eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 25/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251 Gnutzmann Küster Schramm

Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach

121
1996
Erwin Tschirner
flul2510050
Erwin Tschimer Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach* Abstract. The Natural Approach developed by Tracy D. Terrell in the late 1970s has become one of the most widely used communicative methodologies in foreign language departments across North America. This article traces the history of the Natural Approach and discusses its theoretical foundations: its theory of language and its theory of language learning, and how these theories have evolved over the last 20 years. The article then describes seven basic design principles of the Natural Approach as it is used in the 1990s: (1) language is taught through language use; (2) the content of instruction is the cultures of the target language and of the native language(s) of the students; (3) pair work and small group work are preferred forms of classroom interactions; (4) instruction moves from comprehension to product10n; (5) instruction facil1tates language acquisition through input enhancement techniques; (6) the affective domain receives careful consideration; and (7) modern media are fully integrated. 1. Einführung Der Natural Approach 1 wurde Mitte der siebziger Jahre von Tracy Terrell als Reaktion auf die damals in Nordamerika herrschenden Fremdsprachenunterrichtsmethoden entwickelt, insbesondere die audiolinguale Methode und die kognitive Methode. Obwohl diese Methoden recht unterschiedlich waren, stand doch in beiden das Erlernen grammatischer Strukturen im Mittelpunkt des Unterrichts, wobei die audiolinguale Methode sich eher auf die mündliche Produktion konzentrierte und die kognitive Methode auf die schriftliche. Darüber hinaus waren beide Methoden von einer überaus strengen Fehlerkorrektur geprägt. In seinem ersten Artikel zum Natural Approach faßte Terrell (1977) die damalige Forschung zum Zweitsprachenerwerb zusammen und leitete daraus fünf Prinzipien ab, die den vorherrschenden Unterrichtspraktiken teilweise diametral entgegengesetzt standen: * Für wertvolle Hinweise und Kommentare bedanke ich mich recht herzlich bei Brigitte Nikolai (University of lowa), Renate Schulz (University of Arizona), Charles James (University ofWisconsin), Dierk Hoffmann (Colgate University) und bei Linnea Wahlstrom, Michael Hardy und Ilonca Müller (alle University of lowa). Terrell nannte seine Methode den Natural Approach, weil er seine Vorschläge zu einer Neugestaltung des Unterrichts in erster Linie aus der Erforschung des natürlichen, d.h. ungesteuerten, Zweitsprachenerwerbs entwickelte. Der Natural Approach steht natürlich in der Tradition der direkten oder natürlichen Methoden, die seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Konkurrenz zur Grammatik-Übersetzungsmethode entstanden waren, leitet seine Prinzipien aber ausdrücklich aus der Zweitsprachenerwerbsforschung ab und nicht, wie andere direkte Methoden, aus Beobachtungen, die beim muttersprachlichen Erwerb gemacht wurden. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 51 L Das Ziel des Anfängerunterrichts 2 ist kommunikative Kompetenz, nicht grammatische Perfektion; 2. das Erlernen eines möglichst großen Wortschatzes spielt im Anfängerunterricht eine ausschlaggebende Rolle, sowohl im rezeptiven als auch im produktiven Bereich; 3. grammatische Kompetenz entwickelt sich, wenn die Sprache als Kommunikationsmittel benutzt wird; sie läßt sich nicht Regel für Regel erlernen; 4. Lernern muß die Gelegenheit gegeben werden, Sprache erst rezeptiv, d.h. über das Hörverständnis, zu erfahren, bevor sie produktiv mit ihr umgehen können; 5. affektive Faktoren sind beim Spracherwerb wichtiger als kognitive. Terrell schlug aufgrund dieser theoretischen Erkenntnisse vor, den Unterricht fast ausschließlich aus Interaktionsformen bestehen zu lassen, in denen die Fremdsprache als Kommunikationsmittel verwendet wird, sowohl um damit den Spracherwerbsprozeß voranzutreiben als auch um eine affektiv positive Unterrichtsatmosphäre zu schaffen. Wichtig bei diesen Interaktionen ist, daß Inhalte besprochen werden, für die die Lerner sich interessieren. Diese Inhalte kreisen dabei in erster Linie um zwei Fixpunkte: 1. die Welt der Lerner selbst, d.h. ihre eigenen Erlebnisse, Vorlieben, Meinungen, Träume usw., und 2. die fremdsprachige Welt, d.h. Informationen über die fremdsprachigen Länder und Kulturen und Einsichten in das Leben und Denken der dort lebenden Menschen. 3 Nach diesem ersten Artikel lernte Terrell Stephen Krashen kennen, und es begann eine langjährige fruchtbare Zusammenarbeit, die in der von beiden verfaßten Einführung in den Natural Approach (Krashen/ ferrell 1983) gipfelte. 4 Obwohl Terrell Krashens Input-Modell des Zweitsprachenerwerbs zum theoretischen Angelpunkt seines Ansatzes machte, war und blieb er in einigen wichtigen Punkten anderer Meinung als Krashen. Im Gegensatz zu Krashen, der streng zwischen bewußtem 2 Der Natural Approach wurde von Terrell ausdrücklich nur für den Anfängerunterricht konzipiert, d.h. für das erste U.S. Collegejahr mit ca. 120-150 Kontaktstunden. Der Hauptgrund war natürlich, daß Terrell, wie viele andere Fremdsprachenerwerbstheoretiker in den USA, an seiner Universität nur für den Anfängerunterricht zuständig war. 3 Aus diesem Grund wurden das spanische und französische Natural Approach-Lehrwerk Dos Mundas bzw. Deux Mondes genannt. Das deutsche Team entschied sich für Kontakte, um den Austausch zwischen diesen beiden Welten in den Mittelpunkt zu stellen, aber auch weil zu dem Zeitpunkt der Publikation befürchtet wurde, daß der Titel Zwei Welten eher Assoziationen zur damaligen Zweiteilung Deutschlands hervorgerufen hätte. 