Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1994
231
Gnutzmann Küster SchrammRadegundis STOLZE: Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen
121
1994
Bernd Stefanink
Radegundis STOLZE: Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 368) 388 Seiten [DM 86,-]
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Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 269 im Rahmen des Machbaren an sprachliche 'Moduln' abgegeben" (193). Aufgabe der übersetzungsbezogenen (fach)sprachlichen Modulnforschung ist es, dem zukünftigen Übersetzer das notwendige Wissen über die textuelle Reichweite solcher Handlungsmuster zu vermitteln und dafür zu sorgen, "daß der Student lernt, diese Muster in ein abstraktes, einzelübergreifendes Können umzusetzen" (183). Es gilt, Regeln für die Wiedergabe der Phraseologismen aufzustellen, "die die konkrete Mannigfaltigkeit der einzelnen Übersetzungsmöglichkeiten einzufangen und abstraktiv zu kanalisieren" (183) hätten! Einen derartigen Erwerb von Fertigkeiten darf man sich jedoch nicht als einen simplizistischen Stimulus/ Response-Lernprozeß im behavioristischen Sinne vorstellen (24). Vielmehr muß der Übersetzer lernen, Problemlösungsverfahren, die er einmal kreativ entwickelt hat, in Handlungssituationen, die ähnliche Merkmale aufweisen, wieder anzuwenden, wobei er „die Umfeldbedingungen, die für seine Tätigkeit maßgebend sind, also die Faktoren der einzelnen übersetzungspraktischen Situationen, in das eigene Handeln einbeziehen" soll (201 t). Er muß „sich selbst beobachten und sich fragen, welche sprachlichen, außersprachlichen, soziokulturellen und pragmatischen Faktoren auf seine Übersetzungstätigkeit einwirken" (201). Die Methode des 'Lauten Denkens' wäre ein derartiges Mittel zur Selbstbeobachtung, wird aber von Wilss wegen des Zeitaufwandes verworfen (210). Er empfiehlt vielmehr „Autonomes Lernen" (219), ohne allerdings konkrete Vorschläge zur Strukturierung eines so gearteten Lernens zu machen. Ich kann hier nur auf meine positiven Erfahrungen mit ethnomethodologischen Dialoganalysen "Ethnotranslatologie") verweisen, die auf ökonomischere Weise Selbstbeobachtung ermöglichen. 3 Fazit: Nach den intensiven Diskussionen der Übersetzungstheoretiker auf makrotextueller Ebene wirkt die Konfrontation mit der Praxis auf der mikrotextuellen Ebene erfrischend. Wilss nimmt sämtliche Aspekte der Übersetzungsfertigkeiten unter die Lupe. Seine zahlreichen Beispiele erleichtern das Verständnis. Allerdings nur exemplarisch! Der Hinweis auf ein unausgewertetes „umfangreiches Beispielkorpus", von dem sich der Vf. "Auskunft über die Reichweite solcher Übersetzungsschemata" (182) verspricht, stimmt hoffnungsvoll. 4 Radegundis STOLZE: Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen. Tübingen: Narr 1992 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 368), 388 Seiten [DM 86,-]. Eine völlig entgegengesetzte Position nimmt R. Stolze ein, die auf der makrostrukturellen Ebene argumentiert: "Neu an unserer Konzeption der translatorischen Kategorien ist die übergreifende Dimension. Bisher wurden immer nach einer Textanalyse übersetzungskritisch einzelne Texteinheiten miteinander verglichen, nun wird das übersetzerische Handeln oberhalb des Textes als Umgang mit dem Text untersucht" (267). Sie wirft Wilss vor, "unter dem Einfluß der Maschinellen Übersetzung" (73) noch zu sehr in einer Auffassung des übersetzerischen Handelns als „Kodeumschaltung" (ibid.) verhaftet zu sein. Dementsprechend wendet sie sich „vehement gegen Modelle der Textanalyse, die nach einer möglichen Wiederverwendbarkeit von Textstrukturen in der Übersetzung fragen" (75) und plädiert für „die Befreiung vom Zwang unlebendiger Fixie- 3 Vgl. Rezensent: "Vom Nutzen und der Notwendigkeit der Theorie für den universitären Übersetzungsunterricht". In: The Role of Translation in Foreign Language Teaching. Paris 1991, 60-83 sowie «Traduire: de Ja theorie a la pratique». In: Le Fran9ais dans le monde. Janvier 1993, 60-65. 