Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1993
221
Gnutzmann Küster SchrammFalsch oder anders?
121
1993
Amei Koll-Stobbe
flul2210175
Amei Koll-Stobbe Falsch oder anders ? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht aus der Sicht der Sprachgebrauchslinguistik Abstract. Tue following article is a critical evaluation of second language teaching that is restricted to a teacher-centered reproductive pattem-recognition and production of a virtual language system, and neglects leamer-centered control and comprehension of actual language use. lt is argued that through emphasis on leamer's progress by a simple categoi; ization of "right" vs. "wrong" output a pattem of social behavior is · indirectly fed that contributes to conflict in multicultural classrooms and societies. Taking the level of vocabulary as exemplum, it is argued that variability in actual language use can open teacher' s and pupil' s awareness of the continuum of acceptability in language use, and function as a prerequisite for communicative and interactive competence. 1. Falsch oder anders? Anförderµngen an den Fremdsprachenunterricht in multikulturellen Iqassenzimmern Die folgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, die fast ausschließliche Beurteilung von Lernfortschritten unserer Fremdsprachenschüler über den Weg der Fehlerbewertung zu überdenken. Dabei geht es nicht um spezifische Fehlerbewertungen und Fragen der deskriptiven Fehlerlinguistik. Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf Aspekte der Fehlerbewertung als Bewertung von Sprachverhalten bei der Vermittlung einer Fremdsprache lenken und dabei Problembereiche aufzeigen, die entstehen, wenn Schüleroutput auf ein "richtiges" vs. "falsches" Sprachverhalten eingeschränkt wird. Zum einen erfolgt dieser Anstoß aus der Sicht des Hochschullehrers: Studenten, die sich für das Studienfach Anglistik mit angestrebtem Hochschulabschluß Staatsexamen oder Magister an einer deutschen Universität einschreiben, sind nach einer langjährigen fremdsprachlichen Ausbildung an den Schulen nicht selbstverständlich als für diese Fremdsprache studierfähig einzuordnen. Der konventionelle Fremdsprachenunterricht im Alltag der deutschen Gymnasien scheint nur bedingt einen Fremdsprachenabiturienten hervorzubringen, der das Handwerkszeug der englischen Sprache beherrscht und außerhalb des Schonraums von schulischen Textbüchern und dem Kontext eines ideal vorgegebenen Gebrauchszusammenhangs und fester Interaktionsrahmen (Kommunikation im Klassenzimmer) anwenden kann. Die Fähigkeit, das in der Fremdsprache erworbene Wissen selbständig anzuwenden, scheint im langjährigen Fremdsprachenunterricht in der Schule nicht genügend entwickelt zu werden. Die meisten Erstsemester der Anglistik sind zwar fähig, bei einfachen grammatischen und lexikafü; chen Fragestellungen zwischen richtigen und falschen Lösungen zu entscheiden, aber ihre Fähigkeit, bei FLuL 22 (1993) 176 Amei Koll-Stobbe Problemstellen sprachliche Lösungsstrategien zu entwickeln oder eigenständig Grammatiken und Wörterbücher zu konsultieren, wurde im schulischen Alltag nur unzureichend gefördert. Der Fremdsprachenalltag scheint immer noch, wie wir an Beispielen weiter unten deutlich machen werden, an einem Konzept von Sprache als einem homogenen System orientiert zu sein, das man sich im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts aneignen kann und das angelehnt ist an bestimmte literarische Traditionen und einen tradierten Kanon schriftlicher Texte, das aber den tatsächlichen Sprachgebrauch und die Variabilität der Fremdsprache Englisch ignoriert. 2. Spracherwerb und Sprachbenutzung: Grundwissen (Pflicht) und Können (Kür) Lebende Sprachen sind keine starren und geschlossenen, sondern offene, variable Systeme, die sich ständig verändern. Warum sie sich verändern, ist leicht zu beantworten: Sprachen existieren nicht per se, sondern als funktionale Kommunikationskodes für Benutzer, als dual kodierte Laut- und Schriftsymbolkodes, die aufgrund von gelernten Übereinkünften innerhalb der Sprachgemeinschaft als Anweisungen bzw. Bedeutungsauslöser für die Kommunikationsteilnehmer angesehen werden können. Sprachen werden nicht auswendig gelernt und als geschlossene Kommunikationssysteme von der Elterngeneration an die Kindergeneration übergeben oder von der Lehrergeneration an die Schülergeneration vermittelt. Sprachen werden vielmehr über einen längeren Zeitraum hinweg erworben bzw. gelernt im interaktiven Austausch von Lehrenden und Lernenden und im Rahmen eines bestimmten soziokulturellen Kontextes. 1 Spracherwerb heißt zunächst einmal, sich das sprachliche Handwerkszeug (Grundwissen) anzueignen, um in der Sprachgemeinschaft Kontakt aufnehmen und sich kognitiv und emotional austauschen zu können. Die Bausteine dafür bilden die Wörter einer .Sprache, lexikalische Einheiten, die referentielle und konzeptuelle Bedeutungen tragen. 