4 Der Natural Approach wird oft zu Unrecht in erster Linie mit Krashen assoziiert. Wie Krashen (1994) in einer Fernsehdiskussion (McGraw-Hill Tele-Conference 1994) bemerkte, ist Terrell der alleinige Begründer des Natural Approach, und selbst das Buch The Natural Approach (Krashen/ ferrell 1983) wurde zum weitaus größeren Teil von Terrell geschrieben. Krashens Meinung nach hätte Terrell als erster Autor erscheinen sollen, aber Terrell bestand darauf, die Autorennamen alphabetisch zu listen. FLuL 25 (1996) 52 Erwin Tschimer Sprachlernen und unterbewußtem Spracherwerb unterscheidet, geht Terrell eher von einem Kontinuum zwischen bewußten und unterbewußten Sprachlernprozessen aus. Grundlegend für Terrell ist die Aufmerksamkeit, mit der ein Sprachlerner sich dem Input widmet, wobei diese Aufmerksamkeit sowohl bewußt als auch unterbewußt sein kann. 5 Wiederum anders als Krashen schreibt Terrell der Sprachproduktion eine gleich wichtige Rolle wie der Perzeption zu. Für Terrell ist die Sprachperzeption zwar ebenfalls der auslösende Faktor für den Spracherwerb, aber darüber hinaus geht er im Rahmen seiner binding/ access-Hypothese (Terrell 1986) davon aus, daß die produktive Verwendung der Sprache zusätzlich zu ihrer perzeptiven Verwendung erworben werden muß, und zwar wiederum im kommunikativen Gebrauch, so daß im Unterricht auch produktive Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen werden müssen. Schließlich gesteht Terrell dem bewußten Lernen und Anwenden von Grammatikregeln eine größere Rolle zu als Krashen, insbesondere dadurch, daß er, ähnlich wie Sharwood Smith (1993), der Meinung ist, daß (bewußtes) Grammatikwissen den (unterbewußten) Grammatikerwerb erleichtern und gegebenenfalls beschleunigen kann (Terrell 1991). Vor allem aber steht bei Terrell das lexikalische Lernen im Fremdsprachenerwerb im Vordergrund seiner Überlegungen. Diese Betonung der Rolle der Semantik und des Lexikons beim Spracherwerb verrät damit eine eindeutig funktionale Sprachauffassung 6 Terrells. 2. Theoretische Grundlagen Terrells größter Beitrag zur Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts in Nordamerika war, daß er ihn auf Ergebnisse und Theorien der Zweitsprachenerwerbsforschung basieren ließ und dadurch die angewandte Linguistik in den Fremdsprachenabteilungen, die immer noch hauptsächlich von Literaturwissenschaftlern dominiert werden, hoffähig machte (Baltra 1995). Diese theoretischen Grundlagen des Natural Approach sollen deshalb im folgenden relativ ausführlich erörtert werden. 2.1 Sprachtheorie Der Natural Approach sieht die Sprache als ein System, das es Menschen erlaubt, sowohl mündlich als auch schriftlich miteinander zu kommunizieren, wobei der 5 Terrell (1986); zu einer aktuellen Diskussion der Frage von bewußter und unterbewußter Aufmerksamkeit vgl. Tomlin/ Villa (1994). 6 Funktionale Ansätze gehen davon aus, daß sprachliche Phänomene nicht ohne Rückgriff auf ihre Funktion erklärt werden können. Die Art und Weise, wie Sprache als Kommunikationsmittel verwendet wird, beeinflußt die Grammatik einer Sprache ebenso wie die Entwicklung dieser Grammatik im Spracherwerb.- Zu Funktionalismus in der Zweitsprachenerwerbsforschung vgl. Tomlin (1990). FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 53 reflektive wie auch der schöpferische Gebrauch von Sprache (z.B. Literatur) mit eingeschlossen sind. Ziel des Sprachunterrichts ist die kommunikative Kompetenz, die nach Canale (1981) vier Komponenten enthält: grammatische Kompetenz, Diskurskompetenz, soziolinguistische Kompetenz und strategische Kompetenz. Grammatische Kompetenz ermöglicht ein Verstehen und Produzieren grammatisch richtiger Sätze, Diskurskompetenz die Verknüpfung von Sätzen zu gesprochenen oder geschriebenen Texten monologischer wie dialogischer Art. Soziolinguistische Kompetenz ist Voraussetzung für die soziokulturelle Angemessenheit von Äußerungen und Texten, während strategische Kompetenz maßgeblich für den Erfolg sprachlicher Handlungen ist, sei es zur Überwindung von Kommunikationsschwierigkeiten, sei es, um andere Menschen von etwas zu überzeugen oder zu etwas zu überreden. 2.1.1 Grammatische Kompetenz Der Natural Approach geht von funktionalen und kognitiven Grammatikmodellen aus, sieht aber Sprache nicht als ein einheitliches und eindimensionales Gebilde, sondern postuliert, daß den vier Grundfertigkeiten des Sprechens und Schreibens, des Hörens und Lesens unterschiedliche kognitive Strukturen zugrunde liegen, auch wenn diese Fertigkeiten auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Chafe und Danielewicz (1987) z.B. beschreiben eine Reihe grammatischer und lexikalischer Unterschiede zwischen mündlichen und schriftlichen Texten, die ihrer Meinung nach vor allem auf zwei Gründen beruhen: (1) Anwesenheit bzw. Abwesenheit einer Adressatengruppe; und (2) Anforderungen eines in realer Zeit bzw. nicht in realer Zeit stattfindenden Sprachproduktionsprozesses. Letzteres beeinflußt z.B. die durchschnittliche Länge von Äußerungen (ca. sechs Wörter in mündlichen Texten, ca. neun Wörter in schriftlichen) sowie die Tatsache, daß mündliche Äußerungen in erster Linie aus einzelnen, parataktisch aneinandergereihten Hauptsätzen bestehen, während schriftliche Sätze auf vielfältige Weise parataktisch und hypotaktisch miteinander verknüpft sind. Besonders beim Sprechen stellt sich dabei die Frage, inwieweit Sätze und Phrasen immer wieder neu generiert werden oder