Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1993
221
Gnutzmann Küster SchrammAngewandte Linguistik und Sprachlehrforschung
121
1993
Klaus Hartenstein
flul2210201
Klaus Hartenstein Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung Plädoyer für ein konstruktives Wechselverhältnis zwischen zwei Disziplinen Abstract. The article discusses the different approaches offüred by Applied Linguistics and Language Teaching Research (Sprachlehrforschung) to the scientific study of foreign language teaching and leaming. The disciplines are compared both on a theoretical level and with regard to the contributions they can make to practical leaming and teaching issues. As case studies the teaching of Russian to German students and the teaching of German to Polish students will be handled. lt is argued in conclusion that the two disciplines are complementary and should not be viewed as mutually exclusive alternatives. · 1. Vorbemerkung Meine Themenstellung macht es erforderlich, daß ich zunächst umreiße, was man unter Angewandter Linguistik und Sprachlehrforschung im allgemeinen versteht, indem ich das jeweilige Selbstverständnis beider Disziplinen, ihre globale Zielsetzung, ihren Gegenstandsbereich und ihre wichtigsten Forschungsschwerpunkte anspreche. Danach will ich aufzeigen, welche Kooperationsmöglichkeiten zwischen beiden Disziplinen bestehen bzw. im Sinne einer konstruktiven Wechselbeziehung m.E. bestehen sollte: 11. Was meine Vorgehensweise angeht; so werde ich meine Überlegungen nicht ausschließlich auf einer theoretischen Ebene anstellen, indem ich nur konzeptorientiert und forschungsmethodisch argumentiere. Ich will vielmehr anhand von russischen, polnischen und deutschen Sprachdaten als fremdsprachliches Illustrationsmaterial vorführen, welche Konsequenzen bestimmte theoretische Positionen der beiden genannten Disziplinen für das konkrete Handeln im Umgang mit Fremdsprachenunterricht haben können. Im Zusammenhang damit will ich auch meine eigene Auffassung zu dem einen oder anderen Problem einbringen und begründen, um meine Sicht des Verhältnisses von Angewandter Linguistik und Sprachlehrforschung herauszustellen. Die Perspektive, aus der ich mein Thema betrachte, ist wie wohl bei allen, die sich wissenschaftlich mit einem derart komplexen Feld wie dem Fremdsprachenunterricht befassen durch m e i n e individuelle Sozialisation beeinflußt. Ich komme aus der slavistischen Linguistik, habe jedoch immer praxisbezogenen 9der angewandten Fragestellungen, z.B. aus dem Bereich der Lexikographie, der Grammatikographie und des Sprachvergleichs, in meinen wissenschaftlichen Interessen einen hohen Stellen\3/ ert eingeräumt und mich stets bemüht, über den slavistisch-linguistischen „Gartenzaun" zu schauen. Dabei gehörte neben der Angewandten Linguistik, insbesondere in den Bereichen des Russischen und partiell des Französischen, ebenfalls die Sprachlehrforschung zu meinen hnpulsgebem, wenn auch die explosionsartige Forschungsentwicklung und Publikationszunahme in letztgenannter FLuL 22 (1993) 202 Klaus Hartenstein Disziplin vor allem ab den achtizger Jahren mich zu einer eher eklektischen Rezeption gezwungen haben. 2. Angewandte Llnguistik und Sprachlehrforschung Was hat man sich unter Angewandter Linguistik und Sprachlehrforschung vorzustellen? Welche Wissenschaftsbereiche und Tätigkeitsfelder umfassen die beiden Begriffe, die sich hinter diesen Etiketten verbergen? Sieht man einmal von der trivialen Feststellung ab, daß es beiden Disziplinen um das globale Objekt 'Sprache' geht und sich beide primär als eine empirische Wissenschaft begreifen, so fallen zwei Gemeinsamkeiten auf, die sie programmatisch teilen: Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung reklamieren für sich, interdisziplinäre Wissenschaften zu sein; Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung erheben den Anspruch, Probleme lösen zu helfen, die sich beim „praxisbezogenen" (im weitesten Sinne) Umgang mit Sprache ergeben. Innerhalb der im deutschen Forschungskontext vorherrschenden Auffassung von Sprachlehrforschung hat die sog. Faktorenkomplexion, die den Fremdsprachenunterricht ausmacht und ihn als Gegenstand auf eine besondere Weise charakterisiert, dazu geführt, Bemühungen um ein (ausschließlich) interdisziplinäres Vorgehen aufzugeben und den Entwurf eines sog. interdisziplinärintegrativen Ansatzes anzustreben. Dieser begreift sich als interdisziplinär in dem Sinn, daß er auf einer fachübergreifenden Kooperation beruht, und als integrativ in dem Sinn, daß es ihm darum geht"[...] Forschungsmethoden und Begriffssprachen zu entwickeln, die qualitativ eigenständig sind und disziplinspezifische Reduktionen konstruktiv überwinden" (Sprach/ ehr- und Sprachlernforschung 1983: 43). Die weitere Entwicklung in der Sprachlehrforschung wird zeigen müssen, ob es realistisch ist, an eine Wissenschaft, die kraft eigenem Selbstverständnis u.a. die Beiträge von spezielleren Disziplinen koordinieren und synthetisieren muß, die Erwartung zu richten, darüber hinaus noch einen derart