerke genutzt werden kann (vgl. K OELSCH et al. 2004). So können bspw. bestimmte Vokabeln zusammen mit einer Melodie präsentiert und eingeübt werden, sodass der Abruf wiederum erleichtert werden sollte, wenn vor der sprachlichen Leistung eben jene Melodie angehört wird. Allerdings scheint es sich dabei um sehr individuelle Priming-Effekte zu handeln, die im Schulunterricht nur schwer nutzbar gemacht werden können und die nur bedingt mit den Lernzielen - d.h. dem Erwerb spezifischer sprachlicher Mittel für eine Kommunikationssituation X zum Zeitpunkt Y - vereinbar sind (vgl. K OELSCH 2019a: 429-435). Somit lässt sich zusammenfassen, dass ausgewählte Aspekte der funktionalen kommunikativen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht durch musikalische Aktivitäten mittels Transfereffekten gefördert werden können. Die Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Studien lassen allerdings bislang keine Schlüsse darüber zu, welche Art musikalischer Aktivität mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Wirkung erzielen wird. Es kann nur davon ausgegangen werden, dass die entsprechenden musikalischen Aktivitäten umso wirksamer werden, je häufiger, intensiver und präziser sie ausgeführt werden und je positiver die damit verbundenen Emotionen sind (vgl. P ATEL 2011). Es bleibt also eher bei vagen Befunden, die jedoch wie oben beschrieben durchaus für den Fremdsprachenunterricht genutzt werden können. Darüber hinaus stellen die funktionalen kommunikativen Kompetenzen auch nur einen - wenngleich wichtigen - Teilbereich der Lehr-/ Lernziele im Fremdsprachenunterricht dar. Welche Einflüsse der Einbezug von Musik auf weitere wichtige Kompetenzen haben kann, beleuchtet der folgende Abschnitt. 3. Transfereffekte von aktivem Musizieren auf das Erreichen der Lehr- und Lernziele des Fremdsprachenunterrichts jenseits der funktionalen kommunikativen Kompetenzen Ein weiterer wichtiger Kompetenzbereich im Fremdsprachenunterricht ist die interkulturelle kommunikative Kompetenz, die in den Bildungsstandards auf der Trias „Wissen, Einstellungen und Bewusstheit“ basiert (KMK 2012: 19). In den einschlä- 3 In der Psychologie versteht man unter Priming eine Beeinflussung des Denkens, indem ein bestimmter vorangegangener Reiz die Denk- und Verhaltensweise bei einer darauffolgenden Reaktion beeinflusst. Bei dem Reiz - auch Primer genannt - kann es sich um ein Wort, einen Geruch oder ein Bild handeln. Diese sanfte Beeinflussung läuft in der Regel unbewusst ab und kann je nach Art des Primings Gedächtnisleistungen verbessern (vgl. M YERS 2008: 961). Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 51 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 gigen Fachzeitschriften findet sich eine Vielzahl an Beiträgen zur Vermittlung von soziokulturellem Orientierungswissen sowie zur Förderung von Einstellungen und Bewusstheit unter Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht (vgl. I RARRÁ - ZABAL -G ONZÁLEZ 2019; M ICHLER 2019; P OUSSET 2019). Jedoch bleibt die Frage offen, welche spezifischen Einflüsse das aktive Musizieren auf das Fremdsprachenlernen, insbesondere die Entwicklung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz ausüben kann. Zunächst soll das gemeinsame Musizieren in der Gruppe hinsichtlich seiner Transferpotentiale auf das Fremdsprachenlernen betrachtet werden. Ein solches Musizieren, z.B. in Form von Schulchor, Schulorchester, Jazzband usw. oder von festen ‚Musikklassen‘ im Lernverband, stellt allerdings an Schulen bislang eher die Ausnahme dar, sodass nicht die Mehrheit der Fremdsprachenlerner*innen davon profitieren kann. Jedoch könnten solche Angebote natürlich in Zukunft ausgebaut werden. 4 Gemeinsames Musizieren geschieht in der Regel mit dem Ziel, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine musikalische Aufführung vor Publikum zu gestalten. Häufig wird dabei weder den Schüler*innen noch anderen Beteiligten bewusst gemacht, dass solche Konzerte kulturraum- und situationsspezifischen Aufführungspraktiken unterliegen und damit an sich schon als Ort kultureller bzw. interkultureller Bildung verstanden werden können (vgl. H ERZMANN / R ABENSTEIN 2022: 170-174). Um die potentiellen Lerneffekte zu steigern, könnte zum einen eine gezielte Bewusstmachung jener Aspekte erfolgen. Zum anderen könnte auch ein Vergleich zu Aufführungspraktiken in anderen zielkulturellen Bereichen des Fremdsprachenunterrichts stattfinden - also z.B. ein Vergleich der ‚Regeln‘, die einer Aufführung an der Opéra National de Paris zugrunde liegen, mit denjenigen, auf denen ein Konzert bei Rock en Seine basiert. Dies ließe sich u.a. in eine Unterrichtsreihe zu Musikkonsum und Musikindustrie integrieren. Ebenso ließen sich Vergleiche zu Aufführungspraktiken bzw. Präsentationsformen anderer Künste ziehen, die in diesem Band vorgestellt werden. Unabhängig vom Ziel des gemeinsamen Musizierens sprechen viele Studienergebnisse dafür, dass dabei neben den musikalischen Fähigkeiten auch die sozialen Kompetenzen der Schüler*innen gesteigert werden können - auch wenn die Studienlage als ähnlich herausfordernd zu betrachten ist wie in Abschnitt 2 dargestellt (vgl. S CHUMACHER 2009: 64-67). So schlägt S AARIKALLIO (2019) gar die Annahme einer „Music-Based Social-Emotional Competence“ vor. Obwohl die entsprechende Forschung zur Festigung dieses Modells noch deutlich ausgebaut werden müsste, ist bspw. gesichert, dass Chorsingen die soziale Kommunikation und das Bindungsverhalten positiv beeinflussen kann - sogar besser als gemeinsames Sprechen (vgl. P EARCE et al. 2016). Fremdsprachenlehrkräfte können diese Effekte z.B. nutzen, wenn Gruppen sich neu zusammenfinden, zur Festigung von Gruppenstrukturen nach Kon- 4 Nicht jeder Mensch empfindet Freude am selbsttätigen Musizieren. Darum plädiert die Autorin auch nicht dafür, dass alle Schüler*innen zum gemeinsamen Musizieren verpflichtet werden sollten. Jedoch sollten alle Lernenden die Möglichkeit erhalten, selbst herauszufinden, ob es ihnen Freude bereitet, womit sie ggf. von den potentiellen Transfereffekten profitieren. 52 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 flikten o.ä. Wird beim Chorsingen zielsprachliches Liedgut genutzt, können noch weitere Elemente der funktionalen kommunikativen Kompetenzen gefördert werden. Sprachfreies Musizieren zeigt ähnliche soziale Effekte auf, die häufig auf der Ausschüttung bestimmter Hormone zu basieren scheinen (vgl. L AUNAY / T ARR / D UNBAR 2016). Allerdings ist es unter Umständen herausfordernder, sprachfreies Musizieren in den Fremdsprachenunterricht zu integrieren als das Singen. Hier müsste eher auf fächerübergreifende bzw. -verbindende Projekte zurückgegriffen werden. Außerdem lassen sich positive Effekte des gemeinsamen Musizierens auf die Empathiefähigkeit und die Emotionsregulierung der Lernenden erkennen (vgl. K OELSCH 2019b: 129- 135), die wiederum einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der interkulturellen kommunikativen Kompetenz mit sich bringen. Doch erfolgreiches Fremdsprachenlernen bzw. der Ausbau der interkulturellen Diskursfähigkeit werden noch durch weitere Faktoren beeinflusst, die sich eher selten in curricularen Vorgaben finden lassen, wie z.B. das Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen oder die Fehlertoleranz der Schüler*innen. Musizieren - egal ob in der Gruppe oder allein - erfordert eben diese Fertigkeiten und fördert diese bei häufigerer Anwendung. Da es sich dabei nicht um fachspezifische Kompetenzen, sondern um Persönlichkeitsmerkmale handelt, ist davon auszugehen, dass ein durch Musizieren gesteigertes Selbstvertrauen (vgl. L AWENDOWSKI / B IELENINIK 2017), eine verstärkte Durchhaltefähigkeit (vgl. J UCAN / S IMION 2015) oder eine erhöhte Fehlerbzw. Frustrationstoleranz (vgl. K RUSE -W EBER / P ARNCUTT 2014) auch das Fremdsprachenlernen im Sinne von Transfereffekten unterstützen kann. Abschließend sei noch auf einen bedeutenden und in der Forschung vielfältig diskutierten Bereich hingewiesen, der sich durch Musizieren wesentlich beeinflussen lässt und Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche - und damit auch auf das Fremdsprachenlernen - hat: die exekutiven Funktionen. Darunter werden bspw. Fähigkeiten in den Bereichen der Inhibitionskontrolle, des Arbeitsgedächtnisses und der kognitiven Flexibilität zusammengefasst. Ihre Auswirkung auf eine positive Lebensführung wird derzeit als so ausgeprägt angesehen, dass es ratsam erscheint, schon in vorschulischen, aber auch in schulischen Bildungsangeboten auf ihre Förderung zu achten. Dies kann bspw. durch Musizieren, aber auch im Fremdsprachenunterricht ohne Musik, erfolgen (vgl. D IAMOND 2013; N IGG 2017; W ILLEMS 2022). 4. Kompetenzausbau in den romanischen Sprachen - gefördert durch musikalische Projekte jenseits des unterrichtlichen Mainstreams Die Bezüge zwischen der lebensweltlichen Realität der Lernenden und der Musik aus romanischen Kulturräumen sind wohl mehrheitlich geringer ausgeprägt als z.B. zur Musik aus dem anglophonen Raum. Dabei kann die Rezeption von Musik mit franko-, hispano- oder italophonen Hintergründen bzw. eine selbsttätige musikalische Beschäftigung mit dieser gerade davon profitieren, dass die romanischen Sprachen wie Französisch, Spanisch und Italienisch überwiegend als zweite oder dritte Fremd- Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 53 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 sprachen gelernt werden. Somit kann verstärkt auf einen Transfer von bereits vorhandenen Sprachlernstrategien und vorhandener Sprachbewusstheit zurückgegriffen werden (vgl. L ÜCKE / U NKEL / W ILLEMS 2019), wenn entsprechende Texte dekodiert oder neue sprachliche Mittel zur Förderung der interkulturellen Diskursfähigkeit - bspw. zur Umsetzung musikalischer Anweisungen - erschlossen werden sollen. Darüber hinaus erscheinen interkomprehensive Ansätze hier als besonders fruchtbar, da die romanischen Sprachen untereinander gut als Brückensprachen fungieren können und das Englische (als erste Fremdsprache) ebenfalls einen hohen Anteil an entlehnten Wörtern aus dem Französischen und Lateinischen (als Basis der romanischen Sprachen) aufweist. Einen Sonderstatus in Bezug auf die Musik weist dabei die italienische Sprache auf. Zunächst ist das Italienische, später gefolgt vom Französischen und Deutschen, die dominierende Sprache der Oper (vgl. C HARLTON 2009). Nun entspricht die traditionelle Oper sicherlich nicht den Hörgewohnheiten der Mehrheit der Fremdsprachenlerner*innen an deutschen Schulen, womit deren Nutzung zum Italienischlernen als herausfordernd - aber machbar - erscheint (vgl. M ASON 1998), um sowohl funktionale kommunikative Kompetenzen als auch interkulturelle kommunikative Kompetenzen zu fördern. Ebenso bietet das aktive Musizieren immer wieder ‚kleine‘ Lerngelegenheiten der italienischen Sprache, denn in den meisten Genres sind die Spielbzw. Singanweisungen an die Musiker*innen auf Italienisch verfasst, sodass hier Vokabelarbeit in authentischen Situationen stattfinden kann. Auch Lerner*innen des Französischen oder Spanischen können zur Autosemantisierung, d.h. zur eigenen Sinnerschließung neuer Vokabeln, wie z.B. in Singanweisungen über Interkomprehension angeregt werden (z.B. it. forte - dt. stark = als Spielanweisung meist als ‚laut‘ interpretiert - fr. fort, sp. fuerte; it. leggiero - fr. léger, sp. ligero). Im Bereich der Förderung von Laienmusik sind u.a. Belgien, Spanien sowie einige spanischsprachige Länder in Mittel- und Südamerika im Vergleich zu Deutschland deutlich im Vorteil. Dies zeigt sich bspw. in der Finanzierung von Laienorchestern, dem Angebot an kompetitiven Konzerten (z.B. Wertungsspielen) 5 und deren internationaler Sichtbarkeit sowie den Möglichkeiten der akademischen Ausbildung von Dirigent*innen. Daraus folgt, dass sich ein reichhaltiges Angebot an Jugendorchestern finden lässt, mit denen sich Kooperationen zu Schul- oder Klassenorchestern in Deutschland aufbauen ließen, um Schüler*innenaustausche zu gestalten. Dabei verfügen die Austauschpartner*innen von Beginn an über ein gemeinsames Hobby/ Interessensfeld; ein gemeinsames Abschlusskonzert bietet einen besonderen Anreiz zum sprachlichen, kulturellen und musikalischen Austausch. Einige erfolgreiche Projekte dieser Art ermutigen zum Aufbzw. Ausbau solcher Partnerschaften (vgl. CONCERTI 2021). Darüber hinaus lassen sich internationale Dirigenten*innen oder Instrumental- 5 Bei Wertungsspielen handelt es sich um Veranstaltungen, in deren Rahmen Orchester die Möglichkeit erhalten, ihre Leistungen durch eine Fachjury beurteilen zu lassen. Die Rückmeldung erfolgt kriteriengeleitet hinsichtlich zahlreicher Darbietungsaspekte. Während in Deutschland für Laienorchester keine Verpflichtung zur Teilnahme an Wertungsspielen besteht, ist in anderen Ländern häufig die finanzielle Unterstützung der Musikgruppen an die Teilnahme bzw. ihre jeweiligen Resultate gebunden. 54 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 ausbildner*innen, die Erfahrung mit der Leitung von jungen Musiker*innen haben, zu Workshops auf Französisch, Spanisch usw. nach Deutschland einladen (auch digital). Auf diese Weise kann einerseits die musikalische Arbeit vorangebracht und andererseits eine authentische fremdsprachliche Lerngelegenheit geschaffen werden. Im besten Fall lässt sich dadurch eine Win-win-Situation zur Gewinnung von Nachwuchsmusiker*innen und neuen Französischbzw. Spanischlerner*innen an einer Schule schaffen, die solche Angebote ggf. als zusätzlichen Anreiz im Vergleich zum traditionellen Instrumental- oder Fremdsprachenunterricht sehen. Gleichzeitig sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Erfolgschancen solcher Projekte einerseits sehr personenabhängig sind - also bspw. wenn die psychosoziale Dynamik in der Lerngruppe positiv ausfällt - und andererseits von den begleitenden methodischen Konzepten der Lehrkräfte bedingt werden. Je nach sprachlich-musikalischem Setting bedarf es gezielter Scaffoldingangebote. So sollten besonders die Strategien aus dem Bereich der Interkomprehension zuvor intensiv eingeübt werden, um dann in der authentischen Begegnungssituation automatisiert zum Einsatz zu kommen. Ebenso bieten sich Reflexionsphasen an, um die sprachliche und musikalische Entwicklung der Lernenden zu begleiten und zu unterstützen. Wer musikalische Selbsttätigkeit in einem ersten kleineren Schritt in den Fremdsprachenunterricht einführen möchte, für diejenigen bietet sich eine Ausweitung bekannter Aufgabenstellungen um den Aspekt Musik an: So könnte es den Lernenden z.B. ermöglicht werden, ein selbstgeschriebenes Gedicht auch noch selbst zu vertonen (entweder zu einem Lied zu verarbeiten oder mit Begleitmusik zu unterlegen) oder bei Rollenspielen bzw. Standbildern passende Musik vorzuschlagen. Dabei kann die Musik entweder selbst produziert werden, also sowohl selbst komponiert oder von bestehendem Notenmaterial mit einem Instrument gespielt werden, oder - im Sinne eines niedrigschwelligen Szenarios - können bereits vertonte Musikstücke zum Einsatz kommen. Im zweiten Fall wäre der Grad der musikalischen Selbsttätigkeit vergleichsweise gering, aber hier könnte zu einer bewussten Reflexion hinsichtlich der Auswahl und einer konkreten Begründung eingeladen werden, sodass eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Musik angeregt und bestenfalls in der Zielfremdsprache zum Ausdruck gebracht wird. Zu bedenken gilt an dieser Stelle, dass es sich bei den vorgestellten Praxisüberlegungen bislang noch nicht um empirisch untersuchte Fördermöglichkeiten handelt. Somit muss also, ebenso wie in den vorangegangenen Kapiteln, noch einige Forschungsarbeit geleistet werden, bevor von gesicherten lernwirksamen Settings gesprochen werden kann. 5. Fazit Die Betrachtung des Forschungsstandes zum Einfluss des aktiven Musizierens auf die fremdsprachlichen Kompetenzen lässt den/ die Leser*in möglicherweise mit mehr Fragen zurück als gewünscht. Die Wahrscheinlichkeit scheint hoch, dass Musizieren Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 55 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 positive Transfereffekte auf fremdsprachliche Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen ausüben kann. Jedoch ist die aktuelle Studienlage zu divergent, als dass sich solide Metastudien erstellen ließen oder eine Übertragung der häufig in Laborsituationen evozierten Effekte auf das schulische Klassenzimmer als per se gegeben angesehen werden kann. Dies bedeutet, dass noch viel Forschungsarbeit nötig ist, um die offen gebliebenen Fragen zu klären bzw. die vorläufigen Erkenntnisse abzusichern. Zu denken wäre bspw. an Laborstudien, in denen Ergebnisse zum Einfluss von Musik auf die Sprachverarbeitung und -produktion auf den konkreten Fall einer Fremdsprache übertragen werden. Aber auch Fremdsprachendidaktiker*innen und -lehrkräfte selbst können hier forschend tätig werden, ohne dass unmittelbar psychometrische Messverfahren zum Einsatz kommen. Es könnten Interventionsstudien mit Kontrollgruppen ebenso designt werden wie Aktionsforschungs- oder Beobachtungsprojekte, bei denen die Lernenden direkt zu ihren Eindrücken usw. befragt werden. Da die Datenlage derzeit als lückenhaft beschrieben werden muss, können auch schon kleinere Projektdarstellungen mit niedrigschwelliger Begleitforschung erste Anhaltspunkte generieren, die wiederum wichtige Beiträge zur Entwicklung umfangreicherer Forschungsprojekte, bspw. im interdisziplinären Rahmen, darstellen können. Gleichzeitig können die bereits vorliegenden Ergebnisse, obwohl sie mitunter mit Vorsicht zu rezipieren sind, als Legitimation genutzt werden, um musikalische Angebote an Schulen - oder im Freizeitbereich - auszubauen und bestenfalls direkt mit dem Fremdsprachenlernen zu verbinden. Dabei werden alle Beteiligten die Erfahrung machen, dass sowohl das Erlernen einer fremden Sprache als auch die aktive Auseinandersetzung mit Musik aus einer Fülle an abwechslungsreichen Momenten, die eher als divertimento denn als grave empfunden werden, bestehen. Durch die Kombination beider Tätigkeiten sollten sich somit immer wieder fruchtbare Lerngelegenheiten gestalten lassen, die neben den primären Lernzielen ebenso die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen con brio e festività unterstützen. Literatur B AILLS , Florence / P RIETO , Pilar (2021): „Embodying rhythmic properties of a foreign language through hand-clapping helps children to better pronounce words“. In: Language Teaching Research, Sektion OnlineFirst, 1-31. https: / / doi.org/ 10.1177/ 1362168820986716 (11.011.2022). B ARTOSCH , Roman (2019): „Rap: Textzentrierte und kulturökologische Zugänge im heterogenitätssensiblen Fremdsprachenunterricht“. In: F ALKENHAGEN / V OLKMANN (Hrsg.), 127-142. B HATARA , Anjali / Y EUNG , H. Henny / N AZZI , Thierry (2015): „Foreign language learning in French speakers is associated with rhythm perception, but not with melody perception“. In: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance 41.2, 277-282. B LELL , Gabriele (2017a): „Audio Literacy“. In: S URKAMP (Hrsg.), 7f. B LELL , Gabriele (2017b): „Musik“. In: S URKAMP (Hrsg.), 259-262. B LELL , Gabriele / K UPETZ , Rita (Hrsg.) (2010): Der Einsatz von Musik und die Entwicklung von Audio Literacy im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt/ M.: Lang. 56 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 B LUTNER , Stefan (2019): „¡Creamos nuestro rap multilingüe! - Mehrsprachige Identitäten texten und rappen“. In: Hispanorama 166, 66-76. B USCHENDORFF , Florian (2010): 200 Methoden für den Musikunterricht - Praxisorientierte Ideen für die Sekundarstufe. Mülheim/ Ruhr: Verlag a.d. Ruhr. C HARLTON , David (2009): „Opera“. In: H ARPER -S COTT , J. P. E. / S AMSON , Jim (Hrsg.): An Introduction to Music Studies. Cambridge: CUP, 136-153. CONCERTI (2021): Musikalischer Schüleraustausch. https: / / www.concerti.de/ festivalfenster/ youngeuro-classic-2021/ young-euro-classic-2/ (09.08.2022). D EGRAVE , Pauline (2019): „Music in the foreign language classroom: How and why“. In: Journal of Language Teaching and Research 10.3, 412-420. D IAMOND , Adele (2013): „Executive functions“. In: Annual Review of Psychology 64, 135-168. D ITTINGER , Eva / B ARBAROUX , Mylène / D’I MPERO , Mariapaola / J ÄNCKE , Lutz / E LMER , Stefan / B ESSON , Mireille (2016): „Professional Music Training and Novel Word Learning: From Faster Semantic Encoding to Longer-lasting Word Representations“. In: Journal of Cognitive Neuroscience 38.10, 1584-1602. F ALKENHAGEN , Charlott / V OLKMANN , Laurenz (Hrsg.) (2019): Musik im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr Francke Attempto. G OURVENNEC , Ludovic (2017): Paroles et musique: le français par la chanson. Vanves: Hachette. G RIGORIADOU , Zoe / H EMPEL , Stephanie (2014): „Latin music and its stars. Latino-Stars erreichen den Mainstream“. In: Praxis Englisch 8.2, 9-13. H ALLAM , Susan / H IMONIDES , Evangelos (2022): The Power of Mucic - An Exploration of the Evidence. Cambridge: Open Book Publishers. H ALLET , Wolfgang (2016): Genres im fremdsprachlichen und bilingualen Unterricht: Formen und Muster der sprachlichen Interaktion. Seelze: Kallmeyer & Klett. H ERZMANN , Petra / R ABENSTEIN , Kerstin (2022): „Was ist (guter) Musikunterricht? Praxistheoretische Überlegungen zu Unterricht als fachlicher Ordnung“. In: B ARTH , Dorothee / P RANTL , Daniel / R OLLE , Christian (Hrsg.): Musikalische Praxen aus pädagogischer Perspektive - eine Festschrift zu Themen und Texten Christoph Wallbaums. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms, 165-180. H ONING , Henkjan (2021): Music Cognition - The Basics. London: Routledge. I RARRÁZABAL -G ONZÁLEZ , Maia (2019): „Buika - la voz transnacional: Una perspectiva más allá del flamenco“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Spanisch 66.3, 37-40. J UCAN , Dana / S IMION , Anca (2015): „Music Background in the Classroom: Its Role in the Development of Social-emotional Competence in Preschool Children“. In: Procedia - Social and Behavioral Sciences 180, 620-626. KMK = S EKRETARIAT DER S TÄNDIGEN K ONFERENZ DER K ULTUSMINISTER DER L ÄNDER (Hrsg.) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife - Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012. https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_18- Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (09.08.2022). K OELSCH , Stefan (2019a): „Music and the brain“. In: R ENTFROW , Peter J. / L EVITIN , Daniel J. (Hrsg.): Foundations in Music Psychology: Theory and Research. Cambridge, MA: MIT Press, 407-458. K OELSCH , Stefan ( 3 2019b): Good Vibrations - die heilende Kraft der Musik. Berlin: Ullstein. K OELSCH , Stefan / K ASPER , Elisabeth / S AMMLER , Daniela / S CHULZE , Katrin / G UNTER , Thomas / F RIEDERICI , Angela D. (2004): „Music, language, and meaning: Brain signatures of semantic processing“. In: Nature Neuroscience 7.3, 302-307. Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen 57 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 K RUSE -W EBER , Silke / P ARNCUTT , Richard (2014): „Error management for musicians: an interdisciplinary conceptual framework“. In: Frontiers in Psychology 5.777, 1-14. K ÜHN , Karl (1887): Französisches Lesebuch Unterstufe. Bielefeld & Leipzig. L ANGE , Ulrike / G RÜNEWALD , Andreas (2017): „Umgang mit Texten und Medien“. In: N IEWELER , Andreas (Hrsg.): Fachdidaktik Französisch - Das Handbuch für Theorie und Praxis. Stuttgart: Klett, 209-233. L AUNAY , Jacques / T ARR , Bronwyn / D UNBAR , Robin I.M. (2016): „Synchrony as an adaptive mechanism for large-scale human social bonding“. In: Ethology 122.10, 779-789. L AWENDOWSKI B IELENINIK -esteem in the context of music and music therapy: a review“. In: Health Psychology Report 5.2, 85-99. L ÜCKE , Nicole / U NKEL , Monika / W ILLEMS , Aline (2019): „Lesekompetenzen im Tertiärsprachenunterricht Japanisch, Niederländisch und Spanisch fördern“. In: C ARUSO , Celestine / H OFMANN , Judith / R OHDE , Andreas / S CHICK , Kim (Hrsg.): Sprache im Unterricht. Ansätze, Konzepte und Methoden. Trier: WVT, 261-284. M ÄHLER , Claudia / S TERN , Elsbeth ( 5 2018): „Transfer“. In: R OST , Detlef H. / S PARFELDT , Jörn R. / B UCH , Susanne (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz, 842- 852. M ASON , Keith (1998): „Opera: A natural component of Italian courses“. In: Mosaic - A Journal for Language Teachers 5.3, 13-19. M ICHLER , Christine (2019): „,Tango‘ als Thema im Spanischunterricht“. In: Zeitschrift für romanische Sprachen und ihre Didaktik 13.2, 57-79. M YERS , David G. ( 2 2008): Psychologie. Heidelberg: Springer. N IGG , Joel T. (2017): „Annual research review: On the relations among self-regulation, self-control, executive functioning, effortful control, cognitive control, impulsivity, risk-taking, and inhibition for developmental psychopathology“. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry 58.4, 361- 383. O DENDAAL , Albi / L EVÄNEN , Sari / W ESTERLUND , Heidi (2019): „Lost in translation? Neuroscientific research, advocacy, and the claimed transfer benefits of musical practice“. In: Music Education Research 21.1, 4-19. P ATEL , Aniruddh D. (2008): Music, Language and the Brain. Oxford: OUP. P ATEL , Aniruddh D. (2011): „Why would musical training benefit the neural encoding of speech? The OPERA hypothesis“. In: Frontiers in Psychology 2.142, 1-14. P EARCE , Eiluned / L AUNAY , Jacques / M AC C ARRON , Pádraig / D UNBAR , Robin I.M. (2016): „Tuning in to others: Exploring relational and collective bonding in singing and non-singing groups over time“. In: Psychology of Music 45.4, 496-512. P OUSSET , Sylvain (2019): „Le rap pour illustrer les clivages de la France contemporaine en classe“. In: Französisch heute 50.4, 20-25. R ADOCY , Rudolf / B OYLE , David J. ( 5 2012): Psychological Foundations of Musical Behaviour. Springfield: Charles C. Thomas. R AUCH , Andreas (2019): Musikeinsatz im Französischunterricht: Eine historische Darstellung bis 1914. Tübingen: Narr Francke Attempto. S AARIKALLIO , Suvi (2019): „Access-Awareness-Agency (AAA) Model of Music-Based Social- Emotional Competence (MuSEC)“. In: Music & Science 2, 1-16. S CHERDER , Erik (2017): Singing in the brain: Over de unieke samenwerking tussen muziek en de hersen. Amsterdam: Athenaeum. S CHÖN , Daniele / M ORILLON , Benjamin (2019): „Music and languages“. In: T HOMPSON / O LSEN (Hrsg.), 391-419. 58 Aline Willems DOI 10.24053/ FLuL-2023-0004 52 • Heft 1 S CHUMACHER , Ralph (2009): „Aktives Musizieren und soziale Kompetenz“. In: B UNDESMINISTERIUM FÜR B ILDUNG UND F ORSCHUNG (Hrsg.): Pauken mit Trompeten - Lassen sich Lernstrategien, Lernmotivation und soziale Kompetenzen durch Musikunterricht fördern? Bonn/ Berlin. https: / / ethz.ch/ content/ dam/ ethz/ special-interest/ dual/ educeth-dam/ documents/ forschung-undliteratur/ literatur-zur-lehr-und-lernforschung/ aeltere-beitraege/ 2010_97_bildungsforschung _bd_zweiunddreissig.pdf (09.08.2022). S LEVC , L. Robert / M IYAKE , Akira (2006): „Individual differences in second language proficiency: Does music ability matter? “ In: Psychological Science 17.8, 75-81. S URKAMP , Carola ( 2 2017): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: Metzler. S WAMINATHAN , Swathi / S CHELLENBERG , Glenn E. (2017): „Musical competence and phoneme perception in a foreign language“. In: Psychonomic Bulletin & Review 24, 1929-1934. T HOMPSON , William F. / O LSEN , Kirk N. (Hrsg.) (2021): The Science and Psychology of Music: From Beethoven at the Office to Beyoncé at the Gym. Santa Barbara/ Denver: Greenwood. V ENCES , Ursula ( 6 2019): „Materialien und Medien einsetzen“. In: S OMMERFELDT , Kathrin (Hrsg.): Spanisch Methodik. Berlin: Cornelsen, 130-150. V INZENTIUS , Christian (2018): „The 12 months of the year - Die Monatsnamen mit einem Rap festigen“. In: Grundschule Englisch 62.1, 10-12. V OLKMANN , Laurenz (2019): „Musik und interkulturelles Lernen“. In: F ALKENHAGEN / V OLKMANN (Hrsg.), 28-50. W EISS , Atalia H. / G RANOT , Roni Y. / A HISSAR , Merav (2014): „The enigma of dyslexic musicians“. In: Neuropychologia 54, 28-40. W ILLEMS , Aline (2019): „Musik und Fremdsprachenunterricht - Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften“. In: F ALKENHAGEN / V OLKMANN (Hrsg.), 77-89. W ILLEMS , Aline (2022): „Förderung der Exekutiven Funktionen im Fremdsprachenunterricht zur Gestaltung einer verbesserten Lernausgangslage aller Schüler*innen“. In: S CHÖPP , Frank / W ILLEMS , Aline (Hrsg.): Unterricht der romanischen Sprachen & Inklusion: Rekonstruktion oder Erneuerung? Stuttgart: Ibidem, 123-154. 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 C HRISTINE G ARDEMANN * Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht Abstract. The Corona pandemic has highlighted the consequences of individuals remaining in filter bubbles, in which background assumptions and subjective value systems are not recognised as such and are thus neither evaluated nor reflected upon. However, mutual understanding, or at least the willingness to engage with other perspectives, is the basis for our democratic coexistence. This article addresses the question of how the use of literature in the foreign-language classroom can contribute to stimulating the students’ self-reflection and reflection on the world. It discusses an understanding of the EFL classroom as an irritation-friendly space, in which the potential of literature can be explored through a changed view of the learners. It also argues for the consideration of the developmental tasks of adolescence as text selection criteria. Finally, it explores a comparison of the didactics of Fremdverstehen and a pedagogy of discomfort. 1. Ein ‚bildender‘ Blick auf den Englischunterricht Die Fremdsprachendidaktik hat den Anspruch, Schüler: innen im Fremdsprachenunterricht nicht nur fremdsprachliche Kompetenzen zu vermitteln, sondern auch Lernprozesse anzuregen, die zu einer Vielfalt von fachübergreifenden Lern- und Bildungszielen beitragen. Zu diesen zählen auch die (inter)kulturelle Bildung sowie der Beitrag, den der Fremdsprachenunterricht zur Persönlichkeitsentwicklung von Schüler: innen leisten kann. Es ist jene Persönlichkeitsentwicklung, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Dieser soll zum einen ein Plädoyer für die Nutzung literarischer Texte sein. Zum anderen aber blickt er auch kritisch auf die in Lehrwerken häufig anzutreffende Aufgabenstellung, die Schüler: innen dazu anregt, sich zur Anbahnung von selbst- und weltreflexiven Denkprozessen in die Perspektive einer fiktiven Figur hineinzudenken. Um Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung anzuregen, erscheint ein irritationsfreundliches Verständnis von Fachunterricht (B ÄHR et al. 2019) nötig, das den Ausgangspunkt für diesen Beitrag darstellt. Die Überlegungen zu dieser ‚Irritationsfreundlichkeit‘ sind anschlussfähig an die ebenfalls einzubringenden Diskurse aus der * Korrespondenzadresse: Vertr.-Prof. Dr. Christine G ARDEMANN , Universität Marburg, Institut für Schulpädagogik, Pilgrimstein 2, 35032 M ARBURG . E-Mail: christine.gardemann@uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Lernerforschung, Professionsforschung 60 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 Fremdsprachendidaktik, die das Potenzial deutungsoffener Lerngegenstände wie Literatur für das Lernen und Lehren von Fremdsprachen betonen. Theoretische und empirische Arbeiten aus diesem Feld verbindet ein Blick auf (Fremd-)Sprache und Kultur(en), der diese (vor dem Hintergrund rezeptionsästhetischer und neuerer kulturdidaktischer Ansätze) als zu verhandelnde Konstrukte versteht. Besonders greifbar wird dieser Konstruktionscharakter von Sprache und Kultur im Fremdsprachenunterricht traditionell in der Literatur. Begegnen Lerner: innen fremdsprachlichen und kulturellen Phänomenen nicht abstrakt, sondern z.B. vermittelt durch die Weltsicht einer fiktiven Figur in einem erzählenden Text, werden diese einerseits konkreter greifbar. Andererseits werden derartige Phänomene in einer solchen, an individuelle Figuren gebundenen Weise, deutlicher als standortgebunden verständlich, was lesenden Lerner: innen wiederum erleichtern kann, auch ihre eigene Weltsicht als standortgebunden zu reflektieren. An dieser Stelle ist der literaturdidaktische Diskurs anschlussfähig an bildungstheoretische Ansätze, die Bildung als „Transformation von Selbst- und Weltreferenz“ (M AROTZKI 1990: 52) definieren, wie R OSELIUS (2021) mit Verweis auf K OLLER (2012) erläutert. Empirische Studien zum Englischunterricht (vgl. Abschnitt 4) zeigen allerdings, dass sich dieses Potenzial der Öffnung von Horizonten durch Literatur im institutionell gerahmten Setting der Schule immer wieder an Schließungstendenzen bricht, die sowohl von Lehrer: innen als auch Lerner: innen ausgehen. Als gemeinsames Muster tritt ein Bedürfnis der schulischen Akteur: innen nach Sicherheit, Vergewisserung und Eindeutigkeit hervor, das zum einen von persönlichen Voraussetzungen, zum anderen von situativen Vorbedingungen abzuhängen scheint. Die empirischen Ergebnisse teilen allerdings auch den Befund, dass es Schüler: innen oft schwerfällt, einen persönlichen Bezug zu Lerngegenständen aufzubauen. Um dies insbesondere Jugendlichen zu erleichtern, wendet sich der Beitrag daher im nächsten Schritt der Bildungsgangdidaktik zu, deren Vertreter: innen empfehlen, sich bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten an den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu orientieren. Anhand des Jugendromans Ace of Spades (À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ 2021) wird illustriert, wie eine solche entwicklungsgerechte Textauswahl gestaltet werden und zu welchen Entwicklungsaufgaben der Fremdsprachenunterricht beitragen kann. In einem letzten Schritt sollen dann zwei didaktische Perspektiven vorgestellt und verglichen werden. Zum einen ist dies die aus literaturdidaktischer Sicht positiv konnotierte Vorstellung, Leser: innen könnten sich im fiktiven Raum literarischer Welten mit Figuren identifizieren und stellvertretend Handlungen durchdenken (B REDELLA 2012). So werde die Imaginationsfähigkeit der Lernenden gestärkt, und genau diese Auseinandersetzung mit den Figuren und ihren Handlungsmöglichkeiten erlaube das Verstehen fremder Sichtweisen auf die Welt. Dem gegenüber steht die eher bildungstheoretisch verortete Perspektive B OLERS (1999), die in ihrer pedagogy of discomfort infrage stellt, ob eine Identifikation mit literarischen Figuren überhaupt möglich und zielführend ist, wenn es darum geht, Schüler: innen zu einer Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen zu bringen. Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 61 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 2. Englischunterricht als ‚irritationsfreundlicher‘ Raum Im Englischunterricht begegnen Lernende den Sprachen, Kulturen und der Geschichte englischsprachiger Länder. Damit geht einher, dass sie neben einer anderen sprachlichen Sicht auf die Welt auch anderskulturelle Perspektiven kennenlernen. Eine solche Begegnung mit dem tatsächlich oder vermeintlich Anderen kann anfänglich zu Irritationen auf Seiten der Lernenden führen. Diese Irritation kann wiederum einen Impuls darstellen, um Anschlusskommunikation zu initiieren. Auf diese Weise verstanden sind derartige Irritationen nicht als Lernhürde oder Bildungshemmnis zu betrachten, sondern haben „das Potenzial, ein erfahrungsbasiertes, individuell und sozial bedeutsames Lernen anzuregen“ (B ÄHR et al. 2019: 12). Gelingt dies, geht der Unterricht hinaus über das reine Kennenlernen englischsprachiger Kulturen. Ergänzend können sich Lernende dann über die Subjektivität ihrer eigenen Weltsicht bewusst werden - eine Bewusstmachung, die ggf. sogar über den Rahmen des schulischen Englischunterrichts hinausgehen kann. Ein Unterricht, der die bei Schüler: innen auftretenden Irritationen aufgreift oder diese sogar gezielt inszeniert, wird von B ÄHR et al. (ebd.: 9) als „irritationsfreundlicher Fachunterricht“ bezeichnet. In einem solchen Unterricht kommt Lehrkräften die Aufgabe zu, die potenziell irritierenden Begegnungen zu begleiten, sie aber auch aktiv zu gestalten. Was dies bedeutet, kann anhand eines empirischen Fallbeispiels kurz verdeutlicht werden. In der Auseinandersetzung mit einer Rassismus und Polizeigewalt zeigenden Filmszene wird deutlich, dass sich die beiden diskutierenden Oberstufenschüler: innen involviert und irritiert fühlen, zugleich aber hochgradig stereotype Vorstellungen zu historischem wie aktuellem Rassismus in den USA in die Diskussion einbringen. Die durch das Gespräch über das Material ausgelöste Irritation wird in der Folge nicht produktiv bearbeitet, sodass die stereotypen Vorstellungen der beiden Schüler: innen trotz der anfänglichen Irritation bestehen bleiben und sie sich, im Gegenteil, sogar in ihrem Halbwissen gegenseitig bestätigen. Im experimentellen Setting der zugrundeliegenden Erhebung fehlt an dieser Stelle die Begleitung der Irritation durch die Lehrkraft. Diese könnte z.B. Kontextinformationen einbringen, falsches Wissen korrigieren und stereotype Vorstellungen aktiv moderierend aufbrechen (vgl. G ARDEMANN 2022: 40). Ein irritationsfreundliches Verständnis von Englischunterricht ist auf Seiten der Lernenden voraussetzungsreich. In einer klassischerweise vor allem durch die Allokationsfunktion, d.h. durch die Bewertung von Leistungen geprägten Schulumgebung (vgl. F END 2006), ist es nicht nötig, sich als ganze Person in unterrichtliche Kommunikation einzubringen. Das Erreichen guter Bewertungen ist auch ohne persönlichen Bezug zu den Lerngegenständen möglich (vgl. B REIDENSTEIN s Konzept des „Schülerjobs“, 2006). Im Gegensatz dazu fordert ein irritationsfreundlicher Fachunterricht die Lernenden dazu auf, sich auf für sie ungewohnte Sichtweisen einzulassen und damit auch einen Verzicht auf einfache Binaritäten wie ‚richtige‘ und ‚falsche‘ Textlesarten zu akzeptieren. Ein solcher Unterricht setzt allerdings ein für die erhofften Bildungsprozesse nötiges Vertrauen und Zutrauen von Lehrkräften in die Fähig- 62 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 keiten der Schüler: innen voraus, deren Sichtweisen im Umkehrschluss von Lehrenden wiederum ernst genommen und ggf. ausgehalten werden müssen (vgl. G ARDEMANN 2022: 40). Vor allem in der Begegnung mit englischsprachiger Literatur liegt eine große Chance, wenn es um die aktive Auseinandersetzung der Schüler: innen mit potenziell selbst- und weltreflexiver Literatur geht. 3. Literatur und Kultur: Vom Text zur Reflexion Ein grundsätzliches Hindernis, das es Schüler: innen erschwert, schulische Lernprozesse als für sie persönlich relevant zu erleben, identifizieren C OMBE und G EBHARD in der Tatsache, dass „Lernumgebungen und Arrangements […] oft künstlich und konstruiert“ seien (C OMBE / G EBHARD 2012: 17). Die Beschäftigung mit Jugendliteratur kann hier eine Möglichkeit darstellen, jener konstruierten Künstlichkeit ein Stück weit entgegenzuwirken. Trotz ihrer Fiktionalität sind die Figuren in diesen Texten in unserer Vorstellung von Realität verhaftet, werden von uns also so behandelt, als würden wir tatsächliche Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung betrachten. Dieses Einlassen auf die Logik fiktionaler Welten kann für jugendliche Leser: innen erleichtert werden, wenn die Themen der Texte Anschlüsse an die Lebenswelt der Lernenden bieten. An dieser Stelle erscheint ein kurzer Exkurs zu den verschiedenen Merkmalen und Potenzialen literarischer Texte sowie den Lernzielen, die mit der Behandlung von Literatur im Fremdsprachenunterricht eingelöst werden können, sinnvoll. Die Deutungsoffenheit literarischer Texte ist zum einen ihr wichtigstes Definitionsmerkmal (vgl. P ARKINSON / R EID T HOMAS 2022); sie bietet zum anderen ihr größtes Potenzial bei der Umsetzung eines irritationsfreundlichen Englischunterrichts. Die Offenheit literarischer Texte für verschiedene Lesarten erlaubt authentische Anschlusskommunikation und kann damit motivierend wirken, Freude am Lesen wecken und erhalten (vgl. H ENSELER / S URKAMP 2007), aber auch Ambiguitätstoleranz fordern wie fördern. Damit eröffnet Literatur auch Potenziale für kulturelle Bildungsprozesse (vgl. F REITAG -H ILD 2010). Die Texte bieten ihren Leser: innen Zugang zur Innenperspektive der Figuren. Zumeist werden in den Texten dabei sowohl eine eher kognitive (z.B. Wissen über Kulturen) als auch eine eher emotionale Ebene (z.B. kulturell geprägte emotionale Figurenreaktionen) angesprochen. Der anderskulturell geprägte Blick auf die Welt, der im Denken und Handeln der Figuren deutlich wird, kann zunächst irritieren, bei sensibler Begleitung des Leseprozesses und einer grundsätzlichen Bereitschaft, sich einzulassen auf diese Irritation, in einem nächsten Schritt aber auch den eigenen, ebenfalls kulturell geprägten Blick auf die Welt bewusst machen und schärfen. Bei dieser aktiven Beschäftigung kann deutlich werden, dass unterschiedliche Perspektiven auf dieselben Gegenstände, Aktionen und Situationen intersubjektiv nachvollziehbar sein können. Auf diese Weise kann Literatur ihre Leser: innen dazu bringen, sich selbst sowie ihr Verhältnis zu anderen zu reflektieren. Weil Literatur Welten eröffnet und erschafft, bietet sie Lernenden darüber hinaus die Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 63 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 Möglichkeit, eigene Ideen im geschützten Raum der fiktionalen Welt zur Probe zu denken (vgl. D ELANOY 2002: 3). Schließlich erlaubt Literatur ihren Leser: innen auch Einblicke in die Funktionsprinzipien literarischer Sprache, also den sprachlichen Konstruktionscharakter der literarischen Welt, der wiederum Reflexionsprozesse anregen kann, die den sprachlichen Konstruktionscharakter der Welt insgesamt in den Mittelpunkt rücken (vgl. H ALLET 2015: 17). Die Anregung von solch sprachlichen wie inhaltlichen Reflexionsprozessen ist folglich das gemeinsame Band, das Literatur- und Kulturdidaktik im Englischunterricht verbindet. Diese Reflexionsprozesse können angeregt werden, wenn Lerner: innen und ‚Anderes‘ zusammengebracht werden, sei es in der vergleichenden Betrachtung zweier Kulturräume oder im Vergleich der eigenen Lebenswelt und der Welt des literarischen Textes. Beidem liegt das Verständnis zugrunde, dass gegenseitiges Verstehen keinen Automatismus darstellt, sondern erlernt werden muss (und kann). Die eigene Weltsicht als nur eine von vielen möglichen zu erkennen, kann gelingen, wenn der Konstruktionscharakter des eigenen Standpunkts erkannt wird. So wie das Verstehen eines literarischen Textes einen Prozess der Bedeutungskonstruktion darstellt, den Leser: innen auf der Basis ihrer eigenen Weltsicht vollziehen, ist diese eigene Weltsicht ebenfalls das Ergebnis eines Prozesses der Bedeutungskonstruktion, der kulturell geprägt ist. Die Beschäftigung mit literarischen Texten im Englischunterricht scheint für das Erreichen dieser Einsichten zur eigenen Standortgebundenheit auf Lerner: innenseite quasi prädestiniert. Durch die Texte und die in ihnen verhandelten kulturellen Phänomene kann deutlich werden, dass individuelle und kollektive Perspektiven einerseits als lang gewachsene und Veränderungen kaum zugängliche Phänomene erscheinen - so zum Beispiel, wenn Jess’ indischstämmige Eltern in Bend It Like Beckham (C HADA 2002) die Fußballbegeisterung ihrer Tochter vehement ablehnen, weil diese nicht in das konservative Frauenbild der Familie zu passen scheint. Angesichts der in den letzten Jahren gewachsenen Akzeptanz des Frauenfußballs in Deutschland dürfte diese im Text angetroffene Perspektive auf die Welt für die meisten Englischlernenden zu mindestens anfänglicher Irritation führen. Gleichzeitig kann durch die Entwicklung der Charaktere im Film sowie die Anschlusskommunikation im Klassenzimmer deutlich werden, dass auch unveränderlich erscheinende Perspektiven nicht absolut sein müssen, sondern dass diese immer nur das vorläufige Ergebnis eines kontinuierlichen Aushandlungsprozesses darstellen und damit auch veränderbar sind. Das konservative Frauenbild der Familie Bharma wird so im Film nicht nur als spezifisch kulturell geprägt erläutert (und zum Ende hin als veränderbar gezeigt), sondern auch um Perspektiven ergänzt, die die vermeintlich zu strenge Sicht der Eltern intersubjektiv nachvollziehbar erscheinen lassen: So erlebte Jess’ Vater in seiner Jugend als Mitglied eines Sportvereins Rassismus, vor dem er seine Tochter heute schützen möchte, indem er ihr die Mitgliedschaft in einem (dominant von weißen Spielerinnen geprägten) Verein verbietet. Seine anfängliche Ablehnung des Hobbys seiner Tochter erscheint so nicht mehr als willkürlich, sondern kann als Position verstanden werden, die sowohl aus seiner persönlichen Geschichte, dem religiösen sowie dem kulturellen Hinter- 64 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 grund der Familie gespeist wird. Die Bewertung seines Handelns kann in der Klasse differenzierter erfolgen, sobald der Konstruktionscharakter seines Weltbilds deutlich geworden ist. Deutungsoffen ist dann, welche Sicht auf den Vater und sein Handeln die individuellen Leser: innen entwickeln. Wenn es nun aber die Deutungsoffenheit der Texte ist, die das Verfolgen der Ziele der Selbst- und Weltreflexion ermöglicht, und wenn es außerdem der Konstruktionscharakter von Perspektiven ist, dessen Erkennen das sine qua non der Reflexion darstellt, dann muss sich all dies nicht nur in der Textauswahl, sondern auch im unterrichtlichen Vorgehen widerspiegeln. An der Schnittstelle von theoretischen Potenzialen und unterrichtlicher Umsetzung im Englischunterricht allerdings zeigen sich in empirischen Studien Brüche, zum einen auf Seite der Lehrer: innen, aber auch auf Seite der Lernenden. 4. Vom Schließen des Öffnungsangebots in der schulischen Praxis… Die Konstruktion von Sinn, nicht nur in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, erscheint mit C OMBE und G EBHARD (2012: 8) als „höchst individueller, eigentätig-konstruktiver Vorgang und Entwurfsprozess, der nicht delegierbar ist“. Sinn kann also nicht von außen vermittelt, sondern „muss subjektiv erzeugt werden“ (ebd.). Für solche Sinnkonstruktionsprozesse der Schüler: innen können Lehrkräfte über die Auswahl von Lerngegenständen im Unterricht Angebote machen. Ob diese von den Lernenden angenommen werden, um sich ihrer Selbst- und Weltverständnisse bewusst zu werden und diese zu reflektieren, ist zunächst einmal offen. Empirisch wurde in den letzten Jahren festgestellt, dass das Annehmen eines Öffnungsangebots den Schüler: innen häufig nicht gelingt. Mit Blick auf die Literaturarbeit im Englischunterricht stellt B RACKER (2015) in ihrer Studie zur ungesteuerten Schüleranschlusskommunikation über eine Kurzgeschichte fest, dass die Lernenden mehrheitlich „vereinfachende, vereindeutigende und statisch gefasste Vorstellungen“ des vermuteten Handlungsorts in einem unbenannten Entwicklungsland oder auf dem afrikanischen Kontinent reproduzieren. Auch G ARDEMANN (2022) stellt in der Analyse einer Schülerdiskussion über die Verfilmung eines Jugendromans fest, dass die Lernenden vor allem das Andere des literarischen Textes wahrnehmen und dieses aus ihrer Lebenswelt herausweisen. Beide Forscherinnen vermuten einen Grund für die jeweils rekonstruierte „Abgrenzungsbewegung“ (B RACKER 2015: 231) einerseits darin, dass die Differenz zwischen Text- und Lebenswelt als besonders groß wahrgenommen wird; andererseits darin, dass die von den Lernenden ausgemachten inhaltlichen Leerstellen ohne eine unterstützende Intervention durch die Lehrkraft übereilt zum Rückgriff auf vermeintlich Bekanntes führen. Auch auf Lehrendenseite finden sich in der empirischen Forschung Tendenzen, die als Schließung des von den literarischen Texten gemachten Öffnungsangebots verstanden werden können (vgl. S CHÄDLICH / S URKAMP 2015). So rekonstruiert G ARDE - MANN (2021: 326-328 ), wie stark handlungsleitend sich das berufliche Selbstver- Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 65 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 ständnis von erfahrenen Englischlehrkräften auf ihr Unterrichten von Literatur auswirkt. Auch außerhalb des Forschungsfelds der Literaturdidaktik, nämlich anhand einer Untersuchung zur Umsetzung kooperativer Lernformen im Englischunterricht, zeigen B ONNET und H ERICKS (2020), wie sich die Öffnung durch die neuen Lernformen immer wieder bricht an der Rahmung des Unterrichts durch Klassenarbeiten, Tests und andere Bewertungskontexte. Vor allem die Prüfungsorientierung wird von den untersuchten Lehrkräften als ausgesprochen kritisch gerahmt, in der schulischen Praxis jedoch häufig als „nahezu unumgänglich“ (ebd.: 423) empfunden. Die Nutzung der Literatur im Englischunterricht aus dem an abfragbarem Wissen orientierten schulischen Gesamtkontext herauslösen oder diesen ignorieren zu wollen, wäre naiv und utopisch. Als Weg aus der „ubiquitäre[n] Test- und Prüfungsorientierung“ (ebd.: 410) deuten jedoch alle oben angeführten Studien dasselbe an: Die Inszenierung potenziell subjektrelevanter Interaktion, sei es durch die Wahl eines literarischen Textes oder durch die Nutzung offener Aufgabenformate und unterrichtlicher Settings, ist möglich. Subjektrelevante Interaktion kann immer dann gelingen, wenn den Schüler: innen Raum und Zeit zugestanden wird, um sich mindestens in einem Teil des Unterrichts selbstständig mithilfe offener Angebote austauschen zu können. Sie kann auch dann gelingen, wenn Lehrkräfte und Mitschüler: innen (häufig nur vermeintlich) von der Aufgabenstellung abweichende, tatsächlich aber die persönliche Lebenswelt der Schüler: innen betreffende Äußerungen anhören und diese einbeziehen. Um eine stärkere Verknüpfung von Relevanzsetzungen der Schüler: innen und unterrichtlichen Gegenständen zu erreichen, wird von Vertreter: innen der Bildungsgangdidaktik vorgeschlagen, sich bei der Auswahl von Lerngegenständen, hier: literarischen Texten, stärker an den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu orientieren. Fallen die entwicklungspsychologisch ohnehin zu bearbeitenden Entwicklungsaufgaben sowie die in der Schule zu bearbeitenden Themen und Aufgaben zusammen, ist zumindest theoretisch ein Synergieeffekt zu erwarten, da eine Inbezugsetzung von eigener Lebenswelt und Lerngegenstand erleichtert wird. 5. … zum erneuten Öffnungsangebot: Textauswahl anhand der Entwicklungsaufgaben des Jugendalters Ursprünglich von H AVIGHURST (1948) beschrieben, durchlief das Modell der Entwicklungsaufgaben des Jugendalters in den letzten Jahrzehnten verschiedene Aktualisierungsprozesse. Das Modell enthält in seiner Originalfassung eine Liste von Anforderungen, die es Heranwachsenden ermöglichen sollen, sich als produktive Mitglieder in die sie umgebende Gesellschaft einzufügen. Die verschiedenen Überarbeitungsfassungen der letzten Jahrzehnte orientieren sich stärker an den Heranwachsenden und ihren Bedürfnissen und haben so potenziell auch eine innovative Funktion für die Veränderung von Gesellschaft. Die folgende Darstellung orientiert sich maßgeblich an der von H ERICKS und S PÖRLEIN (2001: 36) vorgenommenen Synthese aus H AVIGHURST s (1948) Originalmodell und der Überarbeitung durch D REHER und 66 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 D REHER in den 1980er Jahren, berücksichtigt dabei allerdings inhaltliche Impulse sowohl aus den Aktualisierungen als auch kritische Beiträge zur (veralteten) Vorstellung von Geschlechteridentitäten, die den früheren Modellen unterliegen. P EER Neue Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen. K ÖRPER Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, Annehmen von Veränderungen des Aussehens. A BLÖSUNG Von den Eltern unabhängig werden. F AMILIE Vorstellungen der zukünftigen Partnerschaft/ Familie entwickeln, auch unter Berücksichtigung von freiwilliger Kinderlosigkeit, Asexualität und nicht-traditionellen Familienmodellen. Z UKUNFT Entwicklung einer Zukunftsperspektive, dazu auch die Entwicklung einer Vorstellung späterer beruflicher Tätigkeit, auch unter Berücksichtigung nicht mehr lebenslanger Tätigkeit in ein- und demselben Berufsfeld. W ERTE Entwicklung einer eigenen Weltanschauung. S ELBST Ein tragfähiges Selbstbild entwickeln, dazu u.a. Aufbau einer Geschlechtsidentität, auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen. Tab. 1: Übersicht über die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (eigene Darstellung in Anlehnung an H ERICKS / S PÖRLEIN 2001: 36) Die Entwicklungsaufgaben lassen sich in zwei Fragen subsumieren: „Wer bin ich und wer will ich sein? “ und „Was ist mein Platz in dieser Welt? “. Der Jugendroman Ace of Spades (2021) greift diese zentralen Fragen in einer Weise auf, die hochgradig anschlussfähig ist an alle oben genannten Entwicklungsaufgaben, und die darüber hinaus einen besonderen Fokus auf die verbindende Frage des SELBST im Sinne eines belonging legt. À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ lässt ihre Geschichte, die als Mischung aus Coming-of-Age- und Whodunit-Roman beschrieben werden kann, an einer amerikanischen High School spielen. An dieser Schule versuchen sowohl Devon Richards als auch Chiamaka Adebayo ihren Platz zu finden. Devon ist ein musikalisch begabter Außenseiter, der in einem größtenteils von Schwarzen bewohnten, wirtschaftlich schwachen Bezirk lebt und nur durch ein Stipendium die Möglichkeit hat, die fast ausschließlich von weißen Mitschüler: innen besuchte Privatschule zu besuchen. Devon pendelt zwischen den beiden Stadtbezirken, gibt sich in der Schule jedoch mit der ihm zugeschriebenen Rolle als Außenseiter zufrieden. Chiamaka hingegen hat sich eine Identität regelrecht kuratiert: Nach ihrer Erfahrung an der Middle School hat sie sich für ihre letzten Schuljahre für die Rolle der bei den Lehrkräften beliebten und von Mitschüler: innen beneideten Musterschülerin entschieden, für die sie strategische Freundschaften ein- Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 67 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 geht und der sie ihre tatsächlichen Gefühle unterordnet. Beide Hauptfiguren leben in zwei Welten. Bei Devon steht seine soziale Schichtzugehörigkeit im Gegensatz zur reichen Oberschicht seiner Mitschüler: innen im Mittelpunkt, bei Chiamaka geht es um die bewusste Rollenübernahme in der Schule, aber auch um ihre bikulturelle Familie zuhause, deren italienischer Familienteil ihre Mutter, als schwarze Frau, nach der Heirat ächtet (Entwicklungsaufgabe KÖRPER). Alle Entwicklungsaufgaben werden im Roman von beiden Hauptfiguren bearbeitet. Auch wenn vor allem Rassismus im Roman eine zentrale Rolle spielt, ist hervorzuheben, mit welcher Sensibilität Chiamakas zwischenzeitlich aufkeimendes romantisches Interesse an einer Mitschülerin entwickelt wird, während Devon sich seiner Homosexualität sicher ist, aber mit ihr zu kämpfen hat (Entwicklungsaufgabe SELBST). Dies ist nicht zuletzt aufgrund der Tatsache der Fall, dass ein unabsichtliches Outing in seinem Wohnviertel zu einer Exklusion aus seinem sozialen Netzwerk führen würde, auf das er zur Unterstützung seiner alleinerziehenden Mutter jedoch angewiesen ist. So erscheint Devon auch noch deutlich stärker an sein Elternhaus gebunden als Chiamaka, die im Gegensatz zu Devon, der sich um zwei kleinere Geschwister kümmert, ein Einzelkind ist (Entwicklungsaufgabe ABLÖSUNG). In den Mittelpunkt der Handlung gerät im Verlauf der Geschichte die Entwicklungsaufgabe ZUKUNFT. Sowohl Devons als auch Chiamakas Weg scheint von ihnen bei aller Unterschiedlichkeit durchgeplant: Während Chiamaka aufgrund ihrer guten Leistungen von einer Aufnahme in Yale überzeugt ist, nutzt Devon jede freie Minute, um im Musikraum der Schule ein Vorspiel am Juillard-Konservatorium in New York vorzubereiten. Beide Figuren sind sich der Unterstützung ihrer Umgebung sicher: Chiamaka hat vermögende Eltern; Devon stehen seine ihn moralisch unterstützende Mutter sowie sein zugewandter Musiklehrer zur Seite. Als ein anonymer Nutzer über den Messenger-Dienst der Schule Gerüchte und Geheimnisse verbreitet, geraten sowohl das soziale Netzwerk der beiden Hauptfiguren als auch ihre Position an der Schule - und damit ihre Zukunftspläne - ins Wanken. Die Suche nach dem oder der vermeintlich missgünstigen Mitschüler: in treibt die Handlung des Romans voran. Am Ende decken Chiamaka und Devon mit Hilfe einiger unerwarteter Verbündeter (Entwicklungsaufgabe PEERS) auf, dass es sich bei den existenzbedrohenden Nachrichten um eine konzertierte Aktion von Mitschüler: innen, Lehrkräften und Ehemaligen der Schule, und damit um eine Art grausames Sozialexperiment, handelt (Entwicklungsaufgabe WERTE). Es würde Schüler: innen im Englischunterricht sicher leichtfallen, Parallelen zwischen sich selbst und den Figuren der Geschichte zu entdecken. Sie befinden sich in einem ähnlichen Alter, die Handlung spielt an einer Schule, an der es einerseits zu ersten romantischen Beziehungen kommt, an der aber andererseits auch Mobbing eine Rolle spielt. Darüber hinaus sind die beiden jugendlichen Protagonist: innen in einem umfassenden Sinne auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt. Ähnlich wie in anderen Jugendromanen, in denen das Thema Mobbing durch Mitschüler: innen verhandelt wird, liegt es auch bei der Beschäftigung mit Ace of Spades nahe, Schüler: innen danach zu fragen, wie sie sich in der Situation von Devon oder Chia- 68 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 maka verhalten würden. Vor einem solchen Vorgehen warnt B OLER (1999), die mit ihrem Konzept der pedagogy of discomfort die These aufstellt, dass auf dem klassischen Weg des Fremdverstehens eine tatsächliche Selbst- und Weltreflexion nicht erreicht werden kann. Vielmehr würde an ihre Stelle eine Art reflexive Selbstinszenierung treten, die eine unerwünschte Nebenwirkung der im Unterricht geforderten Selbstreflexion sei. Beide Perspektiven auf den an die Schüler: innen gerichteten Arbeitsauftrag, sich in die Position der literarischen Figur hineinzudenken, werden hier abschließend kurz vorgestellt und diskutiert. 6. Von passiver Empathie zu aktiver Selbst- und Weltreflexion Als besonders positive Option für die Behandlung von Literatur wird in der Englischdidaktik häufig die Tatsache gerahmt, dass der Raum des Fiktiven sowie der Raum des Gesprächs über das Fiktive als eine Art Schutzraum verstanden werden kann (vgl. z.B. K ÖNIG 2018: 205). So können Schüler: innen, anstatt sich selbst offenbaren zu müssen, im Gespräch bei den literarischen Figuren verbleiben. Gerade weil die Lerner: innen von den Geschehnissen der Romanhandlung nicht unmittelbar selbst betroffen sind, ist es ihnen möglich, z.B. verschiedene Handlungsoptionen für eine Figur zu entwerfen und mit anderen über diese Optionen zu diskutieren. Echte Konsequenzen hat ein solch hypothetisches Handeln nicht. Der Verzicht auf eine persönlichere Bezugnahme auf den Text folgt aus der Anerkennung der Grenzen der Lerner: innen, die zu akzeptieren sind, wenn sich Lerner: innen nicht in der Gruppe oder vor der Lehrkraft in Bezug auf ihre persönlichen Erfahrungen und Gefühle offenbaren wollen (vgl. G ARDEMANN 2023). Verbunden ist dieser Umgang der Lerner: innen mit dem Text dennoch mit der Hoffnung, dass diese Art der Beschäftigung mit Literatur implizit und langfristig Reflexionsprozesse anregen kann, ohne dass diese unmittelbar im Rahmen des Unterrichts besprochen werden (müssen). Auffällig ist beim Blick auf die vorliegenden empirischen Studien, die in der Regel Momentaufnahmen des Englischunterrichts darstellen, allerdings, wie präsent und wirkmächtig u.a. kulturelle Stereotype, ‚gefährliches Halbwissen‘ und vereindeutigende Zugriffe auf eigentlich deutungsoffene Gegenstände sind. In G ARDEMANN s (2022) Analyse einer Schülerdiskussion wird so z.B. deutlich, dass die Lerner: innen sich einer Hauptfigur eines Films zwar durch emotional bestimmtes Mitfühlen annähern, aufgrund mangelnden Wissens bzw. selbstbewusst nach außen getragenen Halbwissens der Figur allerdings gleichzeitig ihre eigenen Deutungsmuster überstülpen: Die Schüler: innen scheitern auf Basis eines naiven Verständnisses von Rassismus und Polizeiarbeit daran, die Intention der Figur im Sinne einer kognitiven Perspektivenübernahme nachzuvollziehen und schreiben ihr somit schließlich sogar die Verantwortung für ihre Ermordung zu (vgl. auch S URKAMP 2019). Zu fragen ist daher, ob der Versuch eines Hineinversetzens in eine literarische Figur einerseits zu einer Anregung von Selbst- und Weltreflexionsprozessen der Schüler: innen führt sowie andererseits, ob ein Verstehen anderer Perspektiven durch Hineinversetzen überhaupt möglich ist. Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 69 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 In ihrer Monographie zu einer pedagogy of discomfort wählt B OLER (1999) ein eindrückliches Beispiel aus einem hochschuldidaktischen Literaturseminar, das diese Problematik greifbar macht. Nach der von ihnen als spannend und lehrreich empfundenen Lektüre der graphischen Erzählung MAUS von Art S PIEGELMAN (1991) äußern viele Studierende, dass sie sich nun vorstellen könnten, was es bedeute, ein: e Holocaust-Überlebende: r zu sein. B OLER (1999) greift den Essay eines Studenten heraus, der betont, wie gut es dem Autor gelungen sei, die Schrecken des Holocaust so darzustellen, dass die Leser: innen nicht durch „emotional turmoil“ irritiert würden und dass Leser: innen „blame and pity“ nicht aufgenötigt werde (ebd.: 161). Der Fokus vieler Studierenden, so B OLER , liege damit auf dem „comfort“ der Leser: innen (ebd.). B OLER problematisiert dies und argumentiert mit N USSBAUM (1995), dass eine solche passive Empathie gegenüber literarischen Figuren vor allem selbstbezogen sei: Wenn ich mich in die Situation einer Figur hineindenke und mir vorstelle, wie es mir dabei ergehen würde, sei das Ziel nicht, die andere Perspektive zu verstehen, sondern lediglich, eigene Ängste und Sorgen in die Situation hineinzuprojizieren (B OLER 1999: 156-158). Das Ziel, sich mit der literarischen Figur auf eine gewisse Weise zu identifizieren und sich in ihre Lage zu versetzen, führe so letztlich dazu, dass Leser: innen „die bequeme Sicherheit der Distanz“ (ebd.: 184) beibehalten können und eine echte Auseinandersetzung sowohl mit der Selbst- und Weltsicht der literarischen Figur als auch mit der eigenen Selbst- und Weltsicht unterlassen können. Ein solches Vorgehen im Unterricht würde somit einem bildenden Anspruch an die Beschäftigung mit Literatur nicht gerecht, und auch die Vertreter: innen der Didaktik des Fremdverstehens (wegweisend B REDELLA / C HRIST 1995) zielen zumindest langfristig auf die mögliche Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen. B OLER s Monographie ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Thematisierung von persönlichen Bezügen zu literarischen Texten ohne eine unzulässige und trivialisierende Gleichsetzung unterschiedlicher Kontexte. Der Versuch, Schüler: innen zu einem Verstehen anderer Selbst- und Weltentwürfe zu bringen, sollte nicht umschlagen in den oberflächlichen Versuch, Parallelen zwischen literarischer Figur und Schüler: innen herzustellen, wo diese ggf. nicht vorhanden sind, z.B. im Fall politischer Rahmenbedingungen wie Leben in einer Demokratie vs. einer Diktatur, oder sozialer Umstände wie Leben in einer Industrienation vs. einem Entwicklungsland. B OLER weist in einem Vorschlag zu einem anderen Vorgehen im Unterricht auf die Möglichkeit hin, parallele, aber eben eigenständige Beispiele aus der Lebenswelt der Lerner: innen zu nutzen, um tatsächlich eine persönliche Auseinandersetzung mit Literatur zu ermöglichen. So berichtet etwa eine Studentin, die zu einer anderen Beschäftigung mit MAUS angeregt wurde, nach der Lektüre von ihrem Wunsch, zu verstehen, wie es überhaupt zu Ereignissen wie dem Holocaust sowie der ihm vorangegangenen Phänomene von Ausgrenzung, Unterdrückung und Erniedrigung kommen konnte. In der Auseinandersetzung mit dem Text sei ihr bewusst geworden, dass sich ähnliche Phänomene auch in ihrer Familiengeschichte finden; so könnten weit zurückliegende Vorfahren an der Diskriminierung schwarzer Bürger: innen oder amerikanischer Ureinwohner: innen beteiligt gewesen sein. Die Studentin erkennt hier, so B OLER , 70 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 Zusammenhänge zwischen der kollektiven Kulturgeschichte der USA und ihrer individuellen Familiengeschichte und reflektiert die Verantwortung, die aus der historischen Schuld vorheriger Generationen für heutige Generationen erwächst. Deutlich wird hier m.E., dass, anders als in der stärker in der Literaturdidaktik verorteten Perspektive des Fremdverstehens, B OLERS Verständnis von der Arbeit mit Literatur utilitaristischer geprägt ist. Das im engeren Sinne Literarästhetische der Texte tritt hier deutlich in den Hintergrund zugunsten eines stellenweise fast aktivistisch anmutenden Plädoyers für gesellschaftliche Veränderung. Der Wert von B OLER s Vorschlägen liegt daher aus meiner Sicht vor allem in der kritischen Bewusstmachung der Gefahren, die mit einer nur oberflächlichen Perspektivübernahme einhergehen, die kulturell geprägte Unterschiede zwischen literarischen Figuren und lesenden Lerner: innen einebnet, anstatt die Schüler: innen auf differenzierte Weise für jene Unterschiede zu sensibilisieren. B OLER s Ansatz setzt insgesamt darauf, vom Text ausgehend gezielt danach zu fragen, wie unsere Selbst- und Weltsicht von der uns umgebenden Kultur und Geschichte geprägt wurde (vgl. ebd.: 179). Nach einer intensiven Beschäftigung mit dem Text und seinen Figuren sollte die Frage danach, was dieser Text mit mir als Leser: in zu tun hat, demnach keine kurze abschließende Frage am Ende einer Unterrichtseinheit sein. Vielmehr sollte sie den Ausgangspunkt darstellen für eine weitere intensive Auseinandersetzung z.B. mit Fragestellungen, die sich mit den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen verknüpfen lassen. Statt der Frage „Wie würdest du dich in Chiamakas Situation fühlen? “ während oder nach der Lektüre von Ace of Spades könnte die Frage „Wo fühlst du dich zugehörig? “ formuliert werden, die vom Text weg und hin zu den Leser: innen führt, zugleich aber aus dem Text erwächst. Mit einem solchen Vorgehen sollte eine kritische Analyse von Werten und Überzeugungen verbunden werden, die in B OLER s Sinne durchaus ‚unbequem‘ sein kann. Literarische Texte als Ausgangspunkt für eine solche kritische Reflexion nicht nur der im Text präsenten anderen Selbst- und Weltsichten, sondern gerade der eigenen Selbst- und Weltsicht haben einen entscheidenden Vorteil: „[T]hey make this process palatable by giving us pleasure in the very act of confrontation“ (N USSBAUM 1995: 6, zitiert nach B OLER 1999: 163). Für B OLER ist diese Art der Auseinandersetzung mit Literatur nur ein Zwischenschritt, um sich in der Folge auch veränderter sozialer Praxis zuzuwenden, also den Raum der Literatur gänzlich zu verlassen mit dem Anspruch, Gesellschaft zu verändern. Sie verortet sich so im Kontext der „Social Justice Education“ (maßgeblich: B ELL 1997). Damit ist dieser Ansatz durchaus anschlussfähig an das erklärte Ziel der deutschen Bildungsstandards, Schüler: innen zu mündigen Bürger: innen zu erziehen, auch wenn die praktische Umsetzung zu diskutieren und empirisch zu erforschen wäre (und auch diskutiert wird, vgl. die Beiträge in G ERLACH 2020). Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht 71 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 Literatur À BÍKÉ -Í YÍMÍDÉ , Faridah (2021): Ace of Spades. New York: MacMillan. B ÄHR , Ingrid / G EBHARD , Ulrich / K RIEGER , Claus / L ÜBKE , Britta / P FEIFFER , Malte / R EGENBRECHT , Tobias / S ABISCH , Andrea / S TING , Wolfgang (2019) (Hrsg.): Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken. Wiesbaden: Springer. B ELL , Leigh Anne (1997): „Theoretical foundations for social justice education“. In: A DAMS , Maurianne / B ELL , Leigh Anne / G RIFFIN , Pat (Hrsg.): Teaching for diversity and social justice: A sourcebook. New York: Routledge, 3-15. B OLER , Megan (1999): Feeling Power: Emotions and Education. New York: Routledge. B ONNET , Andreas / H ERICKS , Uwe (2020): Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Empirische Studien zur (Un)Möglichkeit fremdsprachlicher Bildung in der Prüfungsschule. Tübingen: Narr. B RACKER , Elisabeth (2015): Fremdsprachliche Literaturdidaktik. Ein Plädoyer für die Realisierung bildender Erfahrungsräume im Unterricht. Wiesbaden: Springer VS. B REDELLA , Lothar (2012): Narratives und interkulturelles Verstehen - Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen: Narr. B REDELLA , Lothar / C HRIST , Herbert (1995): Didaktik des Fremdverstehens. Tübingen: Narr. B REIDENSTEIN , Georg (2006): Teilnahme am Unterricht: Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: Springer. C HADHA , Gurinder (2002): Bend It Like Beckham. London: BendIt Films. C OMBE , Arno / G EBHARD , Ulrich (2012): Verstehen im Unterricht: Die Rolle von Phantasie und Erfahrung. Wiesbaden: Springer VS. D ELANOY , Werner (2002): Fremdsprachlicher Literaturunterricht. Theorie und Praxis als Dialog. Tübingen: Narr. D REHER , Eva / D REHER , Michael (1985): „Wahrnehmung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter“. In: O ERTER , Rolf (Hrsg.): Lebensbewältigung im Jugendalter. Weinheim: Hogrefe, 30-60. F END , Helmut (2006): Neue Theorie der Schule: Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: Springer VS. F REITAG -H ILD , Britta (2010): Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkultureller Literaturdidaktik. British Fictions of Migration im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT. G ARDEMANN , Christine (2021): Literarische Texte im Englischunterricht der Sekundarstufe I. Eine Mixed-Methods-Studie mit Hamburger Englischlehrer*innen. Stuttgart: Metzler. G ARDEMANN , Christine (2022): „‘It’s not like in Europe or in Germany’ - The Teachers’ Role in Transforming Alienation Into Meaningful Understanding“. In: Teacher Development Academic Journal 2(2): Taboo(ed) Issues in ELT through the lens of critical pedagogy, 33-41. G ARDEMANN , Christine (2023): „Teaching ‘13 Reasons Why’: A Study on the Importance of a Pedagogical Alliance in ELT“. In: L UDWIG , Christian / S UMMER , Theresa (Hrsg.): Taboos and Challenging Topics in Foreign Language Education: Critical Language Pedagogy in Theory, Research and Practice. London: Routledge. G ERLACH , David (2020): Kritische Fremdsprachendidaktik. Grundlagen, Ziele, Beispiele. Tübingen: Narr. H ALLET , Wolfgang (2015): „Literatur, Bildung und Kompetenzen. Eine bildungstheoretische Begründung für ein literaturbezogenes Kompetenzcurriculum“. In: H ALLET , Wolfgang / S URKAMP , Carola / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Literaturkompetenzen Englisch. Modellierung - Curriculum - Unterrichtsvorschläge. Seelze: Kallmeyer, 9-20. 72 Christine Gardemann DOI 10.24053/ FLuL-2023-0005 52 • Heft 1 H AVIGHURST , Robert James (1948): Developmental Tasks and Education. New York, London: Longman. H ENSELER , Roswitha / S URKAMP , Carola (2007): „Leselust statt Lesefrust. Lesemotivation in der Fremdsprache Englisch fördern“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 89, 2-13. H ERICKS , Uwe / S PÖRLEIN , Eva (2001): „Entwicklungsaufgaben in Fachunterricht und Lehrerbildung - Eine Auseinandersetzung mit einem Zentralbegriff der Bildungsgangdidaktik“. In: H ERICKS , Uwe / K EUFFER , Joseph / K RÄFT , Hans Christof / K UNZE , Ingrid (Hrsg.): Bildungsgangdidaktik. Perspektiven für Fachunterricht und Lehrerbildung. Wiesbaden: Springer, 33-50. K OLLER , Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. K ÖNIG , Lotta (2018): Gender-Reflexion mit Literatur im Englischunterricht. Stuttgart: Metzler. M AROTZKI , Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Beltz. N USSBAUM , Martha (1995): Poetic Justice: The Literary Imagination and Public Life. Boston: Beacon. P ARKINSON , Brian / R EID T HOMAS , Helen (2022): Teaching Literature in a Second Language. Edinburgh: Edinburgh UP. R OSELIUS , Katharina (2021): Literaturunterricht. Rekonstruktion einer Handlungspraxis aus der Sicht von Schülerinnen und Schüler. Wiesbaden: Springer. S CHÄDLICH , Birgit / S URKAMP , Carola (2015): „Textrezeptionsprozesse von Schülerinnen und Schülern in handlungsorientierten Unterrichtsszenarien: Unterrichtsvideographie im fremdsprachlichen Literaturunterricht“. In: K ÜSTER , Lutz / L ÜTGE , Christiane / W IELAND , Katharina (Hrsg.): Literarisch-ästhetisches Lernen im Fremdsprachenunterricht: Theorie, Empirie, Unterrichtsperspektiven. Frankfurt/ M.: Lang, 69-89. S PIEGELMAN , Art (1991): MAUS. In: Raw Vol. 1, No. 2 - Vol. 2, No. 3. S URKAMP , Carola (2019): „‘It’s Not Our Opinion, It’s the Opinion of Our Roles’ - Fremdverstehen Revisited or: Where Foreign Language Education and Narratology Can Meet“. In: E RLL , Astrid / S OMMER , Roy (Hrsg.): Narrative in Culture. Berlin: de Gruyter, 129-147. 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 A LMUT H ILLE * Slam Poetry and Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht: Erleben, Analysieren, selbst Verfassen und Präsentieren Abstract. Slam poetry and poetry slams position a performative act at the forefront of the foreign language classroom, and thereby present numerous possibilities for linguistic, cultural and artistic teaching and learning. This allows for a form of applied language to be learned and experimented with that draws attention to the receptive and interpretive possibilities of the utterances as well as to the aesthetic dimensions of texts and the media of their presentation. Slam poetry in the foreign language classroom can enable immediate impressions and interactions, most typically among young slammers, and encourage closer analysis of texts, their performance, and the media involved in their performance. Slam poetry can also encourage students to create and perform their own texts. Such assignments promote basic communicative competencies as well as individual skill sets. This contribution will articulate these aspects on the basis of recent research on slam poetry and poetry slams in the foreign language classroom. It will also cover newer empirical studies of the successes of performative pedagogies, of poetic practice with spoken poems, and of learning to recite poetry in a foreign language. An example of such a praxis will show how learners can compose their own slam poetry and present their poems in (public) poetry slams that they organize themselves or in selfproduced poetry videos. 1. Einleitung Der Einbezug der Künste - das heißt der Einbezug von Theater, Musik, Tanz, Film, Literatur, Bildender Kunst, Aktionskunst, Fotografie und künstlerischem Erzählen - in den Fremdsprachenunterricht wird in der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache schon seit längerem intensiv diskutiert und erprobt. Davon zeugen Monografien wie Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis (1993) von Manfred S CHEWE und Fremde Sprachen - Fremde Künste? Bild- und Musikkunst im interkulturellen Fremdsprachenunterricht (2006) von Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK ; Sammelbände wie Ästhetisches Lernen im DaF/ DaZ-Unterricht. Literatur - Theater - Bildende Kunst - Musik - Film * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Almut H ILLE , Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, Raum JK31/ 238, 14195 B ERLIN E-Mail: almut.hille@fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Kulturelles Lernen im Fach Deutsch als Fremdsprache, Literatur und Medien im Fach Deutsch als Fremdsprache, Deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. 74 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 (2014), herausgegeben von Nils B ERNSTEIN und Charlotte L ERCHNER ; Themenhefte wie Performative Didaktik der Zeitschrift Fremdsprache Deutsch (G OETHE -I NSTITUT 2020) und Bilder im DaF-/ DaZ-Unterricht (2017) bzw. Film im DaF-/ DaZ-Unterricht (2018) der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache (F A D A F/ DAAD 2017; 2018) sowie die Online-Zeitschrift Scenario. A Journal for Performative Teaching, Learning, Research (U NIVERSITY C OLLEGE C ORK ). Empirische Arbeiten wie Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis (2020) von Alexandra H ENSEL zeigen, dass die Wahrnehmung der Künste sowie die Ausübung eigener künstlerischer Tätigkeit in bzw. mit der Fremdsprache Sprechbereitschaft, Empathie und Wahrnehmungsfähigkeit fördern. Sie zeigen aber auch - wie die Aufsätze von Claire K RAMSCH und Michael H UFFMASTER (2008) sowie Almut H ILLE (2017) -, wie schwierig es mitunter selbst für (zukünftige) Lehrende ist, künstlerische Ausdrucksformen angemessen, d.h. in ihrem Potenzial für vielfältige Wirkungen und mögliche Deutungen, zu erfassen. Der möglichst lebendigen Erfahrung der Künste kommt hier eine entscheidende Rolle zu, aber auch der analytischen und produktiv handelnden Auseinandersetzung mit ihren (Bau-)Formen, ihren möglichen Funktionen und Wirkungen sowie mit Dimensionen ästhetischer Sprachverwendung. In der Arbeit mit Slam Poetry spielen sowohl das Erleben wie das genauere Betrachten von Texten eine Rolle. Slam Poetry und Poetry Slams können unmittelbare Eindrücke, Begegnungen mit Texten und meist jungen Slammer: innen initiieren, aber auch zur Analyse und Beurteilung der Texte und ihrer medialen Präsentationen sowie zum eigenen Verfassen und Performen von Texten anregen. Im vorliegenden Beitrag wird dargelegt, was unter Slam Poetry und Poetry Slams zu verstehen ist und wie sie sich entwickelt haben, welche Potenziale sie für den Fremdsprachenunterricht besitzen und wie sie in diesem eingesetzt werden können. 