4 Eine erweiterte Fassung dieser Besprechung ist in der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache 2/ 3, 1994 erschienen. FLuL 23 (1994) 270 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel rungen" (ibid.). Auch das Korsett der von K. Reiß für das Übersetzen relevanten Texttypen erscheint Stolze nicht die „Stimmigkeit" der Übersetzung zu gewährleisten, da es die Person des Übersetzers, dessen „Verstehenshaltung [...] an der Bestimmung der Funktion eines Ausgangstextes" unberücksichtigt läßt. Folgerichtig rückt die Person des Übersetzers in den Mittelpunkt von Stolzes Interesse und verdrängt „das Materielle der Texte (als) unmittelbarer Untersuchungsgegenstand der Übersetzungswissenschaft" (50): "Damit sollte eine Darstellung des Übersetzens konsequent aus der Sicht des Übersetzers erfolgen und nicht von Textstrukturen, sondern vom Umgang mit den Texten ausgehen" (22). Dies führt auch zu einer Neubewertung der Intuition, die nun nicht mehr nur komplementär, wenn die "rationalen Problemlösungsstrategien zu keinem brauchbaren Ergebnis" geführt haben (so Stolzes Kritik an Wilss [27]) als Problemlösungsmittel eingesetzt werden darf, sondern die als «esprit de finesse» gleichberechtigt neben dem «esprit de geometrie» als eine der Grundformen menschlicher Erkenntnis angesehen werden muß. Dies unter der Bedingung, daß zunächst intuitiv gefundene Lösungsmöglichkeiten im Anschluß kritisch reflektiert und auf ihre situative Angemessenheit überprüft werden: „Verstehen ist ein zunächst intuitiver Vorgang, bei dem das Bewußtsein des Lesers durch die Textsignale gesteuert wird [....] (es) entzieht sich jedoch keineswegs der kritischen Nachprüfbarkeit oder jeglicher Erklärbarkeit; jedoch geht intuitives Verstehen einer Textexegese wegweisend voraus, ja es regt den Prozeß methodischen Denkens erst an" (53 f). Die hier sichtbar werdende Auffassung deckt sich weitgehend mit der vom Rezensenten vertretenen Position: Intuitives und analytisches Erfassen des Textes schließen einander nicht aus, sondern stehen in einer dialektischen Wechselbeziehung zueinander, und d.h. Übersetzen ist ein „dialektischer" und „evolutiver Prozeß" (72) mit dem Ziel einer graduellen Optimierung des Übersetzungsergebnisses. Wenn der von Paepcke/ Forget (in: Textverstehen und Übersetzen [...]. Heidelberg 1981, S. 30) geprägte Begriff der "intuition foudroyante" in der Fachliteratur nicht aufgegriffen worden ist, so deshalb, weil er den Eindruck eines unkontrollierbaren, strategisch nicht einsetzbaren und didaktisch nicht verwertbaren Verfahrens erweckt. Diesem Manko versucht Stolze dadurch abzuhelfen, daß sie die „linguistisch reflektierte Überarbeitung des Übersetzungsentwurfs anhand translatorischer Kategorien" (85) fordert, auch wenn sie weniger konkret als an Paepcke/ Forgets Vergleich des übersetzerischen Handelns mit einem Fußballspiel aufgezeigt in einem ersten Schritt einen „spielerischen" (69) Umgang mit dem Text empfiehlt, der dann zur „empfängerbezogenen Überarbeitung einer zunächst spielerisch-kreativ gefundenen Übersetzungslösung" führt (76). Wie das zu geschehen hat, erläutert die Vf. an achtzehn Textbeispielen (aus dem Englischen, Französischen, Italienischen, Portugiesischen ins Deutsche oder umgekehrt, oft mit Parallelübersetzungen in mehrere Sprachen), die sämtliche Textsorten vom Werbetext und der Automechanikerrechnung über verschiedene Fachtexte bis hin zu poetischen Texten umfassen. Übertrieben polemisch mutet die Diatribe gegen Reiß und Wilss an. Abgesehen davon, daß Reiß dem Übersetzer viel kreative Freiheit einräumt 5, kann der heuristische Orientierungswert der von ihr entwickelten Texttypen im Bereich der Übersetzungsdidaktik kaum noch geleugnet 5 Vgl. etwa ReißNermeer (Grundlegung einer Translationstheorie. 