Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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1994
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Gnutzmann Küster SchrammBirgit APFELBAUM: Erzählen im Tandem. Sprachlernaktivitäten und die Konstruktion eines Diskursmusters in der Fremdsprache (Zielsprachen Französisch und Deutsch)
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1994
Gert Henrici
Birgit APFELBAUM: Erzählen im Tandem. Sprachlernaktivitäten und die Konstruktion eines Diskursmusters in der Fremdsprache (Zielsprachen Französisch und Deutsch). Tübingen: Narr 1993 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 387), X + 239 Seiten [DM 78,-]
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Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Birgit APFELBAUM: Erzählen im Tandem. Sprachlernaktivitäten und die Konstruktion eines Diskursmusters in der Fremdsprache (Zielsprachen Französisch und Deutsch). Tübingen: Narr 1993 (Tübinger B~iträge zur Linguistik; 387), X+ 239 Seiten [DM 78,-]. Mit der hier zu besprechenden Untersuchung von Birgit Apfelbaum wird ein äußerst verdienstvoller Beitrag zu zwei jeweils sehr umfangreichen, in sich komplexen und viel bearbeiteten .'3ereichen der Linguistik geleistet, die Verfasserin in einer bisher kaum realisierten Weise miteinander in Verbindung bringt: Der Erzähl- und Fremdsprachenerwerbsforschung. Die Verfasserin stellt hohe Ansprüche an ihre Untersuchung. Ihr zentrales Erkenntnisinteresse kommt in der globalen zweifachen Zielsetzung zum Ausdruck, die am prägnantesten noch einmal in 'III. Ausblick' formuliert ist: "(1) Über die Untersuchung von Erzählaktivitäten zwischen MS [= Muttersprachlern] und NMS [= Nichtmuttersprachlern] sollten generelle Eigenschaften von mündlichen Erzählprozessen zwischen Erzähler und Zuhörer erforscht werden; am Erzählen in der FS [ = Fremdsprache] sollten exemplarisch Phänomene der interaktiven Konstruktion größerer Diskurseinheiten erfaßt werden. (2) Mit' der Analyse von typischen Kommunikationssituationen im Tandem sollte ein Beitrag zu einer interaktionsorientierten Fremdsprachendidaktik vorgelegt werden, die die Lehr- und Lernaktivitäten im Tandem mit konversationsanalytischen Methoden beschreibt und sie darüber hinaus als potentiell lernfördernde Sequenzen reinterpretiert, in denen die Tandempartnerlnnen ihre jeweilige Kompetenz in der FS erweitern" (225). Die Untersuchung umfaßt neben 'Vorwort' und 'Einleitung' zwei Großkapitel: 'I. Theoretische und methodologische Vorbemerkungen', 'II. Analyse' und ein weiteres: 'III. Ausblick' (= Zusammenfassung). Diese Großgliederung ist sehr differenziert untergliedert und besticht durch logischen Aufbau und eine entsprechende Systematik. Es folgen die üblichen Anhänge (Abbildungsverzeichnis, Literaturverzeichnis). Schon in der Einleitung wird dezidiert auf das Zentrum der Arbeit, die konversationsanalytische Untersuchung der TANDEM Lehr- und Lernaktivitäten hingeleitet, nachdem vorher auf die Bedeutung von Sprachlernen im zukünftigen Europa hingewiesen worden ist. Es wird die Notwendigkeit empirischer Grundlagenforschung von exolingualer Kommunikation begründet, ohne deren Ergebnisse fremdsprachendidaktische Konzepte für eine „interaktionsorientierte Fremdsprachendidaktik" nicht sinnvoll entwickelt werden können. Die zwei zentralen Zielsetzungen werden erläutert. In Kap. I werden sehr umfassend und detailgenau, nach Einzelaspekten gegliedert, Forschungsarbeiten der letzten 20 Jahre dargestellt, die für die folgende Analyse von Bedeutung sind und auch von der Autorin im folgenden benutzt werden. Es sind dies vor allem Arbeiten aus der linguistischen und konversationsanalytischen Erzähltheorie (u.a. Labov/ Waletzky 1967, Kallmeyer/ Schütze 1976, Polany 1985, Gülich/ Quasthoff 1986, Hausendorf/ Quasthoff 1989) und Untersuchungsansätze aus dem Bielefelder Projekt 'Kontaktsituationen' (u.a. Dausendschön-Gay 1988, Gülich/ Krafft 1989, Dausendschön-Gay/ Krafft 1991, Gülich 1991) sowie aus Untersuchungen zur exolingualen Kommunikation französisch-schweizer Provenienz, die neben der Deskription von interaktiven Abwicklungsprozessen auch Fragen des Fremd-/ Zweitsprachenerwerbs thematisieren (u.a. Noyau/ Vasseur 1986, Py 1989, Lüdi 1991). Daneben werden einzelne Arbeiten aus der Forschung des gesteuerten und ungesteuerten Zweitsprachenerwerbs genannt, die für die FLuL 23 (1994) 