2. Was ist Slam Poetry, was ist ein Poetry Slam? Slam Poetry, auch Spoken Word Poetry genannt, ist ein hybrides Genre, das von selbst verfassten Texten der Slammer: innen und deren Performance lebt. Die literarischen Formen variieren stark - von Lyrik, Rap, Kurzgeschichten und Minidramen bis hin zu Kabarett- und Comedy-Beiträgen. Die meisten Texte weisen jedoch lyrische Elemente auf wie Reime, Wiederholungen, Lautmalerei, Refrains und Interjektionen. Inhaltlich nehmen Slam-Texte oft aktuelle, auch politische Tagesereignisse auf und kommentieren diese, verorten Themen wie Freundschaft, Liebe, Alltagserfahrungen, Lebensentwürfe und Utopien im aktuellen Zeitgeist. In ihrer Einführung Poetry Slam in Deutschland beschreibt Stefanie W ESTERMAYR (2010: 91) das Selbstverständnis von Slammer: innen als Versuch, „auf unkonventionelle Art und Weise dem modernen, verwirrenden Leben in einer Zeit der ständigen Veränderung literarisch beizukommen“. Slam Poetry ist schnelle Literatur, die einer starken Dynamik unterliegt. Sie beobachtet Individuen, Gesellschaft(en) und deren Alltag genau, oft mit einer Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 75 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 (zeit-)kritischen, humoristischen Attitüde. Sie ist mitunter politische Literatur (vgl. H ILLE / L UGHOFER 2015), mit Thomas E RNST (2013) wäre sie auch als subversive Literatur zu fassen. Slam Poetry weist vielfältige Elemente von Alltagssprache auf und ist „- abgesehen von den wenigen mündlich basierten Freestyles - konzeptionell schriftlich und medial mündlich“ geprägt (A NDERS 2012: 282). Die (Schrift-)Form der Texte ist Klang, Rhythmus und Performance in der Regel nachgeordnet. Gleichzeitig legen Slammer: innen großen Wert auf vielfältige Wirkungs- und Rezeptionsmöglichkeiten ihrer Texte - on stage und on page. Auf Internet- und Buchseiten sind die Texte auch außerhalb der Bühne erleb- und erfahrbar. In Poetry Clips werden sie in der Ästhetik von Video Clips inszeniert. Slam Poetry ist insofern gekennzeichnet durch die konzeptionelle Schriftlichkeit der Texte die Mündlichkeit der Performance und die Multimodalität der Aufzeichnung und weiteren Verbreitung der Texte. Sie knüpft an einen Lyrikbegriff an, in dessen Mittelpunkt die gesprochene Sprache in ihrer Dynamik und Originalität steht, erweitert ihn aber auch in die Print- und digitalen Medien hinein. Ein Poetry Slam ist ein Wettbewerb und gleichzeitig eine offene Bühne für die Performance eigener Texte. Auf ihr stehen Slammer: innen, MC (Moderator: in) und Publikum in direktem Austausch miteinander. Im Jahr 1985 veranstaltete Marc Kelly S MITH in der Get Me High Lounge in Chicago erste Poetry Performances mit einer Jazzband im Hintergrund 1 , die Literatur lebendig machen sollten. Er gründete das Chicago Poetry Ensemble, das zum Prototyp aller späteren Slam Teams wurde. 1986 veranstaltete er im renommierten Green Mill Jazz Club einen ersten Poetry Slam, der großes Interesse fand und als Uptown Poetry Slam in den folgenden Jahren immer erfolgreicher wurde. In vielen Städten der USA wurden in der Folge regelmäßige Poetry Slams begründet, ab 1990 fanden sie auch im Nuyorican Poets Café und Bowery Poetry Club in New York statt. 1990 wurde der erste National Poetry Slam in San Francisco ausgerichtet, 1992 startete das MTV-Format Poetry Unplugged. 1993 erreichte die neue literarische Bewegung Europa. Erste Slams wurden in Finnland, Schweden und Großbritannien gegründet, in dem kleinen Berliner Verlag Druckhaus Galrev wurde in Kooperation mit der Literaturwerkstatt Berlin die Anthologie Slam! Poetry. Heftige Dichtung aus Amerika aufgelegt. In ihr sind Texte von frühen Stars der US-amerikanischen Szene wie Paul B EATTY , Neeli C HERKOVSKI , Alan K AUFMAN , Dominique L OWELL , Luis J. R ODRIGUEZ und Patricia S MITH zu finden. Der erste regelmäßige Poetry Slam in Deutschland entstand 1994 im Berliner Club Ex’n Pop, begründet von den US-Amerikaner: innen Priscilla B E und Rik M AVERIK ; auch die auftretenden Slam-Poet: innen kamen hauptsächlich aus den USA. 1 Den Zusammenhang zwischen Slam Poetry und Jazz beschreibt Bert P APENFUß in seinem Vorwort zu der Anthologie Slam! Poetry (1994: 5): „performance poetry ist, wie jazz, eine kunst des augenblicks, nicht jeder streich gelingt“. 76 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 1997 fanden im Ex’n Pop die ersten „Deutschen Poetry Slam Meisterschaften“ statt, deren Einzelwettbewerb Bas B ÖTTCHER für sich entscheiden konnte. 2 2004 gab es zum ersten Mal Slam-Weltmeisterschaften: die „Poetry World Slampionship“ im Rahmen des Festivals Poetry International Rotterdam. Im English Theatre in Frankfurt oder in der Z-Bar in Berlin performen bis heute Slammer: innen auf Englisch; mehrsprachige Slams fanden bislang z.B. unter der Regie der Berliner Literarischen Aktion am Paulo Freire Zentrum in Wien oder auch an Goethe-Instituten statt, die auf diese Weise auch für das Konzept europäischer Mehrsprachigkeit warben. Regeln für Texte und Performance gibt es bei einem Poetry Slam nur wenige, diese sind jedoch stark fixiert: Selbstgeschriebene Texte müssen in einer bestimmten Anzahl von Minuten vorgetragen werden. Requisiten, Kostüme und Musikinstrumente sind nicht erlaubt. Mitunter wird ein Slam auf ein Thema oder ein Format festgelegt, z.B. gibt es Berliner Mauer Slams oder Science Slams, in denen Wissenschaftler: innen ihre Forschungen präsentieren. Bei Poetry Slams im deutschsprachigen Raum ist zumeist eine Beurteilung durch das Publikum vorgesehen. Dies kann etwa eine Punktewertung durch Juror: innen aus dem Publikum oder eine Abstimmung aller per Lautstärke des Applauses sein. Falls es - wie oft in der Heimat des Slams, den USA - eine Jury gibt, urteilt diese eher als Parodie einer konventionellen Wettbewerbsjury. Auch die Offenheit und Interaktivität der Poetry Slams sowie der Präsentationen von Slam Poetry im Internet kennzeichnen dieses hybride literarische Genre. Dass sie die Sieger: innen von Poetry Slams selbst küren, lädt die Zuschauer: innen zum genauen (Zu-)Hören, Sehen und Werten ein. Viele Live-Vorträge werden als Bühnenmitschnitte auch im Internet, auf den Homepages der Slammer: innen oder der Veranstalter: innen präsentiert. Sie können, ebenso wie die von einigen Slammer*innen produzierten Poetry Clips, jederzeit gesehen und kommentiert werden. Auch eigene Produktionen können jederzeit ins Netz eingestellt werden. Das Phänomen Slam gilt inzwischen als beispielhaft für die Dynamik gegenwärtiger Literatur: Schon vor zwanzig Jahren wurde es durch den Literaturwissenschaftler und Slammer Stephan Porombka als „paradigmatisch für eine Entwicklung des Literaturbetriebs in Richtung Popularisierung und Eventisierung“ betrachtet, einhergehend mit einem „Funktionswandel der Literatur für die Gesellschaft“ (P OROMBKA 2001: 20) hin zu Unterhaltung und Vernetzung, in der literarische Kommunikationsformen immer stärker mit Formen der Alltagskommunikation, der Wissenschaftssprache u.a. verschmelzen. 3. Potenziale für den Fremdsprachenunterricht Mit Slam Poetry und Poetry Slams rückt ein performativer Akt in den Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts, der zahlreiche Möglichkeiten für das sprachliche, kulturelle und künstlerische Lehren und Lernen bietet. Erlebt und selbst erprobt werden 2 Zu diesem Abschnitt der Geschichte des Poetry Slam vgl. auch H ILLE / L UGHOFER (2015). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 77 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 kann eine Form der Sprachverwendung, die mit den Wahrnehmungs- und Deutungsangeboten der Aussagen auch die ästhetische Dimension von Texten und deren mediale Präsentationen fokussiert. Das komplexe Zusammenspiel von individuellen Beobachtungen und Empfindungen, deren Versprachlichung in verschiedenen Textformen, von diversen medialen Formaten einerseits und wechselnden Rollen der Lernenden als Zuhörende wie Zusehende und bestenfalls selbst Performende andererseits, erlaubt ein partizipatives Lernen auf rezeptiven und produktiv handelnden Wegen. Gefördert werden können grundlegende kommunikative Kompetenzen der Lernenden wie Hör-, Seh-, Lese- und Schreibkompetenz, Sprechbereitschaft, Selbstvertrauen im Gebrauch der Fremdsprache und Fehlertoleranz, aber auch Textarten- und Medienkompetenz. Hinzu kommen - auch als Förderung persönlicher Fähigkeiten - Empathie- und ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit, Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Nicht zu unterschätzen ist die Motivation, die die Arbeit mit Slam Poetry für Spracherwerbsprozesse bedeuten kann. 3 In den Unterricht einbezogen wird Slam Poetry in der Regel durch aufgezeichnete Auftritte von Slammer: innen oder durch Poetry Clips, verfügbar auf YouTube oder den Homepages einzelner Slammer: innen und Veranstalter: innen. Diese Aufzeichnungen oder Clips können als Ereignisse, wenn auch nicht als Live-Ereignisse, wahrgenommen und durch die filmische Nähe zu den Slammer: innen nahezu authentisch erlebt werden. Das ästhetische Erlebnis ermöglicht den Genuss von Sprache in ihren verschiedenen Dimensionen und kann für deren vielfältige, auch originelle und pointierte Verwendung sensibilisieren. In analytischen Betrachtungen der gefilmten Performances spielen der jeweilige Slam-Text als solcher, die Performance der Slammer: in und deren mediale Präsentation eine Rolle. Erforderlich sind neben dem genießenden auch das genaue (Zu-)Hören und (Hör-)Sehen, bei zusätzlich gedruckt oder als E-paper vorliegenden Texten auch der Einsatz verschiedener Lesestile wie das globale oder detaillierte Lesen; weiterhin eine Medienreflexion, die den multimodalen Charakter von Slam Poetry fokussiert. Die ästhetische Dimension des (Zu-)Hörens wird in fremdsprachendidaktischen Diskussionen zunehmend hervorgehoben. 4 Es war zunächst Jutta W ERMKE in der Fachdidaktik Deutsch, die ein Konzept zur Hörerziehung als Wahrnehmungsschulung, die sie als Teil einer ästhetischen Bildung versteht, entwickelte. Das Hören wird in dem Konzept „als Hören auf den Klang der Welt und nicht als nachgeordnete Funktion in Kommunikationsprozessen“ (W ERMKE 1995: 18) aufgefasst. Besonders das genaue Zuhören ist auch als soziale Fähigkeit zu betrachten, die in der Arbeit mit Slam Poetry gefördert werden kann. Da Slam Poetry in der Regel über verschiedene Kanäle wahrgenommen wird (Sehen und Hören/ Augen und Ohren), ist auch von Hör-Sehen zu sprechen, einem bild- und zeichengestützten Hören, das in der alltäglichen Kommunikation von Bedeutung ist (vgl. S CHWERDTFEGER 1989: 143). Denn das Hören ist 3 Vgl. auch B ERNSTEIN (2019) zur Motivation als zentraler Motor von Spracherwerbsprozessen. 4 Vgl. hier auch den Vorschlag von Š LIBAR (2011), mit dem Hören in einen Text ‚einzusteigen‘, und die Unterrichtsvorschläge von S AMIDE (2020) sowie N EIDLINGER und P ASEWALCK (2011). 78 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 häufig visuell unterstützt - durch Symbole und Piktogramme, durch non-verbale Zeichen wie Gestik und Mimik von Kommunikationspartner: innen (vgl. ebd.: 60) und durch die bildlich-räumliche Umgebung einer Kommunikationssituation. Die Auseinandersetzungen mit den aufgezeichneten Auftritten von Slammer: innen oder Poetry Clips können für Lernende zu Impulsen für das eigene Verfassen und Performen von Texten werden. Die Fremdsprache wird dabei produktiv, kreativ und performativ in verschiedenen Dimensionen genutzt. (Konzeptionelle) Schriftlichkeit und Mündlichkeit werden deutlich nachvollziehbar. Beim Verfassen von Texten werden Originalität und vielleicht Witz im Umgang mit der Sprache, Wortschatz, Grammatik und Sprachgefühl gefördert. Nils B ERNSTEIN (2019: 299) verweist auch auf den Zusammenhang zwischen dem Verfassen kreativer Texte und der Ausprägung eines bildungssprachlichen Registers. Beim Performen werden Sprechbereitschaft und Mut zum (lauten) Sprechen, Prosodie sowie Körperhaltung, Atmung, Mimik und Gestik gefördert. Der Arbeitsprozess ist, besonders wenn im Team durchgeführt, interaktiv und auch kooperativ bzw. kollaborativ angelegt und fördert damit die Kooperationsfähigkeit. 5 Im Rahmen der eigenen Textarbeit bietet das Ziel einer Präsentation auf der Bühne oder in einem Poetry Clip - eventuell sogar vor einer gewissen Öffentlichkeit - eine Authentizität und unmittelbare Sinnhaftigkeit, die sonst kaum im (Fremdsprachen- )Unterricht erreicht werden kann. Die Präsentation wird nicht nur ‚gespielt‘, es geht um die tatsächliche Mitteilung eines eigenen literarischen Textes - eventuell sogar im Wettbewerbskontext. Dass bei Präsentationstätigkeiten verschiedene Kompetenzen gebündelt und verknüpft werden, legen D ANNERER und F ANDRYCH (2012) in ihrem Aufsatz zu Formen und Funktionen, Ansprüchen und Leistungen des Präsentierens im Unterricht dar. Wie andere Präsentationen auch, nur lebendiger und zumeist motivierender, stehen Slam Performances im Fremdsprachenunterricht zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, legen starkes Gewicht auf Körperhaltung, Atmung, Mimik, Gestik, Bewegung, Intonation und Interaktion mit dem Publikum. Die Sprachverwendung wird nahezu vorbildlich handelnd und partizipativ umgesetzt. Ein (öffentlicher) Poetry Slam kann an der Schule oder Universität, in einem Club oder Theater von den Lernenden organisiert werden. Auch die Organisation eines Slams in der Fremdsprache fördert Kompetenzen und Fähigkeiten wie die bereits genannten: Schreib- und Sprechkompetenz, Selbstvertrauen im Gebrauch der Fremdsprache und Fehlertoleranz, Textarten- und Medienkompetenz, Kreativität und Kooperationsfähigkeit. Die einzelnen Schritte und erforderlichen Kompetenzen zur Vorbereitung eines Poetry Slam sind in Abschnitt 5, Phase 3 dargestellt, ebenso die Schritte zur Produktion eines eigenen Poetry Clips. Hier sind andere Faktoren entscheidend, geht es doch um die Übersetzung einer Textperformance in ein filmisches Format. 5 Zum kooperativen bzw. kollaborativen Schreiben vgl. H ILLE / S CHIEDERMAIR (2021: 71f.). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 79 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 4. Empirische Studien Zur Arbeit mit Slam Poetry im (Fremdsprachen-)Unterricht liegen bislang kaum empirische Studien vor. Eine erste Arbeit von Petra A NDERS (2010) zu Poetry Slam im Deutschunterricht widmet sich den individuellen und sozialen Gratifikationen, die Jugendliche durch den Umgang mit dieser kulturellen Praxis erwerben. Es wird gezeigt, wie erfolgreich auch Jugendliche mit Migrationshintergrund an ihr teilnehmen, ohne dass allerdings den sprachlichen Voraussetzungen und Erwerbsprozessen im Rahmen der Studie explizite Aufmerksamkeit galt. Die Zielsetzungen von Lehrkräften, auch mit Blick auf den Fremd- und Zweitspracherwerb, beinhalten aber laut A NDERS , dass Jugendliche Aktivität und Mut im Umgang mit der Sprache fänden, „die Sprache auch fühlen. Und nicht einfach lernen“ (A NDERS 2010: 149). Von Interesse sind auch Studien zu den Wirkungen gehörter Lyrik (vgl. U TLER 2016), zum Sprechen und Vortragen lernen im Fremdsprachenunterricht mittels Ästhetischer Kommunikation (vgl. S TÖVER -B LAHAK 2012) sowie zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis im Fremdsprachenunterricht (vgl. H ENSEL 2020). Diese Studien fokussieren universitäre Kontexte, denen „ein hohes Maß an Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit zu eigen ist“ (S TÖVER -B LAHAK 2012: 8), was es in der Betrachtung ihrer Ergebnisse sicher zu beachten gilt. In der Arbeit mit Slam Poetry kann ein gewisses Maß an Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit, im besten Fall Begeisterung nicht zuletzt durch die verschiedenen Möglichkeiten der Mitwirkung (in einem Team) aber auch in schulischen Kontexten erreicht werden. Die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Anja U TLER zeigt in ihrer Studie „manchmal sehr mitreißend“ - Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte (2016), was poetische Erfahrungen bewirken und wie gesprochene Gedichte mit den Wahrnehmungen von Zuhörer: innen interagieren und (Nach-)Denken induzieren können. Reflektiert werden die Besonderheiten des Hörens von Gedichten, live gelesen von den Autor: innen. Die „erstarkende Bedeutung des Gedichts als gesprochene Kunstform“ führt U TLER unter anderem darauf zurück, dass „der gesprochene Text [...] sinnlich reicher als der geschriebene“ ist, nicht zuletzt durch die Wirkungen der Stimme (U TLER 2016: 14f.). Im Kontext einer performativen Ästhetik (vgl. F ISCHER - L ICHTE 2002) fasst auch sie Kunstwerke als ‚Ereignisse‘ auf: Das Publikum wohnt ihnen nicht nur bei, sondern wird zu einem Teil von ihnen (vgl. ebd.). In ihrer Studie geht es um Prozesse der Interaktion von Individuen mit Kunstwerken und mit sich selbst. Zentrale These ist, dass gesprochene Lyrik in den Hörenden Selbstgespräche über neue oder fremde Eindrücke auslöst, in denen Bedeutungen entstehen (vgl. ebd.: 20f.). Voraussetzung für die Bedeutungsbildung ist, dass „eine aktive Kontaktaufnahme zum gehörten Gedicht“ gelingt, die von Stanley F ISH (1994) auch eine „aktualisierende Teilnahme“ (vgl. U TLER 2016: 22) genannt wird. Solche Selbstgespräche wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts mit Germanistik- und Slawistikstudierenden, teilweise auch weiteren Hörer: innen, der Universität Regensburg über zwei Semester hinweg analysiert. Fünf Dichter: innen wurden in Lesungen an der Universität gehört. Im Anschluss wurden die Zuhörer: innen gebeten, 80 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 auf Fragebögen ihre Eindrücke zu schildern. Mit den Studierenden der Seminare wurden anschließend vertiefende und differenzierende Gruppengespräche geführt und aufgezeichnet (vgl. ebd.: 19). Verdeutlicht werden konnte in den Auswertungen etwa, auf welchen Ebenen die Lesungen ggf. welche Wahrnehmungen ausgelöst hatten: körperlich, emotional, visuell, akustisch und gedanklich. Auch wurde sichtbar, welches die stärksten Eindrücke überhaupt bzw. welches die zentralen akustischen Eindrücke waren. Nachvollzogen werden konnte zudem, welche Sätze, Wendungen oder Verse im Gedächtnis geblieben waren und ob das Gehörte an etwas Bekanntes erinnerte und was dieses Bekannte gewesen war. Nicht systematisch nachgegangen wurde den Fragen, wie sich die akustischen Eindrücke zur konkreten stimmlichen Realisation der Texte verhalten, wie die Intensität der akustischen Reize im Vergleich zu den anderen sensoriellen Kanälen beurteilt wird und welche Relationen zwischen den geschilderten Wahrnehmungen und den Sprachkenntnissen der Zuhörer: innen bestehen (vgl. ebd.: 202). Letzteres wäre für den Fremdsprachenunterricht natürlich von besonderem Interesse. Vorgetragen wurden die Gedichte von den Autor: innen jeweils im Original in deutscher oder anderer Sprache; die Zuhörer: innen schätzten in den Fragebögen selbst ein, wie gut sie die jeweilige Sprache kannten. In ihren geschilderten Wahrnehmungen zeigten sie, dass - auch wenn der Text zunächst nicht verstanden wurde - „Stimme und Sprachmelodie bereits zur Hypothesenbildung und einer gedanklichemotionalen Auseinandersetzung“ (ebd.: 198) mit den gesprochenen Gedichten einluden. Diese Dimensionen könnten weiter differenziert werden; auch könnte die eventuell gleichrangige Präsenz einer Wortsemantik und einer individuelle Bezüge fördernden Klangsemantik der Stimme weiter erkundet werden (vgl. ebd.: 33). Anke S TÖVER -B LAHAK (2012) greift in ihrer Studie Sprechen und Vortragen lernen im Fremdsprachenunterricht: Interpretativ, kreativ und ganzheitlich mit Gedichten auf Grundlagen der Sprechwissenschaft zurück. Sie erprobt den Einsatz von Ästhetischer Kommunikation, verstanden als sprecherische Interpretation von literarischen Texten (vgl. ebd.: 73), in einem Kurs für Deutsch als Fremdsprache am Fachsprachenzentrum der Universität Hannover. Sie geht der Fragestellung nach, ob die Sprech- und Vortragskompetenzen der Studierenden durch die Erarbeitung einer Sprechfassung eines Gedichts gefördert werden können. In Form einer Aktionsforschung begleitet sie den Erarbeitungsprozess, in dessen Mittelpunkt Aspekte der Sprech- und Vortragskompetenz wie Atmung und Stimme, Artikulation und Aussprache, Intonation und Prosodie, Körperhaltung, Gestik und Mimik stehen. Die Entwicklung der Sprech- und Vortragskompetenzen der Studierenden durch den Einsatz von Methoden der Ästhetischen Kommunikation wird beobachtet und dokumentiert, sowohl in deren eigener Wahrnehmung als auch aus der Außenperspektive. Anhand von Lerntagebüchern, Fragebögen und Leitfadeninterviews mit Lernenden, Videomitschnitten und Diagnosebögen - ausgefüllt von den Lernenden und externen Expert: innen - entstehen Einblicke in die Phasen der Entwicklung der Sprechfassung eines Gedichts und differenzierte, mehrperspektivische Profile der Lerner: innen, die deren Entwicklungswege nachzeichnen (vgl. ebd.: 233-301). Abgeleitet werden können Methoden der Ästhetischen Kommunikation zur erfolgreichen Förderung von Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 81 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 Sprech- und Vortragskompetenzen (vgl. ebd.: 7), die auch in der Arbeit mit Slam Poetry aufgegriffen werden. Sie betreffen die Arbeit an Aussprache, Körpersprache und Persönlichkeitsausdruck der Lernenden (vgl. ebd.: 310). Alexandra H ENSEL (2020) zeigt in ihrer Studie Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis, wie durch Theaterspiel ein Kunst-Erleben im Fremdsprachenunterricht möglich ist. Über mehrere Jahre hinweg untersuchte sie ihren Kurs „Deutsch lernen durch Theaterspiel“ an der Universität Göttingen im Rahmen einer Fallstudie. Im Fokus standen die (eigene) Lehrpraxis und die Förderung eines erfahrungsbasiert-körperbezogenen Lernens in der künstlerischen Auseinandersetzung mit (literarischen) Texten und Sprache (vgl. ebd.: 15). Der Unterricht, aufgefasst als dynamischer, eigenständiger und interaktiv-kooperativer Gestaltungsprozess, verlief in drei Phasen: I) Formsuche - Körper- und Stimmarbeit sowie künstlerische Auseinandersetzung mit Texten/ verschiedene szenische Textgestaltungen; II) Formgebung - Probenarbeit/ Inszenierungsphase; III) Form - Präsentation/ Werkschau (vgl. ebd.: 16). Gefördert wurden Sprechbereitschaft, Sprechkompetenz und Sprachbewusstheit, aber auch Aspekte der Persönlichkeit wie Selbstständigkeit, Selbstreflexivität, Selbstbewusstsein, Offenheit und Flexibilität. Dies wird in der Auswertung eigener Beobachtungen und Mitschriften der Forscherin, videografierter Proben und Präsentationen sowie Fragebögen und Reflexionsschreiben der Teilnehmer: innen deutlich (vgl. ebd.: 191-193, 218-220). Entwickelt wird ein Modell zur Gestaltung eines „Fremdsprachenunterrichts als Ereignis“, das Überlegungen zu einem performativ-ästhetischen Unterrichtsvorgehen, ein Kompetenzprofil für Lehrkräfte als performativ-ästhetische Übungsleitende, praktische Übungen zur Text- und Szenenarbeit und ein Kursmodell für Deutsch als Fremdsprache enthält (vgl. ebd.: 235-259). 5. Praxisbeispiel Die vorgestellten empirischen Studien weisen darauf hin, dass Slam Poetry als eine lyrische Form in der Fremdsprache lebendig erfahren, durch ein genaues (Zu-)Hören und (Hör-)Sehen vielfältig wahrgenommen und in einer performativ-ästhetischen Unterrichtspraxis erfolgreich selbst verfasst und präsentiert werden kann. Wie gerade der Schritt von der Slam Poetry zum Poetry Slam gelingen kann, soll im Folgenden anhand eines Workshops (nach H ILLE / S CHÖNLEBER 2009; 2010: 48-62, vgl. auch B EKES / F REDERKING 2009) modelliert werden, der in drei Phasen ablaufen und sowohl mit Studierenden wie auch mit Schüler*innen der Sekundarstufe 2 umgesetzt werden kann. Phase 1: Zunächst wird ein aufgezeichneter Auftritt oder Poetry Clip einer Slammer: in im Unterricht gesehen und gehört, wobei sowohl der Text als auch die Performance und deren Aufzeichnung eine Rolle spielen; bei Poetry Clips auch deren Bildgestaltung und weitergehende akustische Gestaltung z.B. durch Musik. Das Erlebnis 82 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 der Slam Poetry steht hier an erster Stelle. Ihre (nachfolgende) analytische Betrachtung kann jedoch bereits unter der Zielsetzung des späteren Verfassens und Performens eigener Slam-Texte erfolgen. In der Analyse wären auf der Textebene die Wahrnehmungs- und Deutungsangebote der Aussagen, Wortspiele und -neuschöpfungen, lyrische Elemente wie Reime, Wiederholungen, Refrains und Interjektionen von Bedeutung. Sie werden vielfach mit Blick auf die Performance geschaffen; der Klang der Worte, Lautmalereien und der Rhythmus des Textes spielen schon in dessen Konzeption eine große Rolle. In der Performance sind prosodische Elemente wie Intonation und Rhythmus sowie die emotionale Färbung einer Stimme, die Stimmhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit von besonderer Bedeutung, ebenso Körpersprache, Gestik und Mimik der Slammer: innen. Petra A NDERS bietet in ihrem Aufsatz „Intermedialität der Slam Poetry“ auch ein Raster zur Analyse von aufgezeichneten Slam Auftritten oder Poetry Clips (vgl. A NDERS 2012: 299-309). Grundlegend sind die Ebenen von Text bzw. Ton, Bildinhalt und (Kamera-)Perspektive. Phase 2: In einem zweiten Schritt stehen das Verfassen und Vortragen bzw. Performen eigener Texte der Lernenden im Vordergrund. Beides kann individuell oder im Team erfolgen; auch bei Poetry Slams gibt es Einzel- und Teamwettbewerbe. Zunächst steht der Text im Mittelpunkt. Anhand verschiedener Impulse, Überlegungen und Assoziationen kann nach einer Idee für ein Textthema gesucht werden. Dabei können bereits erste Wörter, Wortgruppen oder Sätze notiert werden, auch Assoziations- oder Gedankenketten, aus denen später vielleicht erste Sätze entstehen. Es können Wortschatzübungen durchgeführt werden, um mit Wörtern zu spielen und Ausdrucksmöglichkeiten zu variieren. Auch kleine Gedichte wie Elfchen, Siebener, Haikus oder Listengedichte können verfasst und nachfolgend Details in ihnen so variiert werden, dass Bedeutungen sich verändern. Es muss überlegt werden, welche Form am besten zur eigenen thematischen Idee und zur geplanten Performance passt. (Lernende wissen vielleicht schon, ob sie z.B. eine am Rap oder am Storytelling orientierte Performance bevorzugen). Das Verfassen eines Textes kann auch als generatives Schreiben, also anhand eines Ausgangstextes erfolgen, der variiert oder ergänzt wird. 6 Geeignet für den Unterricht Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wäre z.B. ein Text wie „Seid ihr alle da“ von Nora G OMRINGER dessen Zeilen größtenteils mit der Wortgruppe „Wir sind alle ...“ beginnen. 7 Dem Klang der Wörter, Wortgruppen, Sätze und Textzeilen muss aber auch beim generativen Schreiben von vornherein Bedeutung zugemessen werden, sie müssen also laut gesprochen bzw. laut gelesen werden. Auch Ausspracheübungen und -spiele können immer wieder mit einbezogen werden. 6 Zum generativen Schreiben vgl. B ELKE (2011). D ÖLL / H ÄGI / A IGNER (2012) wählen einen Slam-Text auch als Ausgangstext des generativen Schreibens zur diagnosegestützten Sprachförderung bei Problemen mit Satzverbindungen. 7 https: / / www.swr.de/ -/ id=5695922/ property=download/ nid=659892/ 1ikf2aa/ swr2-literatur-20100119. pdf (02.06.2022), dort auf S. 4f. Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 83 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 Eine entstandene erste Version des Textes muss sorgfältig überarbeitet und korrigiert werden, am besten in Kooperation mit anderen Lernenden und/ oder der Lehrkraft. Besonders zu achten wäre in dieser Phase auf den Textaufbau, die Wortwahl, die Grammatik sowie die Wahl von Bildern, Metaphern und Wortspielen. Beim lauten Sprechen einzelner Zeilen wie auch des gesamten Textes wäre zu erproben, ob Varianten besser klingen und ob der Rhythmus der Zeilen stimmt. Eine mehrfache Überarbeitung eines Textes kann in diesem Kontext zur Selbstverständlichkeit statt zur aufoktroyierten Arbeit werden - selbst für professionelle Slammer: innen bedeutet eine Performance nicht den endgültigen Abschluss des Schreibprozesses: Nach den Publikumsreaktionen bei Auftritten werden weitere Modifikationen vorgenommen, für mögliche Publikationen werden Texte weiter überarbeitet und liegen am Ende möglicherweise in verschiedenen Fassungen und mit unterschiedlichen Titeln vor. In der weiteren Vorbereitung der Performance ist die schriftliche Fassung des Textes mit Markierungen zu versehen. Entstehen kann eine ‚Partitur‘, die prosodische und andere Aspekte berücksichtigt: (Lese-)Tempo: Geschwindigkeit, Geschwindigkeitswechsel, Pausen (Lese-)Melodie: Tonhöhe, Satzmelodie bzw. Sprechbogen, Klangfarbe Akzentuierung: Betonung, Betonungswechsel, Lautstärke, Lautstärkewechsel Artikulation: Deutlichkeit, Deutlichkeitswechsel Stellen, an denen eine besondere Mimik oder Gestik eingefügt werden sollen. Diese Aspekte sollten wiederholt erprobt und variiert werden, auch mit Blick auf mögliche Bedeutungsveränderungen einzelner Aussagen, bevor eine Fassung des Textes ‚steht‘, die für den (möglichst freien) Vortrag vorbereitet wird. Die Performance sollte nie ein reines Vorlesen sein. Wichtig ist es, in einzelnen kleinen Schritten - d.h. zunächst kurze Sequenzen und vorgefertigte Texte gemeinsam im Chor sprechen, Leseübungen in verschiedenen gespielten Stimmungen usw. - zur Performance zu schreiten. Eine Angst beim Präsentieren sollte gar nicht erst aufkommen, sondern der spielerische Charakter der Übungen überwiegen. Ein behutsames und differenziertes Hinführen zum eigenständigen Vortrag ist dabei essenziell. Für diesen sind auch das Stehen vor einem Mikrofon (oder mit einem Mikrofon in der Hand) in einer stabilen und gleichzeitig lockeren Körperhaltung und das Sprechen durch das Mikrofon zu proben; weiterhin die Bühnensituation mit einem souveränen Auf- und Abgang sowie Blickkontakt zum Publikum. Vor der Performance können Atemübungen, Stimm- und Sprechübungen sowie Aufwärmübungen individuell oder in Teams durchgeführt werden. Phase 3: Die (öffentliche) Präsentation der Texte kann in einem von den Lernenden selbst organisierten Poetry Slam oder in selbst produzierten Poetry Clips erfolgen. Die Organisation eines Slams erfordert eine Vielzahl von Arbeitsschritten: Nach der Auswahl eines geeigneten Ortes und der Sicherung einer technischen Grundausstattung (Mikrofon, Musikanlage) muss zunächst ein prägnanter, ansprechender Titel für den Slam gefunden werden. Es müssen ein Plakat und ein Eintrag, mit dem im Internet für 84 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 den Slam geworben werden kann, verfasst und gestaltet werden. Es muss entschieden werden, wer MC (Moderator: in) werden und wie der Slam ablaufen soll. Soll beispielsweise zwischen den einzelnen Anmoderationen und Beiträgen Musik (mit Text in der Fremdsprache? ) eingespielt werden oder gibt es sogar eine Live-Band? Die Anmoderationen müssen verfasst, zumindest grundlegend konzipiert werden. Die Art der Bewertung der Beiträge durch das Publikum (Punkte, Applaus) und deren Kriterien (origineller Text, Zusammenspiel von Text und Performance, Wirkung der Slammer: in oder des Teams auf der Bühne, Interaktion mit dem Publikum) müssen festgelegt, also in der Fremdsprache ausgehandelt und beim Slam von der Moderator: in vermittelt werden. Vereinbart werden können auch Regeln wie „Nach jedem Beitrag gibt es Applaus! “. Für die eigene Produktion von Poetry Clips ist anderes entscheidend - u.a. müssen sprachliche Bilder in bildliche Zeichen übersetzt werden. Eine wichtige Vorarbeit besteht in der Analyse von Poetry Clips. In ihr werden die filmischen Mittel genau betrachtet und auf die Textstruktur bezogen. So wird deutlich, welche Kameraeinstellungen bzw. -perspektiven, welche Kulissen bzw. visuellen Hintergründe und akustischen Elemente den einzelnen Zeilen bzw. Strophen des Textes zugeordnet sind. Auf dieser Grundlage kann die Produktion eines eigenen Clips konzipiert werden, die in vier Schritten erfolgt (vgl. H ILLE / S CHÖNLEBER 2009: 60-62): Auseinandersetzung mit dem Text: Welche Aussage hat er und wie soll sie in dem Clip verdeutlicht werden? Wie kann die Stimmung des Textes spürbar werden? Welche Textstellen sind besonders wichtig für die filmische Umsetzung? Entwurf eines Storyboards: Die wichtigsten Aspekte der Filmarbeit werden in einem Raster festgehalten, am besten in Form einer Tabelle: Nummer der Einstellung, Länge, Skizze (Kamerastandort, -perspektive und -einstellung, Requisiten), Ton, Musik, Licht, Handlung, Sprechtext, Subtext (wie wird gesprochen), intendierte Wirkung. Aufnahme (Film und Ton): Filmarbeit ist Teamarbeit! Verantwortlichkeiten für Regie, Kamera, Ton, Licht und Requisite müssen verbindlich festgelegt sein. Schnitt (Bild und Ton): Der Schnitt ist sehr wichtig. Mit ihm können in der Textperformance Rhythmus, strophische Gliederungen, Zäsuren u.ä. mitgestaltet werden. Es können ‚harte Schnitte‘ oder weichere Übergänge gewählt werden, auch mit Blick auf die Wirkungsabsicht. Kostenlose Schnittprogramme wie Shotcut oder DaVinci Resolve stehen im Internet zur Verfügung. Die fertiggestellten Poetry Clips können ebenfalls in der Klasse oder Seminargruppe, in der Schule oder am Institut präsentiert werden. Auch ein Slam der Clips wäre denkbar; einen solchen gibt es z.B. seit 2016 jährlich in verschiedenen Städten in Nordrhein-Westfalen, organisiert vom Kinder- und Jugendliteraturzentrum Jugendstil. 8 8 Vgl. https: / / jugendstil-nrw.de/ portfolio/ video-poetry-slam/ (13.09.2022). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 85 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 6. Fazit Der vorliegende Beitrag zeigt, wie grundlegende kommunikative Kompetenzen des Fremdsprachenunterrichts, aber auch persönliche Fähigkeiten der Lernenden in der Arbeit mit Slam Poetry, Poetry Slams und Poetry Clips gefördert werden können. Differenziert wäre dies in empirischen Studien weiter zu beobachten und zu überprüfen. Auch bereits vorliegende Daten können weiter analysiert werden. Anja U TLER (2016) verweist explizit auf diese Möglichkeit: Interessant wäre es herauszufinden, inwieweit etwa beim Hören eines Gedichtes in der Fremdsprache Stimme und Sprachmelodie bereits zu Hypothesenbildungen und gedanklich-emotionalen Auseinandersetzungen einladen - oder in welchem Verhältnis die Klangsemantik der Stimme und die Wortsemantik für die Lernenden zueinander stehen (vgl. ebd.: 198, 33). Nachgezeichnet werden könnten auch die (kollaborativen) Schreib- und Überarbeitungsprozesse während des Verfassens eines Textes oder die Entwicklung der Sprech- und Vortragskompetenzen der Lernenden in der Erarbeitung der Performance eines Textes. Literatur A NDERS , Petra (2010): Poetry Slam im Deutschunterricht. Aus einer für Jugendliche bedeutsamen kulturellen Praxis Inszenierungsmuster gewinnen, um das Schreiben, Sprechen und Zuhören zu fördern. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. A NDERS , Petra (2012): „Intermedialität der Slam Poetry“. In: B ATHRICK , David / P REUßER , Heinz- Peter (Hrsg.): Literatur inter- und transmedial. Amsterdam/ New York, 281-310. B ADSTÜBNER -K IZIK , Camilla (2006): Fremde Sprachen - Fremde Künste? Bild- und Musikkunst im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Das Fallbeispiel Deutsch als Fremdsprache in Polen. Gdansk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdanskiego. B EATTY , Paul / M ARRS , Sarah ( 2 1994): Slam! Poetry. Heftige Dichtung aus Amerika. Berlin: Edition Druckhaus Galrev. B EKES , Peter / F REDERKING , Volker (Hrsg.) (2009): Die Poetry-Slam-Expedition: Bas Böttcher. Ein Text-, Hör- und Filmbuch. Braunschweig: Schroedel. B ELKE , Gerlind (2011): „Literarische Sprachspiele als Mittel des Spracherwerbs“. In: Fremdsprache Deutsch 44, 15-21. B ERNSTEIN , Nils (2019): „Zum Stellenwert von Literaturdidaktik im DaF-Unterricht am Beispiel von Slam Poetry. Eine Standpunkterörterung mit didaktischen Vorschlägen“. In: J , Marijana (2019) (Hrsg.): Tendenzen der Gegenwartsliteratur. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven. Berlin: Lang, 285-306. B ERNSTEIN , Nils / L ERCHNER , Charlotte (Hrsg.) (2014): Ästhetisches Lernen im DaF/ DaZ-Unterricht. Literatur - Theater - Bildende Kunst - Musik - Film. Göttingen: Universitätsverlag (= MatDaF, Bd. 93). D ANNERER , Monika / F ANDRYCH Deutschunterricht.“ In: Fremdsprache Deutsch 47, 3-11. D ÖLL , Marion / H ÄGI , Sara / A IGNER , Max (2012): „Diagnose gestützte Sprachförderung in der 86 Almut Hille DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 52 • Heft 1 Sekundarstufe. Profilanalyse und generatives Schreiben mit Slampoetry“. In: ÖDaF-Mitteilungen 2, 115-129. E RNST , Thomas (2013): Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: Transcript. F A D A F/ DAAD (Fachverband Deutsch als Fremdsprache / Deutscher Akademischer Austauschdiendst) (Hrsg.) (2017): Bilder im DaF-/ DaZ-Unterricht. Themenheft Informationen Deutsch als Fremdsprache 44.6. F A D A F / DAAD (Fachverband Deutsch als Fremdsprache / Deutscher Akademischer Austauschdiendst) (Hrsg.) (2018): Filme im DaF-/ DaZ-Unterricht. Themenheft Informationen Deutsch als Fremdsprache 45.1. F ISCHER -L ICHTE , Erika (2002): „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“. In: W IRTH , Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 277-300. G OETHE -I NSTITUT (Hrsg.) (2020): Performative Didaktik. Themenheft Fremdsprache Deutsch 62. G OMRINGER , Nora (2010): „Mein Gedicht fragt nicht lange - Selbstauskünfte“. SWR Literatur. https: / / www.swr.de/ -/ id=5695922/ property=download/ nid=659892/ 1ikf2aa/ swr2-literatur- 20100119.pdf (02.06.2022). H ENSEL , Alexandra (2020): Fremdsprachenunterricht als Ereignis. Zur Fundierung einer performativ-ästhetischen Praxis. Berlin: Schibri. H ILLE , Almut (2017): „‚Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte…‘. Autobiographische Texte und (Erinnerungs-)Diskurse in der Ausbildung von Lehrkräften für das Fach Deutsch als Fremdsprache“. In: S CHIEDERMAIR , Simone (Hrsg.): Literaturvermittlung. Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch. München: iudicium, 77-102. H ILLE , Almut / S CHIEDERMAIR , Simone (2021): Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung für Studium und Unterricht. Tübingen: Narr Francke Attempto. H ILLE , Almut / L UGHOFER , Johann Georg (2015): „‚Aber schau mal dagegen: die Welt‘. Slam Poetry: global (isierungs-) kritisch? “. In: H ILLE , Almut / J AMBON , Sabine / M EYER , Marita (Hrsg.): Globalisierung - Natur - Zukunft erzählen. Aktuelle deutschsprachige Literatur für die internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache. München, 91-108. H ILLE , Almut / S CHÖNLEBER , Matthias (2009): Die Poetry-Slam-Expedition: Bas Böttcher. Texte, Tracks und Clips. Materialien und Arbeitsanregungen. Braunschweig: Schroedel. H ILLE , Almut / S CHÖNLEBER , Matthias (2010): Die Poetry-Slam-Expedition: Bas Böttcher. Materialien Deutsch als Fremdsprache. Arbeitsheft. Braunschweig: Schroedel. K RAMSCH , Claire / H UFFMASTER , Michael (2008): „The Political Promise of Translation“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37.1, 283-297. N EIDLINGER , Dieter / P ASEWALCK , Silke (2011): „Literatur im Netz - Didaktisierungsbeispiele für den Deutschunterricht“. In: Fremdsprache Deutsch 44 (= Themenheft Fremdsprache Literatur), 47-52. P OROMBKA , Stephan (2001): „Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur“. In: H ARDER , Matthias (Hrsg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg: Königshausen & Neumann, 27-42. S AMIDE , Irena (2020): „Von Teichen zu Teebeuteln. Literaturdidaktische Annäherungen an die gegenwärtige Lyrik“. In: H ILLE , Almut / V ÖLKEL , Oliver Niels (Hrsg.): Was zu beginnen nicht aufhört. Facetten der Gegenwartsliteratur in der internationalen Germanistik und im Fach Deutsch als Fremdsprache. München: iudicium, 165-178. https: / / www.iudicium.de/ katalog/ 86205-735.htm (13.09.2022). Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht 87 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0006 S CHEWE , Manfred (1993): Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis. Oldenburg: Carl von Ossietzky Universität. S CHWERDTFEGER , Inge C. (1989): Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin u.a.: Langenscheidt. Š LIBAR , Neva (2011): Wie didaktisiere ich literarische Texte? Neue Maturatexte und viele andere im DaF-Unterricht. Ljubljana: Universität Ljubljana. S TÖVER -B LAHAK , Anke (2012): Sprechen und Vortragen lernen im Fremdsprachenunterricht. Interpretativ, kreativ und ganzheitlich mit Gedichten. Frankfurt/ M.: Lang. U NIVERSITY C OLLEGE C ORK (ab 2007): Scenario. A Journal of Performative Teaching, Learning, Research. https: / / doaj.org/ toc/ 1649-8526 (21.06.2022). U TLER , Anja (2016): „manchmal sehr mitreißend“. Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte. Bielefeld: transcript. W ERMKE , Jutta (1995): „O-Töne hören. Vom Klang der Welt im Klassenzimmer“. In: ide - Informationen zur Deutschdidaktik 19.4 (= Themenheft Radio hören - Radio machen), 17-29. W ESTERMAYR , Stefanie (2010): Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform. Marburg: Tectum. DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 M ICHAELA S AMBANIS * Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht: Kreativität fördern, funktional-kommunikative Kompetenzen entfalten Abstract. Creativity is considered as a key competence for the 21st century. There is a close link between creativity, language, and performative arts. The article explores these connections by focusing on theatre methods in language teaching and learning. By doing so, empirical findings, including studies from neuroscience on creativity-induced brain activation, are taken into account and connected to earlier theoretical findings on learning processes. Building on that, the potential of improvisation for the foreign language classroom is delineated. As a tool in the classroom, improvisations make it possible to address creativity and to train spontaneous communicative skills, including, amongst others, active listening, gap bridging, deciphering of verbal and nonverbal cues. The article sets out to demonstrate the value of improvisation techniques for the development of functional communicative competences in conjunction with creativity. It closes by offering a set of selected activities for the foreign language classroom. 1. Einleitung Die Idee, Sprachen kunstorientiert zu unterrichten, ist naheliegend. In der Kunst wird Kreativität sensorisch wahrnehmbar, und im Kopf wird Kunst zu Sprache. Folgt man P ESTALOZZI (1877: 87) - „Die Sprache ist eine Kunst - sie ist eine unermessliche Kunst oder vielmehr der Inbegriff aller Künste, wozu unser Geschlecht gelangt ist“ - besteht zwischen Sprache und Kunst eine enge Verbindung: Mit Worten und sprachlichen Klängen kann nicht nur Kunst geschaffen werden, auch das gedankliche Erfassen von Kunst bedarf der Sprache, z.B. in Form von Anschlusskommunikation mit anderen oder als innere Kommunikation mit sich selbst. Das gilt auch für nicht sprachbasierte Kunsterlebnisse, z.B. eine Tanzperformance. Für eine besondere Berücksichtigung der performativen Künste (u.a. Theater, Tanz) setzt sich die Performative Didaktik ein. Sie ist, nachdem eine Diskussion um einen „performative turn“ (J OGSCHIES / S CHEWE / S TÖVER -B LAHAK 2018) bereits seit den 1990er Jahren vor allem im Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften geführt * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Michaela S AMBANIS , Freie Universität Berlin, Institut für Englische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 B ERLIN E-Mail: sambanis@zedat.fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik und Neurowissenschaften, Lehrkräftebildung, Performative Didaktik. Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 89 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 wurde, inzwischen auch in der Fremdsprachendidaktik verankert. Hier steht der performative turn in Verbindung mit der Erweiterung des Konzepts der Handlungsorientierung durch kreative Tätigkeit, ästhetisches Erleben und verkörpertes Lernen. Die Performative Didaktik steht für „forms of teaching which derive from the [performing] arts“ (F LEMING 2018: 8; S CHEWE 2013: 26). C RUTCHFIELD und S CHEWE schreiben dem Theater darin eine besondere Rolle zu, sehen in ihm ein „gateway to a performative teaching and learning culture“ (2017: xvii). Performative Didaktik nutzt „die Formensprache und die methodischen Zugänge des Theaters und wendet diese in Bildungskontexten an“ (W ALTER 2020: 6). Dabei wird zumeist verkörpert gelernt, also durch embodiment/ embodied action (vgl. C RUTCHFIELD / S CHEWE 2017: xiv). Unter embodiment werden Theorien und empirische Evidenz subsumiert, welche die Relevanz von Interaktionen, die sinnliche Erfahrungen ermöglichen und die Motorik adressieren, für Lernprozesse unterstreichen: Solche Erfahrungen führen oft zu nachhaltigeren Lernzuwächsen (vgl. K IEFER 2018: 39). Zu Theatermethoden und embodiment liegen bereits einige Befunde vor (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2020: 11-17), die es erlauben, weiterführende Überlegungen zu Vorgehensweisen anzustellen, um den Fremdsprachenunterricht methodisch zu bereichern und die Kompetenzentwicklung so zu unterstützen, dass auch der Förderung der personalen Fähigkeit ‚Kreativität‘ Raum gegeben werden kann. Performative Ansätze bieten die Möglichkeit, über die Verbindung von sprachlichem Lernen und embodied action, Kreativitätsförderung zu leisten. Auf diese Weise können auch ästhetische Prozesse in den Unterricht eingebracht und so eine Verknüpfung von Sprachenlernen, Theater und Kreativität hergestellt werden. Mehrere zentrale Prozesse beim Sprachenlernen sind auch an Kreativität beteiligt, insbesondere das Entdecken bzw. Herstellen von Verbindungen, das Erbringen mentaler Flexibilität sowie das Schaffen von Vorstellungsbildern. Der vorliegende Beitrag möchte die Verbindung zwischen Sprachenlernen, Theater und Kreativität adressieren und setzt sich dafür zunächst mit der Bedeutung von Kreativität auseinander. Er greift, als Weiterführung der einleitenden Anmerkungen, dafür den fremdsprachendidaktischen Diskurs zu dieser Thematik auf und gibt u.a. Einblicke in neurowissenschaftliche Erkenntnisse dazu, wie das Gehirn Kreativität hervorbringt bzw. wie Kreativität durch ästhetisches Erleben aktiviert wird und wie dies mit lernrelevanten Prozessen verbunden ist. Darauf aufbauend wird exemplarisch über einige Praxisimpulse illustriert, wie Komponenten von Kreativität zusammen mit sprachlichen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht gefördert werden können. Der Fokus wird dabei auf die kommunikativen Kompetenzen Hören und Sprechen gelegt. 2. Definition von Kreativität und Verbindungen zwischen Kreativität und Fremdsprachenunterricht In der Literatur finden sich zwei zentrale Begriffe, um im engeren Sinne kreative Leistungen von Herkömmlichem oder Beliebigem zu trennen: Kreatives zeichnet sich 90 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 durch Neuartigkeit und Angemessenheit aus. „[I]n order for an idea, product, or behavior to be considered creative [,] it must combine originality and appropriateness in the context of a particular task or activity“ (B EGHETTO / K AUFMAN 2016: 69; vgl. L EHMANN 2018: 5). Vielfach wird zwischen little c, also Alltagskreativität, und Big C, großer Kreativität, wie in wichtigen Kunstwerken sichtbar, unterschieden (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2022: 86). Auf den Fremdsprachenunterricht übertragen, könnte als Beispiel für Big C ein gelungenes, von Lernenden verfasstes Gedicht genannt werden. Little c „creativity refers to the process of children creatively constructing and communicating meaning in the everyday, interactional context of the classroom using the foreign language repertoire that they currently have available“ (R EAD 2015: 29). In der psychologischen Kreativitätsforschung sind die Begriffe Produkt, Prozess und persönliche Eigenschaften zentral, man könnte daher von den „drei P“ (Produkt, Person, Prozess) sprechen. Frühere Arbeiten fokussierten die Person, dann rückten auch Prozess und Produkt in den Blick. Aus Sicht der Bildungsforschung stellt Kreativität „eine der wichtigsten Ressourcen unseres Landes“ (H AAGER / B AUDSON 2019: V) dar und wird als Schlüsselkompetenz mit hoher Zukunftsrelevanz betrachtet. Bei ihrer Entwicklung kommt den Künsten eine wichtige Rolle zu: Many challenges of the 21st century (see the Sustainable Development Goals of the UN) […] require creative solutions. […] As early as 2006, at the UNESCO World Congress […] and again in 2010 […], there were calls to strengthen the role of the arts in education. Implementation of these recommendations has, however, been very limited thus far (J OG - SCHIES / S CHEWE / S TÖVER -B LAHAK 2018: o.S.). Kreativität stellt demzufolge noch eine Entwicklungsaufgabe dar und ist zugleich ein bedeutendes, fächer- und stufenübergreifendes Erziehungs- und Bildungsziel. Aber Kreativität im Bildungssystem „verunsichert […], stört […], und […] [ist] (scheinbar! ) weniger wichtig“ (H AAGER / B AUDSON 2019: V-VI) als anderes bzw. angeblich unvereinbar mit ‚richtigem Unterricht‘. Dabei verfolgen gerade Fremdsprachenunterricht und Kreativitätsförderung in vielerlei Hinsicht vergleichbare Ziele, darunter die Entwicklung der Fähigkeit die Perspektive zu wechseln, das Erkennen von Zusammenhängen, das Verbinden von Wissen, das Bilden von Assoziationen und Analogien, das Fördern von Neugier, Offenheit und Spontaneität. 3. Verortung von Kreativität im fremdsprachendidaktischen Diskurs In der Fremdsprachendidaktik spielt Kreativität „spätestens seit Mitte der 1980er Jahre […] eine zunehmend bedeutende Rolle“ (E LIS 2017: 177). So bruchlos, wie es diese Aussage vermuten lässt, war die Entwicklung jedoch nicht: Standardisierungsprozesse verschoben den Schwerpunkt hin zu überprüfbaren Leistungen, und die Kompetenzorientierung schien für viele einen Widerspruch zu Kreativität zu bilden. Kritische Stimmen wurden laut, die einen Umschwung „von der viel gepriesenen Kompetenz(orientierung) hin zur Performanz“ (W ALTER 2020: 3) fordern und die, Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 91 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 z.B. im Licht von Befunden zum Rückgang des kreativen Denkens u.a. im schriftsprachlichen Bereich (vgl. W EINSTEIN et al. 2014), ernstgenommen werden sollten. Tatsächlich mag die Wahrnehmung, im kompetenzorientierten Fremdsprachenunterricht sei kein Raum für Kreativität, berechtigt sein, wenn man, wie nicht selten im öffentlichen Diskurs zu beobachten (vgl. F ROHN / H EINRICH 2018: 67), den Kompetenzbegriff auf die Leistungsdimension reduziert. Kreativität ist, wie E LIS (2017: 177) in Rückgriff auf C ASPARI feststellt, ein didaktisches Prinzip, das sich im Unterricht durch Handlungs- und Prozessorientierung manifestiert und auf sprachliche Erträge zielt. Dabei sind interpersonale Interaktionen, Lernendenorientierung, eine förderliche Lernatmosphäre (die dahinterstehenden Prozesse werden in S AMBANIS / W ALTER 2022 dargestellt) und Offenheit Faktoren, die Kreativität im Fremdsprachenunterricht und Kreativitätsförderung durch sprachliches Lernen ermöglichen können (vgl. E LIS 2017: 177f.). Besonders Formen des kreativen Schreibens, die zu einem freien Umgang mit der Fremdsprache anregen sollen (vgl. ebd.: 178), wie z.B. das Überführen eines Textes in eine andere Textsorte, sind Beispiele, die vielen Lehrkräften bekannt sind. Darüber hinaus können mittlerweile auch neue Textformen, nämlich born-digital texts, erwähnt werden, wobei die Texte im digitalen Medium entstehen und die medialen Möglichkeiten so genutzt werden, dass oftmals auch kollaboratives Arbeiten ermöglicht wird (vgl. L UDWIG 2021). Einen weiteren Aspekt der Kreativitätsdiskussion stellt die flexible Nutzung des Lehrwerks im Fremdsprachenunterricht dar, d.h. vor allem eine Abkehr von einem linearen Abarbeiten des Schulbuchs (vgl. T OMLINSON 2015: 24-28). 4. Förderung von Kreativität beim Sprachenlernen Eine einfache Antwort auf die Frage, wie man Kreativität fördern kann, lautet: indem man sich nicht mit einer einzigen Idee zufriedengibt, sondern versucht, noch andere Wege, Sichtweisen usw. zu finden, d.h. divergent zu denken. Darauf ausgerichtete kognitive Trainings, an denen sich beispielsweise die Aktivität 1000 Arten eine Socke zu benutzen (vgl. B ÖTTGER / S AMBANIS 2021: 155) orientiert, können die Kreativität von Schüler: innen nachweislich steigern (vgl. S WAAB 2017: 203). Solche Aufgaben zielen darauf ab, zu einem Alltagsgegenstand alternative Nutzungszwecke zu finden, um so das Schema des eindimensionalen Denkens zu durchbrechen. Sie sind zugleich Sprechbzw. Schreibimpuls. Im Bereich theaterbasierten Vorgehens gibt es eine Reihe an Impulsen, die auf divergentes Denken abzielen, darunter Klassiker wie Standbildtechniken. Standbilder können u.a. eingesetzt werden, um verschiedene Perspektiven einzunehmen und zu verkörpern (embodiment). Ein weiteres Beispiel wären Spaliertechniken, z.B. die conscience alley (vgl. S AMBANIS 2013: 128, verfilmt auf www.didactx.org/ performative didactx/ ), bei der eine Person durch ein Spalier geht, das von Mitschüler: innen gebildet wird. Die das Spalier bildenden Personen geben nacheinander zu einer vorab gestellten Frage ihren Rat, bieten Lösungsmöglichkeiten usw. an. Das starre Schema 92 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 „eine Frage - eine Antwort“ wird so durchbrochen und kreatives Denken angestoßen. Am Ende des Spaliers wägt die Person die gegebenen Hinweise ab und kann eine Entscheidung fällen. Bei der Spaliertechnik lässt sich gut beobachten, wie herausfordernd es sein kann, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, neue und zugleich angemessene Ideen zu finden. Doch die Ideen fließen nicht immer auf Zuruf, was zu der Frage veranlasst, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um das kreative Denken der Lernenden anzuregen, wenn es ins Stocken gerät. Kontextfaktoren können die Kreativität beeinflussen, und ein solcher Faktor kann das Nutzen einer Fremdsprache sein, denn: „[speaking and] thinking in a foreign (vs. native) language moves the individuals away from conventional and habitual modes of thought and thus boosts creativity. […] [B]eing creative implies the attempt to avoid conventional routes of thinking“ (S TEPHAN 2017: 426). In der Studie, die diesem Schluss zugrunde liegt, wurde untersucht, ob sich Unterschiede feststellen lassen, wenn die Proband: innen entweder in ihrer L1 oder in der Fremdsprache Englisch instruiert werden und im Anschluss eine nonverbale Kreativitätsaufgabe lösen. Bei den Teilnehmenden (N = 63) handelte es sich um Studierende, beurteilt wurden Kreativität und Originalität der entstehenden Produkte durch zwei unabhängige Rater. Die Gruppe, in der die Fremdsprache für die Instruktion genutzt worden war, erzielte höhere Werte, wobei ein t-Test einen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen ergab. In einer zweiten Studie (N = 93) mit Modifikation der Kreativitätsaufgabe zeigte sich ebenfalls: „activating a foreign language mindset can enhance creativity“ (ebd.: 429). Weitere, aus sprachdidaktischer Sicht interessante Befunde betreffen das Geschichtenerzählen oder -vorlesen. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie über Sprache Kreativität gefördert werden kann: Beim Versuch, eine Geschichte zu verstehen, produzieren Zuhörende Vorstellungsbilder. Der Fähigkeit, Sprache in Vorstellungsbilder zu überführen, kommt eine Schlüsselrolle bei der Kreativitätsentwicklung zu. Die bei Erzählereignissen aktivierte Verbindung von Sprachzentren mit Zentren für die bildhafte Vorstellung liegt „nach heutigen Erkenntnissen unserer Kreativität direkt zugrunde“ (S PITZER 2019: 497). Der Aufbau dieser Verbindung im Gehirn wird durch das Vorlesen oder Erzählen von Geschichten gefördert, und auch zahlreiche vom Theater inspirierte Unterrichtsaktivitäten adressieren die Imagination. 5. Kreativität und ästhetisches Erleben: Hinweise aus der Hirnforschung und Verbindungen zu lernrelevanten Prozessen Eine erste Frage, die in der Regel in Zusammenhang mit Gehirn und Kreativität gestellt wird, ist die, ob es stimmt, dass eine der beiden Hemisphären die ‚kreative‘ sei. Die Antwort lautet: Nein. Die Annahme, nur eine Hirnhälfte wäre für Kreativität zuständig, ist ein eindrucksvolles Beispiel für einen Neuromythos, der sich als sehr beharrlich erwiesen hat. Er besagt, dass nur die rechte Hälfte des Gehirns zur Kreativität beiträgt. Daraus wird mitunter gefolgert, dass es ‚rechts-‘ und ‚linkshirnige‘ Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 93 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 Menschen gebe. Rechtshemisphäriker: innen sollen dieser Annahme nach kreativ sein, die anderen eher nicht. Das klingt griffig und scheint zugleich auf ein vermeintliches Defizit aufmerksam zu machen, das ausbalanciert werden müsste, wenn man sein volles Potenzial entfalten möchte: Gelänge es z.B. einer angeblich rechtshemisphärischen Person, auch die linke Hirnhälfte voll zu nutzen, könnte sie sich deutlich optimieren, so die Behauptung von Anbietern entsprechender Tests und Trainingsprogramme, die den Glauben an diesen Mythos nutzen. Die Annahme steht jedoch in klarem Widerspruch zur empirischen Erkenntnislage. Die meisten Leistungen des Gehirns entstehen erst durch die Interaktion größerer Netzwerke und die Kommunikation zwischen rechter und linker Hemisphäre. Bei kreativen Aufgaben zeigt sich ein jeweils zur Aufgabe passendes kortikales Aktivierungsmuster. Oftmals sind daran Sprachzentren beteiligt, außerdem Schaltkreise für Aufmerksamkeit, Gedächtnis- und Steuerungsprozesse, also exekutive Funktionen, für die hinter der Stirn verortete Hirnregionen, insbesondere der präfrontale Cortex, wichtig sind. Der präfrontale [C]ortex steht im Zentrum kreativer Prozesse. Zwischen dieser Hirnregion und dem Persönlichkeitsmerkmal «Offenheit» besteht ein Zusammenhang. Kreative Menschen verfügen [u.a.] im hinteren Teil des rechten Temporallappens über mehr graue Substanz, also über mehr Hirnzellen und Verbindungen zwischen ihnen, was ebenfalls mit dem Persönlichkeitsmerkmal «Offenheit» korreliert (S WAAB 2017: 203, vgl. S AMBANIS / W AL - TER 2022: 90f. für eine Zusammenfassung dazu, wie in den Neurowissenschaften Daten zu Kreativität generiert werden). Die hier erwähnten exekutiven Funktionen sind als Überbegriff für eine ganze Bandbreite an Fähigkeiten zu verstehen, die für das Erreichen von Zielen notwendig sind. Die Zuordnung zu den drei Bereichen Inhibition, Arbeitsgedächtnis und kognitive Flexibilität bietet sich als eine Systematisierung an (vgl. A RNDT / S AMBANIS 2017: 71). Exekutive Funktionen bilden die Grundlage für alle höheren kognitiven Leistungen und haben dadurch enormen Einfluss auf die schulisch-akademische Entwicklung und den Lebenserfolg. Kreative Aufgaben ermöglichen das Adressieren exekutiver Funktionen und bieten in der Regel zugleich Möglichkeiten zu sprachlichem Ausprobieren im Sinne der von E SCHENAUER (2019) empfohlenen ‚démarche du tâtonnement‘, die Offenheit und neugieriges Experimentieren fördern möchte. Neben der Aktivierung der oben benannten Schaltkreise durch kreative Aufgaben können durch den Einbezug der Künste in den Fremdsprachenunterricht auch Gelegenheiten des ästhetischen Erlebens geschaffen werden. Auch diese gehen mit einer spezifischen Aktivierung im Gehirn einher. Ausgehend von neuroästhetischer Forschung zur Identifikation der Hirnmechanismen, die ästhetischem Erleben und Urteilen zugrunde liegen, ist es möglich, die beteiligten Schaltkreise zu benennen und Verbindungen zu lernrelevanten Prozessen herzustellen. So kommt dem Belohnungssystem im Gehirn eine zentrale Rolle beim ästhetischen Erleben zu: „Eine angenehme ästhetische Erfahrung wird vom Belohnungssystem verursacht. […] [B]ei etwas Schönem [wird] vor allem die rechte Amygdala aktiv“ (S WAAB 2017: 2020), d.h. Teile des limbischen Systems, welches für Emotionsverarbeitung zuständig ist. Das 94 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 Belohnungssystem sorgt dafür, dass der Neurotransmitter Dopamin ausgeschüttet wird und große Teile des Frontalhirns überschwemmt. Dadurch werden Verbindungen zwischen jenen Nervenzellen verstärkt, die in der ästhetischen (Lern-)Situation gerade aktiv waren. Auf diese Weise kann ästhetisches Erleben zu einer tieferen Verarbeitung beitragen. Während den exekutiven Funktionen bei kreativen Aufgaben eine zentrale Rolle zukommt - frontale Regionen sind an Kreativität in der Regel immer beteiligt, da zumindest die Ausrichtung von Aufmerksamkeit dabei meistens erforderlich ist - gilt dies für das Belohnungssystem beim ästhetischen Erleben. Das Belohnungssystem steht in Verbindung zu Motivation und dem sogenannten Annäherungsverhalten. Das Belohnungssystem sorgt dafür, dass sich angenehme Empfindungen einstellen, wenn Herausforderungen gemeistert werden. Zugleich erwacht in der Person der Wunsch, angenehme Erfahrungen zu wiederholen (vgl. A RNDT / S AMBANIS 2017: 126), was aber nur gelingt, wenn man sich erneut Herausforderungen stellt. So kommt es zu Annäherungsverhalten, man nimmt weitere Herausforderungen an oder sucht sie sogar aktiv. Eine besondere Art des Annäherungsverhaltens entsteht in Verbindung mit Neugier. Sie kann Menschen dazu bringen, sich in unbekannte Situationen zu begeben. Dabei wirken Furcht und Vorsicht einerseits, Wagemut und Annäherungsverhalten andererseits. Das Gehirn nutzt Erfahrungen und schätzt ab, ob sich die neue Situation als belohnend erweisen könnte. Auch hieran sind Bereiche des präfrontalen Cortex beteiligt. Verspricht „die Situation die Möglichkeit [,] sich neue Belohnungsquellen zu erschließen“ (ebd.), geht von ihr ein besonders großer Anreiz aus, die Annäherungskomponente überwiegt die Furchtkomponente. Die Aktivierung dieses Systems „führt dazu, dass neue Erfahrungen gemacht werden, Verhalten wiederholt und damit eingeübt wird“ (ebd.). Die Bedeutung der oben bereits erwähnten positiven Lernatmosphäre kann in Zusammenhang mit erhofftem Belohnungserleben illustriert werden: In Fällen, in denen eine erwartete Belohnung ausbleibt, hat sie besonderen Einfluss darauf, wie das Erlebte verarbeitet wird. Scheitert ein Lernender, kann das Angst auslösen. Erfolgt das Scheitern jedoch in einem Umfeld, in dem der Lernende Rückhalt erfährt und Fehler als Impulse zur Weiterentwicklung, statt als peinliche Makel angesehen werden, müssen Situationen, in denen eine erwartete Belohnung ausbleibt, keine Furcht auslösen. Vielmehr aktivieren sie dann das zweite für Lernprozesse relevante System, das Verhaltenshemmsystem. Dieses stoppt das aktuelle Verhalten und erlaubt es, die gewählte, nicht zielführende Handlung zu bewerten sowie durch divergentes Denken nach Alternativen zu suchen. Durch das Verhaltenshemmsystem im Gehirn wird Lernen aus Fehlern ermöglicht. Kontextfaktoren, insbesondere die Lernatmosphäre, tragen im günstigen Fall dazu bei, dass das System aktiviert werden kann, in ungünstigeren Fällen verhindern sie es und führen dazu, dass es stattdessen zu einer Aktivierung des Kampf-Flucht-Systems im Gehirn kommt. Ausgelöst wird das Kampf-Flucht-System insbesondere durch Schmerzreize oder soziale Situationen, die als unangenehm erlebt werden, wie beispielsweise das Bloß- Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 95 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 stellen nach einem Fehler. Dies führt zur Freisetzung von Stresshormonen, durch die der Körper in Kampf- oder Fluchtbereitschaft versetzt wird. Schaltstelle dieser enorm schnellen Reaktion ist die Amygdala. Ziel ist es, Schaden abzuwenden bzw. das Überleben zu sichern. Das Kampf-Flucht-System ermöglicht sogenanntes Angstlernen: Fasst beispielsweise ein Kind auf eine heiße Herdplatte, reagiert das System auf den Schmerzreiz und koppelt diesen an den situativen Kontext. Das Angstlernen unterscheidet sich wesentlich vom sonstigen Lernen: Während Lernen eigentlich darauf zielt, etwas ‚tun zu können‘, führt Angstlernen dazu, etwas möglichst ‚nicht mehr zu tun‘. Wie kann es also gelingen, Motivation und Lernfreude (Belohnungssystem) sowie das Lernen aus Fehlern (Verhaltensstoppsystem) im Fremdsprachenunterricht zu ermöglichen? Theatermethoden wird, im Hinblick auf emotionale, soziale, aber auch kognitive und sprachliche Faktoren, oftmals ein besonderes Potenzial zugesprochen (vgl. G EHRING 2017; M OROSIN 2018). Um dieses Potenzial nutzen zu können, scheint es wichtig, theaterbasierte Aktivitäten planvoll in den Unterricht einzubringen und sie im Anschluss zumindest durch eine kurze Reflexion abzurunden. Die Schüler: innen sollten die Möglichkeit haben, Unterstützung zu nutzen oder anzufordern. Diese Unterstützung kann z.B. in Form von Materialien erfolgen oder durch Kollaboration. Ein weiterer wertvoller Impuls wurde bereits 2001 von Jürgen K URTZ mit dem Beispiel des Improvisationsspiels Bus-Stop in die Diskussion eingebracht: Zwei Lernende, die als Wartende an einer Bushaltestelle sitzen, entwickeln spontan ein Gespräch. Wird das Aufrechterhalten des Gesprächs mit der Zeit als zu schwierig empfunden, darf ein Notausgang genutzt werden: Einer der Agierenden erklärt, der Bus komme, und verabschiedet sich. Die Idee, einen Notausgang zu schaffen, ließe sich bei vielen Theaterimpulsen anwenden, findet aber in der Praxis noch relativ wenig Berücksichtigung, dabei erlaubt diese im Grunde einfache Option es, dem Eingreifen des Kampf-Flucht-Systems entgegenzuwirken. 6. Sprachliches Lernen und Kreativitätsförderung mit Improvisationen Mit dem Einsatz von Improvisationen soll vor allem die Entwicklung der spontanen Sprech-Handlungsfähigkeit unterstützt werden, d.h. des improvisierenden Sprechens (vgl. K URTZ 2001). Improvisationen stehen aber nicht nur in Verbindung mit funktional-kommunikativen Lernzielen, sondern auch mit Kreativität und Spontaneität. Das Unvorhergesehene ist ein Grundmerkmal von Kommunikation. Bei kommunikativen Interaktionen greifen „mündliche Routine- und Stegreifhandlungen ineinander“ (K URTZ 2017: 135), d.h. Interaktionen folgen in Teilen Konventionen und etablierten Mustern, sind aber in Teilen auch dynamisch und unvorhersehbar: „Die Kunst des Gesprächs besteht darin, auf das, mit dem man nicht gerechnet hat, in passender Weise zu reagieren“ (B ERTRAM / R ÜSENBERG 2021: 40). Die Fähigkeit zur Improvisation in Interaktionen muss entwickelt werden, denn „[w]er keine improvisatorischen 96 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 Fähigkeiten erworben hat, kann in unerwarteten Situationen nicht bestehen“ (ebd.: 15). Der Fremdsprachenunterricht muss beides beinhalten, Routine- und Stegreifhandlungen, wobei sich in der Praxis nach wie vor eine „Dominanz skriptgebundener Unterrichtskommunikation“ feststellen lässt (K URTZ 2017: 135), die es durch geeignete Interaktionen aufzubrechen gilt (vgl. M ACKEY 2020 zur Erforschung von Interaktion im Fremdsprachenunterricht). Improvisationen bilden ein Werkzeug, das es erlaubt, die Stegreifkomponente zu berücksichtigen. Improvisationsübungen basieren auf dem spontanen Kreieren von Szenen, samt handelnder Charaktere und deren kommunikativer Interaktionen. Durch Improvisationen kann skriptgebundene Unterrichtskommunikation aufgebrochen, spontane Kommunikations- und Interaktionskompetenzen geschult und dabei zugleich die Problemlösefähigkeit sowie die Kreativität der Schüler: innen adressiert werden (vgl. S CHWENKE et al. 2021: 32). In einem Projekt von S CHWENKE et al. (2021) mit einem sechswöchigen theaterbasierten Interventionsprogramm lag ein Forschungsfokus auf der Kreativität. Im Zentrum der Intervention standen Improvisationsübungen, mit denen jeweils in Doppelstunden gearbeitet wurde. Die Studie stützte sich auf ein Experimental-Kontrollgruppen-Design, die Stichprobengröße lag bei N = 58, das durchschnittliche Alter bei 26,5 Jahren. Die Datenerhebung erfolgte prä und post über sechs verschiedene Instrumente (Tests und Fragebögen). Es zeigte sich „that improv supports participants’ creativity“ (ebd.: 31). Während im Feld verschiedene Faktoren diskutiert werden, um das Zustandekommen von kreativen Leistungen zu erklären - u.a. Inkubation nach Wallas (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2022: 86f.) - stützte sich die Arbeit von S CHWENKE et al. (2021) vorrangig auf den in der Kreativitätsforschung verbreiteten kognitiven Ansatz nach G UILFORD (1967), der zwischen konvergentem und divergentem Denken unterscheidet: „Whereas convergent thinking leads to the […] single best answer to a problem, divergent thinking explores many different possible solutions. Divergent thinking tasks are therefore considered as a valid measurement for creativity“ (S CHWENKE et al. 2021: 33). Es liegen empirische Nachweise für positive Effekte von Improvisationstrainings auf divergentes Denken vor (vgl. ebd.: 32). Die Forschenden berichten von hohen Teilnahmeraten, wobei die niedrige Drop-Out-Rate von nur ca. 11% (verglichen mit etwa 30% in der Kontrollgruppe) auf große Akzeptanz der Improvisationsangebote schließen lässt. Im Hinblick auf messbare Erträge zeigten sich im Prä- Post-Vergleich deutlich größere Zuwächse der Kreativität bei der Gruppe, die das Improvisationsprogramm durchlaufen hatte (ebd.: 39). Diese Studienergebnisse seien „conclusive evidence that improv promotes peoples’ ability to find creative and resourceful solutions and that therefore it can help us to think in more diverse ways or even break away from ingrained patterns of behavior“ (ebd.: 40f.). Die Daten stützen die Annahme, dass durch Improvisationsübungen wichtige Komponenten von Kreativität gefördert werden können. Die entscheidende Anschlussfrage aus fremdsprachendidaktischer Sicht lautet: Lassen sich auch Potenziale im Hinblick auf das sprachliche Lernen erkennen? Die Forschenden führen hierzu aus, dass die Teilnehmer: innen des Improvisationstrai- Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 97 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 nings mehr „improvement in verbal productive creativity“ (ebd.: 40) zeigten als jene in der Kontrollgruppe. Im Hinblick auf die Hirnaktivierung bei Improvisationen ist neben der jeweils für die spezifische Aufgabe erforderlichen Aktivierung besonders der Beitrag des präfrontalen Cortex hervorzuheben. Dieser wirkt, wie oben dargelegt, an kreativen Prozessen in der Regel mit, bei Improvisationen ermöglicht er das Speichern abstrakter Konzepte, das Herausfiltern von Prinzipien und das Anwenden von Regeln (vgl. S WAAB 2017: 210). Dies kann als empirischer Hinweis darauf gewertet werden, dass Improvisation keineswegs ein „regelloses Tun“ ist (B ERTRAM / R ÜSENBERG 2021: 15). Entscheidend ist bei Improvisationen das Arbeitsgedächtnis im präfrontalen Cortex: Es arbeitet, je nach Aufgabe, mit unterschiedlichen anderen corticalen Regionen und subcorticalen Strukturen zusammen. Das Arbeitsgedächtnis speichert Informationen und zwar zugleich solche aus den Sinnessystemen sowie situativ Relevantes aus dem Langzeitgedächtnis. Bei der Gedächtnisbildung werden im Arbeitsgedächtnis Informationen nochmals analysiert und dadurch tiefer verarbeitet (vgl. A RNDT / S AMBANIS 2017: 168). Ein weiterer bemerkenswerter Befund aus Studien zur Hirnaktivierung bei Improvisationen betrifft Verbindungen, die ebenfalls für Lernprozesse von Bedeutung sind: „Emotionen und Kreativität sind in der Improvisation eng miteinander verbunden“ (S WAAB 2017: 210; zu Emotionen vgl. B URWITZ -M ELZER / R IEMER / S CHMELTER 2020). Der Einsatz von Improvisationen soll Lernende auch emotional ansprechen und durch das Adressieren des episodischen Gedächtnisses den Zugang zu weiteren Gedächtnissystemen ermöglichen und so die Gedächtnisbildung anstoßen. Improvisationen im Unterricht folgen zwei Leitprinzipien, nämlich dem yes, and …-Prinzip und dem mistakes are gifts-Prinzip (vgl. S CHWENKE et al. 2021: 32). Das erste Prinzip besagt, dass in der Improvisation das angenommen wird, was ein Agierender einbringt; der oder die andere reagiert spontan darauf und führt die Interaktion weiter. In Notfällen, d.h. bei inakzeptablen Äußerungen, kann die Lehrkraft jederzeit eingreifen, ansonsten sollte eine bei Bedarf auch kritische Reflexion in die anschließende Phase verlegt werden, um die Entfaltung der spontanen Sprachhandlung nicht zu stören. Die Annahme des zweiten Prinzips bringt Lehrkräfte mitunter in einen Zwiespalt: Fehler als Geschenke anzusehen, ist nicht immer einfach, denn angesichts der geforderten Sprachlernerträge müssen im Unterricht korrektive Maßnahmen ergriffen werden. Bei Improvisationen gilt: Fehler stehen nicht im Fokus, aber oftmals treten sie erst in der spontanen Verwendung der Fremdsprache zutage und blieben sonst vielleicht verborgen. So betrachtet kann das Auftreten von Fehlern tatsächlich als Geschenk angesehen werden. Improvisationen ermöglichen es zu erkennen, wo noch Klärungs- und Übungsbedarfe bestehen. 98 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 7. Umsetzungsbeispiele für die Praxis Im Folgenden werden zwei Umsetzungsbeispiele für die Praxis vorgestellt. Sie legen den Schwerpunkt auf drei wesentliche Elemente, nämlich das yes, and …-Prinzip, das Schaffen eines Notausgangs und das Trainieren von exekutiven Funktionen, gekoppelt an spontane Sprachanwendung. Mit dem Improvisationsimpuls Ja genau. Und dann? (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2020: 27) wird das yes, and …-Prinzip konsequent umgesetzt. Des Weiteren wird durch die direkte Verbindung von Sprache und Bewegung (Mimik, Gestik, Körpersprache) embodiment erreicht: Zwei Lernende nehmen einen Dialog auf, der mit der Frage Weißt du noch, wie wir gestern aufgestanden sind? beginnt und gefolgt wird von Ja genau. Und dann… Eingangsfrage und Satzanfang werden in der unterrichteten Fremdsprache vorgegeben. Die Schüler: innen führen den Satzanfang fort, wobei das Gesagte von beiden Beteiligten gestisch und mimisch umgesetzt wird. Die beiden versuchen, durch sprachliche Mittel und kommunikative Strategien das Gespräch aufrecht zu erhalten, jeweils unter Verwendung desselben Satzanfangs. Die Lernenden agieren dabei in Rollen, die sie selbst spontan schaffen. Das Agieren in der Rolle ermöglicht eine Distanzierung, was die Annahme des yes, and …-Prinzips erleichtert: Die Lernenden berichten in der Improvisation nicht von dem, was sie tatsächlich am Vortag erlebt haben, sondern werden erfinderisch und denken sich Ereignisse aus. Mitunter ergibt sich nach einer Weile ein stimmiges Ende (wie z.B. in der Verfilmung dieser Improvisation auf www.didactx.org/ performativedidactx/ ), häufiger aber ist das Ende, wie oben bereits für Alltagsimprovisationen dargelegt, ungewiss, und viele Lernende zögern oder finden spontan keinen passenden Abschluss. Hier kann die Strategie eines Notausgangs sinnvoll eingesetzt werden. Vor Beginn der Improvisation, die übrigens im Unterricht auch gleichzeitig von mehreren Lernerpaaren durchgeführt werden kann (vgl. die Verfilmung), wird ein „magisches Wort“ oder eine Schlusssequenz vereinbart, mit der das Gespräch jederzeit beendet werden kann. Im Fall von Ja genau. Und dann? könnte die Schlusssequenz, ebenfalls in der jeweiligen Fremdsprache formuliert, z.B. lauten: Ja genau. Und dann bin ich aufgewacht und merkte, dass alles nur ein Traum war oder Ja genau. Und dann kann uns plötzlich niemand mehr (von euch) sehen und hören, weil die Übertragung gerade zusammengebrochen ist. Auch Was machst du gerade? - eine bewegte Überforderung verbindet Sprache mit Bewegung und stützt sich auf spontansprachliche Beiträge der Schüler: innen. Da bei dieser Improvisationsübung (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2020: 24) die einzelnen Redebeiträge nicht aufeinander bezogen werden müssen, erscheint sie auf den ersten Blick einfacher und kann auch schon auf niedrigeren Kompetenzstufen eingesetzt werden: Die Lernenden benennen Alltagstätigkeiten und stellen diese körperlich dar. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass der Impuls, selbst wenn er mit einfachen sprachlichen Mitteln gestaltet wird, herausfordernd ist, weil er zugleich die zentralen Exekutivfunktionen trainiert. Ihre enge Verbindung zu Kreativität wurde bereits erläutert. Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 99 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 Für Was machst du gerade? trifft sich die Klasse im Stehkreis. Die Übung wird in zwei Schwierigkeitsstufen durchgeführt: Auf Stufe 1 benennen jede: r Lernende und die Lehrkraft spontan jeweils eine Tätigkeit (z.B. Ich wasche meine Hände) und mimen dazu. Die Lernenden können vor Spielbeginn einige Tätigkeiten zusammentragen und eine kleine word bank erstellen, auf die - als eine Art Scaffolding - zurückgegriffen werden kann. Der Reihe nach tragen alle bei. Bei Stufe 2 von Was machst du gerade? ändert sich nur ein Detail im Ablauf, dieses ist jedoch so gewählt, dass dadurch die Herausforderung deutlich steigt: zum Versuch, spontan Ideen zu finden und diese unmittelbar zu versprachlichen, kommen besondere Anforderungen an die exekutiven Funktionen hinzu. Die Regeln auf Stufe 2 besagen, dass man die Bewegung der Vorrednerin oder des Vorredners ausführt, während man selbst eine andere Tätigkeit benennt (z.B. mimt man Händewaschen, während man Ich spiele gerade Fußball sagt). Auf diese Weise entsteht für einen kurzen Moment eine Dissonanz zwischen Inhalt und Geste, die aber mit dem nächsten Beitragenden wieder aufgelöst wird, denn dann folgt die Bewegung, die zum Fußballspielen passt. Stufe 2 erfordert aufmerksames Zuhören, zumindest den Beitrag der Vorrednerin oder des Vorredners muss man im Arbeitsgedächtnis halten. Zugleich gilt es, eine eigene Idee zu generieren und diese spontansprachlich einzubringen. Außerdem muss beim Sprechen der Impuls unterdrückt werden, die aktuell benannte Handlung in Bewegung umzusetzen (Inhibition). Stattdessen muss die vorherige Information aus dem Arbeitsgedächtnis reaktiviert werden, und man muss sich kognitiv flexibel zeigen, um eine dazu passende Bewegung mit der neu eingebrachten Idee zu verbinden (Shifting, kognitive Flexibilität, Aushalten von Dissonanz). Mitunter sorgt der kleine Dissonanz- Moment sogar für Zuordnungen, die einer gewissen Komik nicht entbehren. In manchen Klassen beginnen Lernende daraufhin, durch ihre Beiträge Dissonanzen zu suchen, um die anderen zum Lachen zu bringen. Das erhöht den Anspruch, denn diese Lernenden streben nach Originalität, sind also in besonderem Maße kreativ. Gemeinsames Lachen stärkt soziale Bindungen und kann zu einer guten Lernatmosphäre beitragen (vgl. S AMBANIS / W ALTER 2022: 72). 