1984, S. 75): "Ausgangstext und Translat als zwei(! ) Informationsangebote erlauben dem Translator dagegen legitim eine eigenverantwortliche schöpferische Entscheidung" oder: "Wir möchten also noch einmal betonen: ein Text ist kein Text, sondern wird als je der und der Text rezipiert und z.B. durch einen Translator interpretiert, in je eigener Weise tradiert" (a.a.O.: 58). FLuL 23 (1994) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 271 werden. Daneben sollte nicht vergessen werden, daß sich Wilss zum einen wie oben verdeutlicht vornehmlich auf expositorische Texte bezieht und daß seine Ausführungen zum anderen nicht als ein Plädoyer für rigide syntagmatische Eins-zu-Eins-Beziehungen, sondern als eine Empfehlung an den in der Praxis häufig unter Zeitdruck stehenden Übersetzer aufzufassen sind, sich „Verhaltensmuster" ("Behavioreme") anzueignen, die er selbst in konkreten Situationen zur Problemlösung entwickelt hat und die sich in s e i n er Praxis bewährt haben. Dabei ist die Gefahr solcher Übertragungen aus einem Kontext in den anderen wohl jedem Übersetzungstheoretiker - und natürlich auch Wilss bekannt. Die Praxis führt jedoch wie z.B. von Jean Klein (in: TextconText 2/ 1987, S. 63) geschildert notgedrungen zur Aneignung von Fertigkeiten aus ökonomischen Gründen. Kurz: Wir haben es hier mit einem Werk zu tun, das die Praxis nicht ignoriert, sondern aus dieser die theoretischen Einsichten gewinnt, an denen sich übersetzerisches Handeln orientieren kann. Christiane NORD: Einführung in das funktionale Übersetzen. Am Beispiel von Titeln und Überschriften. Tübingen: Francke 1993 (UTB; 1734), VIII+ 312 Seiten [DM 29,80]. Der auf dem Buchdeckel erscheinende Titel "Einführung in das funktionale Übersetzen") ist etwas irreführend. Das Hauptinteresse der Vf. gilt nicht der „Einführung" in einen Wissenschaftsbereich, sondern der Darstellung ihrer Forschungsergebnisse in diesem Bereich. Somit weist ihre Präsentation auch charakteristische Merkmale eines Forschungsberichts auf: "Vorgehensweise" (46), "Zusammenstellung des Korpusmaterials" (47); usw. Angesichts der von ihr selbst dem Titel zugewiesenen 'Darstellungsfunktion' (107), zu deren Erläuterung sie ausgerechnet das Beispiel der 'Einführung' als einer durch konventionelle Merkmale besonders geprägten Textsorte zitiert (108), wirkt dies etwas befremdend, selbst wenn „für die Formulierung eines Buchtitels [...] der Werbeaspekt wichtiger ist als für die Formulierung eines Gedichttitels" (3) und selbst wenn in der Titelei dann auch der Untertitel "Am Beispiel von Titeln und Überschriften") zeigt, daß ihr Hauptinteresse der Übersetzung von Titeln gilt. Hat der Leser erst einmal seine erste Erwartungshaltung revidiert, so liefert ihm Chr. Nords Untersuchung allerdings wertvolle Entscheidungshilfen bei der Übersetzung von Titeln und Überschriften. Die von der Vf. analysierten Korpora ergeben, daß zwischen 'Grundfunktionen' (die jedem Titel anhaften) und 'spezifischen Funktionen', "die bei einzelnen Titeln oder Titelsorten zu den Grundfunktionen hinzutreten können, aber nicht müssen" (86), zu unterscheiden ist. Zu den Grundfunktionen gehören: 1. die 'distinktive Funktion', die dazu dient, "einen Text zu benennen, ihn auffindbar zu machen (z.B. über eine Bibliographie) [...] und von anderen zu unterscheiden" (87). Für den Übersetzer bedeutet dies z.B., daß er darauf achten muß, daß der von ihm gewählte zielsprachliche Titel nicht bereits für ein anderes Werk benutzt wurde; 2. die 'metatextuelle Funktion', mit der darüber informiert wird, "daß es einen bestimmten Text gibt" (91), oft mit Gattungs- oder Textsortenangaben, wie 'Gedichte', 'Studien', 'Versuche über... "' (94). Hier muß der Übersetzer kulturspezifische Unterschiede beachten wie die Tatsache, daß bei Doppeltiteln „die explizite Verbalisierung der Metatextualität fast ausschließlich im zweiten Teil der deutschen und französischen .Belletristik" (94) vorkommt; 3. die 'phatische Funktion', die in Form eines „Informationsangebotes" der „Kontaktstiftung" dient, "Präsignale [...] für die Kommunikation über den Text setzt und dadurch die Rezeption des Textes steuert" (102). Für den Übersetzer heißt dies, "einprägsame" Titel zu finden, indem er die „optimale Länge" (105), rhythmische, syntaktische und lexikalische Eigentümlichkeiten der Zielsprache berücksichtigt, möglicherweise auch mit dem Adressatenbezug (J. Swifts: Travels into Several Remote Nations of the World kann dann zu Gullivers Reisen werden [104)). Spezifische Funktionen sind: 1. die oben erwähnte 'Darstellungsfunktion', in der eine Information über den Ko-Text gegeben wird, die die FLuL 23 (1994)