umfassenden theoretischen Anspruch zu befriedigen. Angesichts der genannten. Gemeinsamkeiten müssen die besonderen Konturen beider Disziplinen, die sie voneinander unterscheiden, daher woanders gesucht werden, und zwar auf einer Ebene, die der allgemeinen Zielsetzung beider Zugriffe nachgeordnet ist. Dies scheint mir im Hinblick auf unterschiedliche Schwerpunkte der Fall zu sein, die Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung in ihrer Forschungstätigkeit setzen. Die Unterschiede werden darin offenbar, daß beide es mit verschiedenen Objektbereichen bzw. -umfängen zu tun haben, die allerdings den Fremdsprachenunterricht, um den es hier ausschließlich gehen soll, als Schnittstelle oder gemeinsamen Zuständigkeitsbereich haben; beide unterschiedliche forschungsmethodische und -praktische Akzente in ihrem Bemühen um den Fremdsprachenunterricht setzen, indem sie glauben, die erhofften Problemlösungen, die auf eine wissenschaftliche Fundierung und Effektivierung des Fremdsprachenunterrichts abzielen, dadurch herbeiführen zu können, FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 203 daß sie einerseits den Gegenstand 'Sprache' als die Fremdsprache X in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen und andererseits die Sprachträger als Fremdsprachenlehrende, vor allem aber -lernende, wobei diejenigen Aspekte, die diesen Schwerpunkten jeweils nachgeordnet sind, wenn auch nicht ignoriert, so doch in s e h r unterschiedlichem Ausmaß berücksichtigt werden. Was hat man nun im einzelnen unter der Angewandten Linguistik und der Sprachlehrforschung zu verstehen? Die Angewandte Linguistik definiert sich ex negativo betrachtet als eine Disziplin, die keinesfalls linguistische Modelle und Beschreibungsverfahren in dem Sinne „anwenden" will, daß sie diese kurzschlüssig in den Fremdsprachenunterricht übernimmt, wenngleich es im Laufe ihrer Geschichte auch Phasen gegeben hat, wo sie sich diesen Vorwurf gefallen lassen muß. Dies war z.B. der Fall in ihrer Ausformung als Kontrastive Linguistik a la Lado (1957; 1964), d.h. in ihrer starken Version, die gemäß dem auf ej.nem L 1 -Li-Vergleich basierenden Prinzip linguistic difference = learning dijficulty Lernschwierigkeiten und Fehler pauschal vorhersagen wollte, oder in ihrer Euphorie, linguistische Modelle vor allem des frühen Generativismus, z.B. die Transformationsgrammatik in der Fassung der Syntactic Structures von Chomsky (1957), "unadaptiert" in den Fremdsprachenunterricht zu übernehmen, wie es u.a. Peuser (1973) für den Französischunterricht getan hat. Positiv charakterisiert begreift sich die Angewandte Linguistik als eine Disziplin, die mehrdimensional oder integrativ ist, indem sie einerseits zwischen Theoretischer Linguistik und bestimmten Anwendungsbereichen vermittelt, die die konkrete, kommunikativ ausgerichtete Sprachverwendung vorgibt. Andererseits vermittelt sie aus ihrer bereits erwähnten Interdisziplinarität heraus zwischen Linguistik und nicht-linguistischen Disziplinen, z.B. der Sprach- und Lernpsychologie, der Fremdsprachendidaktik, d.h. sie folgt der Erkenntnis, daß die von ihr abverlangten Problemlösungen nie mit linguistischem Zugriff a 11 e i n und o h n e Beanspruchung weiterer Bezugswissenschaften geleistet werden können. Wie durch das Stichwort „konkrete Sprachverwendung" angedeutet, ist der Objektbereich der Angewandten Linguistik groß und heterogen zugleich. Auf den unterschiedlichen, parole-bezogenen Praxisfeldern fallen ganz verschiedene Probleme an, die es zu lösen gilt, z.B. um sie nur der Vollständigkeit halber zu nennen - Sprachplanung, Verschriftung von Sprachen mit mündlicher Tradition, Sprachstörungstherapie, linguistische Datenverarbeitung u.a., aber auch Probleme des Fremdsprachenunterrichts, die bereits seit gut zwanzig Jahren einen zentralen Arbeitsbereich der Angewandten Linguistik ausmachen. Die Zuständigkeit, die die Angewandte Linguistik für den Fremdsprachenunterricht beansprucht, erstreckt sich auf viele Teilgebiete dieses komplexen Feldes. Sie hat zu einigen Errungenschaften geführt, die heute selbstverständlich auf die eine oder andere Weise beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen eingesetzt werden, da sie Fragen des unterrichtsgesteuerten Fremdsprachenerwerbs betreffen, vor allem solche für die Konstruktion von Lehrmaterialien wichtigen Faktoren wie Auswahl, Progression und Darbietung der sprachlichen Daten. Ich denke hier z.B. an Wörterbücher und Grammatiken, FLuL 22 (1993) 204 Klaus Hartenstein Sprachtests, phonetische Beschreibungen usw. Weiterhin fällt mir auf, daß es im Rahmen der Angewandten Linguistik Zugriffe auf den Fremdsprachenunterricht gibt, die sich als Angewandte Psycholinguistik (im weiten Sinne) begreifen, z.B. Teile der Zweitsprachenerwerbsforschung, vor allem die sog. "Interlanguage" - Forschung (Corder 1976). Diese sind zugleich auch für die Sprachlehrforschung von Bedeutung (s.u.), da sie in Auseinandersetzung mit diesen Herangehensweisen an die Abläufe fremdsprachigen Lernens eigene Forschungsideen und -postulate