Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1994
231
Gnutzmann Küster SchrammWolfram WILSS: Übersetzungsfertigkeit. Annäherungen an einen komplexen übersetzungspraktischen Begriff
121
1994
Bernd Stefanink
Wolfram WILSS: Übersetzungsfertigkeit. Annäherungen an einen komplexen übersetzungspraktischen Begriff. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 376), IV + 247 Seiten [kart. DM 39,80; geb. DM 64,-]
flul2310268
268 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Ausgewählte Neuerscheinungen zur Übersetzungswissenschaft und Übersetzungsdidaktik eine Sammelrezension (Teil 1) (Bernd Stefanink, Bielefeld) Charakteristisch für viele Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Übersetzungswissenschaft ist, daß sie didaktische Fragestellungen nicht mehr ignorieren, sondern ihnen verstärkte Aufmerksamkeit schenken. Für die einen gilt es auf der Makroebene -, das übersetzerische Bewußtsein des Lerners zu wecken (stellvertretend dafür etwa die im folgenden besprochenen „Transfer"- Bände, die im Rahmen des Studiengangs Literaturübersetzen an der Universität Düsseldorf entstanden sind, sowie der hermeneutische Ansatz von Radegundis Stolze); andere (wie z.B. Wolfram Wilss sowie einige Beiträge in dem von Wotjak/ Rovere herausgegebenen Sammelband zum Sprachvergleich) versuchen, das Problem von der Mikroebene her zu lösen, indem sie die Frage nach der Erlernbarkeit von syntagmatischen Entsprechungsmodellen stellen. Wolfram WILSS : Übersetzungsfertigkeit. Annäherungen an einen komplexen übersetzungspraktischen Begriff. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 376), IV + 247 Seiten [kart. DM 39,80; geb. DM 64,-]. W. Wilss geht von der Feststellung aus, daß der „erfahrene Ü[bersetze]r" (88) über „Anwendungsmechanismen" verfügt, die ihm „in Fleisch und Blut übergegangen sind" (88): Die Übersetzungsfertigkeiten. Es handelt sich um ein routinemäßiges Verhalten in bestimmten übersetzerischen Handlungssituationen rekurrenter Art. Wenn von „Verhaltensmustern" oder „Übersetzungsbehavioremen" (88) die Rede ist, so soll damit unterstrichen werden, daß es sich nicht um blind zu befolgende Standardrezepte im Sinne von übersetzerischen Eins-zu-eins-Entsprechungen handelt, wie manchmal von Außenstehenden vermutet wird, die unter 'Fertigkeiten' "das routinemäßige Lehren und Lernen von Grammatikregeln und Vokabelbedeutungen" (VI) verstehen wollen. Vielmehr gilt es, ein „Verhaltensrepertoire" (94) aufzubauen, auf das der Übersetzer in Standardsituationen zurückgreifen kann. Das wissenschaftliche Fundament für diese Zielsetzung liefern die Erkenntnisse der Gestaltphilosophie und der Gedächtnisforschung, aus denen hervorgeht, "daß der, Mensch neben Elementwahrnehmung auch zur Gestaltwahrnehmung fähig ist" ( 167) und ihm zur Bewältigung von Handlungssituationen nicht nur Fakten zur Verfügung stehen, sondern auch „Handlungsmuster" (95), die er aus seiner Erfahrung kennt. Während die „Primärassoziationen", die uns z.B. Krings (in: Was in den Köpfen von Übersetzern vorgeht. [...]. Tübingen 1986) vorstellt, vornehmlich im Bereich der Lexik anzusiedeln sind, stehen bei Wilss die syntaktischen Strukturen im Vordergrund, und zwar nicht nur in Form von Eins-zu-eins-Entsprechungen, wie bei der Wiedergabe des deutschen erweiterten Partizipialattributs durch einen Relativsatz im Englischen, sondern auch als Eins-zu-viele-Entsprechungen, wenn es z.B. darum geht, für die englische prämodifizierte Partizipialkonstruktion mit nachgestelltem Bezugssatz ein „Übersetzungsparadigma" (91) mit mindestens drei deutschen Entsprechungen im Kopf des Übersetzers aufzubauen: "Arriving at the airport, [...]" kann mit „Am Flugplatz angekommen,...", "Als er am Flugplatz ankam,..." oder "Nach (Bei) seiner Ankunft am Flugplatz,..." wiedergegeben werden (91). Die Übersetzungsdidaktiker in diesem Bereich fordert Wilss nachdrücklich zu einer praxisnahen Ausbildung auf. Als Beispiel für einen Bereich, in dem „Fertigkeiten" im Sinne des Verfassers erworben und eingeübt werden können, werden die