ob nicht sehr oft auf im Ganzen gespeicherte Phrasen und Satzteile zurückgegriffen wird (vgl. Bolinger 1976). Terrell (1986) ist der Meinung, daß in der Regel keine Wortstämme gespeichert werden, die mit Hilfe grammatischer Regeln mit den richtigen Endungen versehen werden (geh+ st), sondern nur Wörter als Ganzes, wie sie real im Sprechen vorkommen (gehst). Pawley und Syder (1983) gehen davon aus, daß der in wirklicher Zeit stattfindende mündliche Sprachproduktionsprozeß extrem großen Beschränkungen unterworfen ist. Der fließende Sprachgebrauch von Muttersprachlern läßt sich daher nur unter der Annahme erklären, daß spontanes Sprechen grundlegend improvisatorisch ist, d.h., daß Sprecher ihre Äußerungen nicht von Beginn an überblicken oder vorausplanen, sondern daß sie mit Hilfe vorgefertigter Satzteile und Teilsätze, die mehr oder weniger lose aneinandergereiht werden, ihre Mitteilungen FLuL 25 (1996) 54 Erwin Tschirner gestalten. Sprecher generieren also im spontanen Sprechen zum größten Teil ihre Sätze nicht neu, sondern greifen auf Satzteile und Teilsätze zurück, die im Laufe von vielen Jahren zu Hunderttausenden als Ganzes gespeichert wurden und die dann mit leichten Variationen neu zusammengestellt werden. Pawley und Syder (1983) gehen daher davon aus, und diese Auffassung wird im Natural Approach geteilt, daß Sprache, so wie sie im Gehirn von Menschen vorhanden ist, nicht aus Wortlisten und Grammatikregeln bestehen kann, sondern eher einem gigantischen Sprachführer ähneln muß, dessen Sätze und Satzteile mit grammatischen Hinweisen angereichert sind. Neueste Untersuchungen zum Hörverständnis (vgl. die Beiträge in Brown/ Malmkjrer/ Pollitt/ Williams 1994) deuten darauf hin, daß beim hörenden Verstehen ebenfalls semantische Kombinationsregeln im Zusammenspiel mit dem kommunikativen Kontext und dem Weltwissen der Hörer, vor allem auch dem Wissen darüber, wie Ereignisse ablaufen (Interpretationsschemata und Scripts), weit mehr beachtet werden als Regeln syntaktisch-morphologischer Art, vor allem auch weil ein in realer Zeit stattfindendes Hörverständnis sich aufgrund der generellen Unschärfe und Lückenhaftigkeit akustischer Stimuli nicht auf rein grammatische Informationen verlassen kann.7 Auch beim Leseverständnis scheint Grammatikwissen eine eher marginale Rolle zu spielen. Viel wichtiger sind nach Westhoff (1987) neben einem Wissen über Satzverläufe und mögliche und wahrscheinliche Wortkombinationen ein Wissen von logischen Strukturen und von Kenntnissen über die Welt, wobei vor allem letzteres überaus stark kulturgebunden ist. Die schriftliche Produktion, besonders das Schreiben von Aufsätzen, scheint dabei noch am meisten von einem bewußten Grammatikwissen profitieren zu können. Im Natural Approach allerdings, der für den Anfängerunterricht konzipiert ist, hat das Schreiben eher die Hilfsfunktion, Lernprozesse zu fördern und zu vertiefen, und ist daher theoretisch von weniger großem Interesse. 8 Insgesamt steht also im Natural Approach, der sich in erster Linie um die Entwicklung des Hör- und Leseverständnisses und der Sprechfertigkeit bemüht, die semantische Kompetenz im Mittelpunkt, wobei davon ausgegangen wird, daß Perzeption und (mündliche) Produktion mehr über lexikalisch-semantische Kombinationsregeln stattfindet als mit Hilfe von traditionell grammatischen Morphologie- und Syntaxregeln. 7 Man denke nur an Assimilationserscheinungen wie die Angleichung des Nasalkonsonanten an seine Umgebung, z.B. [zi: st du: de: m bal], die hier z.B. die Unterscheidung zwischen Dativ und Akkusativ auf morphologischer Grundlage erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. 8 Darüber hinaus wird das Schreiben in erster Linie als Gebrauchsfertigkeit geübt, z.B. um Telefonbotschaften aufzuschreiben, Formulare auszufüllen, Notizen zu verfassen, und motivationsfördemd als kreatives Schreiben, z.B. um Gedichte zu verfassen, und nicht als eine schulische Fertigkeit, z.B. um Aufsätze zu schreiben. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 55 2.1.2 Kulturelle Kompetenz Sowohl für die Diskurskompetenz, deren Interpretationsschemata und Scripts häufig kulturgebunden sind, wie auch für die soziolinguistische Kompetenz ist ein im weitesten Sinne kulturelles Wissen unabdingbar. Sprache wird also als ein kulturelles Produkt verstanden. Im Informationszeitalter und der geschrumpften Welt der 90er Jahre ist darüber hinaus dem Fremdsprachenunterricht ein Lernziel zugewachsen, das über eine einfache Fremdsprachenkompetenz hinausgeht, nämlich das Lernziel transnationale Kommunikationsfähigkeit (Picht 1989). Nach Picht (1989) stellen Kommunikationshindernisse durch Mentalitätsunterschiede eines der Haupthindernisse vertiefter europäischer Zusammenarbeit dar. Interkulturelles Verstehen und erfolgreiches internationales Handeln basierten seiner Meinung nach auf drei Qualifikationen, deren Erwerb ein Hauptziel eines modernen Fremdsprachenunterrichts sein sollte: 1. ein angemessenes, historisch fundiertes Wissen über die eigene und die fremde Kultur; 2. die Fähigkeit, gesellschaftliche Strukturen und Funktionen zu analysieren, und das Wissen, daß diese Strukturen und Funktionen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt sind; 3. das Erfahren und Analysieren der psychologischen Mechanismen, die bei der Wahmehmung des Fremden wirksam werden. Der Erwerb einer zweitkulturellen Perspektive scheint damit qualitativ etwas anderes zu sein als der Erwerb der ersten Kultur, denn er verlangt Wissen und Erfahrung und Reflektion über dieses Wissen und diese Erfahrung. Darüber hinaus ist die zweitkulturelle Perspektive wohl mehr