2 Die kognitiven und konnotativen Bedeutungen werden 1 Hier kann keine Einführung in psycholinguistische Aspekte des Spracherwerbs gegeben werden. Ich verweise auf die Literatur: Ingram (1989) zum Erstspracherwerb; Klein (1984), Wode (1988) und Butzkamm (1989) zum Zweitspracherwerb. Siehe dort auch zur Terminologie: Erwerb vs. Lernen, natürlicher vs. vermittelter (institutioneller) Spracherwerb, Altersfaktor ("critical age") und Spracherwerbsdauer, die einzelne Autoren (und einzelne Schulen) unterschiedlich handhaben. 2 Hier kann keine Einführung in die Lexikologie bzw. die kognitive Semantiktheorie gegeben werden. Zur Modellierung des mentalen Lexikons vgl. Aitchison (1987). Eine gute Einführung in die moderne Lexikologie ist Lipka (1990). FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 177 tradiert und können jederzeit verändert (etwa erweitert; eingeschränkt oder verschoben) werden, wenn sich die spezifischen Kommunikationsbedürfnisse und. -ziele einer Schülergeneration ändern. Transportiert werden die bedeutungstragenden Lexeme mit Hilfe eines regelgeleiteten grammatischen Systems. Neben .der grammatischen Kompetenz der Handhabung von Vokabular und Wortbzw. Satzgrammatik einer Sprache müssen die Kinder ,und Schüler auch lernen, in ihrer Sprachgemeinschaft interaktiv kompetent zu werden, d.h. sie müssen lernen; .die grammatischen Regeln und die Wörter einer Sprache relativ 'zu bestimmten Kontexten einzusetzen. Um sozial-interaktiv kompetent werden zu können, müssen fortgeschrittene Sprachenschuler lernen, ihr sprachliches Grundwissen in konkreten Sprachgebrauchssituationen anzuwenden und gegebenenfalls situativ zu variieren. 3 Jeder Sprachbenutzer sollte gelernt haben, daß es im Normalfall mehrere Möglichkeiten gibt, einen Sachverhalt oder einen Gedanken sprachlich auszudrücken und daß man aus den Möglichkeiten, die das Sprachsystem, der Handwerkszeugkasten "Englisch", bereit hält, eine Realisierung auswählen kann: , die der sprachlichen Situation am besten angemessen scheint. Sprachgebrauch auf "richtig" oder "falsch" eingrenzen zu wollen, heißt, die Chancen von sprachlichen Darstellungs- und Differenzierungsmöglichkeiten in der Wortwahl und dem Satzbau.zu verkennen und die Flexibilität und Variabilität von Sprachgebrauch nicht anzuerkennen. Natürlich sollte in der Sprachvermittlung Wert darauf gelegt werden, daß das Handwerkszeug (oder Grundwissen) sitzt: Ziel des elementaren Fremdsprachenunterrichts muß es sein, daß Sprachregeln . un: el Vokabular beim Sprachenlerner automatisch abgerufen werden können. Erst im fortgeschrittenen Unterricht mit dem Ziel der Heranbildung von kompetenten Sprechern in der unterrichteten Sprache, sollten Vokabeln und grammatische Regeln nicht nur automatisch eingesetzt, sondern auch bewußt ausgewählt werden können unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern und Grammatiken als Entscheidungsgrundlage für die Angemessenheit von Wortwahl und grammatischen Mustern im konkreten Sprachgebrauch. Darüber hinaus ist .die Fähigkeit gefordert, mit Hilfe bestimmter kognitiver Strategien, die bereits den Erstspracherwerb begleiten und die im Uriterticht verstärkt gefördert werden könnten, das Sprachsystem, wie es im Handwerkszeugkasten der Grammatiken und Wörterbücher festgehalten ist, zu erweitern. 4 Erst mit Hilfe solcher Strategien' kann ein kompetenter Sprachbenutzer bestimmte Sprachspiele und situative metaphorische Extensionen vom konventionellen Sprachge- 3 Dies ist mit einfachen Worten ausgedrückt eine Forderung, die im Rahmen der kognitiven Wissenschaften unter dem Stichwort deklaratives vs. prozedurales Wissen modelliert wird. Für eine Übersicht aus der Perspektive des Fremdsprachenlernens vgl. Raabe (1991). 4 Ich gehe hier von einem Konzept von Kommunikationsstrategien aus, das Bialystok (1990) umfassend dargestellt hat. Vgl. dazu auch Wong-Fillmore (1979), die soziale und kognitive Strategien zusammenstellt. Eine (schülerzentrierte) Darstellung vom Umgang mit lexikalischen Problemstellen durch Lerner der Fremdsprache Englisch findet sich bei Haastrup (1991). FLuL 22 (1993) 178 Amei Koll-Stobbe brauch entschlüssseln. Die bewußte Anwendung von Strategien erfolgt im lehrerzentrierten Fremdsprachenunterricht viel zu wenig: Die Fremdsprache Englisch wird als ein fixiertes, standardisiertes System angesehen, das herausgelöst ist aus sprachkulturellen und soziokulturellen Entwicklungen und eingeschränkt auf zu produzierende und reproduzierende Struktur- und Vokabelbereiche, die an bestimmten Texttypen eingeübt werden. Daß dieses eingeübte Wissen von den Schülern in konkreten Situationen kontrolliert angewendet und erweitert werden kann, ist als Lernziel nicht ausdrücklich vorgesehen und kann innerhalb eines lehrerzentrierten Fremdsprachenunterrichts