entwickelt hat. Ich möchte anhand e i n e r Zugriffsmöglichkeit, die die Angewandte Linguistik auf den Fremdsprachenunterricht zur Verfügung stellt, der Fehleranalyse mit Hilfe des konfrontativen Sprachvergleichs vorführen, welchen Beitrag diese Disziplin für eine Verbesserung des Fremdsprachenlehrens und -lernens zu leisten vermag. Diese Wahl habe ich übrigens bewußt getroffen, denn ich glaube, daß diese Variante der Angewandten Linguistik in den letzten Jahren von der Diskussion um die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts zu Unrecht in einer Weise vernachlässigt worden ist, die sie einfach nicht verdient hat. In der Angewandten Linguistik geht man davon aus, daß es im Hinblick auf didaktisch-methodische Entscheidungen in der Fremdsprachenvermittlung sinnvoll ist, um Interferenzen der Mutterauf die Fremdsprache zu vermeiden bzw. Transfer zu induzieren, nicht nur Strukturdifferenzen zwischen der Grund- und der Fremdsprache zu beschreiben, sondern auch deren strukturelle Gemeinsamkeiten (= konfrontatives, nicht kontrastives Vorgehen) (vgl. auch Hartenstein 1991). Dabei ist man sich natürlich der Tatsache bewußt, daß nicht alle tatsächlich auftretenden Fehlleistungen in der Fremdsprache durch Differenzen zwischen der Grund- und der Fremdsprache bedingt sein können und daß es auch andere interferenzstiftende Kontraste gibt als die zwischen den jeweiligen Bezugssprachen. Allerdings gehören nun einmal a u c h interlingual bedingte Fehler zu den immer wieder konstatierten Fehlleistungen; sie dürfen daher nicht aus dem wissenschaftlichen Zugriff auf den Fremdsprachenunterricht ausgeschlossen werden. Ich möchte mich nun im Liebte dieser Vorannahmen des konfrontativen Sprachvergleichs den folgenden beiden Typen von Fehlleistungen zuwenden. Um die Breite der Anwendungsmöglichkeiten der Fehleranalyse qua konfrontativen Sprachvergleich zu verdeutlichen, habe ich sie aus meinen Beobachtungen des Russischunterrichts an deutschsprachigen Muttersprachlern und des Deutschunterrichts an polnischsprachigen Lernenden gewählt. Die erste Gruppe verwendet häufig das russische indefinite Pronomen kto-to / cto-to / kakoj-to (= 'irgendwer/ irgendetwas/ irgendwelcher') in Kontexten wie z.B. (1) *Esli kto-to (anstelle von: kto-nibud') pozvonit, skazite, cto ... dt.: Wenn jemand anruft, sagen Sie, daß ... * Ja ne uveren, mogu li ja tebe cem-to (anstelle von: cem-nibud') pomoc'. dt.: Ich bin nicht sicher, ob ich dir irgendwie helfen kann. (Teper' ja vsju pravdu znaju) *Jas kem-to (anstelle von: koe s kem) govoril o vas. dt.: (Jetzt kenne ich die ganze Wahrheit) Ich habe mit jemandem über euch gesprochen. FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 205 Fragt man sich, wie es zu diesem sich hartnäckig haltenden Fehlertyp kommt, kann man beim konfrontativen Sprachvergleich fündig werden. Die Bezugssprachen sind inhaltlich in dem Sinne kongruent, daß sie über eine funktional als Pronomen charakterisierte Wortklasse mit der kategorialen Bedeutung 'Indefinitheit' verfügen, sie unterscheiden sich jedoch in ihren jeweiligen lexematischen Aufgliederungen dieser Klasse und den damit verbundenen funktionalen Auslastungen ihrer Angehörigen, und zwar in einer Weise, die als Entropieverhältnis beschrieben werden kann: Dem dt. irgendwer usw. stehen im Russischen drei Wörter bzw. Formreihen gegenüber. Deren Gebrauchsbzw. Abwahlbedingungen werden durch Faktoren gesteuert, die nur begrenzt zu fakultativen Varianten führen; in der Regel existiert nur eine_ Ausdrucksmöglichkeit als die jeweils obligatorische morphosyntaktische Norm. Lingufatisch kann sie als modaler Rahmen (im Sinne von Wierzbicka 1969) oder als pragmatische Präsupposition (im Sinne von Reis 1977) zunächst einmal b e g r i ff 1i c h g e f a ß t_ und dann für die Adressaten des Fremdsprachenunterrichts beschrieben werden 1: (2) kto-to / cto-to I kakoj-to wird verwendet, wenn der Sprecher zwar um die Existenz, nicht aber um die Identität des von ihm Gemeinten weiß (zu wissen glaubt), z.B. Kto-to stucit v dver'; dt.: Es klopft (wörtl.: Jemand klopft an die Tür). Weiß er um beides, muß er koe-kto / koe-tto / ... gebrauchen, z.B. Ja tebe koe-tto kupil (typische Äußerung z.B. beim Überreichen eines Geschenks) dt.: Ich habe dir etwas mitgebracht (wörtl.: gekauft). Kto-nibud' / tto-nibud' / ... (auch: kto-libo / tto-libo) wird verwendet, wenn der Sprecher sich beider Merkmale des Gemeinten unsicher ist, z.B. U Vas najdutsja kakie-nibud' adresa nemeckich kolleg? dt.: Haben Sie (irgendwelche) Adressen von deutschen Kollegen? Aufschlußreich für die aktuelle·Forschungslage in der unterrichtsbezogenen Angewandten Linguistik ist, daß diese Verhältnisse, deren Kenntnis zumindest in fortgeschrittenen Stadien des Russischunterrichts bei produktiven Sprachfertigkeiten als angestrebtem Lernziel für Lehrende und Lernende erforderlich ist, wollen sie "kultiviert", d.h. unter Berücksichtigung der morphosyntaktischen Norm - und nicht nur irgendwie "kommunikativ" die Fremdsprache gebrauchen, in Lehrmaterialien, den sie begleitenden Grammatiken sowie auch in Referenzgramrhatiken nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden. Ich kann mir das nur so erklären, daß der Konfrontative Sprachvergleich Deutsch-Russisch für fremdsprachenunterrichtliche Zwecke bislang noch nicht vollumfänglich durchgeführt worden ist, so daß dessen Ergebnisse noch nicht in alle Lehr- und Nachschlagewerke Eingang gefunden haben. Die Fehleranalyse, deswegen zur Unkenntnis dieser Strukturunterschiede verdammt, kann daher Gefahr laufen, andere Ursachen, aber u.U. nicht die richtigen, für die hier vorgeführten Fehlerhäufungen geltend zu machen. 