kognitiv, mehr an der Oberfläche des Bewußtseins, während die erstkulturelle Perspektive mehr affektiv und mehr unbewußt ist, vor allem, wenn der Fremdsprachenunterricht erst nach der Primärsozialisation in die erste Kultur stattfindet. Diesem Lernziel der transnationalen oder interkulturellen Kommunikationsfähigkeit hat sich auch der Natural Approach verschrieben und daher den Erwerb kulturellen Wissens und das Lernen kultureller Analysemethoden als gleichberechtigtes Lernziel neben dem Spracherwerb in den Unterricht Deutsch als Fremdsprache gestellt (vgl. Terrellffschirner/ Nikolai/ Genzmer 1996). Unklar ist jedoch, inwieweit sich die affektive Dimension des Kulturerwerbs in einem Unterricht, der nicht im Land der Zielsprache stattfindet, realisieren läßt, inwieweit also eine zweite Kultur wirklich im Unterricht erworben werden kann. 2.2 Lerntheorie Das hervorstechende Merkmal des Natural Approach ist zweifellos, daß er sowohl in der Methodik als auch in der Didaktik ausdrücklich auf Theorien und Ergebnissen der Zweitsprachenerwerbsforschung aufbaut. Es ist daher natürlich, daß sich FLuL 25 (1996) 56 Erwin Tschirner in dem Maße, in dem sich die theoretischen Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung weiterentwickeln, auch der Natural Approach weiterentwickelt. Krashens Inputmodell des Spracherwerbs lieferte die erste Grundlage des Natural Approach (Krashen 1981). Swains Output-Hypothese (Swain 1985) u.a. veranlaßte Terrell, das Verhältnis von Perzeption und Produktion theoretisch präziser zu fassen und führte zu seiner binding/ access-Hypothese (Terrell 1986). Die theoretischen Arbeiten u.a. von Rutherford und Sharwood Smith (1985) und Van Patten (1990) zu consciousness raising und input processing 9 führten Terrell dazu, seine Gedanken zur Rolle der Grammatik zu präzisieren (Terrell 1991). Die theoretischen Überlegungen von Bolinger (1976), Pawley und Syder (1983) und Keenan und MacWhinney (1987) zu den mentalen Grundlagen gesprochener Sprache schließlich führten zusammen mit den Arbeiten der oben erwähnten Autoren zu vielen unterrichtspraktischen Veränderungen in der zweiten und dritten Auflage von Kontakte (Terrell/ fschirner/ Nikolai/ Genzmer 1992 und 1996). 2.2.1 Die Rolle der Grammatik Der Natural Approach unterscheidet zwischen einem Sprachlernen und einem Grammatiklernen. Sprachlernen kann sowohl bewußt als auch unbewußt ablaufen, ist aber immer ein semantisches Lernen, d.h., es geht um das Verstehen oder Produzieren von Bedeutungen. Grammatiklernen ist ein bewußtes Lernen metasprachlicher grammatischer Regeln. Nach Sharwood Smith (1993) ist linguistische Kompetenz, d.h. die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, unabhängig von metasprachlichem Grammatikwissen, d.h. der Fähigkeit, mit Hilfe sprachwissenschaftlicher Terminologie die Struktur einer Sprache auf unterschiedlichen, abstrakten, sprachwissenschaftlichen Ebenen, z.B. der Phonologie, der Morphologie und der Syntax, analytisch zu beschreiben. Die Fähigkeit, grammatisch richtig zu sprechen, d.h. die psycholinguistische Grammatik im Gehirn eines Menschen, entwickelt sich aufgrund sprachlicher Kontaktsituationen, in denen die Fremdsprache benutzt wird, um Inhalte zu vermitteln. Dabei ist es durchaus denkbar, daß bewußtes Üben von Phrasen und Sätzen ebenso zur Entwicklung der psycholinguistischen Grammatik beiträgt, wahrscheinlich aber nur, wenn sich die Aufmerksamkeit der Lerner dabei auf Inhalt und Form gleichzeitig richtet. Terrell (1986) stellt sich die allmähliche Entwicklung psycholinguistischer Grammatikregeln am Beispiel der Verbkonjugation folgendermaßen vor. Zuerst wird eine Anzahl von Verbformen, z.B. gehe, gehst, trinkst, springe, höre, hörst usw., gespeichert, allerdings nur mit der Bedeutung des Verbs, d.h., sowohl gehe wie auch gehst wird unterschiedslos die Bedeutung 'gehen' zugewiesen, ohne daß 9 Sowohl consciousness raising (Bewußtmachung) als auch input processing (bewußtes Verarbeiten des Inputs) fußen auf der Annahme, daß sich Spracherwerb dadurch beeinflussen läßt, daß die Aufmerksamkeit der Lerner auf grammatische Strukturen, die auf natürliche Art im Input vorkommen, gerichtet wird. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 57 die unterschiedliche Person mitgespeichert wird, was dann auch zur Produktion von fehlerhaften Äußerungen wie ich gehst führen kann. Erst nachdem eine Reihe von Verbformen wie z.B. gehst, trinkst, siehst, kaufst usw. zusammen mit der Bedeutung 'du' gespeichert worden sind und gleichzeitig Verbformen wie gehe, trinke, sehe, kaufe usw. mit der Bedeutung 'ich' verbunden werden, ist es möglich, die Endung -st bzw. -e als bedeutungstragende Einheit, als grammatisches Morphem also, wahrzunehmen und damit zu speichern. Neue Verbformen werden zwar weiterhin als Ganzes gespeichert, aber von nun an können Lerner Verben, die sie mit einer bestimmten persönlichen Endung gespeichert haben, auch mit einer anderen Endung produktiv verwenden. Möglicherweise wird die Regel bei jedem neuen Verb allerdings nur einmal angewendet, da bei der ersten Produktion die Verbform natürlich wieder als Ganzes gespeichert wird. Grammatikwissen kann hier also indirekt dadurch von Nutzen sein, daß Lerner bewußt grammatisch richtige Sätze konstruieren können, die, während sie konstruiert, gleichzeitig auch gespeichert werden. 2.2.2 Perzeption und Produktion Im Gegensatz zu Krashen unterscheidet der Natural Approach zwischen einem perzeptiven und einem produktiven Spracherwerb 10, d.h., sprachliche Elemente, die perzeptiv erworben sind, müssen noch einmal produktiv erworben werden, bevor sie produktiv eingesetzt werden können. 