Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1993
221
Gnutzmann Küster SchrammAus Fehlern lernen
121
1993
Hagen Kordes
flul2210015
Hagen Kordes Aus Fehlern lernen Abstract. Error Analysis and Error Correction do not necessarily match together with learning from errors (or mistakes). Therefore we present an experiment through which we just try to translate the motto 'Learning from mistakes' into a methodological practice. On the example of two students' utterances (' interacts') we identify in (competence-)mistakes and (performance-) ·errors leamer problems and leamer strategies. These are used as orientating help-mark: ers for the reorganisation of the learner language as well as for the shaping of an interlingual competence. Such practical research results in an attempt to establish 'plateaus' in which students try on different levels (of consciousness) and with different means (of mental organisation) to grow out of the 'natural history' of their mother tongue socialization and to 'spin themselves' more and more into the 'cultural history' of their foreign language acquisition. 0. Lerner sind dazu da, Fehler zu machen; Forscher analysieren und Lehrer korrigieren sie. Aber ob aus den Fehlern gelernt wird, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Offensichtlich steht der schulübliche Umgang mit Fehlern vor einem Dilemma: Einerseits glaubt er, unter allen Umständen an der Institution der Fehler-Bewertung festhalten zu müssenaus Sorge, sonst den 'sprachlichen Boden' unter den 'didaktischen Füßen' zu verlieren; andererseits akzeptiert er es, mit seiner in der Fehlerkorrektur ·impliziten permanenten Bewertung und Abwertung die Entfaltung der Lernersprache zu hemmen und die Kompetenzmotivation der Schüler zu blockieren. 1. Ein methodischer Vorschlag zur 'Verhandlung' zwischen theoretischer Fehleranalyse und praktischer Fehlerkorrektur Ich beschreibe im folgenden skizzenhaft eine Methode des 'Aus-Fehlern-Lernens', die aus 'Verhandlungen' vor allem mit Schülern, aber auch mit Lehrern entstanden ist (Kordes/ Budde 1985; Kordes 1994). Es ist allerdings gleich vorweg zu sagen, daß wir mit dieser Methode nicht einer neuen illusorischen Hoffnung Nahrung geben wollen, die glaubt, ein wissenschaftlicher Ansatz könne die alltägliche Praxis von Lehrern und Lernern grundlegend und dauerhaft umwälzen. Diese Methode ist das Ergebnis einer intensiven, langjährigen und mühseligen Zusammenarbeit. Sie ist stets neu mit neuen Lehrern und Lernern auszuhandeln, und sie wird stets zu neuen Methoden gelangen. Was diese Methode des 'Aus-Fehlern-Lernens' von den anderen Ansätzen des 'Fehlerkorrigierens' und des 'Fehleranalysierens' unterscheidet, läßt sich grob verkürzt wie folgt zusammenfassen: FLuL 22 (1993) 16 Hagen Kordes Tableau 1: Schematische Kontrastierung dreier Methoden des Umgangs mit Fehlern Fehler Korrigieren 'Fehler Korrigieren' kreidet als 'Fehler' alle Abweichungen von den Intuitionen an, die ein idealisierter native speaker von seiner Muttersprache hat. Fehler Analysieren 'Fehler Analysieren' markiert in den 'Fehlern' Irrtümer, die daraus resultieren, daß der Lerner neben der ungenügend bekannten Fremdsprache noch andere Bezugssprachen und damit auch andere teilweise persönliche ('idiosynkratische') Intuitionen von der Grammatikalität der Fremdsprache hat, als der native speaker. Aus Fehlern Lernen 'Aus .Fehlern Lernen' identifiziert in den Kompetenz- Fehlern und Performanz- Irrtümern aktuelle Lernerprobleme und Lernerstrategien und nutzt diese als Orientierungshilfen für die Reorganisation der Lernersprache sowie für die Ausbildung einer interimsprachlichen Kompetenz. Wir wollen unsere Methode an einem kleinen Ausschnitt aus unseren Kommunikationsaufgaben demonstrieren, in denen wir die Schüler vor eine Reihe offener Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsprobleme mit Trägem französischer Sprache und Kultur gestellt haben. Die Offenheit dieser Kommunikation hat den Vorteil, daß sie mithilft, eine freundliche Situation zu schaffen, bei der die Kontaktherstellung und der Informationsaustausch im Vordergrund stehen. Sie hat allerdings auch den Nachteil, daß die Fehler zunehmen, weil die Heranwachsenden in der Regel nun auf anspruchsvolleren Handlungsabsichten beharren und damit fast zwangsläufig auch zu vermehrten 'Übertragungen' "Transferenzen" (Rattunde 1977; 1982) muttersprachlicher Sprachstrukturen in die fremdsprachlichen neigen beziehungsweise ihren gegenseitigen Überlagerungen "Interferenzen") ausgesetzt sind. Aus einer umfassenderen Interaktionsaufgabe greifen wir eine kleine Äußerung heraus, um an ihr unsere Methode zu verdeutlichen. Die Interaktionsaufgabe bestand in diesem Teil darin, auf eine Einladung einer französischen Deutsch-Klasse zu antworten. Die Handlungsaufforderung lautete: »Antworte den französischen Korrespondenten, daß ihre Idee, Euch/ Dich einzuladen, ebenso 'genial' ist, wie die, ihren Brief auf Deutsch abzufassen«. Cora, eine Schülerin aus dem 'unteren Drittel' und Ralf, ein Schüler aus dem 'oberen Drittel' verarbeiteten diese Aufforderung wie folgt: FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen Tableau 2: Interakte der Schüler Cora und Ralf in der Jahrgangsstufe 11 Cora (Jahrgangsstufe 11) L'idee que tu as eu_ est tres bon et l' idee j_ traverser la lettre est bon aussi. Die Idee, die Du geha~t hast, ist sehr wohl. und die Idee, den Brief : i_ überqueren ist wohl. (eue) (bonne) (de) (traduire) (bonne) (gehabt) ·(gut) (zu) (übersetzen) (gut) Ralf (Jahrgangsstufe 11) Vous avez raison. Vous avez vraiment une idee geniale. Sans aucun doute VOUS etes tres intiJ.igentS (intelligents) bien que votre franr; ais etait · (soit) mieux que la version germanique. Je suis sur que vous etes surpris (serez) d' attendre (entendre/ percevoir) nos facultes de franr; ais. (notre faculte) Ihr habt recht. Ihr habt wirklich eine geniale Idee. Ohne jeden Zweifel seid Ihr sehr intehligent. Obwohl Euer Französisch besser als die germanische Version war. Ich bin sicher, daß Ihr überrascht seid, unsere Französisch-Fakultäten zu erwarten. 