256 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Untersuchung des Gegenstands von Relevanz sind (u.a. Scherfer 1982, Dausendschön-Gay et al. 1986, Henrici/ Herlemann 1986, Rath 1987, Kutsch 1988, Henrici 1989, 1990, Rost-Roth 1991). Dieser interdisziplinäre, auf den Untersuchungsgegenstand TANDEM Lehr-/ Lernaktivitäten fokussierte Forschungsbericht läßt hinsichtlich des Untersuchungsaspekts 'Erwerb/ Lernen' leider fast ganz die anglo-amerikanische Forschungsliteratur außer acht (z.B. van Lier 1988, Ellis 1990, Larsen-Freeman/ Long 1991), in der der Stellenwert von Interaktionen für den Spracherwerb auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert und analysiert wird. Der Umgang mit dem aus der Forschungsliteratur gewonnenen Untersuchungsinstrumentarium wird vor den in Kap. II erfolgenden umfassenden Detailanalysen, die aus einem Korpus von 25 mit Tonband aufgenommenen Sitzungen ausgewählt wurden, an zwei ausführlichen Beispielanalysen vorgeführt (1. Zur Erzählstruktur, 2. Zu Lehr- und Lernaktivitäten innerhalb von Erzählungen). An diesen Beispielen werden noch einmal die zentralen Zielsetzungen und Instrumentarien der Untersuchung illustriert. Es sind dies u.a. die aus der Konversationsanalyse bekannten Parameter wie Sequenzierungen, Sprecherwechsel, konditionelle Relevanz, Verfahren wie Zeile-für-Zeile-Analyse, Formulierung von Lesarten, Analyse von Interaktionsabwicklungen nach Gesichtspunkten wie Problemmanifestation, -bearbeitung, -ratifizierung. Bei der Erzähltextanalyse steht das Modell von Hausendorf/ Quasthoff (1989, 1991) im Vordergrund, das die Autorin mit kleinen Modifikationen für ihre Analysen und deren Gliederung übernimmt (u.a. die Übernahme des Sequenz-Modells und die Einteilung in 'szenische Erzählungen', 'Minimalerzählungen' und 'Mitteilungen' ('Generics')). Die Modelldarstellungen auf den Seiten 43 und 98 f illustrieren dies sehr übersichtlich. Es zeigt sich bei den Analysen, daß die Anwendung des Instrumentariums auf fremdsprachige Interaktionen möglich ist und zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Hinsichtlich der Untersuchung von Problemen der 'Verständnissicherung' und 'Textkonstitution' greift die Verfasserin auf einschlägige textlinguistische und konversationsanalytische Arbeiten zurück (z.B. Schegloff 1977, Gülich 1985, Gülich/ Kotschi 1987 [et al.]) und demonstriert anhand von Beispielanalysen den Umgang mit dem Instrumentarium an den Gegenständen 'Reformulierungen und Reparaturen', 'Vervollständigung unvollständiger Äußerungen', 'Erklärungssequenzen'. Auch hier zeigt die Verfasserin ihre guten Literaturkenntnisse. Die Anwendung des Untersuchungsinstrumentariums auf die Daten ist nahezu perfekt. Die Analysen und Interpretationen sind äußerst perspektivenreich. Insgesamt wäre eine ausführlichere kritische Reflexion über die Methodologie der benutzten Untersuchungsmethode wünschenswert gewesen. Was den Untersuchungsaspekt 'Verständnissicherung und Zweitsprachenerwerb' anbetrifft, stützt sich die Verfasserin fast ausschließlich auf die Untersuchungen von Dausendschön-Gay/ Krafft (1990 und 1991), die im Rahmen des Projekts 'Kontaktsituationen' den Erwerbsaspekt angegangen sind, ergänzt durch Untersuchungen von französisch-schweizer Forschungsgruppen (s.o.). Dabei werden auch schon von der frühen Konversationsanalyse entwickelte und teilweise reformulierte Begriffe wie Bifocalisation (Bange 1987, vgl. Fokussprung bei Kallmeyer/ Schütze 1976, Selting 1987), Selbstreparaturen/ Fremdreparaturen, selbstinitiiert/ fremdinitiiert bzw. Selbsthilfe/ Fremdhilfe im Rahmen von 'produktions-' und 'verstehensunterstützenden Verfahren' verwendet. Der teilweise Rückgriff auf bereits unter anderen Aspekten. analysierte Beispiele erhöht das Vertrautsein des Lesers mit Teilen des Korpus. Zentral ist das Argument, daß die sogenannten 'Nebensequenzen' für den Spracherwerb eine zentrale Rolle spielen und in ihnen besonders Wortsuchprozesse, metadiskursive Äußerungen, explizit sprachreflexive Sequenzen, wobei Wortschatz-/ Bedeutungsprobleme bei der Problembearbeitung vor anderen sprachlichen Problemen (z.B. morphologisch-syntaktischer Art) Vorrang genießen. Auch hier wird die relevante französisch-deutschsprachige Literatur verwendet (u.a. Mittner 1987, Kutsch 1988, Vasseur 1990, Kotthoff 1991). Trotz dieser gründlichen Vorbereitung auf die Analyse von Spracherwerbsaspekten