11 Keenan und MacWhinney (1987) postulieren, daß Perzeption und Produktion unterschiedliche Prozesse sind, auch wenn sie auf mancherlei Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Sie unterscheiden bei der Perzeption und bei der Produktion jeweils zwischen drei verschiedenen Erwerbsaufgaben, die Lerner zu bewältigen haben, nämlich den Erwerb einer perzeptiven Funktion, einer perzeptiven Form und einer Verknüpfung von perzeptiver Form und perzeptiver Funktion ebenso wie den Erwerb einer produktiven Funktion, einer produktiven Form und einer Verknüpfung von produktiver Form und Funktion. Sowohl der Erwerb der Funktionen als auch der Erwerb der Formen findet zuerst perzeptiv statt. Die Menge der produktiven Funktionen und Formen leitet sich aus der Menge der perzeptiven Formen und Funktionen ab und sind eine Untermenge derselben. Allerdings müssen produktive Formen und Funktionen auch erworben werden. Einfach 10 Krashen ist der Meinung, daß Input allein zum Spracherwerb führt. Seiner Meinung nach tauchen produktive Formen problemlos und automatisch im Gespräch auf, sobald sie über den Input erworben worden sind. Dem gegenüber stellt Swain (1985) ihre Output-Hypothese, in der sie behauptet, daß erst der Kommunikationsdruck Lerner dazu bringt, sprachliche Elemente in ihrer Ganzheit, d.h. inklusive ihrer Ausdrucksseite, zu erfassen und dabei auch morphosyntaktische Elemente wahrzunehmen. 11 In einem Interview mit Young im Jahre 1988 (Young 1995) sprach sich Terrell explizit gegen Krashens Hypothese aus, daß Input allein für den Spracherwerbsprozeß ausreicht. FLuL 25 (1996) 58 Erwin Tschirner zu sehen ist dies bei den Formen; denn die perzeptiven Formen sind natürlich auditiver Art und müssen erst in artikulatorische übersetzt werden, bevor sie produktiv verwendbar sind. Keenan und MacWhinney behaupten, daß diese Übersetzung nicht automatisch stattfindet, sondern daß in jedem einzelnen Fall ein neues artikulatorisches Programm geschrieben werden muß, um eine auditive Form in eine artikulatorische zu übersetzen. Die für die inhaltliche Perzeption und Produktion wichtige Verknüpfung von Formen und Funktionen schließlich ist nicht vom Perzeptiven auf das Produktive übertragbar, sondern muß im Produktiven erneut über die Verknüpfung produktiver Formen mit produktiven Funktionen stattfinden. Perzeption perzeptive Funktion perzeptive Form (auditiv) perzeptive Verknüpfung Produktion produktive Funktion produktive Form (artikulatorisch) produktive Verknüpfung Abb. 1: Unterschiede zwischen perzeptivem und produktivem Erwerb (Keenan/ MacWhinney 1987) 2.2.3 Affektive Faktoren Einer der wichtigsten Aspekte des Natural Approach ist die große Rolle, die er affektiven Faktoren im Fremdsprachenunterricht zuschreibt. Dabei gibt es positive affektive Faktoren, die den Erwerbsprozeß fördern, und negative, die ihn erschweren. Terrell ist sich mit Krashen darin einig, daß der Fremdsprachenunterricht aus verschiedenen Gründen Ängste hervorrufen kann, die den Spracherwerb erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Insbesondere die Konzentration auf formale Aspekte der Sprache im Zusammenhang mit einer strengen Fehlerkorrektur erzeugt Terrells Meinung nach Versagensängste, indem nicht der kommunikative Erfolg, sondern der linguistische Erfolg bzw. Mißerfolg immer wieder in den Vordergrund gestellt wird (Terrell 1977). Daraus leitet er zwei der wichtigsten Prinzipien des Natural Approach ab: die Konzentration auf die Mitteilungsseite des sprachlichen Austauschs und die Ablehnung direkter Fehlerkorrektur in Erwerbsaktivitäten. Terrell unterscheidet zwischen Erwerbsaktivitäten, in denen die Inhaltsseite dominiert, und Lernaktivitäten, in denen die Ausdrucksseite thematisiert wird. Er schlägt vor, bei Erwerbsaktivitäten Fehler nur indirekt zu korrigieren, indem das, was gesagt wurde, vom Lehrer bzw. der Lehrerin aufgegriffen und in die Erwiderung mit eingebaut wird. Bei Lernaktivitäten allerdings, wo die Ausdrucksseite der Sprache mit im Vordergrund steht, können und sollen Fehler natürlich direkt korrigiert werden. Terrell (1987) faßt die Forschungslage zur Fehlerkorrektur im Fremdsprachenunterricht zusammen und kommt zu dem Schluß, daß weder die These unterstützt wird, daß Fehlerkorrektur zu korrekterem Sprechen oder Schrei- FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 59 ben führt, noch gezeigt wird, daß, wenn keine Fehler korrigiert werden, dies die Entwicklung grammatisch richtigen Sprechens und Schreibens verhindert. Im Gegensatz zu Krashen geht Terrell (1987) davon aus, daß affektive Faktoren den Spracherwerb nicht nur negativ beeinflussen können, sondern letztendlich dafür verantwortlich sind, daß (produktiver) Spracherwerb überhaupt stattfindet. Zwei Prinzipien sorgen dafür, daß der Spracherwerbsprozeß nicht steckenbleibt: 1. kommunikative Bedürfnisse; und 2. Identifizierung mit zielsprachlichen Gruppierungen. Kommunikative Bedürfnisse, d.h. die Notwendigkeit, sich sprachlich auszudrükken, lenken oft erst die Aufmerksamkeit von Lernern auf grammatische Morpheme, d.h. nicht mehr nur auf Wortstämme, die im Zusammenhang mit Kontext und Weltwissen in der Regel genügen, um Hörverständnis zu erzeugen. Hier ist Terrell einer Meinung mit Swain (1985), die denselben Sachverhalt in ihrer Output-Hypothese zusammenfaßt. Kommunikative Bedürfnisse sind natürlich nicht nur alltäglich touristisch zu verstehen, im Sinne von nach dem Weg fragen und/ oder Einkäufe tätigen, sondern sie umfassen die ganze Bandbreite menschlicher Kommunikationsintentionen von den regulierenden bis zu den heuristischen und imaginativ-kreativen