1 Die in (2) angeführten Regeln stammen von mir und sollen als Vorschlag für eine Generalisierung in einer progressionsabhängigen Grammatik dienen. FLuL 22 (1993) 206 Klaus Hartenstein Der zweite Fehlertyp bezieht sich auf die Beobachtung, daß polnischsprachige Lernende hartnäckig das deutsche Präteritum in Kontexten verwenden, die das deutsche Perfekt erfordern, vgl. z.B. (3) Wo ist denn Eugen? (Ich weiß nicht) - *Er fuhr zur Uni. On pojechal perf.Prät. na uniwersytet. Die Fehleranalyse qua konfrontativen Sprachvergleich kann auch hier, so glaube ich, mögliche bzw. naheliegende Ursachen der Abweichung benennen. Sie liegen darin, daß inhaltsseitige (funktionale) und ausdrucksseitige Eigenschaften zweier Grammeme der beteiligten Sprachen, des perfektiven Aspekts im Polnischen und des Präteritums im Deutschen, auf unzulässige Weise identifiziert werden: Dem synthetisch gebildeten Präteritum im Polnischen steht zum Ausdruck der resultativen Teilfunktion das im Deutschen analytisch gebildeten Perfekt gegenüber, während das synthetisch gebildete Präteritum im Deutschen (bei Vollverben) in aktionaler Teilbedeutung verwendet wird, d.h. in nicht-deiktischer Funktion zur Bezeichnung eines Sachverhalts, der vor dem Sprechzeitpunkt liegt und dessen Folgen zum Sprechzeitpunkt irrelevant sind. In (3) hat man es daher mit der nicht intendierten Antwort auf die o.g. Frage zu tun, Er fuhr zur Uni, d.h. er kam nie wieder zurück, anstelle der grammatisch-pragmatisch wohlgeformten Antwort: Er ist zur Uni gefahren, d.h. er ist jetzt nicht zu Hause (s. hierzu näher Hartenstein 1991: 111 f). Ich hoffe, mit diesen an zwei konkreten Fallstudien vorgeführten Zugriffsmöglichkeiten, die uns die Angewandte Linguistik in ihrer Spielart als Fehleranalyse qua konfrontativen Sprachvergleich an die Hand gibt, deutlich gemacht zu haben, daß sie in der Lage ist, ihrer Zielstellung zu genügen. Sie kann Lehr- und Erwerbsschwierigkeiten im Fremdsprachenunterricht zumindest partiell erklären, so daß unter Berücksichtigung und Gewichtung der übrigen Faktoren, z.B. der methodischdidaktischen Erfordernisse, die die jeweilige Unterrichtssituation charakterisieren, die notwendigen Entscheidungen getroffen werden können. Daß der oben skizzierte Sachverhalt eine vollumfängliche Erklärung für a 11 e Erwerbsvorgänge sei, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Voraussetzung dafür, daß die Angewandte Linguistik ihren Beitrag zum Fremdsprachenunterricht leisten kann, ist allerdings, daß man die Einsichten, die sie für das fremdsprachige Lehren und Lernen beibringen kann, auch wirklich unvoreingenommen zur Kenntnis nimmt. Ich möchte mich nun der Sprachlehrforschung zuwenden, die präziser formuliert eigentlich Sprach/ ehr- und -lernforschung heißen müßte. Wie die Angewandte Linguistik verfolgt sie das globale Ziel, den Fremdsprachenunterricht wissenschaftlich begründet zu optimieren, jedoch mit einer anderen Schwerpunktsetzung beim Zugriff auf die Probleme des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen. Ich habe diese eingangs als eine primäre Konzentration auf die Sprachträger bezeichnet. Bedingt durch dieses Erkenntnisinteresse nimmt zum einen die intensive Beschäftigung mit den diversen Typen des Spracherwerbs schlechthin in der Sprachlehrfor- FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 207 schung einen breiten Raum ein, vor allem unter der übergeordneten Fragestellung, inwieweit der Erstspracherwerb und der Zweitspracherwerb kongruent sind, und zwar insbesondere mit Blick auf die Fremdsprachenvermittlung, also den institutionellen, unterrichtsgesteuerten Zweitspracherwerb. Zum anderen versucht man, unter dem Leitmotiv der Lernerzentriertheit den gesteuerten Fremdsprachenerwerb dort anzugehen, wo ier sich real abspielt, indem man durch die Erhebung lernerbezogener Daten Aufschluß über mentale Verarbeitungsprozesse gewinnen will. Motiviert sind die beiden hier umrissenen Diskussionslinien,·die für die Sprachlehrforschung und ihre Konzeption eines Zugriffs auf den Spracherwerb bzw. die Sprachvermittlung besonders m a r k a n t sind, durch einige, von ihr sehr de.zidiert verfochtene Grundannahmen, die, zusammengefaßt in den folgenden Postulaten, ihr Selbstverständnis als Wissenschaft umreißen: die Wirklichkeit des Fremdsprachenunterrichts muß ganzheitlich erfaßt werden, indem a 11 e Faktoren des Lehr- und Lernprozesses berücksichtigt werden (sog. Faktorenkomplexion des Fremdsprachenunterrichts); die