fehlt mir eine theorieorientierte Auseinandersetzung mit Begriffen des Zweit-/ Fremdsprachenerwerbs: FLuL 23 (1994) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 257 Wann kann von Spracherwerb geredet werden? Wie lassen sich kurzfristiger, mittel- und langfristiger Spracherwerb definieren? Ist Verstehen schon Spracherwerb, ein Teil des Spracherwerbs? Gehört dazu die Produktionskompetenz? Reicht es aus, von 'potentiell lern-/ erwerbsfördernd' zu reden? Wie läßt sich dies empirisch und methodologisch abgesichert nachweisen? In diesem Zusammenhang ist die Frage wichtig, welchen Beitrag konversationsanalytische Ansätze leisten können, wieweit sie bei der Klärung und der Beantwortung der Frage reichen, ob ein bestimmter Typ von Spracherwerb, in welcher Art, in welchem Umfang stattgefunden hat. Wie schwierig diese Fragen zu beantworten sind, zeigen die Analysen der Autorin. Die spracherwerblichen Interpretationen sie finden nur vereinzelt statt sind entsprechend vorsichtig formuliert. Der Fokus ihrer Analysen liegt auf der Beschreibung der Abwicklungsprozeduren: "Auch hier kommt es mir darauf an, die Besonderheiten herauszuarbeiten, die bei der interaktiv-sequentiellen Abwicklung der Verfahren in den verschiedenen Phasen [, .. ] zu beobachten sind" (161). Welche zusätzlichen Instrumentarien sind möglicherweise notwendig? Die von der Verfasserin durchgeführten Interviews ergeben zwar interessante Ergebnisse, die einzelne Analysehypothesen bestätigen bzw. komplettieren. Zu Recht wird aber darauf hingewiesen, daß diese Form des Interviews nicht mit den auf Ermittlung von Kognitionen ausgerichteten Intro- und Retrospektionen zu vergleichen sind oder mit denen, die zusätzliche Interpretationshilfen mit gezielten Bezügen auf die Daten erbringen. Aufgrund meines eigenen Forschungsinteresses hätte ich mir generell nicht nur was die Potenz konversationsanalytischer Analysen für die Lösung von Zweitsprachenerwerbsproblemen anbetrifft weitergehende methodologische Überlegungen zur Untersuchung des Verhältnisses von Interaktion und Kognition gewünscht. Was in der Untersuchung von Apfelbaum brillant realisiert wird - und dies betrifft in besonderer Weise das Kap. II ist die konkrete, auch sprachlich sehr gelungene Feinanalyse auf breiter empirischer Basis mit den in Kap. I eingeführten und an Beispielen demonstrierten Analysekategorien. Die Abwicklungsprozeduren werden präzise beschreibend rekonstruiert und weitgehend aus der Sicht der Beteiligten interpretiert, auf der Basis von Transkriptionen mit hervorragender Qualität. Mit den Daten dieser Untersuchung steht der Fremdsprachenerwerbsforschung eine weitere Datenmenge von fremdsprachlichen Interaktionen zur Verfügung. Der Erhebungskontext und die Verarbeitung der Daten sind äußerst sorgfältig beschrieben. Besser läßt sich z.Zt. wohl kaum die Anwendung der konversationsanalytischen Untersuchungsmethode auf fremdsprachliches Material dokumentieren. Die Autorin weist am Gegenstand TANDEM Lehren und Lernen nach, zu welch differenzierten Ergebnissen über die Erzählabwicklungen und -strukturierungen - und darin eingebettetüber Bedeutungskonstitutionen und Verständnissicherungsverfahren die konversationsanalytische Untersuchungsmethode führen kann: u.a. Ermittlung von Problemen bei der Realisierung der Erzählstruktur auf der sprachlichen und semisprachlichen Ebene, Identifizierung von potentiell lernfördernden Lehr- und Lernaktivitäten, Verfahren der Selbst- und Fremdhilfe in der interaktionellen Abwicklung und die dabei bevorzugten Objekte aus MS- und NMS- Perspektive. Ob die Konversationsanalyse über die Feststellung von möglicherweise eher lern-/ erwerbsgünstigen oder eher lern-/ erwerbsbehindernden Konstellationen hinausführen kann, müssen weitere Untersuchungen mit neuen forschungsmethodologischen Kombinationen erweisen. Nicht alles ist in einer Untersuchung zu leisten; insofern sind meine kritischen vielleicht auch weiterführenden - Bemerkungen zu relativieren. Festzuhalten bleibt zum einen, daß die von der Autorin verwendete konversationsanalytische Untersuchungsmethode sich an einem weiteren Untersuchungsgegenstand bewährt hat. Zum anderen darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß es noch viele offene Fragen vor allem methodologischer Art zu beantworten gibt. Diese Antworten werden hoffentlich weitere Arbeiten erbringen. Bielefeul Gert Henrici FLuL 23 (1994)