Funktionen der Sprache, wie sie z.B. von Halliday (1973) beschrieben werden. Kommunikative Bedürfnisse lassen sich Terrells Meinung nach nur relativ schwer im Fremdsprachenunterricht erzeugen. Absolute Voraussetzung dafür ist das Vorherrschen des Inhaltlichen und das Schaffen einer Atmosphäre, in der sich Lehrer und Lerner und die Lerner untereinander füreinander interessieren und aus diesem Grund miteinander kommunizieren wollen. Daraus ergibt sich der erste Fixpunkt, um den die Kommunikation im Unterricht kreist, die Welt der Lerner. Ziel des Natural Approach ist es, über die Wahl der Themen und die Wahl der Kommunikationsanstöße, z.B. vorgegebene Interviewfragen, Interesse für das Gegenüber zu entwickeln, das das Bedürfnis schafft, von seinem Gegenüber auch verstanden zu werden. Hier ist vor allem auch die interaktionale Komponente wichtig 12, indem man z.B. als freundliche, interessante, intelligente Person wahrgenommen werden möchte. Ziel des Sprachunterrichts ist es demnach nicht, Trokkenübungen für einen späteren Austauch mit Muttersprachlern zu veranstalten, sondern den Sprachkurs selbst als Gemeinschaft von Sprechern zu begreifen, die in echten sprachlichen Kontaktsituationen miteinander interagieren. Die zweite affektive Komponente, die Voraussetzung für einen erfolgreich verlaufenden Spracherwerbsprozeß ist, besteht für Terrell aus einer Identifizierung mit zielsprachlichen Gruppierungen (Young 1995). Seiner Meinung nach erwerben Kinder ihre erste und etwaige zweite Sprachen vollständig, weil sie die Sprecher 12 Interaktional ist hier im Gegensatz zu transaktional zu verstehen (Brown/ Yule 1983). Während die transaktionale Gesprächsfunktion sich in erster Linie um die Botschaft dreht, d.h. um den Austauch von Informationen, geht es bei der interaktionalen Funktion in erster Linie um den Zuhörer und das soziale Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer. FLuL 25 (1996) 60 Erwin Tschimer dieser Sprache(n), mit denen sie interagieren, als Gruppe empfinden, in der sie gleichberechtigte Mitglieder werden und sich sprachlich nicht von anderen Gruppenmitgliedern unterscheiden wollen. Aus diesem Grund schenken sie den allerkleinsten Nuancen dieser „Gruppensprachen" die allergrößte Aufmerksamkeit, damit ihr Output so klingt wie der Input. Diese positive Identifizierung mit zielsprachlichen Gruppierungen ist im Fremdsprachenunterricht, der nicht im Land der Zielsprache stattfindet, sicherlich mit am schwersten zu erreichen. Der Natural Approach versucht mit Hilfe einer starken landeskundlichen bzw. kulturellen Komponente, als ersten Schritt auf diesem Weg Interesse und Wohlwollen der Kultur und den Menschen des in unserem Falle deutschsprachigen Raums gegenüber zu wecken und zu fördern. Der zweite Fixpunkt, um den sich die Kommunikation im Unterricht bewegt, ist demnach die deutschsprachige Welt, wobei angestrebt wird, daß dieses erste Kennenlernen deutschsprachiger Kulturen positiv besetzt ist. 3. Design Der Natural Approach wird in Nordamerika vor allem im Anfängerunterricht eingesetzt, d.h. im 1. und teilweise auch im 2. Collegejahr, also während der ersten ca. 120-240 Stunden. Im Mittelpunkt des Unterrichts steht der Spracherwerb, d.h. die Entwicklung der vier Grundfertigkeiten für funktionale (kommunikative) Zwecke. Landeskunde bzw. Kultur wird sowohl als Inhalt für die Entwicklung dieser Fertigkeiten benutzt als auch als Teil der angestrebten kommunikativen Kompetenz gesehen. Angestrebte sprachliche Teilkompetenzen sind nach ca. 240 Kontaktstunden (4 Collegesemester mit jeweils 4 Wochenstunden) intermediate mid in den produktiven Fertigkeiten und intermediate high in den rezeptiven Fertigkeiten im Sinne der ACTFL proficiency guidelines (American Council on the Teaching of Foreign Languages 1986; vgl. auch Tschirner 1994). Grundlage des methodisch-didaktischen Designs des Natural Approach bilden die folgenden sieben Prinzipien: 1. Die Fremdsprache wird als Diskurs gelehrt und gelernt; 2. Inhalte des Unterrichtsdiskurses sind die Lerner selbst und die deutschsprachige Welt; 3. bevorzugte Interaktionsformen sind Partnerarbeit und Kleingruppenarbeit; 4. Perzeption kommt vor Produktion, aber beide werden als eigenständige Fertigkeiten betrachtet und eigens geübt; 5. sowohl bei der Perzeption als auch bei der Produktion wird darauf geachtet, daß Wörter und Phrasen sorgfältig gespeichert werden; 6. affektive Faktoren werden besonders beachtet; 7. der Einsatz von Medien nimmt einen breiten Raum ein, sowohl aus affektiven und soziokulturellen Gründen als auch, um Hörverständnis eigens und bevorzugt zu üben. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 61 3.1 Sprache als Diskurs Die Fremdsprache wird vom ersten Tag an als Unterrichtssprache benutzt unter fast völligem Ausschluß der Muttersprache der Lerner. 