8. Schlussbemerkungen Im Fokus dieses Beitrags stand die Verbindung zwischen Sprachenlernen, Theater und Kreativität. Das dem Theater in der fremdsprachendidaktischen Fachliteratur zugesprochene Potenzial konnte bestätigt werden und zwar im Sinne höchsteigener Möglichkeiten, die vor allem im Hinblick auf die Entfaltung funktional-kommunikativer Kompetenzen wertvoll erscheinen. Echte sprachliche Interaktionen sind zumindest in Teilen unvorhersehbar und verlangen nach Improvisation. Improvisationen wiederum können als kreative Prozesse definiert werden. Theater, Kreativität und Sprachenlernen bilden damit einen Dreiklang. Verbindungen wurden im vorliegenden Beitrag dargelegt und empirisch durch Befunde aus den Neurowissenschaften gestützt. Resümierend betrachtet erscheinen Theaterimpulse - und innerhalb des 100 Michaela Sambanis DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 52 • Heft 1 Theaters insbesondere die Improvisation - nicht nur als nice to have, sondern als ein kaum ersetzbares Methodenelement des Fremdsprachenunterrichts. Literatur A RNDT , Petra A. / S AMBANIS , Michaela (2017): Didaktik und Neurowissenschaften - Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis. Tübingen: Narr. B EGHETTO , Ronald A. / K AUFMAN , James C. (²2016): „Ever-broadening conceptions of creativity in the classroom“. In: B EGHETTO , Ronald A. / K AUFMAN , James C. (Hrsg.): Nurturing Creativity in the Classroom. Cambridge: CUP, 67-85. B ERTRAM , Georg W. / R ÜSENBERG , Michael (2021): Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Stuttgart: Reclam. B ÖTTGER , Heiner / S AMBANIS , Michaela (²2021): Sprachen lernen in der Pubertät. Tübingen: Narr. B URWITZ -M ELZER , Eva / R IEMER , Claudia / S CHMELTER , Lars (Hrsg.) (2020): Affektiv-emotionale Dimensionen beim Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen. Tübingen: Narr. E SCHENAUER , S ANDRINE (2019): Pourquoi et en quoi la créativité a-t-elle sa place en classe de langue(s)? Conférence de Consensus sur les Langues Vivantes (CNESCO). https : / / hal.archives-ouvertes.fr/ hal-02103748/ document (26.10.2022). C RUTCHFIELD , John / S CHEWE , Manfred (Hrsg.) (2017): Going Performative in Intercultural Education. International Contexts, Theoretical Perspectives and Models of Practice. Clevedon: Multilingual Matters, xi-xxv. E LIS , Franziska (2017): „Kreativität“. In: S URKAMP (Hrsg.), 177-179. F LEMING , Mike (2018): „Performativity, learning and aesthetic education“. In: M ENTZ , Olivier / F LEINER , Micha (Hrsg.): The Arts in Language Teaching. International Perspectives: Performative - Aesthetic - Transversal. Münster: LIT, 6-20. F ROHN , Julia / H EINRICH , Martin (2018): „Inkompetente Kompetenzorientierung? Das verkürzte Verständnis der Kompetenzorientierung und die Konsequenzen für die Lehrkräfteausbildung und Lehrkräftefortbildung“. In: DDS - Die Deutsche Schule 110.1, 65-74. G EHRING , Wolfgang (2017): Mit den Künsten Englisch unterrichten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. G UILFORD , Joy Paul (1967): The Nature of Human Intelligence. New York: McGraw-Hill. H AAGER , Julia S. / B AUDSON , Tanja G. (Hrsg.) (2019): Kreativität in der Schule - finden, fördern, leben. Wiesbaden: Springer. J OGSCHIES , Bärbel / S CHEWE , Manfred / S TÖVER -B LAHAK , Anke (2018): „Recommendations for promoting a performative teaching, learning, and research culture in higher education“. In: Scenario XII/ 2. https: / / cora.ucc.ie/ bitstream/ handle/ 10468/ 7738/ Recommendations_..._Schewe.pdf? sequence= 1&isAllowed=y (07.04.2022). K IEFER , Markus (2018): „Verkörperte Kognition: Die Verankerung von Denken und Sprache in Wahrnehmungs- und Handlungserfahrung“. In: B ÖTTGER , Heiner / S AMBANIS , Michaela (Hrsg.): Focus on Evidence II - Netzwerke zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr, 31-49. K URTZ , Jürgen (2001): Improvisierendes Sprechen im Fremdsprachenunterricht. Eine Untersuchung zur Entwicklung spontansprachlicher Handlungskompetenz in der Zielsprache. Tübingen: Narr. K URTZ , Jürgen (2017): „Improvisation“. In: S URKAMP (Hrsg.), 135-136. L EHMANN , Konrad (2018): Das schöpferische Gehirn. Berlin: Springer. Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht 101 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0007 L UDWIG , Christian (2021): „Teaching literature with digital media“. In: L ÜTGE , Christiane / M ERSE , Thorsten (Hrsg.): Digital Teaching and Learning: Perspectives for English Language Education. Tübingen: Narr, 209-232. M ACKEY , Alison (2020): Interaction, Feedback and Task Research in Second Language Learning. Methods and Design. Cambridge u.a.: CUP. M ALEY , Alan / P EACHEY , Nik (Hrsg.) (2015): Creativity in the English Language Classroom. London: British Council. M OROSIN , Maria Simona (2018): Project NPA. Neurodidactics of Performing Arts: The Impact of Drama Teaching on Second Language Acquisition. Milano: Ledizioni. P ESTALOZZI , Johann Heinrich (1877): Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Wien: A. Pichlers Witwe & Sohn. R EAD , Carol (2015): „Seven pillars of creativity in primary ELT“. In: M ALEY / P EACHEY (Hrsg.), 29- 36. S AMBANIS , Michaela (2013): Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr. S AMBANIS , Michaela / W ALTER , Maik ( 2 2020): In Motion - Theaterimpulse zum Sprachenlernen. Von neuesten Befunden der Neurowissenschaft zu konkreten Unterrichtsimpulsen. Berlin: Cornelsen. S AMBANIS , Michaela / W ALTER , Maik (2022): Make it work! Interaktive Impulse zum Sprachenlernen. Von neuesten Befunden der Neurowissenschaft zu konkreten Unterrichtsimpulsen. Berlin: Cornelsen. S CHEWE , Manfred (2013): „Takingstock and looking ahead: drama pedagogy as a gateway to a performative teaching and learning culture“. In: Scenario 1, 5-27. S CHWENKE , Diana / D SHEMUCHADSE , Maja / R ASEHORN , Lisa / K LARHÖLTER , Dominik / S CHERBAUM , Stefan (2021): „Improv to improve: the impact of improvisational theater on creativity, acceptance, and psychological well-being“. In: Journal of Creativity in Mental Health 16.1, 31-48, DOI: 10.1080/ 15401383.2020.1754987. S PITZER , Manfred (2019): „Geschichten und Gehirnentwicklung“. In: Nervenheilkunde 38, 496-498. S TEPHAN , Elena (2017): „The influence of a foreign versus native language on creativity“. In: Creativity Research Journal 29.4, 426-432, DOI: 10.1080/ 10400419.2017.1376544. S URKAMP , Carola (Hrsg.) ( 2 2017): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler. S WAAB , Dick (2017): Unser kreatives Gehirn. Wie wir leben, lernen und arbeiten. München: Droemer. T OMLINSON , Brian (2015): „Challenging teachers to use their coursebook creatively“. In: M ALEY / P EACHEY (Hrsg.), 24-28. W ALTER , Maik (2020): „Von der Einzigartigkeit des Unterrichtens“. In: Fremdsprache Deutsch 62, 3-8. W EINSTEIN , Emily C. / C LARK , Zachary / D I B ARTOLOMEO , Donna J. / D AVIS , Katie (2014): „A decline in creativity? It depends on the domain“. In: Creativity Research Journal 26.2, 174-184. DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 A NIKA M ARXL , R ICARDO R ÖMHILD * Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht Ein Beitrag zur Ausdifferenzierung eines Leitkonzepts schulischer Bildung Abstract. With their definition of the ability to participate in discourses, the German educational standards open venues for a primarily functional understanding of this superordinate goal of language education. However, such a notion of discourse literacies may be seen as anachronistic since discourses are always related to questions of power and values. Consequently, learners need to develop critical discourse literacy in addition to functional communicative skills. This article seeks to identify the critical components of the ability to participate in discourses and suggests a two-fold concept of critical discourse literacies. Against the background of a discussion of existing approaches to discourse literacies in language education, this contribution argues for both the development of an awareness of discursive structures and the consideration of human rights as a value base for critical (self)reflection when it comes to preparing learners for participation in global discourses. 1. Diskurse und Diskursfähigkeit im 21. Jahrhundert Die globalisierten und digitalisierten Diskurse des 21. Jahrhunderts eröffnen immer neue Möglichkeiten der sozialen Teilhabe, und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (bspw. Black Lives Matter, Fridays for Future) verdeutlichen, dass junge Menschen zur kritischen und reflektierten Teilhabe an diesen Diskursen befähigt werden sollten. Dies erfordert von Lernenden aber ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, um sich selbst als aktive Partizipant: innen an globalen Diskursen zu verstehen und nicht nur als passive Konsument: innen (vgl. H EIDT 2015: 14). Dabei bleibt P ENNYCOOKS * Korrespondenzadressen: Anika M ARXL , wiss. Mitarbeiterin, Englisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Johannisstr. 12-20, 48143 M ÜNSTER E-Mail: marxl@uni-muenster.de Arbeitsbereiche: Sprachmittlung, Global Citizenship Education, Service Learning Ricardo R ÖMHILD , wiss. Mitarbeiter, Englisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Johannisstr. 12-20, 48143 M ÜNSTER E-Mail: ricardo.roemhild@wwu.de Arbeitsbereiche: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Dokumentarfilmdidaktik, Global Citizenship Education N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 103 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 Forderung aktuell, dass fremdsprachliche Bildung ein Verständnis von „language in contexts“ priorisieren muss, welches kritische Fragen im Zusammenhang mit Zugänglichkeit, Macht, Ungleichverteilung, Selbstermächtigung und Widerstand aufwirft (2001: 5). Sprache im Kontext zu betrachten, bedeutet darüber hinaus aber auch anzuerkennen, dass Diskurse an Werte und Normen geknüpft sind, die stets mitverhandelt werden müssen. Diesen Einsichten entgegen leisten übergreifende bildungspolitische Dokumente wie die Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache im Abitur (KMK 2003, 2004, 2014) jedoch einem vor allem funktional-pragmatischen Verständnis von Diskursfähigkeit Vorschub. 1 Der Begriff der Diskursfähigkeit wird in den Bildungsstandards verstanden als „eine Verstehens- und Mitteilungsfähigkeit, die inhaltlich zielführend, sprachlich sensibel und differenziert, adressatengerecht und pragmatisch angemessen ist“ (KMK 2014: 11). Ein erfolgreicher Beitrag zu einem Diskurs wäre es demnach bereits, etwas zu sagen zu haben und dazu in der Lage zu sein, dies auszudrücken (S CHNITTER 2010). Dass ein solches Verständnis problembehaftet ist, zeigt sich beispielsweise und insbesondere an diskriminierenden Aussagen, die dieses Lernziel auf funktionaler Ebene erfüllen würden, auf einer kritisch-reflexiven Ebene jedoch höchst fragwürdig bleiben. So wäre der Satz I don't want to be treated by an Asian doctor. What if he gives me the virus? formal eine dem Lernziel entsprechende Aussage, die jedoch inhaltlich bedenklich ist. Wenn solch eine Aussage als erfolgreiche Äußerung im Fremdsprachenunterricht behandelt wird, ist der dahinterliegende Bildungsbegriff „anachronistisch“ (J OHN et al. 2020: 12) und bedarf der Revision, da sonst „Sprachverwendung als Benutzung einer linguistischen Tool-Box missverstanden werden kann“ (ebd.). Ein Fokus auf reine Funktionalität lässt die Perspektive vermissen, dass Bildung immer auch ein politischer und moralischer Akt ist (vgl. F ÄCKE / P LIKAT / T ESCH 2017: 5; J ACKSON 2019: 4f.), und dass Diskursbeiträge von Lernenden immer auch (selbst-)kritisch auf einer Wertebasis reflektiert werden sollten. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Wertebasis dem Konzept der kritischen Diskursfähigkeit zugrunde gelegt werden kann. Der vorliegende Beitrag unternimmt daher den Versuch, die kritischen Komponenten der fremdsprachlichen Diskursfähigkeit zu identifizieren, zusammenzuführen und auszudifferenzieren. Hierfür werden im Folgenden zunächst Konzeptionen diskutiert, die das aktuelle Verständnis von Diskursfähigkeit maßgeblich geprägt haben. Dabei wird auch die Genese des Konzepts im deutschen fremdsprachendidaktischen Diskurs nachgezeichnet. Darauf aufbauend werden mit der Entwicklung eines Bewusstseins für die Diskursstruktur sowie der kritischen (Selbst-)Reflexion auf Grundlage einer gemeinsamen Wertebasis zwei Bereiche detaillierter diskutiert, die 1 Wir erkennen an, dass die Bildungsstandards von Lehrkräften unterschiedlich interpretiert werden können, verweisen aber auch auf ihre Wirkmächtigkeit als Orientierung zur Gestaltung von Lehrplänen und Lehrwerken, welche wiederum starken Einfluss auf die Ausgestaltung der Unterrichtspraxis haben (s. hierfür z.B. B ONNET / H ERICKS 2014: 93, die in diesem Zusammenhang den Effekt der „Durchprozessierungslogik“ beschreiben; s. auch die Diskussion um demokratische Werte und Menschenrechte in Abschnitt 3.2). 104 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 einem kritisches Verständnis von Diskursfähigkeit inhärent sein sollten. Abschließend werden auf diesem Verständnis von kritischer Diskursfähigkeit beruhende konzeptionelle und unterrichtspraktische Umsetzungsmöglichkeiten diskutiert und anhand eines kurzen Beispiels illustriert. 2. Gegenwärtige Konzeptionen von Diskursfähigkeit in der Fremdsprachendidaktik Die Fremdsprachendidaktik hat in der Vergangenheit bereits einige diskurstheoretische Überlegungen hervorgebracht, beispielsweise von Claire K RAMSCH (2006), die das Konzept der symbolic competence etablierte, von Wolfgang H ALLET (2008), der die Diskursfähigkeit als Leitziel des Englischunterrichts beschrieb, sowie von Jochen P LIKAT (2017), der das Konzept der fremdsprachlichen Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt für den Fremdsprachenunterricht vorstellte. Diese Konzepte haben den Begriff Diskursfähigkeit nachhaltig geprägt und bilden die Grundlage für den vorliegenden Beitrag. Alle drei Konzepte eint ein sozialphilosophisches Diskursverständnis nach Michel F OUCAULT (1973), jedoch offeriert jedes Konzept unterschiedliche Schwerpunkte und Perspektiven, die es im Folgenden zu diskutieren gilt. 2.1 Claire K RAMSCH : symbolic competence Ausgehend von der Kritik an der kommunikativen Kompetenz, wie sie P IEPHO bereits 1979 vollzogen hat (s. Abschnitt 2.2), entwickelte Claire K RAMSCH das Konzept der symbolic competence. K RAMSCH argumentiert mit den sich wandelnden Lebensumständen der Gesellschaft im 21. Jahrhundert sowie einer zunehmenden Komplexität durch fortschreitende Technologisierung und Globalisierung für eine Neuausrichtung bzw. Erweiterung der kommunikativen Kompetenz. Aufgrund dieser Entwicklungen reichten kommunikative Kompetenzen allein nicht mehr aus, um erfolgreich an der jeweiligen Gesellschaft teilzuhaben (vgl. K RAMSCH 2011: 355). K RAMSCH baut ihr Konzept auf einem post-strukturalistischen Verständnis von Diskurs nach P ENNYCOOK (1994) auf und betont die gestaltende und formende Funktion von Diskursen sowie deren enge Verknüpfung mit Ideologien und Identität im Fremdsprachenunterricht (K RAMSCH 2011: 356): Discourse is shared ways of organizing meaning that are often, though not exclusively, realized though language. Discourses are about the creation and limitation of possibilities, they are systems of power/ knowledge (pouvoir/ savoir) within which we take up subject positions (P ENNYCOOK 1994: 128). Dieser Argumentation folgend sollten Schüler: innen sich ihrer eigenen Position bewusst sein, während sie sich am Diskurs beteiligen, und diese im gesamten Diskurs verorten können. Dabei sollten sie ebenfalls in der Lage sein, Machtstrukturen zu erkennen und ihre eigene Rolle in diesen Systemen zu reflektieren. Darüber hinaus ist Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 105 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 wichtig, dass sie sich ihrer eigenen identitären Verortungen bewusst sind und nachvollziehen können, wie sich diese durch Diskurse konstruieren und verändern. Diese Aspekte müssen Lernende nicht nur für sich selbst erkennen und reflektieren können, sondern auch für ihre Kommunikationspartner: innen. Diese symbolic competence, so K RAMSCH (2016: 251), baut nicht nur auf der Fähigkeit auf, Bedeutungen im Dialog auszudrücken, zu interpretieren und zu verhandeln, sondern bettet diese gleichzeitig in die Fähigkeit ein, symbolisches Kapital zu produzieren und auszutauschen. Sie betont, dass symbolic competence über critical thinking im Sinne des Unterscheidens von fake news und Fakten hinausgeht (vgl. K RAMSCH 2011: 359). Existierende Narrative von Machtverteilung sollen kritisch hinterfragt und neu definiert werden. Die Bewusstmachung und kritische Reflexion von Hintergründen einzelner Diskursfragmente (symbolic action), aber auch gesellschaftlicher Systeme, die sich in Diskursen widerspiegeln (symbolic power), sind essenziell, um Diskurse zu verstehen, zu beurteilen und darauf basierend an ihnen zu partizipieren (vgl. ebd.: 357). Auf welcher Grundlage solch eine Bewertung jedoch vorgenommen werden soll, bleibt offen. 2.2 Wolfgang H ALLET : Diskursfähigkeit Im deutschen Forschungskontext hat vor allem Wolfgang H ALLET den Diskursbegriff geprägt. H ALLET (2008: 77) betont die Wichtigkeit eines zeitgemäßen Diskursbegriffs und moniert die Missachtung dieses Konzeptes in Richtliniendokumenten wie den Bildungsstandards. Anschließend kombiniert er eine für den Fremdsprachenunterricht relevante Definition des Diskursbegriffs mit einem zeitgemäßen Kompetenzkonzept (multiliteracies, N EW L ONDON G ROUP 1996) und wendet dies auf P IEPHO s „kommunikative Kompetenz“ (1974) an. Da H ALLET s Konzept der fremdsprachlichen Diskursfähigkeit auf einem F OUCAULT schen Verständnis von Diskurs beruht, beinhaltet es bereits eine stark kritische Komponente: Menschen […] müssen in einer vielsprachigen Welt nicht nur mit ‚Fremdsprachenkenntnissen‘ ausgestattet sein, sondern auch mit der Fähigkeit, Diskurse (im Foucaultschen Sinne) zu identifizieren, sie zu initiieren oder aktiv weiterzuentwickeln und nicht zuletzt auch kritisch zu reflektieren (H ALLET 2008: 88). Während die Fähigkeit zur kritischen Reflexion hier klar hervorgehoben wird, bleibt offen, was dies konkret bedeutet oder beinhaltet. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass Diskursfähigkeit als Schlüssel zur gesellschaftlichen Partizipation auch für H ALLET eine politische Dimension enthält, da sie die Ermächtigung zur Teilhabe am Diskurs als Instrument gegen Marginalisierung und Exklusion darstellt (vgl. ebd.: 2008: 88). Neben dem F OUCAULT schen Verständnis von Diskurs nutzt H ALLET das Konzept des „kommunikativen Handelns“ nach H ABERMAS (1971), welches wiederum von P IEPHO (1974, 1979) für die Fremdsprachendidaktik aufgegriffen wurde (vgl. H ALLET 2008: 84). Nach H ABERMAS geschieht kommunikatives Handeln in einem System von geltenden Normen und Werten, derer sich beide Kommunikationspartner: innen 106 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 bewusst sind und diese teilen (1971: 117). Demgegenüber steht der Diskurs, in welchem kein Konsens über solche gesellschaftlichen Regeln herrscht, sondern diese erst verhandelt werden. Somit stellt der Diskurs nach H ABERMAS (1971: 117) eine Metakommunikation des kommunikativen Handelns dar. In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht müssen Schüler: innen also einerseits in die Lage versetzt werden, kommunikativ zu handeln, z.B. indem sie die generischen Merkmale bestimmter Textformen in Diskursen erlernen. Andererseits müssen sie die Fähigkeiten entwickeln, die Diskursregeln solch kommunikativer Akte zu bewerten und zu verhandeln. Dies bezeichnet P IEPHO (1974: 13) als „Diskurstüchtigkeit“. Somit enthält P IEPHO s Verständnis von Diskurs im Kontext des kommunikativen Unterrichts ebenfalls ein reflexives, meta-kommunikatives Element, wie es sich bei Foucault finden lässt. Sowohl F OUCAULT und H ABERMAS als auch P IEPHO unterscheiden zwischen Diskursfragmenten und Diskurs 2 als größerem Zusammenhang sozialer und kultureller Praktiken (vgl. H ALLET 2008: 87). Über die Unterscheidung dieser beiden Kategorien hinaus sollte der Diskursbegriff ebenfalls zeitgemäß sein, besonders im Hinblick auf Globalisierung und Digitalisierung (H ALLET 2008). Für H ALLET s Konzept der Diskursfähigkeit sind deshalb folgende Aspekte unabdingbar: Topikalität im Sinne einer Themenorientierung im Fremdsprachenunterricht; Vielstimmigkeit, um diverse Meinungen in einem Diskurs zu präsentieren; Multimodalität als Charakteristik zeitgemäßer Texte; interaktionale Aushandlung, sowie das Eruieren von Differenzen als Ziel im Unterricht (ebd.: 89f.). Es wird deutlich, dass H ALLET s Konzept von Diskursfähigkeit mit der Zielstellung der gesellschaftlichen Teilhabe weit über das funktionale Verständnis der Bildungsstandards hinausgeht: Schüler: innen sollen Aussagen „kritisch reflektieren“ (H ALLET 2008: 88). Doch wie bei K RAMSCH bleibt auch hier ungeklärt, auf Grundlage welcher Wertebasis dies geschehen soll. 2.3 Jochen P LIKAT : fremdsprachliche Diskursbewusstheit Als Ergebnis einer kritischen Betrachtung der ICC nach B YRAM entwickelt Jochen P LIKAT (2017) die fremdsprachliche Diskursbewusstheit, die auf drei konzeptuellen Pfeilern ruht: Diskurstheorie, Sprachbewusstheit und transformatorische Bildung. Die diskurstheoretische Grundlage bilden vor allem F OUCAULT s Verständnis von Diskurs sowie die darauf basierende Arbeit Norman F AIRCLOUGH s (1989) zum engen Verhältnis von Macht und Sprache. Fremdsprachliches Lernen soll laut P LIKAT (2017: 218) Machtdimensionen bewusst machen und kritisch hinterfragen, da sie durch Sprache ausgedrückt, aber auch etabliert werden. Um den Prozess der Bewusstmachung genauer zu beschreiben, bedient sich P LIKAT des Konzepts der Sprachbewusstheit 2 Dieser grundlegenden Unterscheidung folgt auch der vorliegende Artikel aus Gründen der besseren Verständlichkeit. Für eine ausführliche Beschreibung der im deutschsprachigen Diskurs ebenfalls gebräuchlichen Unterscheidung in discourse (mit kleinem d) und Discourse (mit großem D) siehe H ALLET (2008) und K RAMSCH (1998). Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 107 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 (language awareness). Er fasst den Begriff, in Anlehnung an F AIRCLOUGH , sehr weit und wendet ihn nicht nur auf Sprache, sondern auch auf Diskurse an (vgl. P LIKAT 2017: 249). Zudem wird die politische Dimension von Sprachbewusstheit hervorgehoben, denn zahlreiche Konzeptionen von Sprachbewusstheit zielen auf eine Erziehung zur Autonomie, auf Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft und die gleichzeitige Stärkung der Gesellschaft ab (vgl. ebd.). „Kritisch“ wird hier als bewusste Reflexion von Macht- und Sprachstrukturen definiert. Den dritten Pfeiler P LIKAT s fremdsprachlicher Diskursbewusstheit bildet in Anlehnung an K OLLER (2012) das Konzept der transformatorischen Bildung. Der Begriff „transformatorisch“ wird hier anders gebraucht als im F REIRE schen (2018 [1970]), gesamtgesellschaftlichen Sinne: P LIKAT legt den Fokus auf das Individuum, welches zur Transformation der eigenen Haltung angeregt bzw. ermächtigt wird. Aus einer Auseinandersetzung mit Diskursen und einer Reflexion der eigenen Position kann eine Transformation der eigenen Gedanken, Haltungen und Meinungen entstehen. Somit sind zwei Kerneigenschaften der fremdsprachlichen Diskursbewusstheit die Offenheit zur Pluralität sowie die Bereitschaft zur eigenen Transformation (vgl. ebd.: 283). Zudem erkennt P LIKAT die Notwendigkeit einer normativen Wertebasis an und bezieht sich auf die Empfehlungen des Europarats (C OUNCIL OF E UROPE 2010), welcher Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt rückt. P LIKAT (2017: 298) legt besonderen Fokus auf die von der UN ratifizierten Menschenrechte. Damit hebt sich sein Ansatz von den anderen hier diskutierten ab. Jedoch wird der Fokus auf Menschenrechte im Rahmen seiner Abhandlung nicht tiefergehend diskutiert. 3. Zur Ausdifferenzierung einer kritischen fremdsprachlichen Diskursfähigkeit Anhand der drei dargestellten Ansätze zeigt sich, dass durchaus ein kritisches Verständnis von Diskursfähigkeit diskutiert wird. Jedoch wird dabei vorrangig auf einer machtbezogenen und diskurs-strukturellen Ebene argumentiert. Kritisch diskursfähig zu sein bedeutet demnach in erster Linie, ein kritisches Bewusstsein für Diskursstrukturen und Machtdynamiken im Diskurs zu entwickeln (s. Abschnitt 3.1). Kritik braucht aber über die Bewusstmachung von Strukturen hinaus auch einen normativen Bezugspunkt, nicht zuletzt, weil sich das Konstrukt der Diskursfähigkeit innerhalb des Rahmens eines politisch-normativ wirkenden Bildungsauftrags bewegt, der diskriminierenden Aussagen entgegenwirkt. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst jene Komponenten von kritischer Diskursfähigkeit beleuchtet, die auf die Schaffung eines Bewusstseins für die Diskursstruktur bei Lernenden abzielen. Anschließend werden im Zusammenhang mit moralisch-normativen Überlegungen die Menschenrechte als gemeinsame Wertebasis für die kritisch-reflexive Urteilsbildung diskutiert, die Teil einer (fremdsprachlichen) Diskursfähigkeit im 21. Jahrhundert ist. 108 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 3.1 Bewusstsein über Diskursstruktur entwickeln Die Ausbildung eines Bewusstseins über die Diskursstruktur und die damit verbundene kritische Selbstreflexion bei der Teilhabe an Diskursen bildet ein zentrales Element der kritischen Diskursfähigkeit. Aufbauend auf den Überlegungen F OUCAULT s (1973), H ABERMAS ’ (1971), F REIRE s (2018 [1970]) und P IEPHO s (1974) finden sich in der Literatur zahlreiche Hinweise darauf, welche Aspekte zu diesem Bewusstsein gehören (s. Abschnitt 2). Aufbauend auf den Arbeiten H ALLET s (2008) und A LTMAYER s (2006) finden sich in der DaF/ DaZ-Forschung bei H AMANN ET AL . (2016) 3 darüber hinaus ergänzende Angaben zur Ausdifferenzierung dieses Teilbereichs der kritischen Diskursfähigkeit. Für die Autor: innengruppe ergeben sich drei zentrale sprachbezogene Elemente von Diskursfähigkeit, die mit der Idee der meta-diskursiven Kompetenz H ALLET s kompatibel sind: die Fähigkeit von Fremdsprachenlernenden, an Bedeutungskonstruktionen in der Fremdsprache mitwirken, diese erweitern und hinterfragen zu können, die Fähigkeit, Diskurspluralität, d.h. das Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Positionen, Perspektiven und Meinungen im Diskurs, anzuerkennen und auszuhalten, und die Fähigkeit, die Praktiken der Bedeutungsproduktion im Diskurs zu durchschauen (vgl. H AMANN et al. 2016: 15) Während sich die erstgenannte Fähigkeit, „an Bedeutungskonstruktionen in der Fremdsprache mitwirken, diese erweitern und hinterfragen zu können“ (H AMANN et al. 2016: 15), so ähnlich auch in H ALLET s Konzeption wiederfindet, stellt der Hinweis auf das Anerkennen und Aushalten von Diskurspluralität eine wichtige Ergänzung dar, die auch P LIKAT (2017: 297) fordert. Diskurse laufen parallel und sich gegenseitig durchdringend ab und bedingen sich gegenseitig, sodass keine „strenge und absolute Trennlinie zwischen Diskursen in der einen und der anderen Sprache“ (H AMANN et al. 2016: 15) gezogen werden kann. Dieses Durch- und Nebeneinander von Positionen und Diskursen auszuhalten ist insofern wichtig, als einfache Antworten in den globalen Diskursen des 21. Jahrhunderts selten sind. Entsprechend kann ergänzt werden, dass auch eine Toleranz für die eigenen Unsicherheiten entwickelt werden sollte. Eine wichtige Unterscheidung betrifft an dieser Stelle allerdings diskriminierende Diskursfragmente, welche die moralischen Kriterien nicht erfüllen (s. Abschnitt 3.2) und nicht ausgehalten werden müssen bzw. sollten. Mit Blick auf das Bewusstsein für die Diskursstruktur, welches Lernende entwickeln sollten, lässt sich aber bereits ein Zwischenfazit ziehen. Kritisch diskursfähig zu sein, bedeutet nicht nur, Diskursfragmente funktional-sprachlich, inhaltlich und medial produzieren zu können, sondern es schließt auch die Fähigkeiten ein, Diskurse 3 Hier wird die längere Version der im Lehrwerk gedruckten Einleitung zitiert. Diese ist über einen Code im angegebenen Lehrwerktext abrufbar. Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 109 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 und Diskursfragmente sprachlich, inhaltlich, medial und kulturell zu verstehen sowie eigene und fremde Positionen und Meinungen im Diskurs zu verorten und auf dieser Grundlage mögliche Gegenpositionen und Gegenargumente zu antizipieren. Es ergeben sich somit insgesamt aus den bestehenden Positionen im Bereich „Bewusstsein für die Diskursstruktur“ folgende Aspekte, die zur kritischen Diskursfähigkeit gehören und bei der aktiven Teilnahme an Diskursen zu beachten sind: das Verständnis von Machtstrukturen innerhalb eines Diskurses, was auch Fragen der Zugänglichkeit und der Teilhabemöglichkeit beinhaltet („Wie funktioniert der Diskurs als Ganzes? “; „Wer ist wie beteiligt, wer nicht? “; „Wer darf was sagen, wer nicht? “); die Fähigkeit, sich selbst und andere im Diskurs zu positionieren und die eigene Position im Verhältnis zu anderen Positionen reflektieren zu können (Fragmentpositionierung). Damit einher gehen Leitfragen wie: „Wer produziert was für wen und zu welchem Zweck und wie fügt sich meine Position dort ein? “; „Welche (Gegen)Positionen sind zu antizipieren? “; sowie ein kritischer Umgang mit und Bewertung von Informationen (Faktizität vs. Meinung). Darüber hinaus macht H ALLET (2008; 2020) deutlich, dass das kritische Moment der Diskursfähigkeit auch mit dem Aufbau einer Urteils- und Bewertungskompetenz einhergeht, wie sie etwa V OLKMANN (2020) in Teilaspekten und -kompetenzen des Englischunterrichts sucht. Diese Einsicht ist aus diskurstheoretischer Perspektive nicht unproblematisch, da sie konsequenterweise dazu führt, alle Diskurse einem moralisch-normativen Meta-Diskurs unterzuordnen bzw. sie damit abzugleichen, was im Sinne F OUCAULT s kritisch zu hinterfragen wäre. Jedoch bewegt sich das Ziel der Ausbildung einer kritischen Diskursfähigkeit im Rahmen eines Bildungsauftrags, der klar normativ wirkt und ein solches Vorgehen rechtfertigt oder sogar fordert: „Fremdsprachliche Bildung in und für eine demokratische Gesellschaft braucht die Einübung in werteorientiertes Denken und Handeln“ (H ALLET 2020: ohne Seite), worunter auch das „aktive Eintreten gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung“ zählt (ebd.). Hieran wird deutlich, dass Bildung immer auch ein moralischer Akt ist (vgl. J ACKSON 2019: 4f.). Es stellt sich also die eingangs erwähnte Frage, welcher Meta-Diskurs und welche Wertebasis der fremdsprachlichen Bildung und damit der kritischen fremdsprachlichen Diskursfähigkeit zugrunde gelegt werden kann, sollte und darf. 3.2 Die Menschenrechte als gemeinsame Wertebasis Es bedarf bis dato noch der Konkretisierung einer solchen Wertebasis für den Fremdsprachenunterricht. Einzig P LIKAT (2017, 2018) argumentiert explizit für eine Wertebasis als Teil des Zielkonstrukts fremdsprachlicher Diskursbewusstheit. Basierend auf den Vorgaben des Europarats (C OUNCIL OF E UROPE 2010) schlägt P LIKAT (2017) hierfür Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vor. In einer jüngeren Pub- 110 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 likation (P LIKAT 2018) formuliert er mit dem evolutionären Humanismus einen neuen Vorschlag. Als „Minimalethik“ (ebd.: 51) zieht P LIKAT diese Denkrichtung den Menschenrechten vor, da sie Orientierung verleiht, wo sich unterschiedliche Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, UN 1948) seiner Ansicht nach konfliktär gegenüberstehen. Obwohl sich der evolutionäre Humanismus und die Menschenrechte sehr nah stehen, ist der evolutionäre Humanismus im Gegensatz zu der AEMR nicht international anerkannt. Zudem leitet sich aus seiner Maxime nicht unmittelbar eine Handlungsempfehlung ab, da das zentrale Element Leid immer ein subjektives Empfinden ist: Ob eine Handlung Leid zufügt oder nicht, wird zur Auslegungssache. Als naheliegender Gegenvorschlag zum evolutionären Humanismus werden daher im vorliegenden Beitrag die Menschenrechte als Wertebasis für kritische Diskursfähigkeit in Betracht gezogen. Im philosophischen Sinne beschreiben Menschenrechte die Voraussetzungen für ein Leben in Würde und suchen damit einen gemeinsamen Kern des „Menschseins“ im Sinne der Humanität (vgl. D ONNELLY 2007: 23). Ein zentrales Element ist die Frage danach, wie Menschen einen humanen Umgang miteinander pflegen können, der die Würde jedes und jeder Einzelnen respektiert und wahrt. Darauf gibt es bis heute lediglich den Versuch einer Antwort, der aber globale Anerkennung findet: Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen (damals 58 Staaten, heute 193) verabschiedet, „[d]a die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.“ (Präambel AEMR, UN 1948). Zusätzlich zu dieser institutionellen Implementierung in der Mehrheit aller Weltstaaten, werden die Menschenrechte als universal angesehen, da sie jedem Menschen per definitionem zustehen. Jeder Mensch wird mit diesen unveräußerlichen Rechten geboren. Im Kontext des kommunikativen Handelns sind vor allem Artikel 1 und 29 relevant (AEMR, UN 1948): In Diskursen geschieht es besonders häufig, dass die Würde anderer nicht gewahrt wird (z.B. hate speech, cyber mobbing, Rassismus etc.). Artikel 1 ist aufgrund der Betonung der Gleichheit und des „Geistes der Brüderlichkeit“ besonders bedeutsam, da hier die Verantwortung anderen gegenüber klar deutlich wird. Artikel 29 orientiert sich am kategorischen Imperativ von K ANT (vgl. 2008/ 1781 AA IV: 421), sorgt so für Orientierung bei eventuellen Kollisionen unterschiedlicher Rechte und wirkt damit auch handlungsweisend im Sinne einer Übernahme von Verantwortung. Dies schließt unter Bezug auf sogenannte demokratische Werte das aktive Eintreten für den Schutz von Menschenrechten anderer mit ein (vgl. K NOX 2009: 180), beispielsweise im Sinne der Zivilcourage. Wenn im Bildungskontext von demokratischen Werten gesprochen wird, beziehen sich diese meist auf eine Verfassung oder andere in vergleichbarer Weise niedergelegte Prinzipien eines demokratischen Staates. Während demokratische Werte auf den Menschenrechten basieren können und demnach auch Teil der Menschenrechtsbildung sein können, muss eine Wertebasis in einer globalisierten Welt jedoch genau diese Grenzen überwinden und auch außerhalb von Staatlichkeit funktionieren (vgl. S TARKEY 2012: 1). Ein entsprechen- Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 111 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 des de-territorialisiertes Verständnis von Demokratie und demokratischen Werten wird zwar von A PPADURAI (2001) mit seinem Konzept der deep democracy - einer Demokratie ohne Grenzen - entworfen, welches beispielsweise im kosmopolitischen Diskurs zentrale Bedeutung hat. Jedoch leisten die deutschen Bildungsstandards mit ihrem Rückgriff auf weitestgehend territorialisierte Kultur- und citizenship-Begriffe (z.B. ICC nach B YRAM 1997) einem nationen-gebundenen Verständnis von Demokratie und demokratischen Werten Vorschub. Um sich davon gezielt abzugrenzen, greift das hier vorgeschlagene Konzept fremdsprachlicher Diskursfähigkeit nicht auf die Begriffe ‚demokratische Werte‘ oder ‚Rechtsstaatlichkeit‘ zurück. Auf den vorangegangenen Erläuterungen aufbauend sind der Idee der kritischen fremdsprachlichen Diskursfähigkeit neben den in Abschnitt 3.1 genannten Aspekten also folgende Komponenten hinzuzufügen: die kritische Reflektion und Verortung von Diskursfragmenten und Äußerungen auf Basis der Menschenrechte („Werden die Würde bzw. Rechte anderer verletzt? “, „Ist die Aussage bzw. Handlung diskriminierend? “) auf Basis dieser Reflexion ggf. die Transformation der eigenen Haltung („Inwiefern ist meine eigene Haltung mit Menschenrechten vereinbar? “, „Bedarf meine eigene Position einer Überarbeitung? “) die Übernahme von Verantwortung für einen Diskurs, der sich an Menschenrechten orientiert und der Beitrag zur aktiven Wahrung der Rechte aller (z.B. auf Verletzungen aufmerksam machen und aktiv für Gerechtigkeit eintreten; „Wie kann ich dafür sorgen, dass die Rechte anderer gewahrt werden? “) Zwar sind die Menschenrechte weder von allen Menschen anerkannt oder umgesetzt (vgl. D ONNELLY 2007: 38), noch sind sie stabil, sondern werden als moving targets stets verhandelt (siehe den aktuellen Diskurs zum Zugang zu Wasser als Menschenrecht; vgl. z.B. S ULTANA / L OFTUS 2019, K IRSCHNER 2020), noch sind sie vor Gericht einklagbar, sondern müssen von individuellen Staaten umgesetzt und in die jeweilige Gesetzgebung eingearbeitet werden. Jedoch bilden sie die einzige weltweit verbreitete, präzise und mit den Grundsätzen einer globalen Gesellschaft vereinbare normative Grundlage für einen würdevollen, humanen Umgang. Deshalb eignen sie sich als Wertebasis für eine kritische fremdsprachliche Diskursfähigkeit. Dieser Vorschlag soll als Ausgangspunkt dazu dienen, im fremdsprachendidaktischen Diskurs weiter aktiv die Notwendigkeit und Ausgestaltung einer Wertebasis zu diskutieren, die als Grundlage für Zielkonstrukte wie die fremdsprachliche Diskursfähigkeit dienen kann. Denn die Implikationen des in diesem Abschnitt vorgestellten Verständnisses von kritischer Diskursfähigkeit für den fremdsprachlichen Unterricht sind weitreichend (s. Abschnitt 4). Ist es das Ziel, Schüler: innen zu aktiv partizipierenden Weltbürger: innen auszubilden, können und sollten die aktuellen Forschungsdiskurse zu Human Rights Education (z.B. O SLER / S TARKEY 2010; 2018) richtungsweisend sein. Unterricht kann einem zeitgemäßen Bildungsauftrag, der Diskurse auch in ihrer wert-orientierten Dimension versteht, nur im Zusammenspiel folgender Aspekte gerecht werden: zum einen das in 3.1 beschriebene Bewusstsein über Diskursstrukturen, zum anderen der 112 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 kritisch-(selbst)reflektive Abgleich dieser Diskurse, bzw. deren Fragmente, mit dem moralisch-reflexiven Meta-Diskurs der Menschenrechte. Dieser Meta-Diskurs fungiert im Sinne S TARKEY s (2012: 10, dort global conscience) als „moralischer Kompass“ der Lernenden dabei hilft, das eröffnete kritische Bewusstsein über Diskursstrukturen in aktive Partizipation und Teilhabe zu übersetzen. 