auch nicht erreicht werden. Werfen wir dazu einen kurzen Blick auf die Orthographie-Standardisierung des Englischen, die als Grundlage für die schulische Fehlerbewertung von englischer Orthographie dient, ohne daß die derzeit zunehmende Ausdifferenzierung orthographischer Pluralität insbesondere unter dem Einfluß der Computerkultur und der Divergenz von britischen vs. amerikanischen Graphien hier thematisiert werden könnte. Gerade die Aufweichung des orthographischen Standards ist aber ein Teil der Sprachkultur, den die Sprachenlerner in ihrem medialen Umfeld der Computer- Spiele, der Comics, insgesamt unter dem Einfluß der Pop-Kultur, täglich erfahren. Ein wesentlicher Teil ihrer täglichen Spracherfahrung ist die situativ mögliche Variabilität von Normen. 3. Fixierung und Kodifizierung von Sprachen: Grammatiken Die sichtbarsten Beweise für das Bemühen, Sprachen als ein System von Regeln und ihren Anwendungsmöglichkeiten zu fixieren, sind Grammatiken oder Sprachlehren. In diesen Grammatiken kann man naFhschauen, ob man eine bestimmte sprachliche Struktur "richtig" anwendet. Eine gute Grammatik ist im allgemeinen Sprachgebrauch eine, die uns eine Auflistung von Regeln gibt, mit deren Hilfe wir die Sätze (als die üblichen Transporteinheiten) der von der Grammatik modellierten Sprache bilden können. In allen heute auf dem Markt erscheinenden Sprachgrammatiken werden Regeln anhand einiger ausgewählter Beispiele eingeführt und illustriert. Die Struktur der Grammatiken wird von vielen Schülern als wenig benutzerfreundlich eingestuft: Grammatiken erscheinen dem Sprachenlerner weniger als eine Hilfe zur Organisierung und Festigung der grammatischen Kompetenz, denn als Konglomerat von eher desorientierenden, auf die jeweiligen Textbücher oder Schulbuchreihen abgestimmten grammatischen Fallstudien. 5 Grammatiken 5 Siehe dazu Rampillon (1991: 225), deren Kritik, daß Grammatiken lehrerorientiert statt lemerorientiert aufgebaut sind, auch von meinen Studenten an der Universität Kiel geteilt wird. Da es mir hier nicht darum geht, bestimmte Schulbuchverlage zu kritisieren, verzichte ich auf eine kritische Auflistung gängiger Grammatiken, möchte aber anmerken, daß ein verstärktes Augenmerk auf ein „benutzerfreundlicheres Lay-Out", farbige Graphiken und eine vermehrte Einfügung von Bildteilen noch nicht eine „bessere" (im Sinne von: für das Zielpublikum besser geeignete) FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 179 werden in einem abstrakten Raum sprachlicher Gesetzmäßigkeiten erstellt" eine: pi verdichteten Schonraum des idealen Sprachgebrauchs der Klassenzimmer. Authentisches Material des tatsächlichen Sprachgebrauchs, das sich dem vereinfachenden Schema "regelgeleitet/ unregelmäßig") entzieht,. wird dabei : Qur in Ausnahmefällen einbezogen und zur Illustration eingefügt. Dieses gilt für alle Ebenen grammatikalisch erfaßten Sprachgebrauchs, sei es: idie Wortgrammatik, die Satzgrammatik oder die gramma,~ikalisch und lexikographisch fixierte Orthographie. Grammatiken (auch Schulgrammatiken) basieren,auf standardisiertem Sprachgebrauch. Der Prozeß der Standardisierung des Schrift-Englischen vollzog sich über viele Jahrhunderte und unterschied sich dabei recht deutlich von der Koclifizierung des Französischen. Während sich nämlich in Frankreich bereits im .17. Jahrhundert eine präskriptive institutionelle Handhabung der Orthographie durchgesetzt hatte, wurde in England trotz heftiger Kontroversen nie eine Akademie der Sprache eingerichtet und damit kein externes Instrument der -Sprachkontrolle wirksam. Dennoch wird der Sprachgebrauch normiert durch eine ausgeprägte soziale Kontrolle, die ausgerichtet ist auf einen brü1sc_hen (Received Pronunciation) und einen amerikanischen Standard (General American). Der Standard ist als eine Idee anzusehen, als eine Ideologie von Sprachgebrauch im komplexen Gefüge von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen6, die kodifiziert werden in den Grammatiken. Standards sind Abstraktionen von Sprachgebrauchsmöglichkeiten einer Sprache auf dem Hintergrund systematisierter, konstitutiver Regelmäßigkeiten und als solche lernbar und als Werkzeugkasten für den Fremdsprachenlehrer und -lerner der ersten Jahre der Fremdsprache unerläßlich. Inwieweit Standards aber den tatsächlichen Sprachgebrauch widerspiegeln, bleibt eine offene Frage. Wenn wir Abweichungen vom systematischen englischen Sprachgebrauch als Problemstellen ansehen wollen, so müssen wir zugeben, daß diese Problemstellen in den Textwelten der Zeitschriften, zeitgenössischen Romane und Gedichte relativ häufig anzutreffen sind. Um abweichende Wortbildungen, unbekannte metaphorische Extensionen etc. entschlüsseln zu können, müssen Sprachbenutzer zum einen mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln umgehen lernen, zum anderen aber auch kommunikative Strategien der Problemlösung einsetzen und ihr Sprachwissen anwenden können, um z.B. über erkannte Teile und daraus entwickelten Hypothesen zu einer möglichen Antwort und Lösung der Problemstelle zu kommen. 