17 Auf diese Äußerungen können Lehrer sehr unterschiedlich reagieren. Bei aller Sensibilität für die Schüh; rprobleme ist eine autoritär-direkte Markierung (wie auch in gewisser Weise von uns oben vorgenommen) die Regel. Für ein selbst-organisierendes Lernen aus Fehlern haben wir mit Schülern und Lernern fünf Schritte einer animierenden (belebenden, ermutigenden) Rückmeldung entwickelt, die wir hier unter Verweis auf die schon zitierte Handreichung (Kordes/ Budde 1985) kurz auflisten wollen. Diese Schritte stellen Alternativen zur herkömmlichen Praxis schulischer Fehlerbewertung dar, in der Lehrer ihre halben bis anderthalben Fehler verteilen und nach einem Fehlerquotienten berechnen: : r Fehler x 100 : r Wörter Statt diese Konvention abzuschaffen (was wir nicht können), bieten wir in einer gewissermaßen polaren Ergänzung dazu unsere Methode des 'Aus-Fehlern-Lernens' an. Da Schüler (und Lehrer) unverrückbar auf einer objektiven Rückmeldung ihrer Fehler beharren, informieren wir sie in einem Null-Schritt über ihren Sprachrichtigkeitsquotienten: : r korrekte Wörter - : r Lernerprobleme : r Wörter In diesem Quotienten erscheinen nicht mehr nur die Fehler, sondern auch die richtig gebildeten Zeichen und Strukturen, so daß die Fehler-Fixierung, die die Schüler endlos auf eigene defizitäre Ressourcen zurückwirft, aufgebrochen und die Wendung zur Anerkennung ihrer Fähigkeiten insgesamt vorgenommen wird. Die fünf Schritte, nach denen unsere Methode vorgeht, lauten dann wie folgt: FLuL 22 (1993) 18 Hagen Kordes 1. Schritt: Wir markieren Lernerprobleme statt in den Lerneräußerungen nur Fehler zu fixieren Wir ordnen die Lernerprobleme ihren unterschiedlichen komplexen 'Relationen' zu: Wort-(W), Wort-Wort-(W-W), Wort-Satz-(W-S), Satz-Äußerungs-(S-Ä) Relation. Dabei müssen wir eine qualitative Analyse der individuellen oder kollektiven Problemfelder beziehungsweise Problem- 'Fokusse' und können wir die quantitative Berechnung eines Quotienten vornehmen, der die Gewichte dieser Relationen berücksichtigt: 1 x W + 2 .X W-W + 3 x W-S + 4 x S-Ä I. Lernerprobleme 2. Schritt: Wir unterscheiden Kompetenz- und Performanzprobleme statt nur Leistungsfehler zu erfassen Kompetenzfehler sind jene 'Irrtümer', für die der Lerner nichts kann, weil er die entsprechende fremdsprachliche Regelstruktur noch nicht kannte oder noch nicht konnte; Performanzfehler sind dagegen jene 'Fehler', für die der Lerner kann, weil er über die entsprechenden Regelstrukturen eigentlich schon verfügt und ihnen überwiegend aus Zerstreuung und Konzentrationsschwäche nicht nachkommt. Diese Performanzfehler können wieder in die Sphäre von Kompetenzfehlern geraten, wenn sie zu 'Fossilen', also zu versteinerten Fehlergewohnheiten werden, die sich in der Lernersprache 'abgelagert' haben (um den eigenartigen Hang der Psycholinguisten zu geografischen Bezeichnungen auf die Spitze zu treiben). Auch hier können Kompetenz- und Performanzprobleme quantitativ in einem Quotienten zusammengefaßt werden: Kompetenzprobleme - Performanzprobleme I. Lemerprobleme 3. Schritt: Wir identifizieren die Lernerstrategien statt bloß Abweichungen von der Zielgrammatik zu konstatieren Nicht nur korrekte, auch fehlerhafte Formulierungen enthalten •Leistungen', nämlich strategische oder taktische Lösungen der Lernerprobleme. Die Lernerstrategien stellen gewissermaßen die Organisatoren der Lernersprache dar. Diese Organisatoren können unterschiedliche Reifegrade oder 'Plateaus' erreichen, von pidginlingual verkürzenden über transferenzlingual ausgleichenden und inferenzlingual angleichenden bis zum Ideal der interlingual ausarbeitenden Strategien. Entsprechend läßt sich folgender Quotient für die Gewichtung der Lemerstrategien errechnen: LStr = - 1 x pidgl. + 1 x transfzl. + 2 x infrzl.+ 3 x interl. Strategie Q I. Lemerstrategien Parallel zu diesen lingualen Strategien lassen sich beständig auch personale und interpersonale Strategien untersuchen. 4. Schritt: Wir charakterisieren die Lernersprache statt nur Teilaspekte einer unzureichenden Zielsprache zu erfassen Die Lernersprache stellt das Ensemble der Lernerprobleme und Lernerstrategien dar. Es wird charakterisiert durch das diesem zugrunde liegende linguale Regelsystem und personale Orientierungsmuster. Fehler und Irrtümer sind integrale Bestandteile dieser Sprache. Mit einer quantitati- FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 19 ven Analyse der Lernerstrategien läßt sich ein erstes Verständnis ihrer hierarchischen Struktur gewinnen, etwa mit Hilfe dieses Lernerregelquotienten: LR = Zielsprachl. Regeln: 1 x transfzl. + 2 x infrzl. + 3 x interl. eo Interimsprachl. Regeln: 4 x pidgl. + 3 x transfrzl. + 2 x infrzl. + 3 X interl. Entscheidend ist dabei letztlich die qualitative Reanalyse des entscheidenden Organisationsmusters, mit welchem der Lerner seine Interaktion in einen Sprechakt und seinen Sprechakt in Sätze, Modalisierungen und schließlich in Zeichen transformiert. Die 'Lernergrammatik' im engeren Sinne läßt sich dann aus dem Verhältnis zwischen zielsprachlichen (korrekten oder akzeptablen) und interimsprachlichen (zielsprachlich fehlerhaften, nicht-akzeptablen) R! ! geln, die ein Lerner mehr oder weniger zusammenhängend einlöst, bestimmen. 5. Schritt: Wir identifizieren Plateaus lemersprachlicher. Kompetenzbildung statt sprachliche Fertigkeiten nur über eine Fehlerauszählung zu beurteilen Die Bildung einer lernersprachlichen Kompetenz läßt sich nun in Begriffen lernersprachlicher Regeln und lemerstrategischer Plateaus bestimmen. Wir sprechen von Bildung und nicht von Entwicklung, (1) weil wir es nicht mit einfachen progressiven Fortschritten, sondern mit der Dynamik eines Bildungsgangs zu tun haben, aus dem sich zu jeder Zeit auch Rückschritte (back slidings, 'Fossilisierungen') und Fort-Schritte (foreward tasting, 'Mutierungen') ergeben; (2) weil es um die Koordinierung von Teilmomenten geht, die in polarer Spannung zueinander stehen (normative Zeichenkontrolle und formative Bezeichnungskreativität in Satzbauplanung und Modalisierung) und schließlich (3) weil die Entwicklung kein Ende (etwa in der native like speaker-Kompetenz) hat, sondern der Bildung eines Bewußtseins eigener Idiosynkrasie bedarf. Quantitativ kann die Veränderung mit Hilfe eines change-Quotienten gemessen werden, der die Veränderung von einem Zeitpunkt zu einem anderen erfassen hilft: (vom einzelnen Schüler) erreichte Stufe (Wert) x 100 durchschnittlich (in der Schülerpopulation) erwartbare Stufe Von dieser analytischen Methode nimmt auch die didaktische ihren Ausgangspunkt. Weil die Analyse nur fruchtbar sein kann, wenn sie ihre Fortsetzung in der Selbstorganisation des Lerners findet, kann die didaktische Bemühung des Lehrers nicht einem naiven input-output-Modell folgen (so als genügte die Einspeisung des Korrekten sowie zielsprachlicher Regeln, um den Lerner zur Korrektur seiner Fehler und zur Verbesserung seiner Lernersprache zu veranlassen). Die Didaktik besteht im