4. Überlegungen zur konzeptionellen und praktischen Umsetzung Eine konsequente Priorisierung und Umsetzung dieses Konzepts von fremdsprachlicher Diskursfähigkeit in die unterrichtliche Praxis hätte weitreichende Auswirkungen - kritische Diskursfähigkeit ließe sich nicht innerhalb einer einzelnen Unterrichtseinheit entwickeln, sondern müsste als Querschnittsaufgabe des Fremdsprachenunterrichts umgesetzt werden. Im Kontext des kulturellen Lernens etwa ist eine weitere kritische Auseinandersetzung mit bestehenden, dominanten Konzepten in der Forschung und in Curricula notwendig. Denn wie R ÖMHILD und G AUDELLI (2022: 21) zeigen, kann eine konsequente Hinwendung zur Menschenrechtserziehung nicht auf Basis von ICC und dem resultierenden Zielland- / Zielkulturenunterricht gelingen. Berücksichtigt man weiterhin aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie die Digitalisierung der Alltagswelt, sind pädagogische Konzepte wie etwa die multiliteracies pedagogy (N EW L ONDON G ROUP 1996) mit ihrem Fokus auf soziale und diskursive Teilhabe in der digitalisierten Welt mitzudenken, um kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht anzubahnen. Wie eingangs beschrieben favorisieren die Bildungsstandards und damit auch die Lehrpläne der Länder ein funktionales Verständnis von Diskursfähigkeit und legen im Zuge dessen ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung funktionaler kommunikativer Kompetenzen. Es ist unumstritten, dass funktionale Kompetenzen auch im Kontext der kritischen Diskursfähigkeit ihren Stellenwert behalten. In diesem Zusammenhang warnt D IEHR (2021: 33f.): Hinweise darauf, dass kritische Diskursfähigkeit Kompetenzen erfordert, die jenseits der Fähigkeit liegen, Sprache korrekt zu gebrauchen, und Appelle, dass Fremdsprachenlehrkräfte mehr vermitteln sollten als nur sprachliche und kulturbezogene Kenntnisse, dürfen nicht zu der Haltung führen, dass Spracherwerb nebensächlich sei und sich durch engagierten Gebrauch implizit vollzöge. Sprachwissen, Sprachkönnen und Sprachreflexion sind nach D IEHR (ebd.: 35) elementare Voraussetzungen für die Ausbildung einer kritischen Diskursfähigkeit. Angesichts der Komplexität des Konzeptes der kritischen Diskursfähigkeit bildet die progressive Anbahnung funktional-kommunikativer und kritisch-reflexiver Fähigkeiten ein wichtiges Element in der Umsetzung. So sollten bereits in den ersten Jahren des Fremdsprachenlernens (inklusive des Primarbereichs) Grundlagen für eine spätere Ausbildung dieser Fähigkeit angebahnt werden. Dies könnte zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit Menschen- und Kinderrechten sein. Darauf aufbauend Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 113 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 könnte in der Sekundarstufe I im Zusammenhang mit dialogischem Sprechen das Thema Diskriminierung und kritische Selbstreflexion behandelt werden, damit sich die Jugendlichen ihres oftmals bereits ausgebildeten moralischen Kompasses bewusstwerden und darüber zu kommunizieren lernen. Eine weitere Möglichkeit zur Anbahnung von kritischer Diskursfähigkeit kann die Auseinandersetzung mit Literatur sein. Literarische Welten eröffnen über die Distanz der Fiktionalität Räume für Reflexion von Meinungen und Haltungen. Dabei sind vor allem neue, multimodale und interaktive Texte geeignet, wie beispielsweise das Videospiel „A Cat in a Hijab“ (A NDYMAN 404 2017). 4 In diesem Beispiel werden Lernende in die Rolle einer Katze versetzt, welche U-Bahn fährt und von anderen Katzen aufgrund ihres Hijabs diskriminiert wird. Die Spielenden bekommen in jeder Kommunikationssituation unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten/ Antworten zur Auswahl. Je nach Auswahl ändert sich der weitere Handlungsverlauf. Die Auseinandersetzung mit dem Videospiel im Unterricht bietet eine Fülle an Möglichkeiten zur Schulung kritischer Diskursfähigkeit auf unterschiedlichen Ebenen. So könnten zum einen die Dialoge zur Schulung kommunikativer Kompetenzen und Situationen simulieren, in denen Lernende Zeug: innen oder Betroffene von Diskriminierung werden. Des Weiteren kann die Rechtmäßigkeit der diskriminierenden Kommentare - auch vor dem Hintergrund der Menschenrechte im Sinne der Education about/ for/ through Human Rights (vgl. H AHN 2020) - diskutiert werden. Am meisten Potential bietet sicherlich die kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen kommunikativen Antwortmöglichkeiten, die sich um Fragen nach Folgen, Rechtfertigung von Diskriminierung, oder das eigene potenzielle Verhalten in einer entsprechenden Situation drehen könnte. 5 Das Ziel der Diskursfähigkeit auf der normativen Basis der Menschenrechte kann angesichts aktuell beobachtbarer Diskursregeln (bspw. in den sozialen Medien) ambitioniert wirken. Schwierige Diskussionen über moralisch richtige oder falsche Sprache und Handlungen scheinen dabei unumgänglich; etwa im Hinblick auf Geschlechtergleichstellung oder Rassismus. Dies kann Lehrkräfte vor große Herausforderungen stellen. Nichtsdestotrotz sollte davor nicht zurückgeschreckt werden. 5. Zusammenführung Die Fähigkeit zur kritischen Partizipation an (globalen) Diskursen sollte eine zentrale Zielstellung zeitgemäßen Fremdsprachenunterrichts sein. Grundsätzlich konnten zwei Bereiche identifiziert werden, die es im Kontext kritischer fremdsprachlicher Diskursfähigkeit zu beachten gilt. Erstens sollten Lernende ein Bewusstsein für die Diskurs- 4 Auf www.itch.io kostenlos verfügbar. Auch für nicht-gaming PCs geeignet, auch als Let's Play Video auf YouTube verfügbar. 5 Für weitere Vorschläge zur Anbahnung kritischer Fähigkeiten im Englischunterricht vgl. z.B. G ER - LACH (2020); R ÖMHILD / M ATZ (2021). 114 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 struktur entwickeln, welches sie in die Lage versetzt, Machtstrukturen innerhalb eines gegebenen Diskurses zu erkennen, die Positionierung von Diskursfragmenten (auch der eigenen) zu hinterfragen und Fakten von Meinungen zu unterscheiden. In diesem Sinne „besteht [Diskursfähigkeit] also nicht nur darin, in Situationen kommunikativ handeln zu können. Sie bedeutet auch, Herkunft, Perspektive und Zweck von Wissen und Äußerungen zu erkennen“ (B ONNET / B REIDBACH / H ALLET 2009: 177). Zweitens ist es wichtig, über eine reine Bewusstmachung hinauszugehen und Lernende darin zu unterstützen, aktiv und kritisch-reflektiert an globalen, mehrsprachigen Diskursen teilzunehmen. Dafür benötigen sie vor dem Hintergrund eines Bildungsauftrags, der notwendigerweise moralisch und normativ ist, einen moralischen Kompass (vgl. S TARKEY 2012: 10) in Form einer gemeinsamen Wertebasis. Lernende können und sollten die entsprechenden Diskurse und Diskursfragmente mit dem Meta-Diskurs der Menschenrechte abgleichen und überprüfen, um sich selbst zu positionieren, eine eigene Meinung zu bilden und für die Einhaltung dieser Rechte einzutreten. So können die Lernenden dazu angeleitet werden, aktiv und kritisch-reflexiv an globalen Diskursen zu partizipieren. Literatur A LTMAYER , Claus (2006): „Kulturelle Deutungsmuster als Lerngegenstand. Zur kulturwissenschaftlichen Transformation der Landeskunde“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 35.1, 44-59. A NDYMAN 404 (2017) The cat in hijab. https: / / andyman404.itch.io/ the-cat-in-the-hijab (13.05.22). A PPADURAI , Arjun (2001): „Deep Democracy: Urban Governmentality and the Horizon of Politics“. In: Environment and Urbanization 13.2, 23-43. https: / / doi.org/ 10.1177/ 095624780101300203 (25.10.2022). B IELEFELDT , Heiner (1997): „Menschenrechte - universaler Normkonsens oder eurozentrischer Kulturimperialismus? “. In: B ROCKER , Manfred / N AU , Heino H. (Hrsg.): Ethnozentrismus: Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 256-268. B ONNET , Andreas / B REIDBACH , Stephan / H ALLET , Wolfgang (2009): „Fremdsprachlich handeln im Sachfach: Bilinguale Lernkontexte“. In: B ACH , Gerhard / T IMM , Johannes-Peter (Hrsg.): Englischunterricht. 4. Aufl. Tübingen, Basel: Francke, S.172-198. B ONNET , Andreas / H ERICKS , Uwe (2014): „‘kam grad am Anfang an die Grenzen’ - Potenziale und Probleme von Kooperativem Lernen für die Professionalisierung von Englischlehrer/ innen“. In: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 3.1, 86-100. B YRAM , Michael (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communicative Competence. Clevedon: Multilingual Matters. C OUNCIL OF E UROPE (2010): Council of Europe Charter on Education for Democratic Citizenship and Human Rights Education: Recommendation CM/ Rec (2010) 7 adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe on 11 May 2010 and explanatory memorandum. Strasbourg: Council Of Europe Publishing https: / / search.coe.int/ cm/ Pages/ result_details.aspx? ObjectID=09000016805cf01f (25.10.2021). D ICKEL , Mirka / J OHN , Anke / M AY , Michael / M UTH , Katharina / V OLKMANN , Laurenz / Z IEGLER , Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 115 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 Mario (Hrsg.) (2020): Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Ethik, Englisch, Geographie, Geschichte, politische Bildung, Religion. Frankfurt/ M.: Wochenschau Verlag. D IEHR , Bärbel (2021): „Warum Bildung für nachhaltige Entwicklung den Fremdsprachenunterricht braucht“. In: B URWITZ -M ELZER , Eva / R IEMER , Claudia / S CHMELTER , Lars (Hrsg.): Entwicklung von Nachhaltigkeit beim Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen. Arbeitspapiere der 41. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr/ Francke/ Attempto, 32-42. D ONNELLY , Jack ( 3 2007): International Human Rights. Boulder, CO: Westview Press. F ÄCKE , Christiane / P LIKAT , Jochen / T ESCH , Bernd (2017): „Politische Bildung im Spanischunterricht“. In: G RÜNEWALD , Andreas (Hrsg.): Praxismaterial: Politische Bildung im Spanischunterricht. Didaktische Grundlagen, Methoden, Materialien. Seelze/ Velber: Klett Kallmeyer, 5-10. F AIRCLOUGH , Norman (1989): Language and power. London: Longman. F OUCAULT , M. (1973): Archäologie des Wissens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. F REIRE , Paulo (2018 [1970]): Pedagogy of the oppressed. [übersetzt von Bergman Ramos, Myra; 50 th anniversary edition]. London / New York: Bloomsbury. G ERLACH , David (Hrsg.) (2020): Kritische Fremdsprachendidaktik: Grundlagen, Ziele, Beispiele. Tübingen: Narr. H ABERMAS , Jürgen (1971): „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“. In: H ABERMAS , Jürgen / L UHMANN , Niklas (Hrsg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 101-141. H AHN , Carole (2020): „ Human rights teaching: snapshots from four countries“. In: Human Rights Education Review 3.1, 8-30. DOI: http: / / doi.org/ 10.7577/ hrer.3724 (11.07.2022). H ALLET , Wolfgang (2008): „Diskursfähigkeit heute. Der Diskursbegriff in Piephos Theorie der kommunikativen Kompetenz und seine zeitgemäße Weiterentwicklung für die Fremdsprachendidaktik“. In: L EGUTKE , Michael (Hrsg.): Kommunikative Kompetenz als fremdsprachliche Vision. Tübingen: Narr, 76-96. H ALLET , Wolfgang (2012): „Die komplexe Kompetenzaufgabe. Fremdsprachige Diskursfähigkeit als kulturelle Teilhabe und Unterrichtspraxis“. In: H ALLET , Wolfgang / K RÄMER , Ulrich (Hrsg.): Kompetenzaufgaben im Englischunterricht. Grundlagen und Unterrichtsbeispiele. Seelze: Klett Kallmeyer, 8-19. H ALLET , Wolfgang (2020): Was tun gegen Rassismus? https: / / languagelearninglog.de/ 2020/ 03/ 16/ was-tun-gegen-rassismus/ (25.09.2021). H AMANN , Eva / M AGOSCH , Christine / M EMPEL , Caterina / V ONDRAN , Björn / Z ABEL , Rebecca (2016): „Einführung“. In: H AMANN , Eva / M AGOSCH , Christine / M EMPEL , Caterina / V ONDRAN , Björn / Z ABEL , Rebecca / A LTMAYER , Claus (Hrsg.): Mitreden. Diskursive Landeskunde für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen, 7-12. H EIDT , Irene (2015): „Exploring the Historical Dimensions of Bildung and its Metamorphosis in the Context of Globalization“. In: L2 Journal, 7.4, 2-16. J ACKSON , Liz (2019): Questioning Allegiance. Resituating Civic Education. London, New York: Routledge. J OHN , Anke / Z IEGLER , Mario / D ICKEL , Mirka / M AY , Michael / M UTH , Katharina / V OLKMANN , Laurenz (2020): „Wertmaßstäbe und Urteilsbildung in den Fachdidaktiken. Ein Vergleich zur Einführung“. In: D ICKEL / J OHN / M AY / M UTH / V OLKMANN / Z IEGLER (Hrsg.), 7-32. K ANT , Emmanuel (2008/ 1785): „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. In: AA IV Kritik der reinen Vernunft. https: / / korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/ kant/ aa04/ (25.07.22) 116 Anika Marxl, Ricardo Römhild DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 52 • Heft 1 K IRSCHNER , Adele (2020): Grenzüberschreitende Implikationen eines Menschenrechts auf Wasser? Reichweite, Auswirkungen und Bedeutung für das Internationale Wasserrecht. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Band 291. Berlin/ Heidelberg: Springer. K OLLER , Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken: eine Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer (Pädagogik). K ULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. Beschlussfassung vom 4.12.2003. Bonn. K ULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2004): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/ Französisch) für den Hauptschulabschluss. Beschlussfassung vom 15.10.2004. Bonn. K ULTUSMINISTERKONFERENZ (KMK) (2014): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache für die Allgemeine Hochschulreife: Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012. Bonn. K NOX , John H. (2009): „Linking human rights and climate change at the United Nations“. In: Harvard Environmental Law Review 33.29, 477-498. K RAMSCH , Claire (1998): Language and culture. Oxford: Oxford University Press. K RAMSCH , Claire (2006): „From Communicative Competence to Symbolic Competence“. In: The Modern Language Journal 90.2, 249-252. K RAMSCH , Claire (2011): „The symbolic dimensions of the intercultural“. In: Language Teaching 44.3, 354-367. https: / / doi.org/ 10.1017/ S0261444810000431 (11.07.2022). L ÓPEZ -G OPAR , Mario E. (Hrsg.) (2019): International Perspectives on Critical Pedagogies in ELT. London: Palgrave Macmillan. L UKE , Allan (2012): „Critical Literacy: Foundational notes“. In: Theory into Practice 51, 4-11. N EW L ONDON G ROUP (1996). „A pedagogy of multiliteracies: designing social futures“. In: Harvard Educational Review 66.1, 60-92. N ORTON , Bonny (2007): „Critical Literacy and International Development“. In: Critical Theory, Literacy and Practices 1.1, 6-15. O SLER , Audrey / S TARKEY , Hugh (2010): Teachers and Human Rights Education. London: Institute of Education Press O SLER , Audrey / S TARKEY , Hugh (2018): Teacher education and human rights. New York: Routledge Revivals. P ENNYCOOK , Alastair (1994): „Incommensurable discourses? “. In: Applied Linguistics 15.2, 115- 138. P ENNYCOOK , Alastair (2001): Critical Applied Linguistics: A Critical Introduction. Mahwah, N.J.: Lawrence Erlbaum. P IEPHO , Hans-Eberhard (1974): Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Dornburg-Frickhofen: Frankonius. P IEPHO , Hans-Eberhard (1979): Kommunikative Didaktik des Englischunterrichts. Theoretische Begründung Wege zur praktischen Einlösung eines fachdidaktischen Konzepts. Limburg: Frankonius. P LIKAT , Jochen (2017): Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Frankfurt/ M.: Lang. P LIKAT , Jochen (2018): „Der Evolutionäre Humanismus - eine ethische Grundlage für kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 47.1, 40-55. R ÖMHILD , Ricardo / G AUDELLI , William (2022): „Target Country, Target Culture - Rethinking Cultural Learning in Language Education for Sustainable Development“. In: B ARTOSCH , Roman / Kritische Diskursfähigkeit im Fremdsprachenunterricht 117 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0008 L UDWIG , Christian (Hrsg.): English for Sustainability. Anglistik: International Journal of English Studies 33.2. Heidelberg, Winter: 15-31. R ÖMHILD , Ricardo / M ATZ , Frauke (2021) (Hrsg.): Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 173 [Black Lives Matter]. S CHNITTER , Tobias (2010): „Mündliche Prüfungen gestalten, Sprechkompetenz bewerten“. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 108, 2-8. S TARKEY , Hugh (2012): „Human rights, cosmopolitanism and utopias: implications for citizenship education“. In: Cambridge Journal of Education 42.1, 21-35. S ULTANA , Farhana / L OFTUS , Alex (Hrsg.) (2019): Water Politics: Governance, Justice and the Right to Water. London: Routledge. https: / / doi.org/ 10.4324/ 9780429453571 (11.07.2022). UN (1948): Universal Declaration of Human Rights. https: / / www.un.org/ en/ about-us/ universal-declaration-of-human-rights (25.09.2021). V OLKMANN , Laurenz (2020): „Urteil und Urteilsbildung in der englischen Fachdidaktik - ein nontopic? Von der Spurensuche nach kritisch-reflexiven Anteilen im kompetenzorientierten Englischunterricht“. In: D ICKEL et al. (Hrsg.), 33-46. DOI 10.24053/ FLuL-2023-0009 52 • Heft 1 Christian H ELMCHEN , Sílvia M ELO -P FEIFFER , Julia VON R OSEN (Hrsg.): Mehrsprachigkeit in der Schule. Ausgangspunkte, unterrichtliche Herausforderungen und methodisch-didaktische Zielsetzungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2021, 307 Seiten 68, 00 € Auch wenn Mehrsprachigkeit in der Fremdsprachendidaktik und in der schulischen Praxis von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist, so könnte man dieses Thema in der Forschung als alten Hut ansehen, schließlich bestehen diesbezügliche Forschungsdiskurse schon seit Jahrzehnten und sind bereits in verschiedenen Handbüchern im Überblick präsentiert. Ein weiterer Band zur Mehrsprachigkeit also? Die Herausgeber: innen stellen sich damit einem gut beforschten Themenfeld und schaffen es dennoch überzeugend, neue Aspekte in diesem Sammelband gut strukturiert zu vereinen. Der Band fokussiert einerseits theoretische und politische Ausgangspunkte der Mehrsprachigkeit in der Schule und widmet sich andererseits unterrichtlichen Herausforderungen und methodisch-didaktischen Zielsetzungen. Zu den theoretischen und bildungspolitischen Grundlagen gehört die curriculare Verankerung der Mehrsprachigkeit, die Ursula B EHR differenziert für Thüringen nachzeichnet. Ihre engagierte Analyse der Thüringer Lehrpläne zeigt eine bewusste Ausrichtung auf Mehrsprachigkeit im Blick auf Kompetenzen, Operatoren und Methoden, wobei ein Schwerpunkt auf der Bedeutung der Querschnittskompetenzen Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz liegt. Dies beinhaltet vor allem auch die Berücksichtigung der Muttersprache neben den zu erlernenden weiteren Sprachen. Einen Überblick über Forschungsprojekte der letzten 20 Jahre zur Interkomprehension bieten Sílvia M ELO -P FEIFER und Ana Sofia P INHO unter Rückgriff auf ein Analysemodell von J.- P. C ALVET . Ihre exploratorische Studie zielt konzeptionell auf das Forschungsnetzwerk zur Interkomprehension und basiert auf einer Analyse der Publikationen des Netzwerks Gala (Galatea, Galanet und Galapro). Der Begriff der Interkomprehension wird dabei als zentraler semantischer Knotenpunkt analysiert und im Blick auf seine Möglichkeiten und Grenzen beleuchtet. Im Mittelpunkt des Beitrags von Christian O LLIVIER und Margareta S TRASSER stehen Verfahren zur Evaluation mehrsprachiger Kompetenzen und insbesondere der Interkomprehension. Sie verweisen auf Beispiele im Bereich introspektiver Verfahren, der Portfolio-Arbeit und additiver Verfahren. Das von ihnen entwickelte Projekt EVAL-IC stellt eine überzeugende Umsetzung eines holistischen, authentischen Testverfahrens dar und berücksichtigt die Evaluation rezeptiver und internationaler Interkomprehension sowie der Interproduktion. Dabei geht es um eine vereinfachte sprachliche Produktion in einer vom Rezipienten potenziell verstehbaren Sprache. Lisa Marie B RINKMANN interessiert sich für das Potenzial des Europäischen Sprachenportfolios (ESP) zur Förderung von Language Awareness, das sie im Blick auf die Mehrsprachigkeitsdidaktik und den Ansatz Éveil aux langues analysiert. Nachdem Language Awareness bereits wiederholt auf die Sprachenbiografie des ESP bezogen wurde, votiert die Autorin nun für die zusätzliche Berücksichtigung des Sprachenpasses und des Dossiers, was durch die Reflexion von Sprache und Kultur, die Entwicklung der eigenen Sprachenidentität und die Dokumentation der eigenen Erkenntnisse umzusetzen sei. Die im zweiten Teil des Bands folgenden Beiträge zu konkreten Unterrichtsbeispielen umspannen ein breites Feld aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Schulformen. B e s p r e c h u n g e n Besprechungen 119 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0009 Alice C HIK und Diane A LPERSTEIN präsentieren einen gelungenen Überblick über die Sprachbildungspolitik Australiens. Ausgehend von der Darstellung der Migrationsgeschichte des Landes und der daraus resultierenden sprachlich heterogenen Bevölkerungsstruktur zeigen sie anhand zweier Forschungsprojekte auf, dass gerade auch in der mehrkulturellen und mehrsprachigen Stadt Sydney Mehrsprachigkeit in der Bildungspolitik und im Bewusstsein der Bevölkerung nur eine geringe Rolle spielt und dass Studierende nur wenige Erfahrungen im Sprachenlernen haben. Im Mittelpunkt des Beitrags von Marília P EREIRA steht die Vermittlung des Portugiesischen als plurizentrische Sprache und als Herkunftssprache. In ihrer ethnografischen Studie an einer bilingualen portugiesisch-deutschen Grundschule untersucht sie Lehrende und Lernende, die L1-Sprecher: innen verschiedener Varietäten des Portugiesischen sind und sich gemeinsam in der gleichen Lernumgebung bewegen. Daraus entwickelt sie pädagogische Implikationen zur Entwicklung mehrsprachiger und plurizentrischer Sprechkompetenz des Portugiesischen als Herkunftssprache. Ausgehend vom Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA) geht es Anna S CHRÖDER -S URA um die Förderung von Pluriliteralität und Multiliteralität unter aktiver Berücksichtigung des Elternhauses durch die Bildungsinstitutionen. Sie votiert für eine aktive Einbeziehung der Eltern, da deren Vermittlung von Sprachen und Kulturen der sprachlichen und kulturellen Identitätsentwicklung von Kindern diene, so z.B. in Sprachprojekten oder durch Vereine mit Engagement für die Kooperation zwischen Eltern und Bildungseinrichtungen. Muttersprachliche Lernende im Fremdsprachenunterricht stehen im Mittelpunkt einer Studie von Daniel R EIMANN , der die Sprecher: innen der jeweiligen Herkunftssprache im Spanisch-, Portugiesisch- und Italienischunterricht untersucht. Neben der Darstellung des Forschungsstands werden erste Teilergebnisse basierend auf leitfadengestützten problemzentrierten Schülerinterviews vorgestellt. Ziel der Studie ist die Inklusion dieser Lernenden in den Unterricht. Zudem werden unter Berücksichtigung von Forschungsergebnissen aus den USA und aus der slawistischen Fachdidaktik Anregungen für die Praxis diskutiert. Julia VON R OSEN visiert die konkrete Unterrichtspraxis des Französischunterrichts an und entwickelt zwei sprachenübergreifende Module für den Anfangsunterricht. Darüber hinaus geht sie der Frage nach Ursachen für zögerliche bildungspolitische Reaktionen auf fremdsprachendidaktische Forderungen nach verstärkter Umsetzung mehrsprachigkeitsorientierter Perspektiven nach und stellt dabei innerschulische Widerstände vor, d.h. Einstellungen von Lehrkräften, Ressourcenmanagement in Schulen oder auch die Orientierung an bestehenden Schulfächern. Im Fokus des Beitrags von Steffi M ORKÖTTER und Melanie VAN I ERSEL stehen Interaktionen von Schüler: innen der Sekundarstufe I, die während der Bearbeitung von Aufgaben zur Mehrsprachigkeit stattfinden. Sie analysieren die Strategien von zwei Schüler: innen, die in einem authentischen Dialog im Anfangsunterricht Spanisch bei der Bearbeitung einer Aufgabe auf ihre Erfahrungen beim Englischlernen zurückgreifen. Dabei sei nicht nur der kooperative Lernprozess, sondern auch dessen Reflexion zur Entwicklung von Sprachlernkompetenz und Sprachbewusstheit relevant. Eleonora B. B OTTURA und Sandra R. B. G ATTOLIN untersuchen in ihrer autoethnografischen Studie die Rolle von Lehrenden für Portugiesisch als Willkommenssprache bzw. Zweitsprache, ihre schulische Praxis sowie die Relevanz der Lehrkräfteausbildung in Brasilien. Im Fokus stehen dabei gefährdete Einwanderinnen und Flüchtlinge, die an einem Kurs für Portugiesisch speziell für diese Zielgruppe teilnehmen. Ziel dieses Beitrags ist die Sensibilisierung von Fachleuten für die Besonderheiten und Bedürfnisse eines solchen Unterrichts mit diesem konkreten Kontext. 120 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0010 52 • Heft 1 Der letzte Beitrag ist curricularen Aspekten gewidmet. Francisco C ALVO DEL O LMO und Karine Marielly R OCHA DA C UNHA präsentieren die Integration der Interkomprehension in Studiengänge der romanischen Sprachen ausgehend von ihren Erfahrungen an der Universidad Federal de Paraná in Brasilien. Sie schildern die zunehmende curriculare Verankerung der Interkomprehension an lateinamerikanischen Universitäten und Erfahrungen damit, d.h. programmatische Umsetzungen, Belegzahlen, Aktivitäten in den Kursen oder auch die Evaluation. Insgesamt eröffnen die Beiträge einen breiten und differenzierten Blick auf mehrsprachigkeitsdidaktische Zusammenhänge mit Beispielen aus verschiedenen Regionen, konkret von Deutschland über Australien bis nach Brasilien, und adressieren diverse Themenfelder wie beispielsweise curriculare Fragen, Lernerstrategien oder Bezüge zum Elternhaus. Eine Besonderheit, die diesen Band gegenüber anderen vergleichbaren Publikationen zur Mehrsprachigkeit auszeichnet, ist die praktizierte Mehrsprachigkeit bzw. die Viersprachigkeit des Sammelbands mit Beiträgen in Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch. Gleich mehrere Beiträge thematisieren portugiesische und brasilianische Kontexte, doch kommt das Portugiesische als Wissenschaftssprache hier nicht zum Tragen. An dieser - bewussten oder unbewussten - Entscheidung der Herausgeber: innen wird das Grundproblem der Mehrsprachigkeit deutlich, deren Grenzen an der Verbreitung der jeweiligen Sprache zu enden scheint. Dennoch bilden die Breite des Themenspektrums und die sprachliche Vielfalt sowie die im Einzelnen adressierten Gegenstände eine sinnvolle weitere Facette zum Diskurs der Mehrsprachigkeit mit neuen Perspektiven, die Rezipienten aus Forschung, Bildungs- und Sprachenpolitik sowie Akteure in der schulischen Praxis mit Gewinn lesen können. Augsburg C HRISTIANE F ÄCKE Cynthia F REUDENTHAL : Ökologische Diskurse im Fremdsprachenunterricht. München: iudicium 2021, 246 Seiten [28,00 €] Bei der Dissertationsschrift von Cynthia F REUDENTHAL handelt es sich um eine empirische Arbeit, die einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit globalen Herausforderungen als Lehr- und Lerngegenstand sowie zur Etablierung des Begriffs Umweltkompetenz im Fremdsprachenunterricht leisten möchte. Die global wachsenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme sind unter anderem auf das Streben nach uneingeschränktem Wachstum und die stetige Übernutzung natürlicher Ressourcen zurückzuführen. Bei dem Versuch, sie zu lösen, bringen sie Zielkonflikte mit und erfordern eine umfassende Veränderung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. In der Annahme, dass Bildungs- und Erziehungssysteme durch die Bearbeitung globaler und ökologischer Fragestellungen zu einem nachhaltigen Denken und Handeln ermutigen, untersucht F REUDENTHAL in ihrer Studie, ob ökologische Diskurse im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht zur Förderung von Umweltkompetenz und ferner zu einer nachhaltigen Entwicklung der Weltgesellschaft beitragen (S. 13). Die Arbeit ist in acht Einzelkapitel gegliedert, wobei drei den theoretischen Grundlagen (Kapitel 2-4) und drei der empirischen Untersuchung (Kapitel 5-7) zuzuordnen sind. Im theoretischen Teil wird zunächst die chronologische Weiterentwicklung verschiedener Ansätze der „Landeskundevermittlung“ im Fremdsprachenunterricht nachgezeichnet (Kapitel 2). Obwohl die kontroverse Bezeichnung „Landeskunde“ als Leitbegriff des Kapitels dient, liegt der Studie ein bedeutungs- und wissensorientiertes Kulturverständnis in Anlehnung an R ECKWITZ zugrunde. Auch der Bezug auf A LTMAYER s Diskursive Landeskunde lässt eine Orientierung an nicht essentialisierenden Kulturkonzepten erkennen. Zentrale Lernziele stellen die Besprechungen 121 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0010 Teilhabe an (deutschsprachigen) Diskursen und die Aushandlung von Bedeutungen durch die Lernenden dar. Verknüpft mit dem Konzept des Globalen Lernens, weitet sich der Blick auf komplexe, weltumspannende Zusammenhänge. Die Auseinandersetzung damit regt dazu an, ein Bewusstsein für das Vernetztsein der Menschen untereinander und mit ihrer Umgebung zu entwickeln und zu erkennen, „dass die persönliche Weltanschauung auch kulturell verhaftet ist“ (S. 34). Da Erinnerungsorte geeignet sind, „unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen, -veränderungen und -aktualisierungen sichtbar und für Lernende nachvollziehbar [zu] machen“ (S. 26) sowie Reflexionsprozesse und Diskussionen in der Fremdsprache anzustoßen, erläutert die Autorin in Kapitel 3 grundlegende kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, wie das kollektive (H ALBWACHS ), soziale (W ARBURG ) und kulturelle Gedächtnis (Aleida und Jan A SSMANN ) sowie das Konzept der lieux de mémoire von N ORA . Für die Studie besonders relevant ist die thematische Ausdifferenzierung des Konzepts im Hinblick auf ökologische Ereignisse, Orte, Institutionen oder Termini, wie sie von U EKÖTTER et al. für Deutschland vorgenommen wurde sowie die Arbeit mit Erinnerungsorten im Fremdsprachenunterricht (Kapitel 4). F REUDENTHAL verknüpft beide Stränge miteinander und führt zusätzlich den Begriff der Umweltkompetenz ein, welcher auf die environmental literacy der N ORTH A MERICAN A SSOCIATION FOR E NVIRON - MENTAL E DUCATION (N AAEE ) zurückgeht. Umweltkompetenz umfasst der Organisation zufolge vier Teilbereiche: (1) Wissen, (2) innere Haltung (Überzeugungen und Werte), (3) Kompetenzen (unterteilt in Fertigkeiten und Fähigkeiten) und (4) umweltverantwortliches Verhalten. Diese vier Kategorien dienen im weiteren Verlauf der Operationalisierung der erhobenen Daten. Im empirischen Teil stellt die Autorin zuerst Vorüberlegungen zu den Unterrichtssituationen ihrer Studie an (Kapitel 5). Darauf folgt eine detaillierte Erläuterung der Unterrichtsreihen und der entwickelten Unterrichtsmaterialien (Kapitel 6). Zum Schluss erfolgt eine Beschreibung des Forschungsdesigns und -prozesses (Kapitel 7). Hinsichtlich der Auswahl der beiden ökologischen Erinnerungsthemen Wasser und Müll sowie des ökologischen Erinnerungsorts Wyhl orientiert sich die Autorin hauptsächlich an B ADSTÜBNER -K IZIK s inhaltlichen Selektionskriterien für Erinnerungsorte und an U EKÖTTER s ökologischen Erinnerungsorten. Wenngleich keine begriffliche Unterscheidung in der Publikation vorgenommen wird, betont F REUDENTHAL den globalen und transnationalen Charakter von Erinnerungsthemen sowie die nicht auf einen einzigen Ort beschränkten Auswirkungen im Umgang mit Wasser und Müll. Wyhl ist hingegen eine kleine Gemeinde in Deutschland, die als Wiege der Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung gilt. Dort wurde nämlich in den 1970er-Jahren der Bau eines Atomkraftwerks verhindert. Es handelt sich explizit um einen Erinnerungsort, der sich durch seine abgrenzbare räumliche Dimension auszeichnet und Einblicke in die lokale, deutsch-deutsche Geschichte gewährt. Aus didaktischer Perspektive wird der Einsatz vielfältiger Textsorten in diversen medialen Darstellungsformen berücksichtigt (vgl. S. 75-77). Außerdem wird eine Bearbeitung der Unterrichtsmaterialien auf unterschiedlichen Sprachniveaus beabsichtigt, in jedem Fall jedoch auf einem fortgeschrittenen Niveau (B2/ C1 lt. GER). Für jeden der drei Erinnerungsorte schlägt die Autorin eine zwölfteilige Unterrichtsreihe im Ausmaß von zwei Semesterwochenstunden vor, von denen neun Unterrichtseinheiten à 90 Minuten detailliert ausgearbeitet und an fünf unterschiedlichen Universitäten bzw. Hochschulen und einer Sprachschule mit internationalen Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen erprobt wurden. Von den neun Unterrichtseinheiten entfallen fünf auf das Erinnerungsthema Wasser und jeweils zwei auf Wyhl und Müll. Die Leistung besteht beim vorliegenden Unterrichtsmaterial meines Erachtens darin, nach dem Vorbild der ökologischen Erinnerungsorte, 122 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0010 52 • Heft 1 globale Erinnerungsorte unter Einbezug sowohl deutschsprachiger Diskurse als auch ökologischer Aspekte herauszuarbeiten und zu didaktisieren. Um die Forschungsfrage der qualitativ ausgerichteten Studie zu beantworten, verbindet F REUDENTHAL drei unterschiedliche Datentypen im Sinne der Methodentriangulation: (1) ein Fragebogen bestehend aus 14 Fragen, der Einblicke in individuelle Einstellungen der Lernenden ermöglicht und von 51 Personen ausgefüllt wurde, (2) 41 Lernerinnen- und Lernertexte, bei denen sich die Lernenden emotional mit den ökologischen Erinnerungsorten auseinandersetzen und ihre persönliche Meinung kundgeben und (3) drei exemplarische Sequenzen von insgesamt fünf videografierten Unterrichtseinheiten, welche die Handlungs- und Interaktionsmuster der Studierenden zeigen (vgl. S. 162-170). Während die schriftlichen Daten inhaltlich strukturiert und anhand der qualitativen Inhaltsanalyse nach M AYRING ausgewertet werden, wählt die Autorin für die Videomitschnitte die Sequenzanalyse. Beide Auswertungsprozesse werden ausführlich und nachvollziehbar anhand des selektierten Datenmaterials beschrieben. Bei der Ergebnisdarstellung greift F REUDENTHAL die vier Bereiche der Umweltkompetenz auf: (1) Sie stellt fest, dass ein Großteil der Teilnehmenden neue Kenntnisse erlangt bzw. vorhandenes Wissen erweitert hat. Viele Befragte erkannten ökologische Probleme spezifischer Länder und globale Verbindungen (vgl. S. 217). Einige gaben an, keine Vorkenntnisse zu den behandelten Themen gehabt zu haben (vgl. S. 216). (2) Die innere Haltung, d.h. das Verantwortlichkeitsgefühl, die innere Sensibilität oder Einstellung gegenüber Umweltproblemen, wurde bei mehreren Personen bekräftigt und einige wenige Studierende zeigten ein persönliches Interesse an ökologischen Themen (S. 216). Manche äußerten jedoch Desinteresse und „fehlendes Verantwortlichkeitsgefühl“ (S. 206) sowie Angst und Sorgen um die Zukunft (vgl. S. 207). (3) Etwas weniger als die Hälfte der Befragten war sich ihrer individuellen Sichtweisen bewusst oder stellte eine Veränderung ebendieser fest. Dies spricht für eine Sensibilisierung für ökologische Zusammenhänge. (4) Ebenso gaben mehrere Teilnehmende an, Umweltschutz als wichtig zu erachten und äußerten die Absicht, sich aktiv dafür einzusetzen (vgl. S. 216). In den analysierten Videosequenzen wurde herausgearbeitet, dass sich die Studierenden zu individuellen Erlebnissen und Sichtweisen äußerten, offen gegenüber den Aussagen anderer Kursteilnehmenden waren und konstruktiv auf die Redebeiträge anderer reagierten. Mit Blick auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung und weitere Forschungsarbeiten stellt sich im Kontext des Fremdsprachenunterrichts die Frage, inwiefern eine Erweiterung um das Konzept der Umweltkompetenz bzw. sustainability education zielführend ist oder mit bestehenden Modellen (z.B. Globale Entwicklung, Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen) kombiniert werden könnte. Im Sinne der Operationalisierung ist eine Beschränkung auf die Umweltkompetenz in dieser Studie jedoch nachvollziehbar. Schwierig scheint hingegen, aus den analysierten Daten unter anderem abzuleiten, dass ökologische Diskurse im Fremdsprachenunterricht „zu einer nachhaltigen Entwicklung unserer Weltgemeinschaft beitragen“ (S. 218) können, da Selbstbeschreibungen nicht unbedingt aussagekräftig sind (vgl. S. 63) und die Autorin selbst an anderer Stelle Folgendes kritisch zu bedenken gibt: Ob ein Mensch Kenntnisse zu ökologischen Thematiken und Zusammenhängen besitzt und als umweltkompetent bezeichnet werden kann, drückt sich in seinem individuellen Verhalten aus. Erst das tatsächlich umweltverantwortliche Handeln zieht die übrigen Teilelemente von Umweltkompetenz (Wissen, Verhalten, Kompetenzen) mit ein und wendet sie in einem bestimmten Kontext an. (S. 212) Fazit: Diese Studie legt mit ihrem Fokus auf einer differenzierten Beschäftigung mit ökologischen Lehr- und Lerngegenständen einen wichtigen Grundstein für die weitere Auseinandersetzung mit den Nachhaltigkeitszielen und deren Umsetzung auf unterschiedlichen Ebenen des Besprechungen 123 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0011 Fremdsprachenunterrichts. Insbesondere die Erweiterung des in der Fremdsprachendidaktik etablierten Konzepts der Erinnerungsorte sowie der Einbezug von visuellem und ästhetischliterarischem Unterrichtsmaterial, welches nicht rein auf den deutschsprachigen Raum beschränkt bleibt sowie die Lernenden zur Kooperation und zum produktiven Austausch anregt und über Faktenwissen hinausgeht, scheint mir im Sinne eines kulturreflexiven und diskursiven Lernens lohnend. Insgesamt empfehle ich die Studie vor allem Fremd- und Zweitsprachenlehrenden und -studierenden, da zahlreiche Impulse und Materialien bereitgestellt werden, die, wie von F REUDENTHAL vorgeschlagen oder adaptiert, im Unterricht eingesetzt werden können. Salamanca M IRIAM P IEBER Akra C HOWCHONG : Sprachvermittlung in den Sozialen Medien. Eine soziolinguistische Untersuchung von DaF-Sprachlernvideos auf Videokanälen. Berlin: Erich Schmidt 2022, 435 Seiten [89,95 € Paperback - 81,90 € E-Book] In der vorliegenden, gekürzten Fassung seiner Dissertation unterzieht Akra C HOWCHONG ausgewählte DaF-Sprachlernvideos der sozialen Medienplattform YouTube einer umfassenden soziolinguistischen Analyse. Hierbei untersucht er, basierend auf dem im deutschsprachigen Raum wenig beachteten Konzept des Stancetaking, systematisch Positionierungsakte von Video-Produzent: innen und deren Publikum, wobei er sowohl Spezifika der partizipativ-interaktionalen kommunikativen Gattung Sprachlernvideo als auch vorherrschende Spracheinstellungen sowie -ideologien herausarbeitet. Die knapp 435 Seiten umfassende, in neun Kapitel untergliederte Monografie bietet der Leserschaft damit Einblicke in den bis dato kaum untersuchten Gegenstand frei zugänglicher, frei produzierter Sprachlernvideos, die u.a. aufgrund ihrer Reichweite einen unterschätzten Einfluss auf das Sprachenlernen und -lehren vermuten lassen. Der Aufbau folgt dabei der klassischen Dreiteilung Theorie (Untersuchungsgegenstand Sprachlernvideo, soziolinguistisches Konzept Stancetaking), Empirie (Korpus, Untersuchungsmethoden) und Diskussion, wobei Überblickstabellen innerhalb der Kapitel wichtige Erkenntnisse und Forschungsentscheidungen zusammenführen sowie klar formulierte Zusammenfassungen ein jedes Kapitel abschließen. In seiner Einleitung (Kapitel 1) verweist C HOWCHONG auf eine Vielzahl positiver Eigenschaften partizipativer Sprachlernvideos in Bezug auf innovatives Sprachenlernen und darauf, dass sie metasprachliche Positionierungsakte, wie persönliche Meinungen oder Einstellungen zur deutschen Sprache - hier mit Blick auf das herangezogene Konzept des Stancetaking als Stances bezeichnet - innerhalb und außerhalb der Videos zum Ausdruck bringen. Eben diese Positionierungsakte bilden das Forschungsinteresse des Verfassers, der Stances mittels multimodaler Analyse zu evaluieren und einzuordnen sucht. In Kapitel 2 folgt dafür zunächst eine Darstellung des Forschungstandes zu Lernvideos und eine Einordnung mit Blick auf das Konzept der kommunikativen Gattung. Hinsichtlich des multimodalen Untersuchungskontexts YouTube wird zudem die Eigenschaft der digitalen Partizipation hervorgehoben, die eine Dialogizität bzw. intertextuelle Verknüpfung zwischen Video-Produzent: innen und Nutzer: innen aber auch innerhalb der beiden Gruppen selbst erlaubt. Ausführlich dargestellt werden die erstaunlich wenigen deutsch- und englischsprachigen Studien zum Gegenstand, bevor eine Definition von (Sprach-)Lernvideo das Kapitel abschließt. Den Fokus von Kapitel 3 bildet das Konzept des Stancetaking (Kapitel 3). C HOWCHONG verwendet es, um zu evaluieren, „wie metasprachliche Urteile sowie sprachideologische Aus- 124 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0011 52 • Heft 1 sagen in die Kommunikation im Kontext der Sprachlernvideos […] eingebettet und […] dialogisch zwischen den Produzierenden und dem Publikum ausgehandelt werden“ (S. 35). Jede Positionierung (Stance) ist dabei in machtvolle historische wie gesellschaftliche Diskurse eingebunden. Entsprechend anschlussfähig erscheint das