Reduzierung des Spracherwerbs im Fremdsprachenunterricht auf den Faktor "Sprache" ist angesichts der Komplexität des Fremdsprachenunterrichts unzulässig; der Fremdsprachenunterricht darf kein nachgeordnetes Applikationsfeld für Beschreibungsergebnisse sein, die in anderen Disziplinen mit deren Methoden und Erkenntnisinteressen erzielt worden sind (Kritik am sog. basiswissenschaftlichen Standpunkt); · das Wesen des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs kann nur mit Hilfe einer eigenständigen Spracherwerbstheorie erklärt werden, die vom Lerner ausgeht (sog. Lernerzentriertheit). Führt man sich die programmatischen Aussagen vor Augen, die diese Postulate enthalten, werden die Konturen deutlich1,durch die sich die Sprachlehrforschung als eine eigenständige und zugleich als eine den umfassendsten Zugriff auf den Fremdsprachenuriterricht beanspruchende Disziplin gegenüber konkurrierenden Wissenschaften, hier der Angewandten Linguistik und auch der Fremdsprachendidaktik, profilieren möchte. Die Angewandte Linguistik ist für sie eine zu reduktionistische Herangehensweise an das Lehren und Lernen von Fremdsprachen, da sie verkürzt gesagt als genuin sprachwissenschaftlicher Zugriff Probleme des Fremdsprachenunterrichts einfach „miterledigen" wolle. Die Fremdsprachendidaktik setzt für die Sprachlehrforschung besonders deswegen am falschen Punkt an, weil sie den Fremdsprachenunterricht auf verschiedene Lehrmethoden im Sinne einer Planungstheorie für lehrerinduzierte Unterrichtsabläufe einenge, wenngleich ihr auch zugestanden wird, nicht nur die Sprache sowohl als Medium des Fremdsprachenunterrichts wie auch als dessen Inhalt, sondern darüber hinaus noch Lehr- und Lernaspekte, die interkulturelle Dimension des Fremdsprachenunterrichts u.ä. zu berücksichtigen. So gesehen nimmt die Fremdsprachendidaktik auf dem von der Sprachlehrforschung behaupteten „Idealisierungskontinuum" für Faktoren des Fremd- FLuL 22 (1993) 208 Klaus Hartenstein sprachenunterrichts also eine mittlere Lage ein zwischen der „äußerst reduktionistischen" Angewandten Linguistik und der „breit angelegten", die gesamte Faktorenkomplexion berücksichtigenden Sprachlehrforschung. Ich habe mir für meine Erörterungen, ohne diese Auffassung inhaltlich völlig zu teilen, bewußt diese Position zueigen gemacht, um meine Überlegungen zu strukturieren, indem ich die beiden äußeren Pole dieses behaupteten Kontinuums, die Angewandte Linguistik und die Sprachlehrforschung, einander gegenüberstelle. Dabei gehe ich davon aus, daß die Fremdsprachendidaktik sowohl durch die Angewandte Linguistik wie auch durch die Sprachlehrforschung überlappt wird, wenn auch nicht symmetrisch. Mit anderen Worten, eine Grenzziehung zwischen den drei genannten Bereichen bzw. Disziplinen kann und will ich hier nicht vornehmen, da jedes Bemühen um den Fremdsprachenunterricht interdisziplinär und integrativ sein muß. Wie löst nun die Sprachlehrforschung die von ihr vertretenen Postulate in ihren Forschungsaktivitäten ein? Es versteht sich von selbst, daß sie angesichts ihrer programmatischen Festlegung gegen ein Primat der Linguistik jegliches Bemühen strikt ablehnen muß, das den Verdacht erwecken könnte, dem „basiswissenschaftlichen" Prinzip zu folgen. So mußten sich Bestrebungen, die vor allem in den siebziger Jahren aktuell waren, sog. wissenschaftliche (= linguistische) Grammatiken (Grammatikmodelle) mit Hilfe eines didaktischen Filters, der die Faktorenkomplexion widerspiegeln sollte, in sog. pädagogische Grammatiken zu überführen (BörnerNogel 1976), den Vorwurf gefallen lassen, untaugliche, weil nicht lernerbezogen entwickelte „Applikationsmodelle" zu sein. Die Bemühungen der Sprachlehrforschung sind konsequenterweise darauf abgestellt, den Spracherwerb „lernerzentriert" aufzuklären, was sich vor allem in besonders intensiven Untersuchungen und Konzeptdiskussionen niederschlägt, deren Ziel es ist, eine empirisch abgesicherte Theorie des Zweit- oder Fremdsprachenerwerbs auszuarbeiten. In ihrem Bemühen gesteht die Sprachlehrforschung dabei der sprachpsychologischen bzw. psycholinguistischen Spracherwerbsforschung durchaus eine Zulieferfunktion für die eigene Theoriebildung zu, indem sie deren Konzepte aufgreift (was mich im übrigen an die „einseitig gerichteten" Inspirationsbeziehungen erinnert, die zwischen Linguistik und Sprachpsychologie in den sechziger und frühen siebzigerer Jahren bestanden haben). Festgelegt durch ihre Grundannahmen lehnt die Sprachlehrforschung jedoch die „großen" Hypothesen der Spracherwerbsforschung für ihre Zwecke ab, gesteht ihnen aber für das angestrebte Theoriegebäude zu, daß die einen oder anderen Faktoren, mit denen diese Hypothesen operieren, auch für das gesuchte Modell des (unterrichtlichen) Fremdsprachenerwerbs relevant sind (Bausch/ Kasper 1979). So spricht sie sich gegen die Kontrastivhypothese der Angewandten Linguistik ebenfalls in ihrer „schwachen" Version aus, die ich hier als Fehleranalyse qua konfrontativen Sprachvergleich vorgeführt habe. Die Sprachlehrforschung gibt