Gegenteil darin, daß der Lehrer (oder der Begleitforscher oder der 'hilfreiche Schüler') das Fehlerhafte mit dem Korrekten und Kreativen zusammen in Orientierungshilfen umformuliert, nämlich in die eben genannten Lernerprobleme, Kompetenz- und Performanzprobleme, Lernerstrategien sowie in Hinweise zur Lernersprache und zu ihrem weiteren Bildungsgang. Diese Umformulierung muß aber in der Sprache des Lerners erfolgen, damit dieser sie überhaupt wahrnimmt und sich angeregt fühlt, diese als Kontextinformation in die zirkuläre Organisationsweise seiner Lernersprache einzuschleusen. Ohne seinen intake (ob nun im Sinne eines mis-take oder eines good-take) und ohne seine Selbstorganisation läuft buchstäblich gar nichts. Die alte pädagogische Idee der (kindlichen, jugendlichen) Unverantwortlichkeit liefert keine Begründung für Fremdsprachenlehre und Fremdsprachenlernen mehr. FLuL 22 (1993) 20 Hagen Kordes Im folgenden wollen wir an den zwei oben zitierten Beispielen veranschaulichen, wie schulische Fremdsprachenlerner (Schüler) ihr Regelverhalten organisieren beziehungsweise reorganisieren und wie wir diese Selbstorganisationsprozesse deuten und anregen. 2. Cora und die Ausbildung ihres Regelverhaltens Auf den eQen zitierten ersten Interakt der Cora angewandt erhalten wir mit unserer Methode des 'Aus-Fehlern-Lernens' folgende Angaben: Tableau 3: Coras erster Interakt (Jahrgangsstufe 11) Originaläußerung Lernerprobleme Ebene Klasse Kompetenz/ Performanz Lernerstrategien Plateau Organisationsmuster L'idee que tu as eu_ (eue) II W-S ÜB (Part.) K est tres bon_ (bonne) II W-S ÜB (Adj.) K et l'idee : : J.. (de) II W-S ÜB (lnf.) K traverser (traduire/ I W W (Verb) K interpreter) la lettre est bon (bonne) II W-S ÜB (Adj.) K aussi Zeichen- und Worterklärung ÜB = Übereinstimmung zwischen zwei Worten (accord, Kongruenz) W = Wortwahl A "Deutsch-Export" ( "Kaputt-Kamerad" ( "Kaputt-Kamerad" A "Deutsch-Export" ( "Kaputt-Kamerad" ( = "Kaputt-Kameraei"): Pidginling1,1ale Strategien des nahezu durchgängigen Gebrauchs eines einzigen Personalpronomens, weniger unmarkierter Adjektive, Vermeidung von Akzenten, Bildung der Verben im Infinitiv und so weiter. A = "Deutsch-" oder "Englisch-Export"): Transferenzlinguale Strategien der umstandslosen Übertragung deutscher Sprachstrukturen in die Fremdsprache. 12 - 5 500 1 + 12 S~ = ~ = 0.4; (FQ = IT = 29.4; ) LPrQ = 5 = 2.6; 5-0 KPQ = -- = 1 5 LStrQ = - 3 + 2 - ---0 2 5 - . Trotz der aus Platzgründen aufgenötigten - Beschränkung auf diesen Interakt, der einer unter vielen und nicht in jeder Hinsicht repräsentativ ist, lassen sich die ersten in der Tabelle eingetragenen Markierungen in einer zusammenhängenden Lerner- FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 21 sprachenanalyse fortsetzen. Dabei kommen wir ceteris paribus zu folgenden Deutungen, die wir hier der Einfachheit halber in der Sprache des psycholinguistisch-didaktischen Diskurses formulieren. Wir haben es bei Cora mit einer Französisch-Sprecherin zu tun, die um ihre begrenzten interimsprachlichen Mittel weiß und daher ihre Lernersprache von vornherein auf die vereinfachende Übertragung des Informationshandelns "die Idee ist gut") konzentriert. Diese Information drückt sie in wenigen Worten aus, in denen sich das Subjekt (l'idee), das Prädikat (est) und die adjektivische Charakterisierung (bon _)wiederholen.Die Eigenschaftsbestimmung bon nimmt sie mit dem elementarsten Standardausdruck vor, von dem sie annimmt, daß er für alle Gegebenheiten 'gut' sei und über deren grammatische Variabilität sie implizit wie explizit nichts weiß. Sie wendet dieses Eigenschaftswort en bloc, im Zusammenhang mit l' idee stets ungeformt, wie ein Pidgin-Sprecher an. Dieser pidginlingualen Restringierungstendenz entspricht auch die Nebeneinanderstellung *l'idee ✓ traverser ohne infinitivisches Demonstrativpronomen. Diese Pidginisierungen stellen keineswegs nur ein negatives Phänomen der Lernersprache dar. Cora drückt sich mit ihrer Hilfe verständlich; wenngleich eingeschränkt aus. Gleichzeitig enthält diese Äußerung aber auch relativ wohlgeformte Satzstrukturen: Bis. auf den infinitivischen ~ebensatz sind die beiden Hauptsätze und der zweite (relativische) Nebensatz richtig gebildet und wohlgeformt. Diese Satzbildungen vetleiten Cora aber immer dann zu Fehlern, wenn sie über reine Wort-Wort-Verbindungen hinausgehen muß (l'idee que tu as eu_, l' idee ✓ traverser). Zwei' die·ser drei Fehler resultieren aus transferenzlingualen Strategien: Die fehlende Grundmarkierung des Partizips entstammt der ihr von der Muttersprache nahegelegten Vorstellung, daß das Partizip sich nicht verändere; und die verfehlte Wortwahl 'traverser (statt traduire) entspringt einer mißglückten Wiedererinnerung. Ihre Lernersprache läßt sich also nicht wie ein durchgehendes System beschreiben, sondern als eine dynamisch-transitionale Prozeß- oder be~ser Bildungsgangstruktur, die durch ein notorisches Hin und Her (Ungleichgewicht) zwischen pidginlingualen Simplifizierungstendenzen und inferenzlingualen Assimilationsversuchen gekennzeichnet ist. Wenn wir jedoch nicht nur die interimsprachlichen Regeln, welche für die Fehler verantwortlich sind, sondern auch die zielspra: chlichen Regeln, die für die korrekten Formulierungen stehen, berücksichtigen, dann kommen wir zu neuen Erkenntnissen: Tableau 4: Coras Regelsystem (Jahrgangsstufe 11) Interimsprachliche Regeln A. Pidginlingual Regel 1: Drücke das Eigenschaftswort 'gut' immer und unverändert durch das französische Wortbon aus! Regel 2: Bilde einen infinitivischen Nebensatz dadurch, daß nach dem Bezugswort FLuL 22 (1993) Zielsprachliebe Regeln A. Transferenzlingual Regel l: Der Relativsatz wird durch das Pronomen que = "den" eingeführt, wenn es sich auf das Objekt des Satzes bezieht. B. Inferenz I in g u a l Regel 2: Der Nebensatz behält im Unterschied zum Deutschen die Subjekt-Prädikat- 22 sofort der Infinitiv des Verbs gesetzt wird, und zwar ohne Vermittlung durch ein Demonstrativpronomen (wie de). B. Tran s f er e n z 1i n g u a 1 Regel 3: Das Verb «übersetzen» übersetze ich im Französischen mit traverser. Regel 4: Das Partizip bleibt (wie im Deutschen) bei der Bildung im Perfekt unverändert. Hagen Kordes Objekt-Stellung bei (Beispiel: que tu as eu) und zwar auch bei Verwendung des passe compose. Regel 3: Das Adverb aussi wird im Gegensatz zum Deutschen dem Objekt nachgestellt. Regel 4: Die Verben werden nach einem besonderen Zielsprachensystem konjugiert (je pense, je crois, l' anglais est). In dieser Übersicht müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Cora durchaus über eine Reihe verinnerlichter und automatisierter zielsprachlicher Regeln verfügt, und dies nicht nur da, wo eine strukturelle Homologie zwischen Muttersprache und Fremdsprache besteht (transferenzlingual), sondern auch da, wo sie fremdsprachliche Formulierungen in der Distanzierung von muttersprachlichen Regeln vornehmen muß. Statt Übertragung (Transferenz) aus der Muttersprache herrscht Inferenz vor, also ein halbbewußtes Gefühl für das Funktionieren von Tiefenstrukturen der Zielsprache. - Wenn wir diese Erkenntnisse in ein quantitatives Maß überführen, welches das Verhältnis zwischen interimsprachlichen und zielsprachlichen Regeln widerspiegelt, dann erhalten wir für Cora einen Lernerregelquotienten von 0,3. Natürlich können wir mit diesem Beispiel noch keine begründete Einschätzung dieser Quote vornehmen. Eine weitergehende Interpretation muß zunächst die weitere Ausbildung Coras berücksichtigen. Dennoch wollen wir provisorisch das Plateau des bisherigen Bildungsgangs in Coras Regelverhalten charakterisieren. Ihre (fehlerhaften) interimsprachlichen Regeln verweisen sie auf die Schwelle eines kritischen Übergangs zwischen pidginlingualen und transferenzlingualen Strategien. Berücksichtigen wir die Komplexität ihrer Lernerprobleme, dann sehen wir, daß die meisten Fehler auf 'gewagtere' Versuche zurückgehen, Worte in Sätzen zu verbinden, also sozusagen 'Fehler nach vorne' sind. Wenn wir jedoch ihre zielsprachlichen Regeln dazunehmen, dann sehen wir, daß sie bestimmte von der Muttersprache abweichende Satzstrukturen (wie Haupt- und Relativsatz im Gegensatz zum Infinitivsatz) richtig bildet. Sie hat also bereits ein DitTerenzbewußtsein zwischen Ausgangs- und Zielsprache ausgebildet. Dies reicht jedoch noch nicht aus, um die Transferenzen aus der Muttersprache unter Kontrolle zu halten oder gar um die Interferenzen zwischen Mutter- und Fremdsprache zu erkennen, geschweige denn durchzuarbeiten. Eine praktische sprachdidaktische Arbeit kann nun mit Cora nicht die ganze Beschaffenheit ihrer Lemersprache bearbeiten. Vielmehr gilt es, Brennpunkte ('Fokusse') mit ihr zu identifizieren, also solche Lernerprobleme, (a) deren Revisionsbedürftigkeit sie aufgrund immer wiederkehrender Formulierungen selbst einsieht (also legitim ist); (b) deren Bewältigung in der Zone ihrer nächsten Entwicklung liegt (also erreichbar ist); FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 23 (c) deren Lösung zu einer prägnanten Reorganisation und Verbesserung ihrer Lernersprache führt (also progressiv ist). Nach einigen tastenden Such- und Probebewegungen legte sich Cora auf zwei solcher Brennpunkte fest: Auf dte Depidginisierung ihrer bon-Fonnulierungen und auf die Umgehung der infinitivischen Nebensätze, die sie chronisch zu Fehlern verleitel).. Nun können wir einen Schritt weitergehen und die tatsächliche Entwicklung der Cora in den folgenden zwei Jahrgangsstufen 12 und 13 untersuchen: Tableau 5: Jahrgangsstufen 12 und 13 Jahrgangsstufe 12 Je pense que c' est une bonne idee parce que j'ai la meme mais je crois que l' d_nglais des Fran,; ais§_ est _j_ mauvais que la Fran,; ais d' allemands (je suis du meme avis) (l 'anglais) (Franc,aises) (aussi) (le franc,ais) (des Allemands) Hierarchie der Lernerstrategien 1. Transferenzlingual (9) 2. Inferenzlingual (1) Quotienten S~=0.2 LPrQ = 1.6 LStrQ = 1.1 (FQ = 36.66) KPQ = 0.64 LReQ = 1.2 Jahrgangsstufe 13 La raison est que je veux te remerciJt_ pour k_ bon _ idee d'obtenir un Job pour moi. Je sais que mon franglais etait tres bon mais je crois _j_ tu dois venir a l'Allemagne pour apprendre le (remercier) (la bonne idee) (me trouver / bien vouloir me trouver) (que) (en) 'slang' des filles allemandes. Hierarchie der Lernerstrategien 1. Transferenzlingual (5) 2. Pidginlingual (2) Quotienten SR½= 0.65 LPrQ = 2.0 LStrQ = 0.4 (FQ = 17.07) KPQ = 0.7 LReQ = 1.2 Aus Platzgründen müssen wir auf die genauere Ausweisung der Lernerprobleme und Lernerstrategien verzichten. Doch auf eine wichtige Erkenntnis wird jeder aufmerksame Analytiker schnell stoßen. Die weitere Entwicklung in Coras Lernersprache zeigt nämlich ein Paradox, wenn wir nur ihre Fehlererzeugung betrachten. In der Jahrgangsstufe 12 macht sie erheblich mehr Fehler, aber zeigt kaum noch pidginlinguale Selbstbeschränkungstendenzen. In der Jahrgangsstufe 13 verringert sie dagegen ihre Fehlerzahl, fällt aber erneut in einige Pidginisierungsgewohnheiten zurück. Hinzu kommt, daß sie in ihrer Artikelbildung immer wieder das falsche Genus wählt, und zwar gerade auch dann, wenn es von der Muttersprache nahege- FLuL 22 (1993) 24 Hagen Kordes legt wäre. Merken wir ebenfalls an, daß die Schülerin gegen den muttersprachlichen Impuls ständig die falsche Genusmarkierung wählt: * le meme opinion, * lg,_ f_ran,ais, *le bon_ idee. Sie hat für viele dieser Genusmarkierungenjede Orientierung verloren: Diejenige der Zielsprache hat sie noch nicht, derjenigen der Muttersprache mißtraut sie. Heraus kommt dabei ein Prozeß des Quer-Ratens, dessen Resultat sozusagen der Schieleffekt ist: Was im Deutschen männlich ist und im Französischen auch, wird in ihrem Französisch 'anders herum', nämlich weiblich markiert usw. Betrachten wir nun genauer das Verhältnis, welches Cora zwischen lemersprachlichen und zielsprachlichen Regeln faktisch herstellt: Tableau 6: Coras Regelsystem (Jahrgangsstufe 12) Interimsprachliche Regeln A. Transferenzlingual ~ (.,Schielregel"): Markiere das Genus der Subjekte nach dem Differenzierungsprinzip, also nach der Devise: Meist stimmt der vom Deutschen abweichende Artikel (*k meme opinion). Regel 2: Übertrage Ausdrücke und Redensarten aus dem Deutschen ins Französische (*j'ai la meme opinion). Regel 3: Der Komparativ wird ,durch ein Wort (wie im Deutschen) ausgedrückt: mal= .,schlecht", mauvais = .,schlechter". Regel 4: übersetze den Teilungsartikel „von" analog zur Muttersprache mit de. Regel 5: Schreibe die Namen der Nationalitäten ebenso wie diejenigen der Nationen mit großen Anfangsbuchstaben. Zielsprachliebe Regeln A. Transferenzlingual B. I n f e r e n z 1i n g u a 1 Regel 1: Der Nebensatz behält im Unterschied zum Deutschen die Subjekt-Prädikat- Objekt-Stellung bei (*je pense que c'est ...). Regel 2: Die Verben werden nach einem besonderen Zielsprachensystem konjugiert (*je pense, je crois, l'anglais est). Regel 3: In der Adjektivbildung ist zwischen femininum und masculinum im Singular und Plural zu differenzieren (*une bonne idee). Tableau 7: Coras Regelsystem (Jahrgangsstufe 13) Interimsprachliche Regeln A. Pidginlingual Regel 1: Es gibt keinen Unterschied zwischen Partizip und Infinitiv (*je veux remercie; tu dois venir). Regel 2: Drücke das Eigenschaftswort »gut« immer und unverändert durch das französische Wort bon aus. (*le bon idee, *mon franglais etait bon) Zielsprachliebe Regeln A. Transferenzlingual Regel 1: Der deutsche Ausdruck „der Grund ist, daß..." kann analog im Französischen formuliert werden. B. In f e re nzl in g u al Regel 2: Der Nebensatz behält im Unterschied zum Deutschen die Subjekt-Prädikat- Objekt-Stellung bei. FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen B. Transferenzlingual Regel 3: Wo schon im Deutschen die Konjunktion que (,.ich glaube, du mußt ...") weggelassen wird, so auch im Französischen (* je crois tu dois). Regel 4: Der deutsche Ausdruck „nach Deutschland" kann im Französischen mit *a Allemagne formuliert werden. Regel 5: Dem deutschen Ausdruck „die Idee, einen Job zu bekommen" entspricht linear der analoge französische Ausdruck (* l' idee d' obtenir). 25 Regel 3: Die Verben werden nach einem besonderen Zielsprachensystem konjugiert (*je suis, tu dois). Regel 4: Bei der Adjektivbildung ist zwischen dem femininum und masculinum in Singular und Plural zu unterscheiden. Regel 5: Zur Einführung des infinitivischen Nebensatzes ist im Französischen zwischen mehreren Demonstrativpronomen (* de I pour) zu differenzieren. Regel 6: Bei der Verbindung des Adjektivs mit dem Nomen ist hinsichtlich der hachgängigen Stellung des Adjektivs je ,nach seiner Länge zu differenzieren (*la bonne idee / des filles allemandes). Beim Übergang in die Jahrgangsstufe 12 gibt sie zwar ihre pidginlingualen Lernerregeln auf, aber sie bildet im Vergleich zU111 Vorjahr ihre Lernersprache kaum weiter, geschweige denn arbeitet sie sich neue zielsprachliche Regeln heraus. Das erklärt zum Teil, warum sich hier ihre Fehlerzahl erhöht. Die angestrengte Depidginisierung scheint ihre diffus-intuitive Lernersprache teilweise zu überfordern. Beim Übergang in die Jahrgangsstufe 13 kehren einige pidginlinguale interimsprachliche Regeln zurück, aber gleichzeitig entwickelt sie eine größere Zahl zielsprachlicher Regeln, die nicht mehr ihrem Fehlerverhalten, sondern auch ihrem Regelverhalten insgesamt besser bekommen. Ihre Lernersprache ist gemessen am Unterrichtsziel, geschweige denn am native speaker-Ideal natürlich noch ein Torso; aber gemessen an der Enge und Unbeweglichkeit, die sie noch in der Jahrgangsstufe 11 zeigte, zeichnet nun ihre Sprache eine ungleich größere Dichte und ein persönlich stärker gefärbter (Kon)Takt aus. Das Verhältnis zwischen interimsprachlichen und zielsprachlichen Regeln wird soweit man das hier sagen kann proportionierter. Natürlich bewegen sich diese lernersprachlichen Bemühungen auf einem unteren Plateau, wenn man sie mit der Gesamtpopulation aller begleiteten Schüler vergleicht. Ihr Regelverhalten bleibt auf ein Differenzbewußtsein eingeschränkt, das sich von der Verschiedenheit zwischen Muttersprache und Fremdsprache und von der Kompliziertheit der französischen Sprache chronisch überwältigt und überfordert fühlt. In den parallel zu den Kommunikationsaufgaben von den Schülern abgefaßten 'Lernergeschichten' schreibt Cora am Ende.ihrer Schullaufbahn: Sprachabsicht Qu' est-ce que je doi! , dire. Je ne veu! , pas, je dois apprendre .: : f_Jranr,; aiie. Je veut man bac egalement comment je le preflfi. .: : f_. FLuL 22 (1993) (dois) (veux) (le fran~ais) (veux, n'importe) (prends) Sprachwirkung Was soll! ich sagen. Ich weiß! nicht, ich muß die Französische lernen. Ich will! mein Abi gleich wie ich es nimmt. 26 Mais j' ai beaucoup des difficultes parce quf1.. il y a trop des regles, ✓__ phrases, schfl_matg_ pour apprendre. (de) (qu') (de) (de) (schemas a) Hagen Kordes Aber ich habe vielen Schwierigkeiten, weil es zu vielen Regeln, die Phrasen, die Schemm.a§. .! ill1 zu lernen gibt. 3. Ralf und die Ausbildung seines Regelverhaltens Bevor wir aus diesem scheinbar verwirrenden Bildungsgang in Coras Regelverhalten Schlüsse ziehen, sollten wir uns ebenfalls Ralfs Lernersprache genauer anschauen. Beginnen wir auch hier mit dem analogen Interakt in der Jahrgangsstufe 11 und einer ersten Analyse nach der Methode 'Aus-Fehlern-lernen'. Tableau 8: Ralfs erster Interakt (Jahrgangsstufe 11) Originaläußerung Vous avez raison. Vous avez vraiment une idee geniale. Sans aucun doute vous etes tres int1]_igents (intelligent) bien que votre fran<; ais etait (soit, fut) mieu.x que la version germanique Je suis sur que vous etes surpris (serez) d' attendre (entendre/ percevoir) Lemerprobleme Ebene Klasse W-W RS W-S ÜB (subj.) S-Ä ÜB (Futur) W-W W (Wahl) Kompetenz/ Performanz p K K p nos facultes (notre faculte) w W (Gebrauch) K de franr; ; ais. Zeichen- und Worterklärung (Lernerprobleme - Lernerstrategien) RS = Rechtschreibung Lemerstrategien Plateau Organisationsmuster A ,.Worte drechseln" A ,.Deutsch-Export" A "Deutsch-Export" A "Deutsch-Export" A "Deutsch-Export" ÜB (subj.) = Übereinstimmung (accord) zwischen Konjunktion und subjonctifim Verb. W (Wahl) = Wortwahl .,Worte Drechseln" = Inferenzlinguale Strategien der (Über-)Einpassung in Regelstrukturen der Fremdsprache; gelegentlich auch intralinguale Strategien der Übergeneralisierung genannt. Quotienten 1. sr4i = (35-4) : 39 = 0.79; (FQ = 10.2); 2. LPrQ = 2.75; 3. KPQ = 0; 4. LStrQ = 1. 5. LReQ = (lx2+2x5) : 3x4 = 0. FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 27 Wir haben es hier offensichtlich mit einer Lernersprache zu tun, die im Gegensatz zu derjenigen Coras (in der Jahrgangsstufe 11) um eine offensive Nutzung der reichlich vorhandenen fremdsprachlichen Mittel für eine beziehungsreiche Äußerung bemüht ist. Ralf macht nicht nur erheblich weniger Fehler (obwohl für eine Unterrichtsarbeit immer noch zu viele), sondern kennt auch keine Neigung zu pidginlingualen Kurzschlüssen (Restriktionen). Statt dessen zeigen sich in seiner Lust an Sprache umgekehrt deutliche Motive zur Ausarbeitung (Elaborierung) seiner Lernersprache. Während sich Cora noch auf ein einfaches Informationshandeln beschränkte "Das ist eine gute Idee"), zeigt Ralf bereits hier ein kontaktstarkes Interaktionshandeln, das in ironischer und bemüht-selbstironischer Weise an die Impulse und Fragen anknüpft, welche die französischen Schüler in ihrem Brief formuliert hatten. 