Konzept der Metasprachdiskurse, das im vorliegenden Fall Repräsentationen und Evaluationen von Spracheinstellungen und -ideologien meint, d.h. „explizit und implizit gemachte Aussagen über die deutsche Sprache“ (S. 95). Die hier erfolgende kritische Einordnung von Standardideologie und Muttersprachler: in-Ideologie bietet m.E. auch für den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht relevante Impulse, Reflexionsmöglichkeiten und weiterführende Forschungsfragen. Mithilfe des übergreifenden Stancetaking-Konzepts gelingt es C HOWCHONG eindrücklich, unterschiedliche soziolinguistische Phänomene unter einer gemeinsamen Zielsetzung zu betrachten und die empirische Analyse entsprechend der dreiteiligen Stancetaking-Akte Positionierung, Evaluation und Ausrichtung zu gliedern. Kapitel 4 widmet sich anschließend der Darstellung von Korpus und Methode. C HOW - CHONG gewährt hier Einblicke in alle Verfahren des Samplings, z.B. bezogen auf die Auswahl der fünf meist abonnierten, privaten Kanäle zum Deutschlernen, bei denen Produzent: innen in Videos zu sehen sind (Stand Januar 2017), oder auch die Reduktion auf 120 sprachdidaktische Videos dieser Kanäle zu Inhalten der Phonologie/ Orthografie, Lexik und Grammatik. Zur Analyse werden außerdem 1380 Kommentare hinzugezogen sowie Auszüge retrospektiver Einzelinterviews mit zwei Kanal-Besitzerinnen. Im Anschluss daran legt der Autor die heranzuziehenden Evaluationsperspektiven hinsichtlich Sprachsystem und Sprachgebrauch dar. In Bezug auf das Sprachsystem leitet er diese sowohl deduktiv aus der Spracheinstellungsforschung als auch induktiv aus dem Korpus ab und bestimmt so sieben Kategorien: Lernbarkeit, Ästhetik, Regelhaftigkeit, Wortschatzreichtum, Notwendigkeit, Gleichberechtigung und Ähnlichkeit. Hierbei fällt auf, dass C HOWCHONG zwar die fehlende Trennschärfe zwischen Lernbarkeit und Regelhaftigkeit erwähnt, diese jedoch nicht auflöst und an beiden Kategorien festhält. Ähnliches lässt sich über die Kategorien Gleichberechtigung und Notwendigkeit sagen: Auch hier wäre es auf Basis der angeführten Definitionen ggf. sinnvoll gewesen, beide Kategorien zusammenzuführen. Bei der Evaluation des Sprachgebrauchs greift C HOWCHONG auf das System der diasystematischen Markierungen nach H AUSMANN zurück, die er um drei Markierungen reduziert und den Aspekt Gleichwertigkeit ergänzt. Interessant daran ist, dass zwei der reduzierten Markierungen in der späteren metasprachlichen Analyse der Kommentare (Kapitel 8.3) vorkommen und sich m.E. im Rahmen der Positionierungsakte als Sprachexpert: in und Sprachideologien hätten auswerten lassen. Dabei handelt es sich um fachsprachliche Ausdrücke (diatechnische, z.B. S. 352, Auszug (120), (122)) sowie konnotierte Ausdrücke (diaevaluative, z.B. S. 371, Auszug (205), (206)). Vor Darstellung der Stancetaking-Akte analysiert C HOWCHONG in Kapitel 5 ausführlich die kommunikative Gattung Sprachlernvideo und betrachtet u.a. die diskursiv konstituierte Teilnehmer: innenkonstellation, Dialogstrukturen und ritualisierte kommunikative Handlungen. Interessante Ergebnisse sind, dass alle YouTube-Kanäle in ihrer Farbstruktur - meist schwarz, rot, gold/ gelb - und ggf. anderweitig semiotisch auf Deutschland Bezug nehmen und dass Struktur und Inhalte der Sprachlernvideos in vielen Fällen herkömmlichem Sprachunterricht ähneln - sich also vor allem durch einen informellen Kommunikationsstil und eine größere Thematisierung des individuellen Sprachgebrauchs der Produzent: innen davon zu unterscheiden scheinen. Kapitel 6 betrachtet die Sprachlernvideos mit Blick auf Positionierungsakte, die Expertise vermitteln sollen. Die Positionierung als Lehrer: in erfolgt dabei durch die Video-Produzent: innen selbst nie direkt, sondern vielmehr implizit durch die Fremdpositionierung des Pub- Besprechungen 125 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0011 likums als Lernende und mittels kategorierelevanter performativer Verben (z.B. lehren, erklären etc.). Die Positionierung als Muttersprachler: in wird durch eine mehrheitlich exklusive Verwendung von „we/ wir“ (Muttersprachler: innen, native/ German speaker) und „haben“ realisiert. Zum Tragen kommt auch das für alle Videos relevante Phänomen des Code-Switching, das beide Positionierungsakte unterstützt. Kapitel 7 beleuchtet die Evaluation von Sprachsystem und Sprachgebrauch, die in 85% der Sprachlernvideos zu beobachten ist. In puncto Sprachsystem lassen sich dabei vor allem für Lernbarkeit und Regelhaftigkeit Attribute identifizieren, die eine didaktische Funktion erfüllen (z.B. Sprachvergleiche, Adjektiv „einfach“ etc.), aber auch solche, die eine soziale Funktion - das Erzeugen einer kollektiven Identität und Zugehörigkeit - besitzen (z.B. Verständnis/ Mitleid zeigen). Bedenkt man das betrachtete Medium (soziale Medienplattform), scheint dieses Ergebnis wenig verwunderlich, stellt aber einen wichtigen Befund zu partizipativen Sprachlernvideos dar. Hinsichtlich des Sprachgebrauchs fällt der Fokus auf Regionalität auf: Er erlaubt allen Video-Produzent: innen keine oder eine Positionierung hin zu Standard- oder Regionalsprache. Im Weiteren geht C HOWCHONG mittels ausgewählter Fallbeispiele auf vorhandene Spracheinstellungen und -ideologien ein und arbeitet u.a. heraus, dass die grundsätzlich vertretene präskriptive Standardideologie oftmals im Konflikt mit dem eigenen Sprachgebrauch der Video-Produzent: innen und ihrer Muttersprachler: in-Ideologie steht - sprachideologische Befunde, deren (vergleichende) Untersuchung auch im Kontext herkömmlichen Sprachunterrichts lohnenswert erscheint. Abschließend widmet sich Kapitel 8 dem Stancetaking im Kommentarbereich. Hier wird deutlich, dass die Positionierung als Nicht-Muttersprachler: in oft mit einer Positionierung als Nicht-Expert: in einhergeht. Wenig überrascht deshalb der Befund, dass diese Gruppe häufig Verständnisfragen sowie Lernbarkeit und Regelhaftigkeit der deutschen Sprache thematisiert, während die Gruppe der Sprachexpert: innen bzw. Muttersprachler: innen Kommentare nutzt, um Wissen auszuhandeln bzw. Deutungshoheit zu gewinnen. Trotz der Vielzahl der betrachteten Einzelaspekte schafft es C HOWCHONG hier eindrucksvoll, Querverbindungen aufzuzeigen und Befunde verständlich darzustellen. Lediglich ein Aspekt bleibt im Akt der Positionierung als Sprachexpert: in m.E. unterbeleuchtet, nämlich der der gezielten Verwendung bestimmter Sprachen (Englisch, Deutsch) bzw. von Code-Switching in bestimmten Kontexten (z.B. Deutungshoheit gewinnen, Nicht-Expert: innen etwas erklären). Im letzten Kapitel (9) gelingt C HOWCHONG auf beeindruckend komprimierte Weise eine Zusammenfassung der vielfältigen Ergebnisse seiner innovativen Forschung, die neben der umfassenden soziolinguistischen Betrachtung eines bisher zu wenig erforschten Gegenstandes u.a. im gewinnbringenden Einsatz des Stancetaking-Konzepts zur Analyse multimodaler Online-Daten liegt. Sie gewährt Einblicke in Positionierungsakte von (selbsternannten) Sprachvermittler: innen sowie deren Verflechtung in bestehende machtvolle Diskurse. Daraus eröffnen sich für die fremdsprachliche Lehr- und Lernforschung Fragen nach Ausprägung, Wirkung bzw. kritischer Reflexion der hier identifizierten Positionierungsakte in anderen Lehr-/ Lernkontexten oder auch dem Einfluss von (Positionierungsakten in) Sprachlernvideos unterschiedlicher Produktionsarten und Zugänge auf das fremdsprachliche Lernen/ Lehren. Wien K ATRIN H OFMANN 126 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2022-0012 52 • Heft 1 Phil B ENSON : Language Learning Environments. Spatial Perspectives on SLA. Bristol/ Blue Ridge Summit: Multilingual Matters 2021, 157 Seiten [29,95 €] „Der, die, das ... Wer, wie, was … wieso, weshalb, warum“: All diese Fragen aus dem Sesamstraßen-Song kennt im deutschsprachigen Raum nicht nur fast jedes Kind, sie werden in der Fremdsprachen(erwerbs)forschung auch seit Jahren bzw. Jahrzehnten bearbeitet: Wer sind die Lernenden, wie lernen sie, was lernen sie und warum? Die Frage, wo sie lernen („The where of second language aquisition“), findet demgegenüber bisher kaum Berücksichtigung. Dabei ist Raum in den Bezugswissenschaften, nicht nur in der Geographie, sondern im Rahmen des Spatial Turns beispielsweise auch seit einigen Jahrzehnten für die Kulturwissenschaft ein zentraler Forschungsbegriff. Über die Angewandte Linguistik fand Raum in den letzten Jahren mit dem Ansatz der Linguistic Landscapes zumindest vereinzelt in Form einer praktischen Umsetzung in der Fremdsprachendidaktik Berücksichtigung. Raum im Sinne des Lernortes oder der Lernumgebung wird im Bereich des Fremdsprachenerwerbs bisher jedoch nur vereinzelt berücksichtigt. Phil B ENSON hat diese räumliche Dimension des Fremdsprachenlernens in seinem, im Sommer 2021 erschienenen Band „Language Learning Enviroments“ zum Thema gemacht. Fragen, denen er sich in diesem Band theoretisch anzunähern versucht, sind: Welchen Einfluss hat der Raum auf das Sprachenlernen und wie beeinflusst die Lernumgebung den Sprachlernprozess? (3). Phil B ENSON , Professor für Angewandte Linguistik und Direktor des Forschungszentrums für Mehrsprachigkeit an der Macquarie University in Sydney, Australien, fokussiert im hier besprochenen Band auf die räumliche Dimension von v.a. informellem Sprachenlernen außerhalb des Klassenzimmers, beispielsweise im Rahmen von Studienaufenthalten im Zielsprachengebiet. Er geht der Frage nach: Welche Räume werden von den individuellen Lernenden geschaffen, in denen Sprachenlernen stattfindet? Um dieses zunächst abstrakt wirkende Unterfangen zu veranschaulichen, sei hier auf ein konkretes Fallbeispiel aus B ENSON s eigener Forschung verwiesen. Berichtet wird von einer vietnamesischen Studentin, die in Australien Englisch lernt, um dort ein Masterstudium aufzunehmen, mit dem langfristigen Ziel, einen Job in Australien zu finden. Sie lernt unter der Woche an einer Sprachschule und arbeitet an den Wochenenden in einem Einkaufszentrum, zu beiden Orten pendelt sie von ihrer Wohngemeinschaft in einem Vorort aus. Sie spricht Englisch mit ihren chinesischen und indischen Mitbewohnerinnen und nutzt ihre Zeit zu Hause, um Hausaufgaben zu machen und gemeinsam mit den Mitbewohnerinnen fernzusehen. In ihrem Job spricht sie mit den Kunden Englisch und Vietnamesisch, und in der Sprachschule versucht sie, Gelegenheiten zu nutzen, um mit den Lehrenden außerhalb des Unterrichts Englisch zu sprechen. Sie hat weniger Kontakt mit Erstsprachensprecher: innen des Englischen als gewünscht, ist aber zufrieden und hat das Gefühl, ihren Zielen näher zu kommen (132). Dieses Fallbeispiel dürfte zunächst verdeutlichen, dass es B ENSON um das Lernen bzw. den Erwerb einer weiteren Sprache nach einer oder mehrerer Erstsprachen geht, und darüber hinaus darum, welche Lernräume sich hierbei außerhalb des Unterrichts eröffnen bzw. von den Lernenden selbst geschaffen werden, und wie relevant diese für den Sprachlernprozess sind. Als Zielgruppe verweist B ENSON auf Sprachlernende im Kontext von Globalisierung, Tourismus, Migration und in der internationalen Wirtschaft. Die räumlichen Dimensionen solcher Lernprozesse bezeichnet er als (Lern)Umgebungen („environments“) und (Lern)orte („setting“), und in Abgrenzung zu (Lern)kontexten („context“). Kurz zusammengefasst wird die Umgebung („environments“) als Aggregat mehrerer Orte („settings“) verstanden. Ein Ort („setting“) ist demgegenüber ein einzelner Raum, während eine Umgebung aus mehreren Räumen bzw. Orten besteht, die entweder geografisch oder im Leben eines Individuums miteinander verbun- Besprechungen 127 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0012 den sein können (9 sowie ausführlich Kapitel 5). Kontext kann laut B ENSON alles sein, was dem/ der Lernenden begegnet bzw. ihn/ sie als Input erreicht. Der vorliegende Band, der mit seinem Umfang von insgesamt 140 Seiten Fließtext als überschaubar bezeichnet werden kann, gliedert sich in sechs Kapitel, in denen sich B ENSON mit einem breiten und multidisziplinären theoretischen Spektrum von Auffassungen über die Rolle des Raums in der Sprache und beim Spracherwerb auseinandersetzt. Entsprechend ist die Lektüre als durchaus theoretisch dicht zu bezeichnen. Von daher ist die im einführenden Kapitel - mit Herleitung des Themas („The where of second language aquisition“) und Überblick über die Inhalte der einzelnen Kapitel - angeschlossene Übersicht („Some key terms“) von Definitionen der im Band verwendeten Kernbegriffe für ein detailliertes Verständnis der folgenden theoretischen Abhandlungen äußerst hilfreich. Diesem einleitenden Kapitel zum Ort des Fremdsprachenlernens folgen mit jeweils ca. 25 Seiten fünf weitere Kapitel zu den Themen: Raumtheorien, Linguistik und Räumlichkeit der Sprache, sprachtragende Assemblagen, Sprachlernumgebungen, Raum und Fremdsprachen(erwerbs)forschung. Zwischen den einzelnen Kapiteln werden Abbildungen gezeigt, die für B ENSON die jeweils behandelten Themen symbolisieren dürften, so zum Beispiel eine Luftaufnahme der Umgebung des Amsterdamer Flughafens Schiphol als Beispiel einer durch menschlichen Eingriff gestalteten Landschaft (10) oder ein Foto eines doppelstöckigen, mit lateinischen und chinesischen Schriftzeichen und weiteren Symbolen gestalteten Busses in einer Straße von Hongkong zur Illustration einer mehrsprachig sprachtragenden Assemblage („Language-bearing assemblage“) in Bewegung (64). Unter solchen sprachtragenden Assemblagen versteht B ENSON Objekte, die, wie dieser Bus, sprachtragende Elemente beinhalten und somit der Sprache Räumlichkeit verleihen, indem sie sie in die Welt tragen. Kapitel 2 („Theories of Space“) bietet einen multidisziplinär ausgerichteten Überblick über postmoderne Raumtheorien. Davon ausgehend, dass Raum sozial produziert ist, sieht B ENSON Sprachlernumgebungen als Ergebnis der Produktion von Raum, die durch globale Mobilität physischer Objekte, wie Menschen, Güter und Informationen, geformt, und auf globaler und lokaler Ebene produziert werden (34). Wesentlich ist hierbei die vom Autor vorgeschlagene Perspektive von Objekten-als-Raum („objects-as-space“), bei der Raum durch Objekte kreiert wird, anstatt sie zu enthalten, wie es bei der Objekte-im-Raum-Perspektive („objects-inspace“), die den Raum als eine Leere sieht, in der Dinge passieren, der Fall wäre. B ENSON beschäftigt sich im 3. Kapitel („Linguistics and the Spatiality“) mit der Verbindung von Raum und Sprache, die - so B ENSON - in der Linguistik durchweg aus einer Sprache-als- Objekt-im-Raum-Perspektive betrachtet wird („objects-in-space“), aus der physische Räume, die sich um das Objekt Sprache herum entwickelt haben, beispielsweise als Nationalstaaten und -sprachen identifiziert werden. Entsprechend neigt die Lehr- und Lern-Perspektive dazu, eine Zielsprache als ein standardisiertes Objekt-im-Raum, verpackt in Lehrbüchern, Wörterbüchern, Grammatiken und andere Sprachlernmaterialien, wahrzunehmen (63). In Kapitel 4 („Language-Bearing-Assemblages“) wird die alternative Sicht des Autors auf Räumlichkeit und Sprachenlernen entwickelt, im Sinne einer Objekte-als-Raum-Perspektive („objects-as-space“) und davon ausgehend, dass die Verbreitung von Sprache extraterritorial ist. Sie geht - in Anlehnung an D E L ANDA - davon aus, dass Sprache in Form von sprachtragenden Assemblagen (Gedanken, Sprache, Schrift, Facebook-Posts, Gespräche, Briefe, Audio- und Videoaufnahmen usw.) in den Raum integriert ist. Diese Assemblagen werden in Kapitel 5 („Language Learning Environments“) als Ressourcen für das Sprachenlernen konzeptualisiert. Sie bilden durch Globalisierung geprägte lokale räumliche Sprachlernumgebungen, die wiederum durch die individuelle Perspektive einzelner Lernender wahrgenommen und gestaltet werden und Auswirkungen auf das Engagement und 128 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0013 52 • Heft 1 den Erfolg beim Lernprozess haben können. Auch Online-Ressourcen werden hierbei berücksichtigt. Kapitel 6 („Space in SLA Research“) bietet einen Überblick relevanter Fremdsprachen(erwerbs)forschung, die sich auf die Räumlichkeit des Sprachenlernens bezieht, inklusive einiger Zusammenfassungen von Forschungsergebnisse von B ENSON , wie beispielsweise narrative Fallstudien der Lernumgebungen internationaler Studierender beim Englischlernen, zu denen die eingangs vorgestellte vietnamesische Studentin zählt. Abschließend identifiziert B ENSON einige Forschungsdesiderate, u.a. das multilinguale Umfeld im urbanen Raum, das erforscht und verstanden werden müsste, um es beim Fremdsprachenlernen nutzbarer zu machen, der Einfluss von Mobilität und die Ausbreitung mehrsprachiger Räume sowie die Produktion von formellen und informellen Lernumgebungen durch individuelle Lernende. Forschungsmethodologisch plädiert B ENSON für GPS-gestützte Tagebücher und Interviews, Beobachtungs- und Gehmethoden. Zahlreiche Aspekte des Fremdsprachenlernens, nämlich das „wer, wie, was ... wieso, weshalb, warum ...“ sind wichtig, dieser Band lehrt, dass individuelle Lernumgebungen der Lernenden und die Lernorte, die diese kreieren können und wollen, wichtig sind und von der Fremdsprachen(erwerbs)forschung zukünftig stärker berücksichtigt werden sollten. Der Lernort Schule bleibt im vorgelegten Band unterbelichtet, dennoch können B ENSONS Ausführungen auch zum Nachdenken über die räumliche Gestaltung und Nutzung institutioneller Lernorte und den Nutzen des Einbezugs von räumlichen Aspekten außerschulischer Lernorte anregen. Wer praxisnahe Anregungen für die Gestaltung von individuellen oder institutionalisierten Lernumgebungen sucht, der dürfte in diesem Band kaum fündig wer. Wer sich jedoch mit theoretischen Konzepten zu Fremdsprachenlernumgebungen auseinandersetzen möchte, dem sei die Lektüre empfohlen. Nijmegen S ABINE J ENTGES Bernt A HRENHOLZ , Martina R OST -R OTH (Hrsg.): Ein Blick zurück nach vorn: Frühe deutsche Forschung zu Zweitspracherwerb, Migration, Mehrsprachigkeit und zweitsprachbezogener Sprachdidaktik sowie ihre Bedeutung heute. Berlin, Boston: De Gruyter 2021, 305 Seiten [102,95 €] Der Sammelband beruht auf einem Symposium, das im Juli 2018 an der Friedrich-Schiller- Universität Jena zum Abschied von Bernt Ahrenholz in den Ruhestand organisiert wurde, und versammelt acht Perspektiven auf die Anfänge der DaZ-Forschung in den 1970er Jahren. Es ist das letzte Herausgabe-Projekt von Bernt A HRENHOLZ und ein sehr persönliches, das von seiner Weggefährtin Martina Rost-Roth zu Ende geführt wurde. So passt der Nachruf von seinen drei Jenaer Mitarbeiterinnen Isabell F UCHS , Britta H ÖVELBRINKS und Jessica N EUMANN gut an das Ende des Bandes. Gegenwart und Zukunft setzen auf der Vergangenheit auf, und in der Wissenschaft stehen wir immer auf Schultern von ‚Riesen‘ bzw. ‚Riesinnen‘. Acht Größen der DaZ-Forschung in Deutschland - alle zur 68er Generation gehörend - blicken zurück auf ihre frühen Projekte aus der Zweitspracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung sowie der Sprachdidaktik im Kontext von Migration und wählen diejenigen Ergebnisse und Ideen aus, die für sie auch heute noch Relevanz haben. Ein einleitendes Kapitel von Bernt A HRENHOLZ und Martina R OST -R OTH erläutert die Konzeption des Bandes. In einem ausführlichen, gemeinsam mit Norbert D ITTMAR und Beate L ÜTKE Besprechungen 129 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0013 verfassten Einführungskapitel wird der historische Kontext aufgespannt, sowohl in Bezug auf die gesellschaftliche (Geschichte der Migration in Deutschland) als auch auf die fachliche Situation (Entwicklungen in der Linguistik, der Zweitspracherwerbsforschung und der Zweitsprachdidaktik). Ich beginne mit dem Beitrag von Konrad E HLICH am Ende des Bandes, der ebenfalls kontextualisierende Funktion hat: Er geht er der Frage nach, warum das Forschungs- und Praxisfeld ‚Mehrsprachigkeit‘ trotz des starken Interesses an der Thematik in den letzten zehn Jahren von der deutschsprachigen Wissenschaft nicht so nachhaltig aufgegriffen wurde, wie es die gesellschaftliche Realität erwarten lassen würde. E HLICH macht dafür die einsprachige Orientierung der deutschsprachigen Sprachwissenschaft im Dienste des Projekts ‚Nation‘ und ihren Eurozentrismus ebenso verantwortlich wie die weitgehende Verdrängung der Kolonialzeit und die nur schleppende Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Wissenschaft (vgl. z.B. die späte Wiederentdeckung der Sprachtheorie von Karl B ÜHLER in den 60er Jahren nach seiner Flucht in die USA). Da Mehrsprachigkeit sich im Alltag vornehmlich mündlich ausdrückt, behinderte auch die lange fehlende systematische Auseinandersetzung der deutschsprachigen Linguistik mit mündlicher Sprache die Etablierung einer breit angelegten Mehrsprachigkeitsforschung. Entsprechend betonen auch die ersten beiden Beiträge von Wolfgang K LEIN und Norbert D ITTMAR zu den Projekten Heidelberger Pidgin Deutsch (HPD) und Modalität in Lernervarietäten im Längsschnitt (P-MoLL) das Fehlen jeglicher Forschung zur gesprochenen Sprache in Deutschland in den 1970er Jahren. Im HPD-Projekt müssen daher neben 48 Arbeitsmigrant: innen (damals noch entsprechend der Logik der in den Anwerbeabkommen vorgesehenen fünfjährigen Rotation als „Gastarbeiter“ bezeichnet) auch 12 einheimische Arbeiter: innen als Modellsprecher: innen der Zielvarietät des Heidelberger Dialekts interviewt werden. K LEIN fasst die Forschungsfragen, die methodische Herangehensweise (hier besonders hervorzuheben: der Aspekt der teilnehmenden Beobachtung) und die wichtigsten Ergebnisse des HPD wie auch des in Folge von ihm geleiteten, international und sprachvergleichend angelegten ESF- Projekts zusammen, die in vielerlei Hinsicht bahnbrechend waren. Bis dahin fehlten Untersuchungen zum (ungesteuerten) Zweitspracherwerb von Erwachsenen mit wenig formaler Bildung völlig, und sie fehlen seitdem - bis auf das ebenfalls sehr einflussreiche ZISA-Projekt unter der Leitung von Jürgen M EISEL aus derselben Zeit, der im Band leider nicht vertreten ist - immer noch. Wichtige Ergebnisse der beiden von K LEIN geleiteten Projekte sind die systematische empiriebasierte Beschreibung eigenständiger Lernervarietäten und der konzeptorientierte Ansatz: Anstatt von grammatischen Kategorien wie Tempus auszugehen, ist es notwendig die sprachlichen Mittel zu analysieren, die Lernende zum Ausdruck temporaler Bedeutung verwenden, nach dem W ITTGENSTEIN schen Motto: „Denk nicht, sondern schau! “ (S. 90). Norbert D ITTMAR thematisiert das HPD-Projekt (als Mitarbeiter) sowie das P-MoLL-Projekt (als Projektleiter) und skizziert unter dem Stichwort ‚Aufbruch‘ aus einer persönlichen Perspektive, wie die beiden Projekte auf die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbrüche in den 1970er und 1980er Jahre reagieren. Anstoß für das HPD-Projekt bildete die Motivation einer Studierendengruppe, soziale Ungleichheit wissenschaftlich zu untersuchen und Chancengleichheit für weniger privilegierte Gruppen zu fördern. In den HPD-Projektsitzungen fand ein offener akademischer Austausch auf Augenhöhe statt und es wurde um eine demokratische Entscheidungsfindung in der Gruppe gerungen - ein klarer Bruch zum autoritären Stil der Kriegsgeneration. Die nächsten drei Beiträge von Hans B ARKOWSKI , Wilhelm G RIEßHABER und Ulrich S TEINMÜLLER beschäftigen sich aus didaktischer Perspektive mit dem Zweitspracherwerb von Arbeitsmigrant: innen und zeigen dabei eindrücklich, wie sich der gesellschaftliche Umbruch der 1970er Jahre auf die Sprachdidaktik auswirkt: Wissenschaftler: innen versuchen mit Arbei- 130 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0013 52 • Heft 1 ter: innen und Arbeitsmigrant: innen solidarisch und auf Augenhöhe zu kommunizieren, um sprachfördernde Methoden zu entwickeln, die ihre kommunikativen Ziele und Ressourcen (u.a. Erstsprache, Bildungshintergrund) berücksichtigen. B ARKOWSKI fasst dies so zusammen: „Die Beteiligung der Betroffenen […] ist das A und O des Erfolgs und des Erkenntnisgewinns.“ (S. 148). In Interviewform berichtet er von den gemeinsam mit Ulrike H ARNISCH und Sigrid K UMM für das Handbuch für den Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitern entwickelten Methoden und Lehr- und Lernmaterialien. Wichtige Eckpfeiler sind z.B. die Erhebung der kommunikativen Bedürfnisse der Lernenden (Mitteilungsbereiche), die lebensweltliche Verankerung des Unterrichts (Deutsch lernen im Wohnbereich oder in der Fabrik, die Spielfilmserie Korkmazlar) und die Vermittlung von Lernstrategien (z.B. „den Kollegen zum Sprachlehrer machen“, S. 138). G RIEßHABER nimmt in seinem Beitrag „Alternative Konzepte - kritische Perioden“ (S. 157, bezogen auf die kritische Grundhaltung der damaligen Zeit) zunächst eine Abgrenzung zwischen DaF und DaZ vor und analysiert dann frühe Lehrwerke für diese Zielgruppe, z.B. das deutsch-türkische Lehrwerk Feridun. Sein Fokus liegt zum einen auf der Grammatikvermittlung (Perfekt, Satzklammer) und zum anderen auf Vorschlägen für Visualisierungen speziell für diese Zielgruppe (z.B. Icons, aber auch Visualisierung für die Satzklammer bzw. grammatische Merkmale). Wie B ARKOWSKI betont auch S TEINMÜLLER die Relevanz der Orientierung an der Lebenswelt und an den Bedürfnissen der Lernenden für eine erfolgreiche Didaktik und stellt die Projekte Lernstatt im Betrieb und Lernstatt im Wohnbezirk vor: Statt formellem Sprachunterricht wurden in Kooperation mit den Lernenden „Lernecken“ im Betrieb eingerichtet und deutschsprachige Arbeitskolleg: innen als „Sprachmeister“ eingesetzt (S. 185, auch S. 165 bei G RIEßHABER ). Ziel der Projektgruppe war es, die Arbeitsmigrant: innen zum sprachlichen Handeln in der Gesellschaft zu befähigen und sich selbst im Zuge dieses Prozesses überflüssig zu machen. Im Gegensatz zum ungesteuerten Erwerb von Erwachsenen thematisieren die Beiträge von Ingelore O OMEN -W ELKE und Jochen R EHBEIN den teilweise gesteuerten DaZ-Erwerb von Kindern im Schulkontext. O OMEN -W ELKE , die einzige ‚Riesin‘, schildert entlang ihres wissenschaftlichen Werdegangs, wie sie in den 1970ern Schulpraktika in Vorbereitungsklassen betreute und beeinflusst von den sprachvergleichenden Arbeiten Mario W ANDRUSZKA s auf die „Konfliktzweisprachigkeit“ (S. 204) vieler Kinder aufmerksam wurde: Freude am Nachdenken über ihre Sprachen einerseits und deren Verschweigen in der Öffentlichkeit andererseits. Aus diesen Beobachtungen gingen internationale Projekte und mehrfach ausgezeichnete mehrsprachige Lehrmaterialien wie Der Sprachenfächer - Materialien für den interkulturellen Deutschunterricht in der Sekundarstufe I hervor, die im Beitrag inhaltlich leider etwas zu wenig konturiert werden, obwohl sie in programmatische und heute noch gültige Ansätze einer Mehrsprachigkeitsdidaktik münden. R EHBEIN beschreibt zunächst mehrsprachige Grundschulen nach dem Krefelder Modell, in denen Kinder mit türkischer und griechischer Herkunftssprache bereits in den 1980er Jahren in einzelnen Fächern in ihren Herkunftssprachen unterrichtet wurden. Die Ergebnisse des Begleitforschungsprojekts „Zur sprachlichen Handlungsfähigkeit türkischer Kinder“ weisen auf die Relevanz einer ausgebauten Erstsprache für den Erwerb der Zweitsprache hin: So zeigen mündliche Worterklärungen für abstrakte Begriffe wie Beruf oder Krieg, dass die deutsche Konzeptbildung bei bilingualen Kindern von einem ausgebauten türkischen Lexikon profitiert. Anhand von deutschsprachigen Nacherzählungen einer zuerst auf Deutsch und dann auf Türkisch vorgelesenen Geschichte wird klar, dass erst die Rezeption in der Herkunftssprache die vorhandenen produktiven Fähigkeiten in der Zweitsprache freisetzt. Entsprechend müssen die Herkunftssprachen der Schüler: innen in den Unterricht, die Sprachstandsdiagnostik und die Spracherwerbsforschung einbezogen werden. Der Band ist eine Fundgrube für methodische Zugänge und Projektideen aus der frühen Besprechungen 131 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0014 DaZ-Forschung, die heute noch Bestand haben, zumal die Herausforderungen von damals sich nicht fundamental von den heutigen unterscheiden. Die Auswahl der acht Beiträger: innen wird nicht thematisiert, erklärt sich jedoch am ehesten durch den wissenschaftlichen Werdegang der Herausgeber: innen. Dass das Buch auf mehreren Ebenen ein sehr persönliches Projekt darstellt, macht gerade seinen Reiz aus, sodass die Frage der Repräsentativität in den Hintergrund rückt. Die Beiträge sind aufgrund des persönlichen Duktus sehr zugänglich geschrieben und stellen nicht nur für den wissenschaftlichen Nachwuchs eine wertvolle Inspirationsquelle dar. Jena C HRISTINE C ZINGLAR Karin V OGT , Jürgen Q UETZ (Hrsg.): Der neue Begleitband zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Berlin: Lang 2021, 245 Seiten [52,90 €] Das Erscheinen des Begleitbandes zum Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (2020) hat Reaktionen in verschiedensten Bereichen der Fremdsprachendidaktik ausgelöst und die Frage aufgeworfen, wie mit den Änderungen und Erweiterungen umzugehen ist. Die elf Beiträge dieses Sammelbandes widmen sich dem Begleitband und seinen Neuerungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Obwohl keine Untergliederung der Texte in übergeordnete Themenbereiche stattfindet, zeigt sich eine klare Struktur in der Zusammenstellung, die von einer historischen Dimension ausgeht, anschließend wichtige Ergänzungen des Begleitbands einzeln behandelt und mit einem Themenblock zu test- und diagnosetheoretischen Aspekten abschließt. Allen Beiträgen ist ein generell kritischer Zugang zum Begleitband gemein. Durch die Anordnung sowie durch den Aufbau der einzelnen Texte ist es den Herausgeber: innen gelungen, eine Kohärenz innerhalb des Sammelbandes herzustellen. Viele Beiträge vereinen gleichermaßen eine klare Darlegung der einzelnen Neuerungen im Begleitband, eine kritische Auseinandersetzung mit den Skalen und Deskriptoren und eine konstruktive Aufarbeitung, indem praktische Beispiele zur Nutzung der Skalen eingebracht werden. Dadurch ergibt sich ein stimmiges Bild und der Eindruck, einen umfassenden Einblick in die wichtigsten Problemfelder rund um den Begleitband zum GeR zu bekommen. Die Einleitung von Jürgen Q UETZ und Karin V OGT ermöglicht dem/ der Leser: in einen gut strukturierten und kompakten Einstieg in das Thema. Nach einer Erläuterung der Neuerungen und Ergänzungen wird auf allgemeine Kritikpunkte sowohl am GeR als auch an dessen Begleitband eingegangen und der Zugang der folgenden Beiträge dazu kurz dargestellt. Somit gelingt es dem Einleitungstext nicht nur eine Makrostruktur für den Band vorzugeben, sondern auch eine Grundlage zu schaffen, um die einzelnen Artikel besser einordnen zu können. Der Beitrag von Daniel C OSTE fällt insofern aus dem Rahmen, als er die Entstehungsgeschichte des GeR aufrollt und generelle Kritik an dessen Konzept anbringt. Die Kritik bezieht sich nicht vorrangig auf die neuen Skalen und Deskriptoren des Begleitbandes, sondern stellt die Konzeption des GeR an sich infrage. C OSTE schreibt hier aus einer sehr persönlichen Perspektive heraus, da er maßgeblich am Entstehungsprozess des GeR mitgewirkt und damals wie heute eine alternative modulare Konzeption vorgeschlagen hat, die integrativer und dynamischer aufgebaut ist. Christiane F ÄCKE widmet sich anschließend den plurikulturellen Kompetenzen, die im Begleitband eine deutlich stärkere Gewichtung bekommen haben als im GeR von 2011. Nach einer gut nachvollziehbaren Einleitung und Begriffsklärung gleicht sie das Konzept plurikultureller Kompetenzen im Begleitband mit B YRAMS Modell der Intercultural Communicative Competence, B ENNETS Developmental Model of Intercultural Sensitivity und dem Referenzrah- 132 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0014 52 • Heft 1 men für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) ab. Sie kommt zu dem Schluss, dass durch die Einbettung in das Stufenmodell im Begleitband die plurikulturellen Kompetenzen eine Aufwertung erfahren haben und nun gleichberechtigt mit den sprachlichen Kompetenzen stehen. Den Bezug zur Unterrichtspraxis stellt sie schließlich anhand mehrerer Aufgabenbeispiele her, in denen sie zeigt, wie plurikulturelle Kompetenzen beispielsweise durch Mediationsaufgaben trainiert werden können. Der Beitrag von Rudi C AMERER schließt hier thematisch an und nimmt ebenfalls die plurikulturellen Kompetenzen unter die Lupe. Die Weiterentwicklung des interkulturellen Ansatzes des GeR zu plurikulturellen Kompetenzen mit ihren eigenen Skalen sieht er als Möglichkeit, diese besser für den Unterricht handhabbar zu machen. Er betont die Wichtigkeit von Kontexten und Beziehungsgestaltung für das Erlernen plurikultureller Kompetenzen und veranschaulicht dies mithilfe eines Unterrichtsbeispiels aus der Erwachsenenbildung. Dass es der Begleitband noch nicht geschafft hat, sich vom interkulturellen Paradigma zu lösen wird im Beitrag jedoch nicht kritisch hinterfragt. Es verwundert, dass in Bezug auf dieses Thema aktuellere Konzepte wie der Deutungsmusteransatz oder die migrationspädagogische Perspektive nicht mitgedacht werden. Der sehr praxisnahe Beitrag von Jenny J AKISCH geht näher auf die plurilingualen Kompetenzen im Begleitband ein. Sie konstatiert einen Mangel an konkreten Unterrichtsvorschlägen und Materialien zur Förderung von Mehrsprachigkeit. Davon ausgehend präsentiert sie ausgewählte Aktivitäten aus einer Interventionsstudie, die zum Ziel hatte, den Einfluss gezielt eingesetzter mehrsprachigkeitssensibler Übungen auf das Englischlernen von Grundschüler: innen zu zeigen. Auch wenn man sich hier einen ausgeprägteren Zusammenhang zu den Skalen des Begleitbandes gewünscht hätte, sind die Unterrichtsbeispiele sehr anschaulich und zeigen Möglichkeiten eines mehrsprachigen Unterrichts für Kinder im Grundschulalter auf. Leonhard K ROMBACH behandelt in seinem Beitrag die Mediation, die durch ihre Neukonzeption einen zentralen Stellenwert im Begleitband erhalten hat. Es wird besprochen, wie sich Mediation von einem stark auf übersetzendes Handeln bezogenem Verständnis im GeR hin zu einem ganzheitlichen Konzept der „gemeinsame[n] Bedeutungsaushandlung“ (S. 120), das v.a. auf sozial-psychologischen und interkulturellen Aspekten fußt, im Begleitband gewandelt hat. Das abschließende Anwendungsbeispiel für den Unterricht bleibt etwas allgemein und läuft stellenweise Gefahr, kulturalisierend zu wirken. Eva B URWITZ -M ELZER beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den neuen Skalen zur Literaturdidaktik und vergleicht sie mit dem literaturdidaktischen Konzept der Bildungsstandards. Ihre Kritik an den Skalen richtet sich v.a. auf den unsystematischen Textbegriff, die Kompetenzmodellierung und das veraltete literaturdidaktische Konzept, das im Begleitband noch immer verwendet wird. Sie plädiert für eine Orientierung an der Rezeptionstheorie und präsentiert daran anschließend ein Aufgabenbeispiel für eine mittlere Schulstufe, das anhand einzelner Deskriptoren „einen kommunikativen, kompetenz- und aufgabenorientierten Literaturunterricht möglich macht“ (S. 150). Aufgrund der klaren Darlegung und der Illustration anhand des Unterrichtsbeispiels wird die vorgebrachte Kritik sehr deutlich und gut nachvollziehbar. Eine der größten Ergänzungen des Begleitbands behandelt der Beitrag von Eva W ILDEN - die Digitalisierung. Sie kritisiert, dass dem Begleitband auch in Bezug auf die Digitalisierung „eine theorie- und forschungsbasierte nachvollziehbare Systematik fehle“ (S. 160). Mit dem Konzept der multiliteracies, der ICILS-Studie und der JIM-Studie stellt sie drei Ansätze vor, die man der Modellierung der neuen Skalen im Begleitband zugrunde legen hätte können, um eine bessere theoretische Verortung, ein systematischeres Kompetenzmodell und eine empirische Grundlage zu erreichen. Aufgrund des umfassenden Einflusses der Digitalisierung auf alle Besprechungen 133 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0014 Lebens- und Lernbereiche stellt sich die Frage, ob diesem Thema im vorliegenden Sammelband nicht mehr Platz hätte gewidmet werden können. Der Beitrag von Jürgen Q UETZ zum Thema des Hörsehverstehens im Begleitband liest sich als Plädoyer für mehr Medienkritik im Fremdsprachenunterricht. Anstatt visuelle Impulse als reine Stütze für das Verstehen zu begreifen, sollte gerade im schulischen Kontext der Fokus auf ein ganzheitliches Hörsehverstehen gelenkt werden, bei dem Bilder und Musik als wirkmächtiges Instrument der Bedeutungskonstruktion verstanden werden. Das abschließende Beispiel zur Aufgabenabfolge beim Hörsehverstehen bleibt ein wenig allgemein, sein Bezug zum Begleitband eher undeutlich. Manuela G LABONIAT und Carmen P ERESICH bieten einen Ausblick darauf, was die Erweiterungen im Begleitband für die Testlandschaft zu bedeuten haben. Sie gehen nochmals auf die zuvor in den einzelnen Beiträgen dargelegten neuen Skalen des Begleitbandes (plurikulturelle und plurilinguale Kompetenzen, Mediation, Digitalisierung, etc.) ein und beleuchten sie auf einer testtheoretischen Ebene. Sie sprechen aber auch verschiedene Themen an, die in den bisherigen Beiträgen noch kaum behandelt wurden. So verweisen sie auf die Änderungen in der Skala zur Aussprache und den wichtigen Wegfall der Norm des Native Speakers. Zudem bringen sie zurecht die Kritik an, dass es der Begleitband versäumt hat, sich gegen seine Instrumentalisierung durch die Politik zu positionieren. Anschließend an diesen testtheoretischen Beitrag veranschaulicht Karin V OGT , wie der Begleitband und dessen Niveaustufen nicht nur für psychometrische Testverfahren verwendet werden können, sondern auch gewinnbringend für das Assessment for Learning eingesetzt werden können. Assessment for Learning wird hier als ein in erster Linie den Lernprozess unterstützendes und nicht normierendes Vorgehen verstanden. Anhand eines szenariobasierten Aufgabenbeispiels wird exemplarisch vorgeführt, wie die Deskriptoren des Begleitbands für Aufgaben und Assessment im handlungsorientierten Unterricht genutzt werden können. Die Überlegungen und die konstruktive Herangehensweise überzeugen und machen deutlich, was der GeR und sein Begleitband für den Unterricht leisten können. Auch der Beitrag von Olaf B ÄRENFÄNGER ist im Bereich der Kompetenzdiagnostik angesiedelt und widmet sich den neuen Skalen des Begleitbandes unter einer berufsspezifischen Perspektive. Er gleicht bestehende berufsspezifische Sprachprüfungen mit den Skalen der Mediation, der Online-Kommunikation sowie des „Vor-A1-Niveaus“ ab und konstatiert einen Weiterentwicklungsbedarf in allen drei Bereichen. Die Herausarbeitung der Prüfungsaufgaben mit Bezug zu den Skalen zeigt deutlich das Desiderat auf, die tatsächlichen Kommunikationsbedarfe im beruflichen Kontext zu erheben und diese durch authentische Aufgabenstellungen gleichmäßig auf die Prüfungsabschnitte zu verteilen. Durch die Aufarbeitung des Begleitbandes aus unterschiedlichen Blickwinkeln dürfte dieser Sammelband nicht nur für Fremdsprachenforschende interessant sein, sondern auch für Praktiker: innen in der Curriculums- und Prüfungsentwicklung und nicht zuletzt für Unterrichtende. Für die Überarbeitungen in verschiedensten Bereichen der Fremdsprachendidaktik (u.a. der Lehrwerks-, Curriculums- und Testentwicklung), die die Einbeziehung der Neuerungen des Begleitbandes notwendigerweise mit sich bringen wird, können die Beiträge dieses