u.a. zu bedenken, daß Lernschwierigkeiten sich nicht nur in Fehlern, sondern auch in Vermeidungsverhalten äußern können, daß neben dem Sprachbesitz (grund- und fremdsprachlichen) auch personale Parameter der Lernenden (Motivation, Alter usw.) und solche der Lernumgebung (Lernziel, Methode usw.) beachtet werden FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 209 müssen, daß die Kontrastivhypothese im behavioristischen Spracherwerbsverständnis verankert sei und, worauf es mir besonders ankommt, daß Spracherwerb ein P r o z e ß sei, dessen Dynamik sich darin zeige, daß eine Regel nicht ein für allemal erworben werde, sondern durch immer neue Hypothesenbildungen seitens der Lernenden verändert werden könne (wogegen u.a. der statische Charakter des Sprachvergleichs spreche). Kurzum, für die Sprachlehrforschung ist es wegen ihrer programmatischen Grundannahmen unmöglich zu akzeptieren, daß eine Spracherwerbshypothese letztlich k e i n anderes Konzept bereitstellt als sprachliche Transferprozesse. Die Sprachlehrforschung hat sich auch mit der in einer kognitiven (und nativistischen) Spracherwerbskonzeption verankerten Identitätshypothese auseinandergesetzt. Diese postuliert, daß der Erwerb.einer Zweitsprache prinzipiell isomorph zu dem der Grundsprache ablaufe, indemangeborene mentale Spracherwerbsmechanismen (re)aktiviert würden, die als universelle Verarbeitungsprozesse oder „eingebaute Lehrpläne" bewirkten, daß zielsprachliche Elemente und Regeln in gleicher Abfolge erworben würden wie grundsprachliche (Wode 1974). Mit Blick auf den Fremdsprachenerwerb hat man versucht, diese Auffassung dadurch zu korikretisieren, daß man den Lernenden aufgrund ihrer gesamten sprachlich-kommunikativen Vorerfahrung ein kreativ-konstruktives Beteiligtsein zugesteht. Man geht davon aus, daß sie Hypothesen über das zweisprachige Regelsystem bilden und auf diese Weise im Sinne einer stetiger Annäherung an die zielsprachliche Norm eine Übergangskompetenz erlangten. Auch hier hat die Sprachlehrforschung ihre Bedenken angemeldet. Sie hat u.a. gefragt, ob denn die füentitätshypothese überhaupt haltbar sei, wenn grundsprachlicher Transfer anerkannt werde bzw. in welchem Ausmaß er anerkannt werden dürfe, um die Hypothese nicht zu Fall zu bringen. Außerdem hat sie auf ein wichtiges Faktum hingewiesen, und zwar den Unterschied, der zwischen ungesteuertem Zweitspracherwerb (language acquisition) und unterrichtlich gesteuertem Zweitspracherwerb (language learning) bestehe (Krashen 1981). Gerade letzterer sei ja dadurch charakterisiert, daß er zur Herausbildung einer reproduktiven oder rekonstruierenden Kompetenz führe, die die Lernenden durch die geistige Verarbeitung ihres gesammelten Regelwissens aktivierten, das somit als eine Informations- und Kontrollinstanz zugleich fungiere. Die Sprachlehrforschung fordert daher, um eben diesen durch die Identitätshypothese nicht abgedeckten Aspekt zu erfassen, eine Erwerbstheorie von besonderem Zuschnitt. Als ausbaufähige Hypothese des unterrichtsgesteuerten Zweitspracherwerbs hat in der Sprachlehrforschung m.E. die Interlanguage-Hypothese (Selinker 1972) oder nach Bausch/ Raabe (1978) die Interimssprachenhypothese die größte Akzeptanz erlangt, und zwar auch deshalb, weil sie mit der Kritik an der Identitätshypothese vereinbar ist. Nach der Interlangue-Hypothese bilden Lernende ein spezifisches Sprachsystem, die sog. Interlanguage, das Merkmale der Grund- und der Zielsprache sowie eigenständige, von beiden unabhängige Züge aufweise. Dieses Konstrukt sei dadurch, daß es der permanenten Hypothesenbildung seitens der Lernenden über zielsprachige Strukturen unterliege, von einer speziellen Dynamik FLuL 22 (1993) 210 Klaus Hartenstein geprägt, da es durch Revision bei negativer Rückkopplung und durch Festigung bei positiver Rückkopplung, beides ausgelöst durch entsprechend sanktionierte Kommunikationsstrategien im Unterricht, immer wieder neu umrissen werde (Börner/ Vogel 1979; Kielhöfer/ Börner 1979; Vogel 1990). Man beruft sich in diesem Zusammenhang auf empirische Untersuchungen, um über die dort beobachteten typischen Verhaltensformen der Lernenden auf psychische Vorgänge zu schließen, die in ihnen während des Spracherwerbs mutmaßlich ablaufen. So hat man sich u.a. mit den Bedingungen befaßt, die das Auftreten von Transfer aus der Grund- oder einer weiteren Fremdsprache in die Zielsprache hemmen bzw. begünstigen können. Darüber hinaus sind Lernstrategien in bezug auf Regelbildungsprozesse untersucht worden sowie Kommunikationsstrategien, die die Lernenden in der Zielsprache dann wählen, wenn sie noch keine geeignete Regel gebildet haben. In diesem Zusammenhang hat man herausgefunden, daß Lernende neben Reduktionen ihrer Äußerungen, Themenvermeidung und Bedeutungsveränderung auch weitlich kreative, auf der Dialektik von Lernen und Kommunikation beruhende Strategien verwenden, um ihre Ausdrucksdefizite in der Interlanguage zu beheben, z.B. diverse Adaptionsverfahren (inter-, intralingualer Transfer, Übergeneralisierung von Regeln, Wortbildungsmustern u.