Phraseologismen angeführt. Phraseologismen lassen sich „auf eine endliche Menge von immer wiederkehrenden, aber vielfältig variierbaren und kombinierbaren Grundtypen mit konstanten Elementen und Relationen reduzieren" (184). Bei der Benutzung von Phraseologismen wird „die sprachliche Informationsverarbeitung FLuL 23 (1994) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 269 im Rahmen des Machbaren an sprachliche 'Moduln' abgegeben" (193). Aufgabe der übersetzungsbezogenen (fach)sprachlichen Modulnforschung ist es, dem zukünftigen Übersetzer das notwendige Wissen über die textuelle Reichweite solcher Handlungsmuster zu vermitteln und dafür zu sorgen, "daß der Student lernt, diese Muster in ein abstraktes, einzelübergreifendes Können umzusetzen" (183). Es gilt, Regeln für die Wiedergabe der Phraseologismen aufzustellen, "die die konkrete Mannigfaltigkeit der einzelnen Übersetzungsmöglichkeiten einzufangen und abstraktiv zu kanalisieren" (183) hätten! Einen derartigen Erwerb von Fertigkeiten darf man sich jedoch nicht als einen simplizistischen Stimulus/ Response-Lernprozeß im behavioristischen Sinne vorstellen (24). Vielmehr muß der Übersetzer lernen, Problemlösungsverfahren, die er einmal kreativ entwickelt hat, in Handlungssituationen, die ähnliche Merkmale aufweisen, wieder anzuwenden, wobei er „die Umfeldbedingungen, die für seine Tätigkeit maßgebend sind, also die Faktoren der einzelnen übersetzungspraktischen Situationen, in das eigene Handeln einbeziehen" soll (201 t). Er muß „sich selbst beobachten und sich fragen, welche sprachlichen, außersprachlichen, soziokulturellen und pragmatischen Faktoren auf seine Übersetzungstätigkeit einwirken" (201). Die Methode des 'Lauten Denkens' wäre ein derartiges Mittel zur Selbstbeobachtung, wird aber von Wilss wegen des Zeitaufwandes verworfen (210). Er empfiehlt vielmehr „Autonomes Lernen" (219), ohne allerdings konkrete Vorschläge zur Strukturierung eines so gearteten Lernens zu machen. Ich kann hier nur auf meine positiven Erfahrungen mit ethnomethodologischen Dialoganalysen "Ethnotranslatologie") verweisen, die auf ökonomischere Weise Selbstbeobachtung ermöglichen. 3 Fazit: Nach den intensiven Diskussionen der Übersetzungstheoretiker auf makrotextueller Ebene wirkt die Konfrontation mit der Praxis auf der mikrotextuellen Ebene erfrischend. Wilss nimmt sämtliche Aspekte der Übersetzungsfertigkeiten unter die Lupe. Seine zahlreichen Beispiele erleichtern das Verständnis. Allerdings nur exemplarisch! Der Hinweis auf ein unausgewertetes „umfangreiches Beispielkorpus", von dem sich der Vf. "Auskunft über die Reichweite solcher Übersetzungsschemata" (182) verspricht, stimmt hoffnungsvoll. 4 Radegundis STOLZE: Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 368), 388 Seiten [DM 86,-]. Eine völlig entgegengesetzte Position nimmt R. Stolze ein, die auf der makrostrukturellen Ebene argumentiert: "Neu an unserer Konzeption der translatorischen Kategorien ist die übergreifende Dimension. Bisher wurden immer nach einer Textanalyse übersetzungskritisch einzelne Texteinheiten miteinander verglichen, nun wird das übersetzerische Handeln oberhalb des Textes als Umgang mit dem Text untersucht" (267). Sie wirft Wilss vor, "unter dem Einfluß der Maschinellen Übersetzung" (73) noch zu sehr in einer Auffassung des übersetzerischen Handelns als „Kodeumschaltung" (ibid.) verhaftet zu sein. Dementsprechend wendet sie sich „vehement gegen Modelle der Textanalyse, die nach einer möglichen Wiederverwendbarkeit von Textstrukturen in der Übersetzung fragen" (75) und plädiert für „die Befreiung vom Zwang unlebendiger Fixie- 3 Vgl. Rezensent: "Vom Nutzen und der Notwendigkeit der Theorie für den universitären Übersetzungsunterricht". In: The Role of Translation in Foreign Language Teaching. Paris 1991, 60-83 sowie «Traduire: de Ja theorie a la pratique». In: Le Fran9ais dans le monde. Janvier 1993, 60-65. 4 Eine erweiterte Fassung dieser Besprechung ist in der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache 2/ 3, 1994 erschienen. FLuL 23 (1994)