Bandes einen wertvollen Anstoß geben. Wien B IRGIT B IRKFELLNER 134 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0015 52 • Heft 1 Mark B ECHTEL , Tom R UDOLPH (Hrsg.): Reflexionskompetenz in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung. Theorien - Konzepte - Empirie . Berlin: Lang 2022, 188 Seiten [44,95 €, ebook 45,05 €] Reflexionskompetenz gilt für Lehrkräfte, deren zentrales Handlungsfeld (Unterricht) durch eine prinzipielle Unvorhersehbarkeit charakterisiert ist, als wichtiges Professionalisierungsmerkmal, das auch in den KMK-Standards bzw. -Anforderungen für die Lehrer: innenbildung für Bildungswissenschaften, Fachwissenschaften und Fachdidaktik Niederschlag findet. Trotz der großen Bedeutung, die den Reflexionskompetenzen zugeschrieben wird, kann nicht von einem allgemein geteilten Begriffsverständnis ausgegangen werden. Zwar erweist sich S CHÖN s Leitbild eines ‚reflective practitioner‘ seit inzwischen fast vier Jahrzehnten als einflussreich auf Diskurse der Lehrer: innenbildung in den Fremdsprachendidaktiken und darüber hinaus, doch bisweilen lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass der Begriff zu einer inzwischen fossilisierten Floskel verkommen ist. Grundsätzliche Einigkeit besteht allerdings darüber, dass Reflexionskompetenzen an der Schnittstelle zwischen konzeptionellem, theoretischem und empirisch abgesichertem Wissen auf der einen Seite sowie individuellen Erfahrungen und persönlichen Überzeugungen auf der anderen Seite ansetzen, die in einen zirkulären Austausch gebracht und bewusst bearbeitet werden. An dieser Ausganglage setzt der vorliegende Sammelband an, der insgesamt acht Fachbeiträge aus den unterschiedlichen Fremdsprachendidaktiken (Deutsch als Fremdsprache, Englisch und die romanischen Sprachen, v.a. Französisch) vereint und mit einer positionsbestimmenden Einleitung der Herausgeber komplettiert wird. Der Band ist auf der Grundlage eines gleichnamigen Symposiums im September 2020 an der Universität Osnabrück entstanden, das noch unter den Bedingungen der Pandemie als Hybridveranstaltung stattfinden musste. Die ersten drei Beiträge von Dagmar A BENDROTH -T IMMER , Birgit S CHÄDLICH und David G ERLACH bilden die konzeptionelle Grundlage der Diskussion, die folgenden fünf Beiträge präsentieren empirische Studien in unterschiedlichen Stadien - von geplant bis bereits vollständig abgeschlossen. Dagmar A BENDROTH -T IMMER s Beitrag „Reflexion und professionelle Flexibilität im (berufs)biographischen Entwicklungsprozess von Fremdsprachenlehrenden“ stellt - wie es der Titel verspricht - den berufsbiographischen Ansatz in den Mittelpunkt und entwirft auf der Basis einer integrierten Sicht auf „Sprache, Leib und Identität“ (S. 26) Modelle zur Definition und Rahmung von Reflexion. Diese zeichnen sich durch eine große Komplexität und Dynamik aus und eignen sich in der vorliegenden Form vermutlich besser für die Anbahnung von Reflexionskompetenz als für deren empirische Untersuchung, da sie zwar zahlreiche wichtige Aspekte und Dimensionen von Professionalität aufrufen und anstoßen, mit denen (angehende) Lehrkräfte sich auseinandersetzen können, zugleich aber schwer vorstellbar ist, wie sich empirische Daten trennscharf den genannten Aspekten und Dimensionen zuordnen und wie sich eindeutige Kausalbeziehungen zeigen lassen. Birgit S CHÄDLICH stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse einer Studie vor, die mit qualitativen Inhaltsanalysen zum Fachpraktikum Französisch arbeitet, und konzeptionalisiert fremdsprachendidaktische Reflexion als ‚Interimsdidaktik‘. Sie problematisiert zunächst die in der Lehrer: innenbildung gleichermaßen relevanten Dimensionen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘, die mit ihren je eigenen inneren Logiken einander ,fremde Kulturen‘ (S. 47) bleiben müssen. Die Autorin orientiert ihren Professionalisierungsansatz nicht an simplen Anwendungsbezügen, sondern an der Dimension des ‚Möglichen‘, die „Normkritik und Veränderungen der Praxis“ (S. 49) denkbar macht. Die empirische Grundlage ihres Beitrags bilden Interviewtranskripte, auf deren Basis sich dominant aufgerufene fachdidaktische Wissensbereiche zeigen lassen ebenso wie Besprechungen 135 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0015 die erreichte Reflexionstiefe, die geringer als erwartet ausfällt. Methodenkritische Überlegungen runden den Beitrag ab. Die Kategorie des impliziten Wissens, das in besonderer Weise als handlungsleitend gilt, zugleich aber nicht direkt zugänglich und verbalisierbar ist, steht im Zentrum des Beitrags von D AVID G ERLACH , der fragt, worüber beim Reflektieren eigentlich reflektiert wird. Der Verfasser beschreibt mit dem Ansatz der ‚impliziten Reflexion‘ (S. 72-75) den Versuch, implizites Wissen zu explizieren und für Professionalisierungsprozesse nutzbar zu machen. Ausgehend von der Annahme, dass implizites Wissen über Beschreibungen und Erzählungen rekonstruierbar ist, Argumentation und Bewertungen hingegen stärker explizites Wissen abbilden, plädiert David G ERLACH für erzählbasierte Reflexionsgespräche über Unterrichtshandlungen, die nicht vorschnell nach Entscheidungsrechtfertigungen fragen. Ebenso fordert er, die Art des Wissens zu explizieren, die jeweils im Fokus der Reflexion steht, sowie Widersprüche zwischen den Wissensarten im Hinblick auf die eigene Lehrer: innenidentität zu thematisieren. Ein fachspezifisches Reflexionssetting für die romanischen Sprachen, das den Einsatz eines ePortfolios vorsieht und die Förderung von Professionalisierung über reflexive Prozesse zum Ziel hat, beschreibt Georgia G ÖDECKE in ihrem Beitrag. Sie diskutiert die Frage, wie Lehr-Lern- Arrangements gestaltet sein müssen, um fachspezifische Reflexionsprozesse anzuleiten. Auf der Basis einer Unterscheidung unterschiedlicher Wissensformen legt die Autorin ein fünfstufiges Reflexionsmodell an (Darstellen und Beschreiben, Analysieren und Vergleichen, In- Beziehung-Setzen, Schlussfolgern, Planen), das die angehenden Lehrkräfte in ihren Portfolios bearbeiteten. Das Ergebnis der Datenauswertung weicht von anderen Studienergebnissen insoweit ab, dass eine gewisse Reflexionstiefe sowie eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis gezeigt werden können, die inbesondere auf die Struktur des Portfolios zurückgeführt werden. Nicht abschließend geklärt wird die Frage, inwieweit die Untersuchung der eigenen Intervention im Kontext eines DBR-Ansatzes die Ergebnisinterpretation beeinflusst. Svenja H ABERLAND stellt eine Interventionsstudie in den romanischen Sprachen zur Reflexion individueller Mehrsprachigkeit bei Lehrenden und Lernenden vor. Ihr Reflexionsbegriff bezieht sich auf ein Mehrebenenmodell, das Gegenstand, Handlung und Lernvermögen unterscheidet. Die Verfasserin beschreibt Gestaltungsprinzipien und Aufbau ihrer hochschuldidaktischen Intervention, die innerhalb eines DBR-Ansatzes umgesetzt wurde. Sie zeigt, wie der mithilfe eines zweiperspektivischen Seminarfokus ein verstärktes Bewusstsein der angehenden Lehrkräfte für Potenziale und Herausforderungen von Mehrsprachigkeit geschaffen werden kann. Im Vergleich zu den vorigen Beiträgen stehen allerdings weder die eigene unterrichtliche Handlungserfahrung noch Theorie-Praxis-Spannungen im Fokus, sodass die Frage offen bleibt, wie sich die Konzeption von einem Seminaransatz unterscheidet, der nicht den Reflexionsbegriff in den Mittelpunkt stellt. Die Nutzung videografierter Handlungspraxis anderer Lehrkräfte als Reflexionsimpuls wird im Beitrag von Tom R UDOLPH diskutiert. In der vorgestellten Studie aus den romanischen Sprachen werden studentische Reflexionstexte, die auf einer 15minütigen Videovignette und strukturierenden Leitfragen basieren, im Hinblick auf zu erkennende Theorie-Praxis bzw. Belief-Praxis-Bezüge analysiert. Am Beispiel eines Auszuges aus dem Datenmaterial werden das inhaltsanalytische Vorgehen im Detail nachvollziehbar gemacht und ‚reflexive Momente‘ in den Bearbeitungen der Studierenden aufgezeigt, die sich aus einer kritischen Haltung gegenüber dem Praxisfall oder aus Spannungen zwischen erworbenem Theoriewissen und beobachteten Handlungen ergeben. Es wird gezeigt, wie videografierte Handlungen auch ohne eigene Unterrichtshandlungen oder -erfahrungen zu produktiven ‚Reflexionsanlässen‘ werden. In Tanja F OHR s Beitrag stehen Lehrphilosophien als „Instrumente zur Bewusstmachung der 136 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0016 52 • Heft 1 Vorstellungen und Überzeugungen zur Rolle einer zukünftigen Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ (S. 144) im Mittelpunkt. Die Autorin beschreibt ein Forschungsprojekt zur Analyse von Lehrphilosophien (n=17), die in Zusammenhang mit dem Unterrichtspraktikum erstellt wurden, und hinterfragt auch die Eignung dieser Textsorte als individuelles Reflexionsinstrument. Anhand der Lehrphilosophien lassen sich personenbezogene, epistemologische und kontextbezogene Überzeugungen beispielsweise zum Selbstbild, zum Unterrichtshandeln und zum schulischen Kontext zeigen, deren Darstellung mithilfe einer Metaphernanalyse sehr plastisch wird. Ebenso werden in den Lehrphilosophien „Ambivalenzen des Lehrer*innenhandelns“ (S. 159) sichtbar. Das Projekt von Benjamin I NAL fokussiert die Dimension der Mündlichkeit im Spanischunterricht. Mithilfe videografierter eigener Unterrichtshandlungen soll untersucht werden, wie Studierende „theoretische Perspektiven auf Mündlichkeit reflexiv auf beobachtete Praxis […] beziehen“ (S. 166) und welche Reflexionstiefe und -breite sie dabei erreichen. Neben einer Übersicht über konzeptionelle Annahmen zur Förderung von Mündlichkeit wird auch der Ansatz der Reflexion im Sinne eines unproduktiven ‚Reflexionshype‘ kritisch diskutiert. Anschließend werden ein etwas diffuses Modell zur Mündlichkeit im Fremdsprachenunterricht präsentiert und Einblicke in das Erhebungsinstrument gegeben. Man kann dem Projekt nicht anlasten, dass es zu einem frühen Zeitpunkt präsentiert wird, an Reiz dürfte es aber sicher gewinnen, wenn auch empirische Daten herangezogen werden. Alles in allem liefert der Band einen umfassenden Einblick in die fremdsprachendidaktischen Diskussionen um die Modellierung und empirische Erforschung von Reflexionskompetenz. Er zeigt, dass sich trotz des Vorhandenseins unterschiedlicher Modelle und Definition ein geteiltes Begriffsverständnis abzeichnet, das an der Schnittstelle von expliziten theoretischen Wissenbeständen, implizitem Wissen und Unterrichtshandlungen und -erfahrungen ansetzt und anhand verschiedener Kontexte und thematischer Fokussierungen verdeutlicht, zu welchen Einsichten zukünftige Lehrkräfte gelangen und wie sie diese für ihre eigene Professionalisierung nutzbar machen. Frankfurt/ M. B RITTA V IEBROCK Barbara R INDLISBACHER : Lesen in der Fremdsprache Französisch. Kompetenzen von Drittklässlerinnen und Drittklässlern mit unterschiedlichen Schrift- und Sprachfähigkeiten in der Erstsprache Deutsch. Münster, New York: Waxmann 2021, 370 Seiten 44,90 € In der Einleitung (Kapitel 1) zu ihrem umfangreichen Werk - gleichzeitig ihre Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) - umschreibt die Autorin den Ausgangspunkt ihrer Forschung und fordert programmatisch für eine Neuausrichtung der Lesedidaktik, dass bereits in den frühen Klassenstufen verstärkt die Grundlagen für eine ausreichende Lesekompetenz geschaffen werden müssen, die eine Partizipation am sozialen, kulturellen, beruflichen und politischen Leben der Schülerinnen und Schüler gewährleiste (S. 11). Zunächst handele es sich um die basalen Lesefertigkeiten in den ersten Primarschuljahren, danach gewinne vor allem der Textinhalt an Bedeutung. Ausgehend von diesen grundlegenden Feststellungen entwickelt R INDLISBACHER ihren Forschungsfokus, indem sie die Fragestellungen zum Lesenlernen in der Primarstufe im Hinblick auf das frühe Fremdsprachenlernen - hier speziell: Französischlernen - erweitert. In den ersten Kapiteln (Kapitel 2: Leseerwerb in einer Erstsprache und Kapitel 3: Leseerwerb in einer Fremdsprache) entfaltet sie einen umfassenden Überblick über den aktuellen Besprechungen 137 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0016 Forschungsstand, der nicht als eine akademische Stilübung daherkommt, sondern sich wie eine Einführung in alle Bereiche und Problemstellungen des erstbzw. fremdsprachlichen Lesenlernens liest. Besonders relevant für die Lehrer*innenbildung ist hier die fein ausdifferenzierte Unterteilung in „unauffällige Leserinnen und Leser“ und „Risikolernende“ (S. 16-17). An diesen Stellen benennt die Autorin zentrale Aufgaben der Lesedidaktik und schlägt den Bogen zur schulischen Praxis. Nach dem vierten Kapitel, in dem sie den Begriff des morphologischen Wissens als konstitutiven Faktor des Lesenlernens ausdifferenziert, folgt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Sprach- und Schriftsprachstörungen. Hier profitieren die Leser*innen von den umfangreichen Berufserfahrungen der Autorin als Sprachheilpädagogin, da eine ausführliche und terminologisch entfaltete Darstellung der unterschiedlichen Sprachentwicklungsstörungen in der Erstsprache vorgelegt und in Beziehung zum Fremdsprachenlernen gesetzt wird. Aus fachdidaktischer Sicht besonders interessant ist die Hinführung - über die Definition und Symptomatik von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (LRS) und Sprach- und Schriftsprachstörungen - zum Leseerwerb in der Erstsprache unter erschwerten Bedingungen zum Leseerwerb in einer Fremdsprache. Da Spracherwerbsprozesse von zugrundeliegenden Prozessen beim Individuum gesteuert werden, ist zu erwarten, dass sich Sprachentwicklungsstörungen auch in allen weiteren erlernten Sprachen manifestieren. Obgleich alle Lernanfänger*innen in einer Fremdsprache in etwa analoge Spracherfahrungen machen, da sie denselben Unterricht besuchen, greifen psycholinguistische und genetische Voraussetzungen auch beim Fremdsprachenerwerb (S. 137). In Kapitel 5 greift sie auf die Linguistic Coding Differences Hypothesis (LCDH) nach Ganschow zurück, wonach Stärken in den rezeptiven und produktiven Fähigkeiten in einer Erstsprache das Fremdsprachenlernen erleichtern können und Schwierigkeiten eben solche Prozesse erschweren (S. 139). Aus den genannten Gründen wird eine inklusiv-individualisierte und an Integrationsbestrebungen orientierte schulische Praxis erforderlich, welche eine frühzeitige Diagnostik essenziell werden lässt (S. 145). Die entsprechenden Handlungsanregungen soll die empirische Studie aufzeigen, die das Kernstück des Buches darstellt. In Kapitel 6 folgt die Darstellung der quantitativ-empirischen Untersuchung, die von der Autorin in der Schweiz durchgeführt wurde und deren Ziel wie folgt definiert wird: „Grundlagenwissen zum Erwerbsstand französischer Lesekompetenzen nach einem Jahr Frühfranzösisch [zu] liefern [...]“ (S. 164) und ein differenziertes Bild der Bedingungsfaktoren im Lesenlernen in einer Fremdsprache zu bekommen. Hierzu nimmt die Autorin in ihren Fragestellungen und Hypothesen Bezug auf einsprachige Schülerinnen und Schüler mit und ohne Lesestörung in der Erstsprache bzw. mit unterschiedlichen Symptomatiken von (Schrift-)Sprachstörungen (S. 168-169). Die Lektüre des Kapitels setzt profunde Kenntnisse quantitativer Methoden und Modellbildungen voraus, u.a. Stichproben und Validierung, Effektstärken, Frequenzanalysen. Es folgt die umfangreiche Diskussion der Ergebnisse. Zunächst überprüft die Autorin die Angemessenheit ihrer Untersuchungsmethode Französisch Screening - hier: möglichst breite Erfassung der Teillesekompetenzen im Bereich des Frühfranzösischen - in Bezug auf Validität und Reliabilität. Interessant für die fachdidaktische Praxis sind vor allem die vergleichenden Ergebnisse von Schülerinnen und Schülern mit Lesestörung und solchen, die als „unauffällig“ bezeichnet werden (S. 300). Hierbei zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler mit Lesestörungen in der Erstsprache vor allem im Bereich des implizit gelernten Graphem-Phonem-Korrespondenz Beeinträchtigungen zeigen. Größere Phonem-Graphem-Einheiten bereiten ihnen Schwierigkeiten. Auch können sie im ersten Lernjahr erst wenig morpho-orthographisches Wissen aufbauen (S. 302). Ebenso bestätigten sich die Annahmen, dass Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten signifikant geringere Wortleseverständnisleistungen zeigen. Auch konnten sie weniger häufig die korrekte Wortform den entsprechenden Bildern zuordnen und ließen sich leichter von Alternativbildern durcheinanderbringen (S. 305). 138 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 52 • Heft 1 Als direkte Handlungsanweisung für die Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Lesestörungen, bei denen ebenfalls Schwierigkeiten bei den mündlich-kommunikativen Kompetenzen vorliegen, schlägt R INDLISBACHER vor, durch zusätzliche Hinzunahme von Schrift die kommunikativen Aufgaben zu vereinfachen. Ebenso soll ein intensives Lesetraining helfen, Textinhalte zunehmend selbständig erschließen zu können (S. 300). Im abschließenden Teil (Kapitel 7) benennt die Verfasserin Implikationen für die Praxis. So solle der Fremdsprachenunterricht frühzeitig Unterstützungsmaßnahmen für schwache Leserinnen und Leser anbieten, denn etwa 20-30% der Schülerinnen und Schüler benötigten eine spezifische Förderung entsprechend ihren individuellen Stärken und/ oder Schwächen. Weiterhin sollten Lehrerinnen und Lehrer den Entwicklungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler kennen und immer beobachten und dabei möglichst frühzeitig allfällige Leseschwierigkeiten erfassen. Die angewendete Diagnostik solle sich am pädagogisch-interaktiven Ansatz, nicht an Defizitorientierung ausrichten; dies sei besonders wichtig, da Schülerinnen und Schüler mit spezifischen Lesestörungen nicht unbedingt Defizite im mündlich-kommunikativen Bereich zeigen. Darüber hinaus sei klar strukturierter Fremdsprachenunterricht, besonders wichtig für die schwächeren Lernenden, der auch bewusstmachende Strategien einsetzt und Fossilisierungen explizit entgegenwirkt. Ein entsprechender Unterricht solle auch die Vernetzung von Wissensinhalten aus der Erstschriftsprache nutzen (Mehrsprachigkeitsdidaktik). R INDLISBACHER stellt ebenfalls fest, dass leseschwächere Schülerinnen und Schüler vermehrt von Übungen nach dem Schema focus on form-Aktivitäten profitieren. Schließlich zeige sich, dass Schülerinnen und Schüler mit isolierten Sprachentwicklungsstörungen vergleichbare Kompetenzen bei hierarchieniederen Lesekompetenzen erreichen, wie unauffällige Schülerinnen und Schüler (S. 314-317). Insgesamt liegt hier eine sehr verdienstvolle Studie vor, die von hoher Relevanz für die Lehrerausbildung ist, indem sie durchgängig den Rückbezug auf die schulische Praxis ermöglicht und mit reliablen Ergebnissen unterfüttert. Im Fazit postuliert Barbara R INDLISBACHER ein grundsätzlich mehrkanaliges, kreatives unterrichtliches Arbeiten, um allen Lernenden ein motiviertes und freudiges Sprachenlernen zu ermöglichen. R INDLISBACHER schließt mit einem Satz, den die Rezensentin uneingeschränkt unterschreiben kann: „Im Sinne der Chancengerechtigkeit ist es notwendig, dass der frühe Fremdsprachenunterricht allen [Schülerinnen und Schülern; die Rezensentin] die gleichen Chancen bietet, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Fremdsprache anzueignen.“ (S. 324) Karlsruhe S YLVIE M ÉRON -M INUTH Manuela F RANKE , Kathleen P LÖTNER (Hrsg.): Rekonstruktion und Erneuerung. Die neue Lehrwerkgeneration als Spiegel fremdsprachendidaktischer Entwicklungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2022, 242 Seiten [58,00 €] Wer sich heutzutage auf den Webseiten eines großen Schulbuchverlags über ein Lehrwerk informiert, findet neben dem eigentlichen Lehrbuch bekanntlich längst nicht mehr nur ein grammatisches Beiheft und ein Übungsheft vor. Vielmehr stößt man nun rund um das jeweilige Buch auf beeindruckende Produktpaletten. So finden sich etwa auf der Produktseite der Lehrwerkreihe Découvertes (Klett) aktuell in 12 weiteren Kategorien Produkte für Lernende und in 10 weiteren Kategorien Produkte für Lehrkräfte. Zu den Kategorien zählen z. B. eBook, eCourse, Prüfungsvorbereitung, Software oder Digitaler Unterrichtsassistent. Ein ähnliches Besprechungen 139 52 • Heft 1 DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 Bild bietet sich auch bei anderen großen Schulbuchverlagen wie z.B. Cornelsen oder C. C. Buchner. Lernende wie Lehrkräfte finden somit in der Regel ein vielfältiges Angebot an Publikationen vor, welche sie beim Lernen und Unterrichten mit einem bestimmten Lehrbuch unterstützen sollen. Neben gedruckten Erzeugnissen spielen digitale Formate eine immer wichtigere Rolle. Zudem stehen die Lehrbücher selbst in der Regel zusätzlich als eBook zur Verfügung. Gerade das Lehrbuch, darüber besteht in der fremdsprachendidaktischen Fachcommunity weiterhin ein breiter Konsens, übt einen erheblichen Einfluss auf die Unterrichtswirklichkeit aus. Es strukturiert den Unterricht, indem es eine Themenauswahl sowie eine kompetenzbezogene, grammatische und lexikalische Progression vorgibt. Neben solchen offensichtlichen Schwerpunktsetzungen werden vom Lehrbuch aber noch viele weitere Entscheidungen vorweggenommen, z.B. in Bezug darauf, ob und in welchem Umfang neuere fachdidaktische Entwicklungen aufgegriffen werden oder nicht. Der Titel des vorliegenden Sammelbandes, „Rekonstruktion und Erneuerung“, deutet bereits diese zentrale Fragestellung an: Inwiefern gelingt es der neuen „Lehrwerkgeneration“ - ein Begriff, den die beiden Herausgeberinnen Manuela F RANKE und Kathleen P LÖTNER durchaus auch kritisch reflektieren (S. 7) -, „(Er)Neuerungen oder sogar Umbrüche“ umzusetzen „oder aber, ob es sich eher um Rekonstruktionen bzw. um neue Präsentationsformen von tradierten Konzepten handelt […]“ (ebd.). Das Korpus der insgesamt neun Untersuchungen besteht aus seit 2012 publizierten Lehrwerken zu den romanischen Schulfremdsprachen der, in einer etwas missverständlichen Formulierung, „Lehrwerkgeneration von Cornelsen, Klett, Diesterweg & Co.“ (S. 9). Missverständlich ist die Formulierung deshalb, weil erst auf den zweiten Blick klar wird, dass nicht der in vielen Firmennamen vorhandenen Zusatz „& Co.“ gemeint ist, sondern schlicht „etc.“, also weitere Verlage. Drei Autorinnen widmen sich Lehrwerken für Französisch (Kathleen P LÖTNER , Anne- Marie L ACHMUND , Emma D AKLA , Untersuchungsschwerpunkte: Grammatik, Erklärvideos und Anforderungen an Lehrwerke aus der Sicht von Französischlehrkräften). Zwei Autorinnen beschäftigen sich mit Lehrwerken für Spanisch (Virtudes G ONZÁLEZ , Janina M. V ERNAL S CHMIDT , Untersuchungsschwerpunkte: Enfoque por tareas und Darstellung der Kolonisierung Amerikas). Zwei weitere Autorinnen befassen sich mit Lehrwerken für Italienisch (Michaela R ÜCKL , Sara C OLOMBO , Untersuchungsschwerpunkt in beiden Fällen: Mehrsprachigkeit). Schließlich untersuchen zwei weitere Autorinnen sowohl Französischals auch Spanischlehrwerke (Julia L ANGE , Manuela F RANKE , Untersuchungsschwerpunkte: Ausspracheschulung und Sprechkompetenzförderung). Alle Beiträge sind auf Deutsch verfasst, mit Ausnahme des Beitrags von Virtudes G ONZÁLEZ (Spanisch). Bei der Mehrzahl der Beiträge stehen das jeweilige Lehrbuch und das passende Arbeitsheft im Mittelpunkt der Untersuchung (S. 10). Die Einschätzungen in Bezug auf die Leitfrage fallen sehr heterogen aus. Drei Beispiele seien hier kurz zusammengefasst: So kommt Kathleen P LÖTNER in ihrer vergleichenden Analyse der Grammatikvermittlung in À plus! 2012 und 2020 (Cornelsen) sowie in den begleitenden Carnets d’activités zu einem verhalten positiven Ergebnis: „Der lexiko-grammatische Zugang wird durch chunks, die in zahlreichen auditiven und kommunikativen Übungen sowie in Texten genutzt werden, umgesetzt.“ (S. 71) Weiterhin „[erfolge die] explizite Systematisierung lexiko-grammatischer Strukturen […] nur teilweise“, was die Autorin ebenfalls als Orientierung an „lexiko-grammatischen Ansätzen“ (ebd.) und daher positiv wertet. Kritischer fallen dagegen die Einschätzungen in den beiden Beiträgen aus, die sowohl Französischals auch Spanischlehrwerke berücksichtigen und die sich beide mit der Mündlichkeit beschäftigen. Julia L ANGE hat die Ausspracheschulung in jeweils fünf Lehrwerken für die 140 Besprechungen DOI 10.24053/ FLuL-2023-0017 52 • Heft 1 genannten Sprachen untersucht, darunter auch Línea amarilla 1 aus dem Jahr 2006, womit sie den in der Einleitung angekündigten zeitlichen Rahmen überschreitet. Sie moniert, dass in keinem Spanischlehrbuch „explizit über die Entscheidung für die Vermittlung einer bestimmten Varietät“ aufgeklärt werde (S. 35). Insbesondere aber konzentrierten sich die untersuchten Lehrbücher vor allem auf die „Graphem-Phonem-Korrespondenzen“ (S. 48), während andere typische „Ausspracheschwierigkeiten auf segmentalem und besonders auch auf suprasegmentalem Niveau“ (S. 13) kaum berücksichtigt würden. Hingegen beruht der Beitrag von Manuela F RANKE nicht auf der Analyse bestimmter Lehrwerke, sondern auf der Beobachtung von insgesamt 184 Stunden Französisch- und Spanischunterricht (S. 221). Ziel der Studie, von der eine Teilauswertung vorliegt, war es, die „lehrwerkbasierte Unterrichtspraxis von Lehrkräften“ in Bezug auf die „Sprechhandlungskompetenz“ (S. 221) zu erfassen. Auch ihre Auswertung fällt weitgehend kritisch aus. So sei bei einem Großteil der beobachteten Aktivitäten die „imitative Aussprachevermittlung […] ohne eine Systematisierung lediglich isoliert, unreflektiert und ungezielt“ erfolgt (S. 240). Zudem werde „[…] das dialogische Sprechen […] häufig im Plenum und nur in Form von Fragen der Lehrkraft an die Lernenden gestaltet […]“ (S. 239) - also in Form des berüchtigten ‚Lehrer-Schüler- Pingpongs‘ (auch bekannt als ‚IRF-Pattern‘). Besonders die Studie von Manuela F RANKE zeigt somit, dass selbst das beste Lehrbuch nichts ausrichten kann, wenn Lehrkräfte an überholten Lehr- und Lernformen festhalten, wie hier am lauten Vorlesen von Lehrwerkstexten und an der lehrerzentrierten Klassenkommunikation. Die in dem Band versammelten Beiträge überzeugen durchweg durch ein solides methodisches Design sowie eine gut nachvollziehbare Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse. Kleinere Kritikpunkte lassen sich nur vereinzelt anbringen. So versäumt es Sara C OLOMBO in ihrem ansonsten gelungenen Beitrag, das offensichtlich nationalkulturell-dichotomische Kulturverständnis im Lehrwerk Scambio kritisch zu reflektieren (S. 162f., 169). Janina M. V ERNAL S CHMIDT legt ihren Überlegungen äußerst umstrittene, inzwischen jedoch auch in deutschsprachigen Kontexten stark verbreitete Positionen des zur Zeit dominierenden nordamerikanischen Antirassismusdiskurses zugrunde, ohne konkurrierende Erklärungsansätze für ungleiche Outcomes von Gruppen auch nur zu erwähnen. Sie sieht sich als involviert „in die rassistischen und ausbeuterischen Strukturen der deutschen Gesellschaft und globalen Wirtschaft“ (S. 177), was sie (selbst-)kritisch thematisiert. Gleichwohl kommt auch sie in ihrer Analyse der Darstellung kolonialhistorischer Inhalte in zwei Ausgaben des Spanischlehrbuchs Encuentros (2013/ 2020) zu weitgehend überzeugenden und (verhalten) positiven Ergebnissen. Die Herausgeberinnen decken mit ihrem neun Einzelbeiträge umfassenden Band wichtige Aspekte der romanistischen Lehrwerkforschung ab - ein vielversprechender Anfang für weitere Forschung ist gemacht. Hier wären aus Sicht des Rezensenten u.a. die Analyseschwerpunkte Lexikalische Kompetenz, Kulturelles Lernen und politisch-ideologische Ausrichtung von Interesse, die im vorliegenden Band nicht berücksichtigt werden konnten. Dem Band sei viel Aufmerksamkeit auch außerhalb der fremdsprachendidaktischen Fachcommunity gewünscht, insbesondere im Verlagswesen und unter Lehrkräften. Dresden J OCHEN P LIKAT 52 • Heft 1 Vorschau auf Jahrgang 52.2 Der von M ARTA G ARCÍA G ARCÍA (Georg-August-Universität Göttingen) koordinierte Themenschwerpunkt für den Jahrgang 52.2 trägt den Titel „Gamification“. In den fremdsprachendidaktischen Diskurs hat der Begriff Gamification (Gamifizierung) seit ca. 2010 zunehmend Einzug gehalten und sich letztlich als ein innovativer Ansatz etabliert, dem ein großes Potenzial, insbesondere bezüglich der Motivationsförderung, zugesprochen wird und der sich immer größerer Beliebtheit im Klassenzimmer erfreut. Es ist zum einen jedoch nicht immer klar, was genau unter Gamifizierung verstanden wird - die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Möglichkeiten, Spiele sowie Elemente von Spielen ins Klassenzimmer zu integrieren, sind nicht immer trennscharf. Zum anderen kommt neben der terminologischen Unklarheit eine prekäre Forschungslage hinzu. Während sich die meisten Studien bezüglich der Effekte der Gamifizierung im Bereich des Fremdsprachenlernens auf universitäre Kontexte beziehen, mangelt es noch stark an Untersuchungen mit jüngeren Lernenden sowie im Bereich der Lehramtsausbildung. Die Beiträge des Heftschwerpunktes greifen diese Herausforderungen auf und widmen sich in sehr unterschiedlichen gamifizierten Szenarien einer Reihe von Themen und Fragen, die bisher wenig Beachtung gefunden haben: Was sind die Potenziale und Risiken von digitalen Spielen für inklusive Lernerfahrungen? Inwiefern können die Schüler: innen im Rahmen eines Projektes zu interactive fiction eine mehrsprachige Identität entwickeln? Wie gehen Schüler: innen mit der Freiheit und den Wahlmöglichkeiten innerhalb einer gamifizierten Lernumgebung um? Wie kann das Potenzial der Verbindung zwischen Aufgabenorientierung und Gamifizierung für den Fremdsprachenunterricht ausgeschöpft werden? Wie zeigt sich das Engagement im Rahmen eines Escape Game und wie wird das kooperative Arbeiten sprachlich hergestellt? Diesen empirischen Beiträgen wird ein Grundlagenartikel der Koordinatorin vorangestellt, der den Stand der aktuellen Forschung insbesondere bezüglich des schulischen Kontextes systematisiert. Bei Redaktionsschluss lagen Zusagen für folgende Beiträge vor: C AROLYN B LUME (TU Dortmund): Ene, Mene, Muh, Raus Bist Du? Digitale Spiele als inklusive Lerngelegenheit in der Fremdsprachenlehrkraftbildung J UDITH B ÜNDGENS -K OSTEN (Goethe-Universität Frankfurt/ M.), F REDERIK C ORNILLIE (KU- Leuven), S HANNON S AURO (University of Maryland Baltimore County): Teaching literacies, supporting identities: Plurilingual identity in an interactive fiction project C AROLINE C RUAUD (Universitetet i Sørøst-Norge): A certain degree of freedom: the tension between play and normativity in playful foreign language learning E RIC W OLPERS (Universität Bremen): IGAF - Inhaltliche Gamification im aufgabenorientierten Fremdsprachenunterricht: Eine empirische Studie zur Förderung spielerischer und narrativer Lernzugänge M ARTA G ARCÍA G ARCÍA (Georg-August-Universität Göttingen): Schüler: innen-Engagement im Rahmen von Escape-Rooms im Spanischunterricht V o r s c h a u 142 Vorschau 52 • Heft 1 Geplanter Themenschwerpunkt für Jahrgang 53.1 Interaktion und Digitalisierung Koordiniert von G ÖTZ S CHWAB (Ludwigsburg) und S ABINE H OFMANN (Palermo) Hinweis in eigener Sache Zwölf Jahre lang war Lutz K ÜSTER (Humboldt Universität zu Berlin) Mitglied des Herausgeberteams der FLuL, zunächst gemeinsam mit Claus G NUTZMANN und Frank G. K ÖNIGS , später mit Karen S CHRAMM und Britta V IEBROCK . Nach einer längeren Übergangsphase wird er zum Beginn des Jahres 2023 das Herausgeberteam verlassen und Birgit S CHÄDLICH (Georg- August-Universität Göttingen) folgt ihm nach. Wir danken Lutz K ÜSTER für seine Mitarbeit und inhaltliche Expertise aus romanistischer Perspektive. Seine genauen Lektüren und kritischkonstruktiven Kommentare bleiben Vorbild für die weitere Arbeit an der FLuL im neuen Herausgeber: innenteam. Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Zur Theorie und Praxis des Sprachunterrichts Herausgegeben von: Birgit Schädlich (Göttingen) · Karen Schramm (Wien) Britta Viebrock (Frankfurt) Zuschriften, Manuskripte und Rezensionsexemplare erbeten an: Prof. Dr. Birgit Schädlich, Georg-August-Universität Göttingen, Seminar für Romanische Philologie, Humboldtallee 19, 37073 Göttingen, eMail: birgit.schaedlich@phil.uni-goettingen.de Prof. Dr. Karen Schramm, Universität Wien, Institut für Germanistik, Fachbereich DaF/ DaZ, Porzellangasse 4, A-1090 Wien, eMail: karen.schramm@univie.ac.at Prof. Dr. Britta Viebrock, Goethe Universität Frankfurt, Institut für England- und Amerikastudien, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, eMail: viebrock@em.uni-frankfurt.de Beratende Mitarbeit: Gabriele Blell (Hannover) · Stephan Breidbach (Berlin) · Eva Burwitz- Melzer (Gießen) · Daniela Caspari (Berlin) · Sabine Doff (Bremen) · Andreas Grünewald (Bremen) · Jürgen Kurtz (Gießen) · Claudia Riemer (Bielefeld) · Laurenz Volkmann (Jena) Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) erscheint zweimal im Jahr mit einem Umfang von jeweils ca. 144 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 68,- (print) bzw. € 79,- (print + online), Vorzugspreis für private Leser € 49,- (print), das Einzelheft € 42,-. (alle Preise zzgl. Postgebühr). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn es nicht bis zum 15. November des laufenden Jahres beim Verlag gekündigt wird. © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, 72070 Tübingen www.narr.de, eMail: info@narr.de Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, in Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Printed in Germany ISBN 978-3-381-10321-8 · ISSN 0932-6936 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) Themenschwerpunkte (1997 - 2022) 26 (1997): Language Awareness (koord. von Willis J. Edmondson und Juliane House) 27 (1998): Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern (koord. von Inez De Florio-Hansen) 28 (1999): Neue Medien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Erwin Tschirner) 29 (2000): Positionen (in) der Fremdsprachendidaktik (koord. von Frank G. Königs) 30 (2001): Leistungsmessung und Leistungsevaluation (koord. von Rüdiger Grotjahn) 31 (2002): Lehrerausbildung in der Diskussion (koord. von Frank G. Königs und Ekkehard Zöfgen) 32 (2003): Mündliche Produktion in der Fremdsprache (koord. von Karin Aguado u.a.) 33 (2004): Wortschatz - Wortschatzerwerb - Wortschatzlernen (koord. von Erwin Tschirner) 34 (2005): `` Neokommunikativer AA Fremdsprachenunterricht (koord. von Franz-Joseph Meißner) 35 (2006): Sprachdidaktik - interkulturell (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 36 (2007): Fremdsprache als Arbeitssprache in Schule und Studium (koord. von Claus Gnutzmann) 37 (2008): Lehren und Lernen mit literarischen Texten (koord. von Eva Burwitz-Melzer) 38 (2009): Strategien im Fremdsprachenunterricht (koord. von Manfred Raupach) 39 (2010): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts (koord. von Claus Gnutzmann und Frank G. Königs) 40.1 (2011): Fremdsprachenforschung in Europa (koord. von C. Gnutzmann, F.G. Königs und L. Küster) 40.2 (2011): Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung, Lehrwerkentwicklung (koord. von Jürgen Kurtz) 41.1 (2012): Kompetenzen konkret (koord. von Lutz Küster) 41.2 (2012): Fremdsprachen in nichtsprachlichen Studiengängen (koord. von Claus Gnutzmann) 42.1 (2013): Entwicklungslinien. Standpunkte der Fremdsprachenforschung (koord. von Jenny Jakisch, Frank G. Königs und Lutz Küster) 42.2 (2013): Tasks revisited (koord. von Wolfgang Hallet und Michael K. Legutke) 43.1 (2014): Der Fremdsprachenlehrer im Fokus (koord. von Frank G. Königs) 43.2 (2014): Multiliteralität (koord. von Lutz Küster) 44.1 (2015): Wissenschaftliches Schreiben in der Fremdsprache (koord. von Claus Gnutzmann) 44.2 (2015): Mehrsprachigkeitsdidaktik (koord. von Jenny Jakisch) 45.1 (2016): (Fremd-)Sprachenlernen mit Film (koord. von Gabriele Blell und Carola Surkamp) 45.2 (2016): L2-Motivation - internationale und sprachspezifische Perspektiven (koord. von Claudia Riemer und Kathrin Wild) 46.1 (2017): Sprachenpolitik (koord. von Eva Burwitz-Melzer und Jürgen Quetz) 46.2 (2017): Frühes Fremdsprachenlernen (koord. von Heiner Böttger) 47.1 (2018): Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht (koord. von Lutz Küster und Jochen Plikat) 47.2 (2018): Digitalisierung und Differenzierung (koord. von Torben Schmidt und Nicola Würffel 48.1 (2019): Videobasierte Lehre in der Fremdsprachendidaktik (koord. von Mark Bechtel und Karen Schramm) 48.2 (2019): Sprachmittlung (koord. von Andrea Rössler und Birgit Schädlich) 49.1 (2020): Fremdsprachliches Schreiben (koord. von Hans P. Krings) 49.2 (2020): Aussprache lehren, lernen und evaluieren (koord. von Isabelle Mordellet-Roggenbuck und Julia Settinieri) 50.1 (2021) Bilingualer Unterricht. Aktuelle Herausforderungen und neue Chancen (koord. von Bärbel Diehr und Dominik Rumlich) 50.2 (2021) Berufsbezogenes Fremdsprachenlernen und -lehren (koord. von Karin Vogt und Hermann Funk) 51.1 (2022) Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe für alle (koord. Nikola Mayer) 51.2 (2022) Mehrsprachige Forschung - Mehrsprachigkeit in der Forschung: theoretische und empirische Herausforderungen aus internationaler Perspektive (koord. von Dagmar Abendroth-Timmer und Britta Viebrock) Hinweise zu Beiträgen für FLuL FLuL begrüßt forschungsbasierte Beiträge zu allen für den Fremdsprachenunterricht und die Förderung der Mehrsprachigkeit relevanten Bereichen. Einzelheiten zur Gestaltung der Manuskripte sind dem ausführlichen ,style sheet‘ zu entnehmen, das bei der Redaktion (Anschrift siehe 2. Umschlagseite) angefordert werden kann. ISSN 0932-6936 www.narr.digital www.narr.de Themenschwerpunkt: Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen C arola S urkamp , a ndreaS W irag Zur Einführung in den Themenschwerpunkt ........................................................... 3 a ndreaS W irag Ein Rahmenmodell für den kunstbasierten Fremdsprachenunterricht - unter Einbezug von Theater, Bildender Kunst, Musik und Literatur ................................. 11 l uiSa a lfeS Bildende Kunst und fremdsprachliches Lernen: (Selbst-)Portraits und ihr besonderes Potenzial für die Entwicklung von Empathiefähigkeit .......................... 27 a line W illemS Musik zur Förderung fremdsprachlicher Kompetenzen: Einblicke in den Forschungsstand mit einem Exkurs in die romanischen Sprachen ........................ 44 C hriStine g ardemann Das Potenzial der Literatur für Selbst- und Weltreflexion im Fremdsprachenunterricht .................................................................................. 59 a lmut h ille Slam Poetry und Poetry Slams im Fremdsprachenunterricht: Erleben, Analysieren, selbst Verfassen und Präsentieren .................................................. 73 m iChaela S ambaniS Theateraktivitäten im Fremdsprachenunterricht: Kreativität fördern, funktionalkommunikative Kompetenzen entfalten .............................................................. 88 ISBN 978-3-381-10321-8 Fremdsprachen Lehren und Lernen (FLuL) 52. Jahrgang · 1 Fremdsprachen Lehren und Lernen Herausgegeben von Birgit Schädlich, Karen Schramm und Britta Viebrock Themenschwerpunkt: Die Künste und ihr Einsatz im Fremdsprachenunterricht - Potenziale für das fremdsprachliche Lehren und Lernen Koordination: Carola Surkamp und Andreas Wirag FLuL 52. Jahrgang · 1