7 Grammatik gewährleisten. Ein Versuch, grammatische Problembereiche neu zu organisieren und einfach ~zustellen, ist Crystal t 1988). 6 Vgl. dazu Milroy/ Milroy (1985: 22), die aber auch betonen, daß sich lediglich schriftlicher Sprachgebrauch voll standardisieren läßt im Sinne von Intoleranz gegenüber Variabilität. Derzeit erheben insbesondere der Feminismus und die Bewegung des "politically correct speaking" einen Anspruch auf soziale Kontrolle des Sprachgebrauchs. Unter ihrem Einfluß wurde z.B. die Wahlmöglichkeit von· generischen Pronomina im Deutschen' desautomatisiert. 7 Ein bekanntes Beispiel wären mögliche Entschlüsselungen über wortgrammatisches Wissen der FLuL 22 (1993) 180 Amei Koll-Stobbe 4. Lexikon: Schnittstelle von grammatischer Kompetenz und interaktiver Kompetenz Der Bereich des Lexikons einer Sprache, der sowohl das Vokabular der Sprache als auch das mentale Lexikon umfaßt, scheint so etwas wie die Schnittstelle zu sein, in der die Sprachteilkompetenzen zusammenfließen können. Das Lexikon beinhaltet eine Teilkompetenz für Satzmuster (syntaktische Kategorien, Subkategorien, Selektionsfeatures), eine Teilkompetenz für phonologische Kodierung und Dekodierung (phonologische Prozesse und Strategien) und eine Teilkompetenz für tatsächliche Gebrauchsanweisungen, die von Lexemen ausgehen. Darüber hinaus ist das Lexikon die Schnittstelle, über die der Sprachbenutzer das System situativ erweitern kann, indem er etwa ein Lexem metaphorisch erweitert, ironisch verdreht oder kreativ einsetzt. Ein Standard, so haben wir gesehen, ist die Norm einer Sprache, die sich vortrefflich dazu eignet, als Werkzeugkasten für eigentliche Gebrauchsmöglichkeiten dieser Sprache im wirklichen Leben zu dienen. Die Arbeit auf der Ebene des Lexikons einer Sprache soll die Lerner der Sprache in die Lage versetzen, zuerst mit Hilfe eines Grundwortschatzes und Basisregeln der Wortgrammatik in die sprachlichen Abbildungsmöglichkeiten von Bedeutungen hineinzuwachsen und dann aus lexikalischem Material Bedeutungen innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers selbständig abzuleiten, aktiv zu produzieren und zu verstehen. 8 Dies sei nachfolgend an einigen Aspekten aus dem Bereich der Lexikologie veranschaulicht. Die Wortschatzarbeit legt dem Schüler nahe, daß ein bestimmtes Lexem eine bestimmte Bedeutung hat, die der Schüler als Vokabel lernen kann und soll. Ein bestimmtes Inventar von Vokabeln sollte der Schüler in seinem mentalen Lexikon gespeichert haben, um sich in der Fremdsprache verständlich machen zu können. Einen Grundwortschatz nennt man das meistens. Als Norm wird vermittelt, daß einem Lexem eine bestimmte Bedeutung zugewiesen ist. Dementsprechend können dann Vokabeln als richtig oder falsch abgerufen werden. Neologismen in Carroll's berühmten "Jabberwocky", das mit den Zeilen beginnt: "T'was brillig, and the slithy toves did gyre and gimble in the wabe" (Through the Looking Glass, Kap. 1 sowie die semantisierenden Erklärungen der Figur des Humpty Dumpty in dem gleichnamigen Kapitel). Auslegungen der Portmanteau-Bildungen in M. Gardner: The Annotated Alice. Harmondsworth 1970, 191-197. 8 Daß dies ein im Fremdsprachenunterricht noch sehr vernachlässigtes Gebiet ist, stellen Henrici/ Köster (1987) am Beispiel von Semantisierungsprozessen dar. Zur Problematik von Grundwortschätzen und zur Strukturierung von Wortschatzvermittlung vgl. Carter (1987: Kap.' 2 und 7). Eine Studie zum Umgang von Schülern mit unbekanntem lexikalischen Material anhand von "thinking-aloud protocols'' ist Haastrup (1989). Eine praktische Übungseinheit für schülerzentriertes Worterkennen ist Koll-Stobbe (1991). Koll-Stobbe (1992) stellt produktive und konstruktive Wortbildungsprozesse des Englischen anhand von authentischem Material vor. Ein lexikogtaphisches Hilfsmittel für innovativen Sprachgebrauch ist Algeo (1991). FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 181 Wenn wir aber über einen einfachen Grundwortschatz hinausgehen, merken wir sehr bald, daß für das Englische das normierte Prinzip ein Lexem = eine Bedeutung eher die Ausnahme ist. Lexeme,. so stellen wir bald fest, sind im Normalfall polysem, d.h. sie können mehrere Bedeutungen tragen, die entweder als Homonyil)e erkennbar werden (auch hier in der Semantik wie in der Orthographie die Orientierung an der Etymologie) oder als bedeutungsverwandte Wörter aufgeführt werden. Verdeutlichen will ich das am Lexikon-Eintrag des Adjektivs cool. Wenn wir deutsche Sprecher bitten, uns die primäre Bedeutung von cool zu umschreiben (sie also bitten, in ihrem mentalen Lexikon nachzuschlagen), ohne daß wir einen Kontext ang~ben, so geben die meisten der Eltern- und Lehrergeneration das Adjektiv cool in der primären Bedeutung mit dem in allen großen Wörterbüchern zum Englischen ersten Eintrag wieder: "neither warm nor very cold, pleasantly cold". Für die Schülergeneration hingegen ist die primäre Bedeutung von cool eine andere: "great, excellent, phantastic": 9 Darin mag zum einen ein Rück~ Transfer des im Deutschen lexikalisierten cool mit der Bedeutung von „toll..." zum Ausdruck kommen, zum anderen aber auch ein genereller Einfluß der amerikanischen Jugendkultur, in der das Konzept "cool" einen wich~igen Stellenwe~ im Sozialverhalten abbildet. 