ä.). Die Interlanguage-Hypothese hat die Sprachlehrforschung besonders nachhaltig inspiriert als der wohl aussichtsreichste Weg, der unter Berücksichtigung fachspezifischer Fragestellungen begangen werden sollte, um die angestrebte Theorie des unterrichtsgesteuerten Zweitspracherwerbs zu entwickeln. Nicht umsonst geht sie forschungsmethodisch so vor, daß sie ihre Daten lernerbezogen erhebt, z.B. über Äußerungen der Lernenden, wenn sie einen bestimmten Inhalt in der Fremdsprache ausdrücken wollen (Fehleranalyse unter Einbezug der gesamten Faktorenkomplexion), über Bewußtseinsprotokolle, die die Lernenden bei der Sprachproduktion, z.B. beim schriftlichen Übersetzen, verfassen (Krings 1986) oder über metasprachliche Lernerfragen, die unter dem Blickwinkel „Lernende als Linguisten" betrachtet über die jeweiligen Übergangskompetenzen Aufschluß geben sollen und als kognitive Prozesse verstanden werden, die vermitteln zwischen den beiden Wissenstypen deklaratives Wissen (= formalsprachliches, pragmatisches, diskursives Wissen) und prozedurales Wissen (= die unterschiedlichen Tätigkeiten der Lernenden beim Umgang mit der Fremdsprache steuerndes Wissen) (Raabe 1991; 1992); im übrigen liegt m.E. gerade in der letztgenannten Herangehensweise eine interessante Parallelentwicklung zu einigen neueren Spielarten der kognitiv ausgerichteten Allgemeinen Linguistik vor, die im Gegensatz zum strukturalistischen Konzept Prozesse als primär und Strukturen als sekundär auffassen. In ihrem praxisorientierten Handeln, das die Sprachlehrforschung ja bei allem Bemühen um Grundlagenforschung nicht vergessen darf, will sie mit ihrem Anspruch ernstgenommen werden, den Fremdsprachenunterricht zu verbessern, hat die lernerzentrierte Forschungsperspektive sie zu der Behauptung veranlaßt, daß jeglichem Versuch, das Fremdsprachenlernen durch Lehren als aprioristische Konstruktion von Unterrichtsabläufen bzw. als lehrerinduzierte Unterrichtsplanung FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 211 vorzustrukturieren und zu steuern, mit äußerster Skepsis zu begegnen sei. Diese Position untermauert sie mit dem Argument, daß der Fremdsprachenunterricht n u r unter begründeten Anknüpfungen an die Erwerbsstrategien der Lernenden optimiert werden könne, z.B. durch einen lernerfragegeleiteten Grammatikunterricht (Raabe 1989) oder durch entsprechend differenzierte Fehlerkorrekturen (Kleppin/ K.önigs 1991). Ausschließlich lehrerinduzierte Eingriffe sieht die Sprachlehrforschung als wenig sinnvoll, u.U. sogar als gegenläufig zu und damit kontraproduktiv für die Lerneraktivitäten an. Welche konkreten Herangehensweisen an die Fehlleistungen (1) und (3) stellt uns nun die Sprachlehrforschung zur Verfügung? Inwieweit können sie als Erklärungen für das Auftreten dieser Fehlertypen und als Vorschläge für·ihre Korrektur die bereits vorgestellten Befunde der Angewandten Linguistik genauer: der Fehleranalyse qua konfrontativen Sprachvergleich widerlegen, präzisieren oder ergänzen? Ein Verdienst der Sprachlehrforschung ist es m.E., sämtliche für den unterrichtsgesteuerten Zweitsprachenerwerb relevanten Faktoren benannt und zumindest deduktiv in ihren Wechselbeziehungen diskutiert zu haben. Mit Blick auf (1) und (3) lassen sich aufgrund des umfassenden Zugriffs, den die Sprachlehrforschung auf den Fremdsprachenunterricht beansprucht, z.B. die folgenden konkreten, datenbezogenen Fragen stellen: Kann es sein, daß der Fehlertyp (1) nur bei solchen Lernenden häufig anzutreffen ist, bei denen sprachliche Vorerfahrung mit einer weiteren Fremdsprache nicht bzw. nicht ausreichend vorhanden sind, z.B. mit dem Englischen, das ja ebenfalls mit der some- und any-Reihe dtfferenziert (zumindest stärker als das Deutsche, wenn auch weniger als das Russische)? Kann es sein, was direkt daraus folgt, daß andere Lernende des Russischen eine Ähnlichkeit zum Englischen wahrnehmen und diese Fehler deshalb weniger machen? Kann es sein, daß es bei (3) durch eine Überpräsentation des deutschen Präteritums bzw. durch eine falsche Analogiebeziehung, die Lehrende und/ oder Lehrmaterialien zwischen diesem und dem polnischen Verbalaspekt vermitteln, also durch ei.ne Unzulänglichkeit des Lehrverfahrens bzw. der Lehrmittel, dazu gekommen ist, daß eine Gebrauchsregularität der Zielsprache übergeneralisiert wird? Kann es mit Blick auf (3) sein, daß die Lernenden eigene Hypothesen über die Zielsprache testen, hier die Frage, ob eine Verkürzung der deutschen Tempusform ohne Beeinträchtigung ihrer Funktion möglich ist? Diese Simplifizierung einer mutmaßlichen Regel könnte z.B. bestärkt durch die sprachlich-kommunikative Vorerfahrung nahegelegt werden, daß im Deutschen kommunikativ analoge Äußerungen des Typs (4) normgerecht sind: (4) Wo ist denn der Hausmeister? - (Ich weiß nicht) Er war im Heizungskeller. (*Er ist im Heizungskeller gewesen). FLuL 22 (1993) 212 Klaus Hartenstein In einer kürzlich erschienenen vergleichenden Studie über den polnischen Verbalaspekt und seine deutschen Äquivalente (Cockiewicz 1992) wird der o.g. Gesichtspunkt