'Normale' Fehler, et\ya im Sinne von Irrtümern, macht er eigentlich kaum. Fehler betreffen sophistische Sprachgewohnheiten des französischen Muttersprachlers, die noch außerhalb seiner Kompetenz liegen (wie die Benutzung des subjonctif und des 'logischen Futurs') beziehungsweise sophistische Wortbildungsversuche, die ihm mißlingen. Alle Fehler sind transferenzlingual organisiert; dafür zeigt Ralf aber ein angelegentliches und angemessenes Regelverhalten, das sich in vielen fünf verinnerlichten zielsprachlichen Regeln äußert. 1 Die transferenzlingualen Übertragungsfehler 'passieren' ihm also alle auf dem unwegsamen Gelände komplizierter, ihm teilweise noch unbekannter Sprachstrukturen, alles andere macht er mit verinnerlichten lnferenzgewohnheiten in der Zielsprache richtig. Insofern zeigt Ralf auf seinem Kompetenzplateau ein beginnendes Interferenzbewußtsein, mit welchem er seine transferenzlingualen Übertragungen mit Hilfe eines inferenzlingualen Sprachgefühls beziehungsweise Regelwissens zu reorganisieren sucht. Es war daher für die Begleitforscher keine Überraschung zu erkennen, daß Ralf sich weniger an Fehleranalyse und Fehlerkorrektur als eher an Anreicherungs- und Animierungshilfen zur weiteren Elaborierung seiner Lernersprache interessiert zeigte. Genau auf diese Kompetenzmotivation verweisen ja auch die verbleibenden Lernerprobleme: Der Einsatz des subjonctif nach bestimmten Konjunktionen (hier: bien que) und in bestimmten Situationen des Zweifels und der Unsicherheit sowie der für die Verschiedenheit der Zeiten sensible Gebrauch des Futurs zeigen ebenso wie die sophistischen Wortbildungen, daß Ralf keines Blicks zurück, sondern einiger Anregungen nach vorne bedarf. Vergleichen wir nun diese erste Äußerung der Jahrgangsstufe 11 mit den zwei analogen in den Jahrgangsstufen 12 und 13. 1 Darunter befinden sich Regeln zur Komparativbildung und zum Gebrauch infinitivischer Nebensätze, denen Cora zur selben Zeit noch nicht gewachsen ist: Wir ersparen uns aus Platzgründen die Tabellenübersicht über Ralfs Regelsystem. FLuL 22 (1993) 28 Hagen Kordes Tableau 9: Ralfs analoge Interakte in den Jahrgangsstufen 12 und 13 Jahrgangsstufe 12 Mes felicitations g_ votre idee geniale! Ejfectivement ce ·n• est pas seulement l' idee de laquelle je me rejouis. Mais je me rejouis aussi k courage que vous avez montres en osant de se servir de la greve. (pour) (dont) (du) (montre) (vous) Hierarchie der Lernerstrategien 1. Transferenzlingual (4) 2. Inferenzlingual (1) 3. Intrapersonal (1) Quotienten SR~= 0.77 LPrQ = 2.0 LStrQ = 1.3 (FQ = 10.4) KPQ = -0,16 LReQ = 0.5 Jahrgangsstufe 13 Tu es avant tout une copine sur laquelle on peut se relier Comme si souvent tu as eu une idee a me rendre la vie joyeuse. J' ai l' intention severe de m' appliquer a obtenir ce 'job' comme tu m'a _j_ propose. Oui, tu peux _j_ etre fiere! (compter) (J'ai serieusement l 'intention/ serieuse) (me l'as) (en) Hierarchie der Lernerstrategien 1. Transferenzlingual (3) 2. Intrapersonal (1) Quotienten s~ =0.75 LPrQ = 1.75 LStrQ = 1.0 (FQ = 8.3) KPQ = 0.0 LReQ = 2.5 Wenn wir den weiteren Bildungsgang Ralfs nur unter dem Gesichtspunkt der Fehlerquote untersuchen, dann scheint es so, als ob er sich seit der Jahrgangsstufe 11 nur unwesentlich und von der Jahrgangsstufe 12 zur Jahrgangsstufe 13 eher zurückentwickelt hat. Doch schon wenn wir uns unseren Sprachrichtigkeitsquotienten mit seiner stärkeren Berücksichtigung der korrekten Zeichenbildungen ansehen, erkennen wir nicht nur 'Stagnation', sondern Fehlerstillstand auf hohem Niveau (nämlich dem außerordentlich guten Quotienten 0.8). In der Jahrgangsstufe 12 tauchen inferenzlinguale Strategien "Überziehen" / Übergeneralisierung) auf, mit denen die verbleibenden Lernerprobleme (fehlerhaft/ interimsprachlich) gelöst werden. In der Jahrgangsstufe 13 verschwinden dann diese inferenzlingualen Strategien wieder; an ihre Stelle treten erneut transferenzlinguale Neigungen zur Übertragung aus der Muttersprache. In gewisser Analogie zu Coras bemühter Depidginisierung in der Jahrgangsstufe 12 nehmen wir an (und Ralf bestätigte uns dieses), daß diese Phase durch besondere Anstrengungen um eine angemessene 'Zielgrammatik' gerade auch im Anschluß an den 'um grammatische Angleichung' bemühten Unterricht in der Jahrgangsstufe 11 charakterisiert war: Neue Satztransformationen (Relativsätze, Gerundiums- und Partizipialverdichtungen) werden angeeignet, führen aber wegen ihrer Neuheit und Komplexität zu Fehlern. FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 29 Die Konstruktion von Relativsätzen wird in der Jahrgangsstufe 13 fortgesetzt und verbessert (une copine sur laquelle on peut se relier), Gerundiums- und Partizipialkonstruktionen werden durch infinitivische (a me rendre' la vie joyeuse) umgangen und so weiter. Diese und weitere qualitative Vergleiche beweisen, daß ausschließliche Quotenvergleiche von Fehler und Sprachrichtigkeit, aber auch von Lemerstrategien keinen zureichenden und gültigen Einblick in den tatsächlichen Bildungsgang des fremdsprachlichen Regelverhaltens geben. Deshalb kann es uns angesichts der sprachlichen Lebendigkeit und Kreativität, die sich in Ralfs Lemersprache äußert, auch nicht einfallen, von einer Stagnation oder gar Regression seines Regelverhaltens zu sprechen. Im Gegenteil, seine inferenzlinguale Einfühlung in Selbstverständnis und Gebrauch der Regeln nimmt zu. Über das gebildete Inferenzbewußtsein hinaus lassen sich erste Spuren eines Idiosynkrasiebewußtseins erkennen, also eines Bewußtseins von der normalen 'Akzentiertheit', 'Markiertheit' und mithin auch der 'Fehleranfälligkejt' der eigenen Lemersprache im Vergleich zu derjenigen der Lernzielsprache und der Fremdsprache als Muttersprache. Für Ralf ist das Bewußtsein eigener Idiosynkrasie aber keineswegs ein Grund zur heiteren Gelassenheit. Im Gegenteil zeigt er sich am Ende seiner Schullaufbahn eher verbittert "sauer"). In den parallel zu den Kommunikationsaufgaben periodisch verfaßten Lerngeschichten schreibt er: Quand meme je souffre d' une sorte _j.frustration: apres 4 ans d' etude _ et de§. nombreux sejours en France, le resultat manque encore. Compare aux efforts fait par moi incesseminent, mon fraflfais est encore assez faible. (de) (etudes) (de) (faits) (sans cesse) Dennoch leide ich unter einer Art von Frustration: nach vier Jahren von Studium und von den zahlreichen Aufenthalten in Frankreich, fehlt noch das Resultat. Verglichen mit den Anstrengungen, die ich unaufhörbar unternahm, ist mein Französisch noch ziemlich schwach. 