10 Ein Lexem kann mehrere Bedeutungen tragen und keine davon ist richtiger als die andere: Die im mentalen Lexikon der Sprachbenutzer vorrangige Bedeutung kanq durchaus divergieren. Welll} Schüler den Bereich des Grundwortschatzes sicher beherrschen, sollten sie Vokabeln nicht mehr isoliert lernen, sondern angeleitet werden, diese in verschiedenen Koniexten durchzuspielen, um Variabilität und situative Adäquatheit von Lexemen und ihren möglichen Bedeutungen einzuüben. Interessant ist die Variabilität der Lexikoneinträge zu cool in Wörterbüchern: Im Third Webster's und im Random House Dictionary (also den aktuellen großen amerikanischen Wörterbüchern) wird cool in der Bedeutung "great, excellent" mit slang markiert und aufgeführt. Im altehrwürdigen New English Dii: tionary (1888), dem Vorgänger des Oxford English Dictionary, findet sich unter cool 4 der folgende Bibelbeleg (Prov. XVII): A man of vunderstanding is of an excellent (marg: coole) spirit (1611). Darf ein repräsentatives Lernerlexikon deshalb cool in diesem Gebrau_chszusauimenhang als "old-fash(ioned) sl(ang)" bezeichnen, wie das Longman Dictionary of Contemporary English [1991), s.v. cool adj 6? Sprachgebrauch und Wortbedeutungen, so sehen wir an diesem einfa~hen Beispiel aus dem tatsächlichen Verständnis und Gebrauch eines Lexems, verändern sich. Während die Elterngeneration eine primäre Bedeutung von cool in ihrem mentalen Lexikon gespeichert hat, variiert die Bedeutung von cool, die die Schülergeneration abrufen kann in Abhängigkeit vom Kontext. Eine einfache Kategorisierung dieses Phänomens als "richtigere" Bedeutung von cool würde diesen Aspekt von Sprachbewußtsein verwischen. 9 Diese Vermutung wurde in einer Umfrage, die meine Studenten im WS 92/ 93 durchführten, tendenziell bestätigt: n=15 (jünger als 30) und n=12 (älter als 30). 10 In diesem Zusammenhang sei auf die Teenager Kult-Fernseh-Serie "Beverly Hills 90210" hingewiesen, bei der in einer Folge.vom Jan. 1993 cool mit der Bedeutung.von „toll, super gut, ..." gleich 16mal verwendet wurde. FLuL 22 (1993) 182 Amei Koll-Stobbe 5. Sprachbewußtsein: Die Norm und die Vielfalt Wenn wir uns die englische Sprache, wie sie heute in der Welt verbreitet ist, anschauen, so finden wir eine Fülle von unterschiedlichen Subsystemen des englischen Kodes, die wir als Varietäten bezeichnen. Es gibt Standards, wie das Britische Englisch (RP), und regionale Dialekte wie z.B. das Liverpudlian oder Scouse. Funktionale Varietäten (wie Fachsprachen und Englisch als internationale Verkehrssprache) nehmen insbesondere in der Fremdsprachenausbildung aufFachhochschul- und Hochschulniveau einen breiten Raum ein, und die Beherrschung einer oder mehrerer funktionaler Varietäten ist für den beruflichen Alltag einer zusammengewachsenen Welt mit einer dominierenden Weltsprache Englisch unerläßlich geworden. Dennoch trägt die sprachliche Ausbildung in den Leistungskursen an den Gymnasien dem zu wenig Rechnung. Oft werden stilistische Varietäten, wie der poetische Sprachgebrauch, als einziger Bereich des funktionalen Varietätenkomplexes aufgegriffen. 11 Der Komplex von Varietäten, der meistens einfach "Englisch" genannt wird, ist ein heterogener Schmelztiegel von Wortschätzen und Grammatiken, die dem Sprachbenutzer als Reservoir dienen können, wenn er Englisch sprechen oder schreiben möchte. Wissen davon und darüber eröffnet dem Sprachbenutzer und fortgeschrittenen Sprachenlerner eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten, wenn er bestimmte Sachverhalte auf Englisch versprachlichen will. Eine warme Abendmahlzeit etwa kann als brai, als dinner, als tea oder als supper angekündigt werden, die mehr oder weniger angemessen bezüglich ihrer konzeptuellen und situativen Adäquatheit sein können, wie wir gleich sehen werden. Gemeinhin als synonym verwandt vorgestellte Wörter sind fast nie echte Synonyme, sondern bestenfalls deskriptive Synonyme, wie bei den obigen Beispielen supper, tea und dinner. Umgekehrt kann grundsätzlich jedes Lexem auch mehrere Bedeutungen tragen (Polysemie), wie das obige Lexem tea, dessen Bedeutungen mit der wichtigen Stellung des Getränkes „Tee" innerhalb der britischen Eßkultur zusammenhängen. Wissen um die Vielfalt und die Variabilität