der Unzulänglichkeit des Lehrverfahrens ebenfalls erörtert. Der Verfasser bemerkt, daß die aus kontrastiver Sicht geäußerte Auffassung, es handele sich bei Tempusfehlern im Deutschen um Interferenzfehler (Czochralski 1972: 24 ff), zumindest relativiert werden müsse, wenn man sich die Lehrpraxis vor allem von polnischen Ober- und Hochschullehrbüchern des Deutschen, z.B. Dewitzowa (1965), Dewitzowa/ Placzkowska (1974), vor Augen führe. Obwohl vom interlingualen Befund aus betrachtet falsch, da deutschen regulär gebildeten Perfektformen (z.B.1ch habe es nicht gewußt) im Polnischen mitunter keine perfektive Aspektform gegenübersteht, vgl. Nie wiedzialem o tym (= imperfektives Verb wiedzief: ), behaupten diese Lehrmittel eine grammatische Äquivalenz zwischen dem deutschen Perfekt und dem polnischen vollendeten Aspekt. Es liegt daher nahe zu vermuten, daß bestimmte Fehlleistungen auch bzw. u.U. sogar primär dadurch bedingt sein können, daß ihnen eine übermäßige und zu stark vereinfachende Präsentation der grammatischfunktionalen Sachverhalte in den beiden Bezugssprachen zugrunde liegt, sie also unerwünschte (Neben-)Resultate des Lehrverfahrens bzw. -mittels sind (Cockiewicz 1992: 135 f). 3. Schlußfolgerung und Ausblick Es ist an dieser Stelle von zweitrangiger Bedeutung, wie diese Fragen in bezug auf die individuellen Lernenden, die die abweichenden Äußerungen (1) und (3) hervorbringen, im einzelnen zu beantworten sind. Wichtig ist, daß sie die grundsätzlichen Zugriffsmöglichkeiten der Sprachlehrforschung auf den unterrichtsgesteuerten Fremdsprachenerwerb herauskehren: Sie gehen weit über die Möglichkeiten der Angewandten Linguistik hinaus und können den Blick schärfen für sehr komplexe Zusammenhänge des Fremdsprachenlehrens und -lemens, die die Angewandte Linguistik n i c h t erfaßt. So gesehen bildet die Angewandte Linguistik lediglich einen kleinen Baustein in dem ganzheitlichen Zugriff, den die Sprachlehrforschung auf den Fremdsprachenunterricht beansprucht. Allerdings darf nian bei dieser Art von Wechselbeziehung, die zwischen beiden Disziplinen besteht, zwei Dinge nicht vergessen. Sie sind, wie ich meine, in der z.T. sehr geharnischt geführten Debatte der letzten Jahre um das Verhältnis von Linguistik (und Grammatik) und Sprachlehrforschung mitunter aus den Augen verloren worden: (1) Die Sprachleh,forschung kommt ohne die (Angewandte) Linguistik nicht aus, wie auch umgekehrt, wenn es um Belange des Fremdsprachenunterrichts geht. Ich bin mir dessen bewußt, daß diese Auffassung im Gegensatz zur Position bestimmter Vertreter der Sprachlehrforschung steht, die zu meinen scheinen, ein Verzicht auf die Linguistik sei möglich, ja sogar wünschenswert. 2 In dieser Extremposition offenbart sich m.E. eine gewisse Parallele zur Magie des Zauberworts "kommunikative Kompetenz" in der Fremdsprachendidaktik der siebziger und frühen achtziger Jahre. Sie hat dazu geführt, daß der Beitrag der Systemlinguistik(= Grammatik im engeren Sinn) für den Fremdsprachenunterricht lange unterbewertet, der der 2 Vgl. zu einem Überblick der verschiedenen Standpunkte Kleineidam (1986: 3 f). FLuL 22 (1993) Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung 213 Pragmalinguistik hingegen weit überschätzt wurde. Immerhin ist die Sprache das Objekt par excellence des Fremdsprachenunterrichts, und wer sollte ihren Aufbau und ihre Funktion denn beschreiben, wenn nicht die Linguistik. Kurzum, ich halte das wissenschaftliche Bemühen um den Fremdsprachenunterricht ohne eine von der Linguistik (vorab) geleistete Beschreibung der gelehrten Sprache für unvorstellbar. (2) Die Sprachlehrforschung kann der Angewandten Linguistik zu Recht Reduktionismus auf den Faktor „Sprache", wie letztere ihn verstehen will, vorhalten, nur sollte sie dabei bedenken, ob in dieser Festlegung nicht auch eine weise Selbstbeschränkung auf das momentan Mach- oder Erreichbare liegt, zumal ja die gesellschaftlichen Erwartungen hinsichtlich einer effektiven und zügigen Verbesserung des Fremdsprachenunterrichts weiterhin bestehen bleiben. Ich glaube, daß gerade in der Besinnung oder Rückbesinnung auf dieses Motiv, das dafür verantwortlich ist, daß die Zuständigkeitsbereiche von Angewandter Linguistik und Sprachlehrforschung sich in ihrem Umfang derart unterscheiden, die Chance liegt, eine konstruktive, weil aufgeklärt komplementäre Wechselbeziehung zwischen. beiden Disziplinen zu stiften. Angesichts des gigantischen Komplexes von Grundlagenforschung und Empirie, den die Sprachlehrforschung kraft ihres programmatischen Anspruchs bearbeiten muß, .sollte sie für das von ihr angestrebte Theoriegebäude auf die Angewandte Linguistik o h n e B e r ü h r u n g s ä n g s t e zurückgreifen. Diese ist zwar nur ein Mosaikstein(chen), der/ das u.U. auch nur deskriptive Adäquatheit für einige Zusammenhänge des Fremdsprachenunterrichts beanspruchen kann, aber sie ist immerhin e i n Element, das bereits vorliegt und auf das man aufbauen kann. Bibliographische Angaben BAUSCH, K.-R. 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