4. Die Ausbildung des Regelverhaltens Auf der Grundlage dieses Untersuchungs- und Erfahrungshorizonts können wir die Entwicklung des Regelverhaltens nicht allein von der Fehlermarkierung und auch nicht allein von den Lemerstrategien her beschreiben. Daß wir „mit den Tugenden [...] auch Fehler einbauen", beschrieb schon Goethe, und wie der Irrtum zum Motor der Geschichte wird, hat neben vielen anderen schon ~egel begründet. Wir gehen deshalb davon aus, daß zu jeder Zeit und auf jedem Niveau die Lemersprache mit einem besonderen Ungleichgewicht zwischen zielsprachlichen Regeln in der Zone der niedrigeren fremdsprachlichen Entwicklung und interimsprachlichen Regeln in der Zone der höheren muttersprachlichen Entwicklung konfrontiert ist. Und weiter- FLuL 22 (1993) 30 Hagen Kordes hin können wir n i c h t von einer Entwicklung oder gar Entwicklungslogik ausgehen, der das Regelverhalten der Lerner in sukzessiven Stufen und Niveaus folgt, sondern müssen den eigentümlichen dialektischen Charakter des fremdsprachlichen Bildungsgangs zur Kenntnis nehmen: Vordergründig in den permanenten, fast schon fundamentalen Vorwärts- und Rückwärts-, Progressions- und Regressionsbewegungen der Lernersprache, tiefgründiger dann in der dialektischen Regel, welche diese Ausbildung generiert. Im unteren Plateau des interimsprachlichen Regelverhaltens, ist eine dialektische Regel des progressiven Ausgleichens interimsprachlicher Regeln bei gleichzeitig regressiver Pidginisierung und Fossilisierung wirksam. Diese Dialektik können wir in Coras Interimsprache (besonders in der Jahrgangsstufe 11) rec; ht gut beobachten. Für eine Reihe frei flottierender Interakte verfällt sie auf pidginähnliche, restringierte Lösungen, dagegen zeigt sie in begrenzten unterrichts- und lernzielgebundenen Sprechakten transferenzlinguale, lernersprachliche und erste inferenzlinguale zielsprachliche Lösungen. Im Gegensatz zum Pidginsprecher ist sie im Kontext eines unterrichtlich gesteuerten Fremdsprachenlernens einem fortgesetzten Revisions- und Korrekturdruck ausgesetzt. Sie ist also trotz aller Neigung zu Sta-gnation und Fossilisierung zur Entwicklung verurteilt, wie begrenzt diese auch dann erfolgen mag. Auf einem höheren Plateau befindet sich dagegen offensichtlich Ralf. Wo Cora unter Streß auf Pidgin rekurriert, greift er auf 'geformte' transferenzlinguale Strategien zurück. Wo Coraim Anschluß an gelernte 'Reservoires' diese durch interimsprachlich-transferenzlinguale und zielsprachlich-inferenzlinguale Lösungen auszugleichen (kompensieren) sucht, ist Ralf darum bemüht, sein Regelverhalten in zunehmend verdichteter und zielsprachenverständiger Weise auszuarbeiten (elaborieren). Solange er nicht gezwungen ist, auf muttersprachliches Denken und Strukturieren zurückzugreifen, macht er kaum Fehler, produziert er also eine Quasi- Zielsprache; sobald aber seine interimsprachlichen Mittel, insbesondere die lexikalischen, nicht ausreichen, produziert er nach einer dialektischen Regel der progressiven Ausarbeitung zielsprachlicher Regeln bei gleichzeitig 'regressivem' Rekurs auf Muttersprachenstrukturen. Insofern können wir nur die grundlegende Frage formulieren, auf die eine Bildungsgangtheorie des Regelverhaltens Antworten zu geben sucht: Wie gut vermag der Lerner zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Impulsen zu differenzieren und 'die Mischung' zwischen lemersprachlichen und zielsprachlichen Regeln in Richtung auf letztere zu verschieben, so daß er sich teilweise von der eigensprachlichen Überdeterminierung freimachen und sich zunehmend in die fremdsprachliche Normen- und Gebrauchsstruktur 'einspinnen' (Humboldt) kann? Zur Beantwortung dieser Frage glauben wir ein empirisches Kontinuum festmachen zu können, an dem sich die Ausbildung des Regelverhaltens und damit die Bewertung des Sprachwandels plausibel darstellen lassen (vergleiche Tableau 10 auf der folgenden Seite). FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen Tableau 10: Die Ausbildung des Regelverhaltens C. INTERFERENZLINGUALES PLATEAU Das Bewußtsein für sprachliche Interferenzen schlägt um fo eine Sensibilität für die Idiosynkrasie der eigenen Lernersprache. Damit verbunden ist ein besseres Gefühl für die Stärken und Schwächen des eigenen Regelverhaltens. Die Stärken werden genutzt zur Differenzierung der Sprache entsprechend den Erfordernissen der Interaktionssituation. Die Schwächen zeigen sich an der Kehrseite dieser Differenzierung, der Überdifferenzierung (*J' espere que tu vienne ). VI Prägnante Ausbildung auf diesem Plateau SR~ "' 0.9--0.99; SReQ ~ 2.5 V Herantastende Such- und Reflexionsbewegungen SR~ "' o.~.89; SReQ ~ 2.0 8. INFERENZLINGUALES PLATEAU Der Lerner verwandelt sein ursprüngliches Differenzbewußtsein zunehmend in ein Bewußtsein über die Interferenzen zwischen Mutter- und Fremdsprache. Die Komplexität der psycholinguistischen Überlagerungen (nicht nur der muttersprachlichen Übertragungen) sucht der Lerner dadurch zu reduzieren, daß er aus dem Regelsystem der Zielsprache Folgerungen (Inferenzen) für seine lernersprachlichen Konstruktionen zu ziehen sucht. Diese Strategie führt zu fortlaufenden Versuchen der Generalisierung und der Schematisierung, die oft (interimsprachliche) Übergeneralisierungen nach sich ziehen. (*Je viendrai surernent). IV Prägnante Ausbildung auf diesem Plateau SR~"' 0.7-0.79; SR~"' 1.5--1.99 III Herantastende Test- und Prüfbewegungen auf diesem Plateau s~"' 0.6--0.69; SReQ"' 1.0-1.49 A. TRANSFERENZLINGUALES PLATEAU Der Lerner bildet ein Differenzbewußtsein aus. Aber angesichts seiner eingeschränkten interimsprachlichen und beschränkt y_erinnerlichten zielsprachlichen Regeln sieht er sich immer wieder zu Ubertragungen (Transferenzen im tiefenanalyt. Sinn) aus dem 'breiten Kanal' der Muttersprache in den 'schmalen Kanal' der Fremdsprache genötigt. II Prägnante Ausbildung auf diesem Plateau s~ "'0.4-0.59; SReQ"' 0.7-0.99 I Herantastende Rat- und Schätzbewegungen SR~ "' 0.2-0.39; SR~ "" 0.5-0.69 PIDGINLINGUALES PLATEAU Der Lerner entwickelt ein (diffuses) Bewußtsein seiner Markiertheit als Fremder in Sprache und Handlung. Sein Sprachhandeln ist überwiegend organisiert durch Taktiken der Sirnplifizierung. SR~"" 0.0-0.19; SReQ "'0.0-0.49 FLuL 22 (1993) 31 Jahrgangsstufe 11 12 13 32 Hagen Kordes Da die meisten Oberbegriffe bereits erläutert sind, können wir uns die genaue qualitative und quantitative Explikation dieses Tableaus ersparen (vgl. Kordes 1994). Lediglich zwei technische Lesehilfen sind unentbehrlich. Erstens: Auf jedem Plateau unterscheiden wir zwei Stufen, eine obere Stufe (VI, IV, II), in der der Lerner die entsprechenden Fähigkeiten in prägnanter Weise ausbildet "assimiliert"), und eine untere Stufe (V, III, 1), in der der Lerner sich in trials and errors erst an ·das jeweilige Plateau des Regelverhaltens herantastet "akkomodiert"). Zweitens: Der lemersprachliche Ausbildungsgrad eines Schülers ist nie nur von einer Struktur oder Strategie auf einem einzigen Plateau bestimmt. Vielmehr bewegt sich das Regelverhalten des Lerners normalerweise auf allen Ebenen und bemüht er alle Strategien unterhalb der Obergrenze des höchsten von ihm erreichten Plateaus. Die Kompetenz des Regelverhaltens ist gerade dadurch charakterisiert, daß sie von einer Obergrenze aus alle übrigen lernersprachlichen und lernerstrategischen Tendenzen zu reorganisieren sucht. Dies geschieht notwendigerweise immer nur „unvollständig" und „unrein", wie schon Humboldt befand. Den drei Plateaus korrespondiert eine unterschiedliche sprachdidaktische Arbeit. Auf dem unteren transferenzlingualen Plateau fühlen sich viele Schüler von kognitiven Ansätzen des regelbewußten Sprachlernens überfordert. Sie ziehen die Einübung eines sets von patterns, also von Schlüsselformulierungen, vor, in denen sich modellhaft die grundlegende Regelstruktur der (elementaren) Zielsprache spiegelt. Von diesem 'animativen Drill' aus suchen sie dann durch analoge Satzformulierungen ihre Lemersprache und ihr Regelverhalten zu erweitern. Auf dem mittleren inferenzlingualen Plateau sind viele Schüler an der Kontrolle der Interferenzen interessiert. Hier sind in der Regel Einübungen in begrenzte Tätigkeiten der Selbstevaluation eigener interimsprachlicher Regeln und ihre Überführung in zielsprachliche Regeln angebracht. Dabei sollten bevorzugt solche Regeln zurückgemeldet und bewertet werden, die für die weitere Ausbildung der Lernersprache insgesamt förderlich sind. Schüler, die die Schwelle zum oberen interferenzlingualen Plateau überschreiten, bevorzugen schließlich reflexive, sprachpragmatische Einsichten in den Zusammenhang zwischen eigener Lerngeschichte, Interaktionssituation und Sprachregeln. Diese Einsichten schlagen sich meist in differenzierteren Modalphrasen nieder. Quer zu Analyse und Animation steht eine neuartige 'Rückmeldung', welche die alte globale Fehlerbewertung ablösen kann. Die Rückmeldung besteht immer aus zwei Informationen: Aus einer qualitativen Information über die in der letzten Interaktion gegenüber der vorletzten reorganisierten (revidierten, korrigierten, beibehaltenen) Lernerprobleme und aus einer quantitativen Information über den zwischen diesen beiden Zeiten zurückgelegten Bildungsgang. Für Cora und Ralf lassen sich dann verglichen mit der Durchschnittsentwicklung aller Schüler in den einzelnen Jahrgängen folgende Veränderungen zahlenmäßig aufschlüsseln: FLuL 22 (1993) Aus Fehlern lernen 33 Tableau 11: Die Stufenwerte von Cora und Ralf Jahrg.st. 11 Jahrgangsstufe 12 Jahrgangsstufe 13 Lerner individueller individ. Wert durchschnitt! . indiv. Wert durchschn.ittl. Wert (Rate) Wert ('Norm') (Rate) Wert ('Norm') Cora I I II II II Ralf III IV III IV III Aus dem Vergleich der Individual- und Durchschnittswerte läßt sich nun für beide Schüler ein sogenannter change-Quotient errechnen. Dieser ergibt sich aus folgender Formel: C~ = (erreichte Stufe x 100) + (durchschnittlich erwartete Stufe). Für Cöras Ausbildung errechnen wir über die gesamten Jahrgangsstufen einen 'durchschnittlichen Fortschritt': 100 = (2 + 2) x 100, nachdem sie im Vergleich zu Schülern mit derselben Ausgangsposition in der Jahrgangsstufe 12 zunächst zurückgehangen hatte: 50 = (1 + 2) x 100. Ralf dagegen steigert sich gegenüber den Schülern mit ähnlichem Anfangswert gleichbleibend in den beiden folgenden Jahrgangsstufen: 133 = (4 + 3) x 100. 5. Aus Fehlern lernen als fortwährende Reorganisation des eigenen idiosynkratischen Lernerdialekts Einige Leser könnten den Eindruck gewinnen, daß uns unsere Untersuchungen und Überlegungen weit abgetrieben haben: Von der eher engeren Thematik der Fehleranalyse und Fehlerkorrektur zur eher weitläufigeren Thematik interimsprachlicher und interimaktiver Kompetenz. Also: Thema verfehlt ? Nach unserem Verständnis ist dies nicht der Fall. Denn nach allem, was wir bisher ausgeführt haben, lernt ein Schüler aus seinen Fehlern um so mehr, je mehr er die Übertragungen der Muttersprache kontrolliert, die Überlagerungen zwischen Muttersprache und Fremdsprache evaluiert und die Idiosynkrasie seiner eigenen Lernersprache reflektiert. Und Lehrer sowie Sprachdidaktiker und Sprachforscher lernen aus Fehlern um so mehr, je mehr sie sich aus ihrer manichäistischen Fixiertheit auf Fehler lösen und sich für die ganze Lernersprache der Schüler öffnen. Für die Kompetenzbildung, genauer für die Selbstkontrolle der Übertragungen, für die Selbstevaluation der Überlagerungen und für die Selbstreflexion eigener sprachlicher Idiosynkrasie haben die Schüler aber die Hilfe eines Lehrers, der mehr macht, als „Gereiztes am Rande" (Sonnemann 1970) zu notieren, bitter nötig. Die Lehrer zumal der zweiten und dritten Fremdsprache sollten sich (mit dieser Methode oder einer anderen) viel mehr Zeit für kontinuierliche, konzentriert- FLuL 22 (1993) 34 Hagen Kordes ermutigende Rückmeldungsgespräche mit den einzelnen Schülern (beziehungsweise mit funktionierenden Arbeitsgruppen) nehmen. Im Leistungskurs der Oberstufe finden sie dafür auch zeitlich angemessene Bedingungen vor. Unsere über die Schullaufbahn hinausreichende Begleitforschung hat gezeigt, daß diese feedback- Sitzungen bei vielen Schülern fast das einzige war, das sie Jahre später noch aus ihrer Schulzeit in nachhaltig positiver Erinnerung behielten. Bibliographische Angaben 2 C0RDER, S. P.: «Que signifient les erreurs des apprenants». In: Langage 57 (1980), 9-15. C0RDER, S. P.: Error Analysis and lnterlanguage. London 1981. HYMES, D. (ed.): Pidginization and Creolization of languages. Cambridge 1971. KASPER, G.: Pragmatische Aspekte in der lnterimsprache. Tübingen 1982. K.IELHÖFER, B.: «La reconstruction de l'interlangue pour l'emploi des pronoms relatifs qui et que». In: Die Neueren Sprachen 81.6 (1982), 601-610. KIELHÖFER, B./ BöRNER, W.: Lernersprache Französisch. Tübingen 1979. KORDES, H.: Theorie des Bildungsgangs. Band 2: Die Entwicklungsaufgabe interlingualer Interaktion. [Darin der III. Teil: Lernersprache und interimsprachliche Kompetenzbildung]. [in Vorbereitung: 1994]. 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Hamburg 1970. 2 Da das Manuskript in Teluk Batik (Malaysia) verfaßt wurde, muß ich mich auf die dort vorhandene Literatur beschränken. FLuL 22 (1993)