des Wortschatzes einer Sprache ermöglicht es fortgeschrittenen Sprachenlemem, die Dimension der situativen Adäquatheit, die die Wortwahl des tatsächlichen Sprachgebrauchs bestimmt, spielerisch zu ertasten. Dem durch die Muttersprache vorgegebenen Begriff „Abendessen", unter dem sich verschiedene Konzepte je nach Region und Familientradition verbergen können, werden im Englischen gleich drei im oben eingeführten Sinne synonym verwendbare Begriffe gegenübergestellt: dinner, supper und tea. Im schulischen Kontext wäre denkbar, daß der Lehrer nur ein Lexem der oben aufgeführten Wörter im Rahmen seines Unterrichts als "richtig" akzeptiert und die Wahl eines der anderen Beispiele mit „falsch" ahndet, weil er eine Auseinandersetzung mit lexikalischer Variabilität scheut oder weil nur e i n Zielwort in seiner spezifischen Lehreinheit festgelegt ist. Im Rahmen eines Anfängerunterrichts wäre dagegen nichts einzuwenden, im Rahmen eines Fortgeschrittenen-Unterrichts in der Oberstufe dagegen müßten Lexeme als sprachliche Repräsen- 11 Als Handbuch für den Lehrer ist zu empfehlen: Gramley/ Pätzold (1992). Ein aus der Sicht der Sprachgebrauchslinguistik auch im Kontext der gymnasialen Oberstufe einsetzbares Textbuch wäre: M. O'Donnell / L. Todd: Variety in Contemporary English. London 1991. FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 183 tationen von kulturellen Konzepten, die relational in einem lexikalischen Feld angelegt sind, verstanden werden als Einübung in Sprach- und Kulturbewußtsein. Eine sprachgebrauchsorientierte Anwendung von lexikalischen Konzepten zu Abendessen könnte dann etwa so aussehen (« ....... » = denotative Bedeutung; kursiv = konnotative Bedeutung): DINNER «Principal meal of the day», formal meal wÜh distinct courses Ifamily eating around a table / marked regional and sodal dijferences in style and type of food involved barbecue [funktionale Variante] «open-air party at which meat is roasted», informal gathering and meal most popular in the summer • formal variant B.B.O. T.V. dinner [funktionale Variante] «pre-prepared evening meal, typically heated in microwave», junkjood consumed while engaging in some other activity at the same time brai [regional-funktionale Variante] "open air party at which meat is grilled", regionally restricted to South African English SUPPER «a meal taken at the end of the ·day», light meal served late in the evening as the last snack of the day I evening meal when dinner is taken at midday I maybe socially and regionally marked dijferences in type and style of f ood TEA <~solid evening meal» or «light afternoon meal», regionally and! or socially marked as "high tea" / with or without accompanying hot drink Das oben vorgestellte kleine lexikalische Feld stellt Aspekte der denotativen und konnotativen Abgrenzung von Lexemen vor (z.B. barbecue ist denotativ von dinner abgrenzbar, tea ist (zumindest in einer denotativ mit dinner überlappenden Bedeutung) konnotativ von dinner abgrenzbar) und Aspekte der Abgrenzung über sozial oder regional eingeschränkte Gebrauchsmöglichkeiten (z.B. brai vs. barbecue), des weiteren funktionale und formale Auswahlmöglichkeiten (T.V. dinner und B.B.Q.). Wortschatzarbeit mit dem Ziel des Erreichens einer interaktiven Kompetenz muß deskriptive Adäquatheit in der Wortauswahl auffächern in Richtung auf eine konzeptuelle und sprachliche Genauigkeit bezüglich eines bestimmten, durch die Sprachgebrauchssituation vorgegebenen Kontextes. Während der Schüler der ersten Jahre „richtig" reagiert, wenn er die Abendmahlzeit allgemein mit dinner'wiedergibt, so muß von einem Abiturienten, der Englisch im Leistungskurs belegt hatte, erwartet werden können, daß er das allgemeine Konzept relativ zu der gegebenen Situation sprachlich genau abbilden und die regionalen und funktionalen Umstände in seiner Wortwahl berücksichtigen kann. 6. Sprachbewußtsein im Klassenzimmer: Reproduktion vs. Verstehen Eine an starren Normen orientierte Sprachvermittlung, die Sprache als ein starres Bauwerk und nicht als lebendigen Organismus versteht, hat für die Vielfalt der Sprachrealität keinen Platz und kann das weite Feld der kulturell-funktionalen Ausdifferenzierungsmöglichkeiten nicht adäquat miteinbeziehen. Abweichungen werden nur festgestellt und als fehlerhaft bewertet, aber nicht als prinzipielle Möglichkeit des sprachlichen Verhaltens ertastet und als Möglichkeit der schüler- FLuL 22 (1993) 184 Amei Koll-Stobbe zentrierten Verlagerung der Aufmerksamkeit. 12 Die Verlagerung der Aufmerksamkeit oder kognitive Reorganisation von Wissen in konkreten Anwendungen wird auf der Ebene der Wortschatzarbeit nicht erst im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht wichtig, wenn es darum geht, einfache „richtige" Lexeme durch situativ adäqµatere, genauere Lexeme zu ergänzen und damit die Ausdrucks- und Verstehensfähigkeiten der Sprachenlerner zu vervollkon,imnen. Ausdifferenziertere und komplexere Wortschätze. entziehen sich in sehr viel stärkerem Maße einer einfachen, im Schonraum des Klassenzimmers möglichen „richtig"falsch" Kategorisierung, wie wir oben gesehen haben. Die Fähigkeit, situativ adäquat Lexeme anzuwenden, ist eine grundlegende Fähigkeit, um interaktiv kompetent in der Fremdsprache auftreten zu können, die wenn auch unbewußt bereits in den elementaren Grundwortschätzen des Fremdsprachenunterrichts angelegt wird. Dabei scheint den Schulbuchautoren oft nicht bewußt zu sein, daß sie über Sprachvermittlung auch soziales Verhalten einüben lassen. Dieser das Sprachverhalten beeinflussende Begleitaspekt einfacher Wortschatzübungen sei nachfolgend beispielhaft an einem Schulbuchtext (English G, C2. Berlin 1981) erläutert. Im Rahmen einer Texteinheit zu London werden vor allem zwei Stadtteile von London in der Wortschatzarbeit zueinander in Bezug gesetzt über Konzepte, die sich in den Wortarten Nomina und Adjektive wie folgt abbilden (English G, Unit SA, S. 61 t): Einfache situative und strukturelle Wortschatzarbeit: Beispiel London WEST END Nomina tourists, sights, shops, department stores, attractions, restaurants, theatres, cinemas, night clubs, traffic jam Aqjektive famous, big EAST END Nomina immigrants, West lndies, blocks of flats, ghetto Adjektive rather poor, old, ugly Die einfache Strukturierung Londons in einen gutbekannten Stadtteil ("part of London that most tourists know best"), visuell durch mehrere Farbfotos unterstützt (S. 60-62), und einen anderen Stadtteil, der durch die Antonymisierung des gutbekannten Stadtteils eingeführt wird ("there aren't many big department stores, theatres or even cinemas"), bildlich untermauert durch ein Schwarzweißfoto (S. 63), wird sprachlich untermauert durch Nomina und Adjektive, die das "West-End" mit positiven sozialen und kulturellen Inhalten belegen, wie aus der obigen Übersicht 12 Butzkamm (1989: 131 f) kritisiert in einem ähnlichen Zusammenhang den ständigen Produktionszwang im Klassenzimmer, der einen bewußten und kontrollierten Verarbeitungsprozeß von Sprache eher verhjndert. FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 185 zu ersehen ist, während das "Bast-End" durch Nomina und Adjektive repräsentiert wird, bei denen negative Bedeutungen mitschwingen. In dieser Übungseinheit werden neue Wörter der Fremdsprache gelernt, deren Auswahl einem sozialen Klassifikationsschema unterliegt, das weder der Komplexität von sozialen Strukturen noch der möglichen Abbildung dieser auf sprachliche Strukturen gerecht wird. Ein Versuch, schülerzentriertes Mitdenken und Verstehen der über die eingeführten Vokabeln angerissenen Konzepte zu erreichen, unterbleibt. Fremdsprachenunterricht als Fremdverstehensunterricht, wie er in der letzten Zeit gefordert wird (vgl. Hunfeld ·1992), ist mit solchen Übungseinheiten nicht machbar. Einführung in andere Kulturräume über.den Fremdsprachenunterricht unterliegt einer besonderen Verantwortung: Das Andere, das' Fremde, .das Abweichende abweichend von unserer, als Standard angesehenen sprachlichen und gesellschaftlichen -(homogenen und monolingualen) Kultur muß kognitiv und sozial begreifbar gemacht werden durch. eine sprachliche Ausbildung, die ein Verstehen der Kultur ermöglicht.· Das Initiieren von regionalem Wortschatz als einfache Reproduktionsleistung von Vokabular alleine ermöglicht -dieses Verständnis noch nicht. 13 Erst in einer schülerzentrierten Erarbeitung von Variabilität in der Wortwahl können Schüler Abweichungen verstehen als kulturell und situativ angemessene Alternativen und Möglichkeiten der Differenzierung. In der Wortwahl entscheidet der Sprachbenutzer sich nicht nur für eine deskriptive Bedeutung, sondern auch fiir eine kodierteinteraktiv-soziale Bedeutung. Erst, wenn dies im Sprachunterricht begriffen wurde, können lexikalische Abweichungen helfen, die sprachlich soziale Kompetenz und damit letztendlich das den nicht nur grammatisch, sondern auch interaktiv und sozial .kompetenten Sprachbenutzer. auszeichnende Vermögen zu schulen, zwischen dem zu diskriminieren, was einer sagt, und dem, was er meint. 7. Regeln wid,Rege~eichwig: Sozial-in~ Kompetenz Wenn wir davon ausgehen, daß Sprachen KommunJkationssysteme sind, die auf Regelbefolgung fußen, dann ergibt sich auch die Frage,. was bei Regelabweichung passiert. Was sind sprachliche Regel,i? lnl Grunde nichts anderes als -spezifische Konventionen oder Tendenzen sprachlichen Handelns, die im Sinne der oben angestellten Überlegungen jederzeit änderbar sind. Dementsprechend läßt uns sprachlk; hes Handeln Spielräume, die wir auszugestalten lernen können. 13 So ist es zwar löblich, daß Schulbücher derzeit vermehrt Witze, regionale Lieder etc. in ihre Übungsteile integrieren, die Aufbereitung ist aber lehrerzentriert, d.h. dem Schüler werden im Buch selbst keine Orientierungshilfen gegeben, die über eine rein deskriptive Beschreibung des Vokabulars hinausgehen. Ein Beispiel dazu aus English G (BS). Berlin 1989 (Unit 5) zu Australien (Lied: "Waltzing Matilda"): Mit der Einführung der Vokabel swagman als "Landstreicher, Tramp" bleibt die konzeptuelle Bedeutung vage, da die Aufbereitung der kulturellen Idee durch die referentielle Bedeutung allein nicht verstehbar werden kann. FLuL 22 (1993) 186 Amei Koll-Stobbe Abweichungen von der Norm stellen eine prinzipielle Möglichkeit sprachlichen Verhaltens dar (vgl. Cherubim (Hrsg.) 1980: VIII), und das Bewußtsein dafür sollte eingeübt werden. Das impliziert, daß es wichtig ist, im Sinne von Corder (1973: 259) zwischen zufälligen oder „fehlerhaften" Abweichungen, lernbedingten und intendierten Abweichungen zu unterscheiden (vgl. dazu auch Cherubim 1980: 137). Abweichungen vom Sprachsystem werden im besseren Sinne benutzt, um Lernfort- oder -fehlschritte von Lernern zu diagnostizieren und zu therapieren (und sind somit auch als Feedback für den Lehrenden von Wert); im schlechteren Sinne aber fungieren sie lediglich als methodisch einfacher Bewertungsmaßstab für Korrekturen und Notengebungen. Butzkamm (1989: 131 f) stellt heraus, daß in der Institution Schule sprachliche Abweichungen selten im komplexen Zusammenhang von strukturellem und situativem Sprachverstehen evaluiert werden und als unterrichtsspezifische Fehler auftauchen können bei unter ständigem Produktionszwang stehenden Sprachenlernern. 14 Soll man Sprachenlerner vorzeitig in ein Korsett von falschen vs. richtigen sprachlichen Reaktionsweisen einzwängen, oder soll man in ihnen das Bewußtsein dafür wecken, daß Sprache ein bewegliches, offenes, regelgeleitetes, aber mit kreativen Spielräumen versehenes Kommunikationssystem ist und Abweichungen bewußt in den Sprachlernprozeß integrieren, um die Strategie des Aufmerksamkeitswechsels einzuüben? Sprachenlernen ist ein Risiko, das die Schüler eingehen. 15 Was kommt dabei heraus, wenn der Unterricht nur lehrerzentriert ist im Schonraum der Grammatiken und Grundwortschätze, wenn der Lehrer kein Risiko eingehen muß? Im Rahmen einer nur an der Norm orientierten Sprachvermittlung werden die virtuellen Muster eingeübt und verfestigt über eine kategoriale Beurteilung von falschem vs. richtigem Beherrschen dieser Muster. 16 Die Gefahr dieser Art von Fremdsprachenunterricht liegt darin, daß durch die vereinfachende Grobkategorisierung, die der Komplexität tatsächlichen Sprachgebrauchs in keiner Weise gerecht wird, Sozialverhalten eingeübt wird. In multikulturellen und multilingualen Klassenzimmern und einer vom Englischen als funktionaler Weltsprache der Wirtschaft und Unterhaltungskultur durchdrungenen Spracherfahrung hat sich das Sprachbewußtsein der Schülergeneration verändert: Sie erfahren täglich in den Medien, daß Sprachen offene Systeme sind und müßten im Sprachunterricht lernen, damit kognitiv und 14 Kritisch mit der Fehlerbewertung setzt sich Ellis (1990: Kap. 4) auseinander und betont, daß die Fehlerquelle beim Schüler, aber auch beim Lehrer liegen kann (vgl. ebenso Bahns 1985). Klein (1984: 121 f) diskutiert die Variabilität von Grammatikalität und situativem Kontext, den er „Beiwissen" nennt, am Beispiel von Ich Brot. Vgl. dazu kritisch auch Knapp-Potthoff/ Knapp (1982: 34ft) und Wode (1981). 15 Ein beträchtliches Risiko ist dabei die vom Schüler nicht wählbare Vermittlungsinstanz von Fremdsprache, nämlich der Lehrer und seine Fähigkeiten (vgl. dazu Timm 1992: 5). 16 Zu einer Übersicht zur Entwicklung und Problematik der Fehlerbewertung im Englischunterricht vgl. Timm (1992). FLuL 22 (1993) Falsch oder anders? Überlegungen zu Fehlerbewertungen im Fremdsprachenunterricht ... 187 interaktiv bewußt umzugehen. Die Einbeziehung von Variabilität des tatsächlichen Sprachgebrauchs (und damit auch Abweichungen in und von der Zielsprache) würde die sozial-interaktive Strategie der "richtig-falsch" Beurteilung von Sprachverhalten aufbrechen und das den tatsächlichen Sprachgebrauch steuernde regulative Prinzip der „Angemessenheit" von Wortwahl und grammatischen Mustern für den Sprachenschüler einübbar machen. Das Vorstellungsvermögen von Alternativen (als ein wichtiger Bereich interaktiver Kompetenz) wird trainiert, wenn Sprachbenutzer nicht nur passiv-reaktiv geschult werden, sondern auch kognitiv-aktiv mit Problemlösungen (etwa bei Abweichungsphänomenen) und Strategien ihrer Handhabung umgehen lernen. Es ist erwiesen, daß Sprachbenutzer mit differenzierterem Wortschatz genauer, detaillierter und flexibler mit Sprache umgehen können. 17 Der Fremdsprachenlerner hat ein Recht auf Fehler, ein Recht auf Abweichungen und ein Recht darauf, darüber informiert zu werden, was dahinter steckt. 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