13 Spracherwerb wird als Prozeß gesehen, der stattfindet, wenn Sprache als Kommunikationsmittel verwendet wird. Wenn Sprache im Diskurs erworben wird, ist eine muttersprachliche Kommunikation dem Spracherwerb nur abträglich. Im Gegensatz zur direkten Methode steht der Informationsaustausch im Mittelpunkt aller Interaktionen und nicht die Exemplifizierung des Sprachgebrauchs. Das bedeutet allerdings nicht, daß dem Informationsaustauch z.B. keine Übungsphasen vorgeschaltet werden (s.u.), sondern nur, daß er Kern und Ziel aller Lerneinheiten ist, dabei natürlich auch breiten Raum einnimmt, da Spracherwerb während des Informationsaustauschs stattfindet. Diskurs ist dabei sowohl mündlich als auch schriftlich zu verstehen und sowohl dialogisch wie monologisch, d.h., im Mittelpunkt einer Unterrichtseinheit kann sowohl Hörverständnis und/ oder Leseverständnis stehen als auch schriftliche und mündliche Produktion. Besonders beim Sprechen werden dabei verschiedene Entwicklungsphasen unterschieden. Im beginnenden Anfängerunterricht (die ersten fünf bis zehn Stunden) wird von den Lernern lediglich erwartet, daß sie mit Hilfe einfachster Äußerungen, die oft nur aus einem Wort oder einer Phrase bestehen, Verständnis bezeugen und persönliche Informationen mitteilen. Der größte Teil des 1. Jahres wird damit zugebracht, die Lerner im spontanen mündlichen Gebrauch auf das Satzniveau zu heben, d.h. die Fähigkeit zu erwerben und auszubauen, auf einfache Art dialogisch zu sprechen, Fragen zu stellen, Fragen zu beantworten, einfache Situationen aus dem Alltag sprachlich zu bewältigen. Gegen Ende des 1. Jahres, wenn Lerner in der Lage sind, mehrere Sätze aneinanderzureihen, kann begonnen werden, ihre Fähigkeit zu entwickeln, mündliche Texte zu produzieren, die aus einer Aufeinanderfolge von miteinander verknüpften Sätzen bestehen, z.B. um Geschichten zu erzählen oder um Personen, Orte und Sachverhalte zu beschreiben oder zu erklären (vgl. auch Tschirner 1994). 3.2 Inhaltsorientierter Sprachunterricht Wenn man davon ausgeht, daß Spracherwerb im Informationsaustausch stattfindet, müssen für den Sprachunterricht Inhalte zur Verfügung gestellt werden, die ausgetauscht werden können. Grundsätzlich scheint es dabei unwichtig zu sein, welcher Art diese Inhalte sind. Aus affektiven Gründen (s.o.) scheinen allerdings besonders zwei Themenbereiche hilfreich für den Anfängerunterricht zu sein: die persönlichen Erfahrungen der Lerner selbst und die Kulturen der Länder, deren Sprache man zu lernen versucht. 13 Die Muttersprache der Lerner wird nur einige wenige Male zu Beginn eines Kurses benutzt, um den Ansatz und bestimmte, den Lernern nicht vertraute Interaktionsformen zu erklären. FLuL 25 (1996) 62 Erwin Tschimer Wenn, wie postuliert, affektive Faktoren im Fremdsprachenerwerb wichtiger als kognitive Faktoren sind, ist es unumgänglich, im Fremdsprachenunterricht die Lerner selbst zu thematisieren, ihnen also die Möglichkeit zu geben, über sich und das, was ihnen wichtig ist, zu sprechen. Darüber hinaus führt dieser persönliche Austausch zu einem Gruppengefühl man lernt sich besser kennen -, das Kommunikationsängste abbauen hilft und die Bereitschaft, Kommunikationsrisiken einzugehen, erhöht, d.h. z.B. die Bereitschaft, Fehler zu machen, kindisch oder langweilig zu klingen. Ein letzter und wichtiger Aspekt ist auch, daß Ausländer in Deutschland ja nicht nur über „deutsche" Themen zu sprechen haben, sondern, und vielleicht sogar häufiger, über sich selbst erzählen wollen, über ihre eigenen Gedanken und Erlebnisse und darüber, wie es z.B. bei ihnen „zu Hause" aussieht. Der zweite Themenkomplex, der die Inhalte für den Unterricht liefert, besteht natürlich aus der deutschsprachigen Welt. Wie bereits erwähnt, spielen affektive Faktoren dafür eine Rolle (Terrells Integrations-Hypothese), wie auch die Integration soziokultureller Kompetenz im angestrebten Lernziel kommunikative Kompetenz. Zwei Faktoren spielen sowohl bei der Themenauswahl als auch bei der Entscheidung, unter welchen Aspekten die Themen behandelt werden, eine Rolle: 1. Die Themen sollen affektiv möglichst positiv besetzt sein; und 2. bei der Behandlung der Themen wird von der eigenen Realität ausgegangen, man geht also vom Bekannten zum Fremden. Affektiv positiv besetzt bedeutet hier, daß es sich um interessante Themen handelt, die möglichst auch humorvoll oder spannend aufbereitet sind, und daß dabei die deutschsprachigen Kulturen unter einem eher positiven Blickwinkel gesehen werden, da Kulturkritik und negative Charakterisierungen im Anfängerunterricht eher lernbehindernde Faktoren sind. 14 Ausgegangen wird bei der Behandlung dieser kulturellen Themen von der eigenen Realität der Lerner, z.B. Klima und Wetter im Heimat- oder Studienort, bevor z.B. ein deutscher Wetterbericht oder ein Text zum Klima in Österreich analysiert wird. 3.3 Interaktionsformen Da Sprache als soziales System verstanden wird, dessen Erwerb im Diskurs stattfindet, sind im Unterricht vor allem Interaktionsformen wichtig, die einen Diskurs erlauben. Dies mißt der Kleingruppen- und Partnerarbeit eine besondere Rolle zu. Besonders im Anfängerunterricht ist es allerdings nötig, Gruppenarbeit gut vorzubereiten, damit die Arbeit in der Gruppe zum einen überhaupt erstmal funktioniert und zum anderen die Lerner so engagiert, daß sie nicht auf den Gedanken kommen, in ihre Muttersprache zu verfallen, oder sich anderweitig zu beschäftigen suchen. Sowohl diese vorbereitende Phase einer Interaktion als auch eine an die Interaktion 14 Das andere Extrem, das Charakterisieren deutscher Gegebenheiten als „besser" als die der Lerner, ist natürlich genauso zu vermeiden. Sowohl die Welt der Lerner als auch die deutschsprachige Welt sollen positiv erfahren werden. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 63 anschließende Phase, in der die Ergebnisse der Interaktion im Klassengespräch besprochen werden, wird damit vom Lehrer oder der Lehrerin gesteuert. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von medienzentrierten Interaktionsformen, die entweder Anstöße für Klassen- oder Gruppengespräche liefern oder bei denen die Interaktion darin besteht, dem schriftlichen, visuellen oder akustisch dargebotenen Text Informationen zu entnehmen. Neben einer Reihe von Hörverständnisübungen zur Entwicklung der Perzeption besteht eine typische Natural Approach-Unterrichtsstunde also aus einer Reihe von Interaktionen, wie z.B. Sprechspielen, humanistisch-affektiven, problemlösenden oder informationsaustauschenden Interaktionen, bei denen sowohl der perzeptive als auch der produktive Sprachgebrauch weiterentwickelt wird. 15 3.4 Perzeption und Produktion Die Entwicklung der Perzeption, des Hörverständnisses und des Leseverständnisses, ist eine der wichtigsten Aufgaben vor allem des Anfängerunterrichts. Ein großer Teil des Unterrichts wird daher im Natural Approach dazu verwandt, besonders das Hörverständnis zu entwickeln. Dabei spielt der Erwerb von Hörstrategien, wie z.B. das Achten auf besonders betonte Wörter, das Beachten des situativen Kontexts und/ oder das Anwenden von Weltwissen, eine ebenso wichtige Rolle wie der perzeptive Spracherwerb selbst, d.h. das Speichern auditiver Formen und Funktionen und deren Verknüpfung. Zwei Arten von Hörerfahrungen stehen dabei im Vordergrund: 1. ein eher globales inhaltliches Hören (Beispiel: Video), das in erster Linie der Informationsgewinnung und der Entwicklung von Hörstrategien dient, wobei sicherlich auch Sprache erworben wird, aber wohl eher ungezielt und unvollständig; und 2. ein gezieltes Hören zu lernender Wörter, Wortformen und Wortfolgen (Beispiel: Dialog), das ein perzeptives Speichern sprachlicher Formen zusammen mit ihren Funktionen ermöglicht, allerdings wiederum nur im Rahmen eines gleichzeitig inhaltlichen Zugriffs auf das Gehörte. Hier geht es nicht um das Speichern von Formen ohne Inhalte (Funktionen), sondern gerade darum, Formen und Inhalte gleichzeitig zu speichern, um eine Verknüpfung von Form und Funktion zu erreichen. Neue sprachliche Elemente (Wörter, Strukturen, Sprechakte usw.) werden immer zuerst und ausgiebig perzeptiv, d.h. über das Hörverständnis, eingeführt, dann aber auch speziell produktiv über kommunikative Interaktionsformen eingeübt. Grundlage dieser produktiven Interaktionen ist, daß zwar der Informationsaustausch im Zentrum der Aktivität (und auch im Zentrum der Aufmerksamkeit der Lerner) steht, daß aber die sprachliche Produktion selbst vorformuliert ist, meistens nur bei einem Partner, manchmal aber auch bei beiden. Als Beispiel möge die Interaktionsform Autogrammjäger dienen, die aus einer Liste von sprachlich ausformulierten 15 Zu einer Beschreibung typischer Natural Approach-Interaktionen vgl. Tschimer (1992). FLuL 25 (1996) 64 Erwin Tschimer ja/ nein-Fragen besteht. Die Aufgabe der Lerner besteht darin, für jede Frage einen anderen Kommilitonen zu finden, der diese Frage bejahen kann (z.B. Hast du mehr als zwei Geschwister? ), und ihn oder sie um seine bzw. ihre Unterschrift zu bitten (vgl. auch Tschirner 1992). Natürlich bedient sich der Natural Approach auch weniger gesteuerter Interaktionsformen, wie z.B. Rollenspiele, Interviews und Diskussionen, um auch vor allem bei fortgeschritteneren Lernern das freie Sprechen zu üben. Allerdings wird dem kommunikativen Verwenden vorformulierter Äußerungen im Sinne des Erwerbs sprachlicher Routinen und Rituale und im Sinne eines bevorzugt lexikalischen Lernens im Anfängerunterricht eine wichtige Rolle zugewiesen. Darüber hinaus enthalten diese interaktiv-kommunikativen Sprechübungen natürlich eine Hörverständniskomponente (der/ die Angesprochene muß die Frage verstehen, bevor er/ sie sie beantworten kann) und trägt damit auch zum perzeptiven Spracherwerb bei, wahrscheinlich auch beim Sprecher selbst, der seinen eigenen Output natürlich auch wiederum als Input wahrnimmt. Wenn beim Austauch von Informationen (Beispiel: Informationsspiel 16) verlangt wird, daß dieser Austausch nur sprachlich stattfinden kann und daß die gewonnenen Informationen aufgeschrieben werden müssen, spielt zusätzlich das Aushandeln von Bedeutungen eine Rolle, wenn auch auf einfache Weise dadurch, daß zum Beispiel um Wiederholung gebeten wird, um Buchstabieren oder um eine Bedeutungserklärung. 3.5 Die Rolle des Gedächtnisses Sowohl beim perzeptiven als auch beim produktiven Lernen wird darauf geachtet, daß Wörter, Wortformen und Wortfolgen sorgfältig gespeichert werden können, sowohl im Sinne der Klanggestalt der Sprache, d.h. der Aussprache, wie auch im Sinne des Erfassens und Benutzens grammatischer Morpheme. Betont werden soll in diesem Zusammenhang noch einmal, daß der Natural Approach eine Unterscheidung zwischen bewußtem und unbewußtem Lernen nicht für besonders sinnvoll erachtet, sondern im Gegenteil davon ausgeht, daß der Aufmerksamkeit im Sprachunterricht eine tragende Rolle zugewiesen werden muß. Gleichzeitig geht allerdings der Natural Approach davon aus, daß die perzeptive und produktive Speicherung von Wörtern, Phrasen und Satzteilen während des kommunikativen Diskurses stattfinden muß, wenn diese Wörter, Phrasen und Satzteile in einem späteren kommunikativen Diskurs wieder abrufbar sein sollen. 17 Hierzu soll kurz auf 16 Informationsspiele bestehen gewöhnlich aus zwei Tabellen, die jeweils nur zur Hälfte ausgefüllt sind und deren Informationen sich gegenseitig ergänzen. Diese Spiele schaffen also Informationslücken, die von den Lernern sprachlich aufzulösen sind (vgl. Dreke/ Lind 1986.) 17 Vgl. hierzu auch das Prinzip der Enkodierungsspezifität aus der Gedächtnispsychologie, das besagt, daß ein Abruf desto erfolgreicher ist, je mehr die Bedingungen des Abrufs denen der Speicherung ähneln. FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 65 zwei Elemente des Natural Approach eingegangen werden, die dieses Prinzip verdeutlichen: 1. Lehrersprache (teacher talk); und 2. Nachsprechübungen. Aufgabe der Lehrer ist es, Hörverstehen zu ermöglichen und gleichzeitig den perzeptiven Spracherwerb zu fördern. Neben der reichhaltigen Verwendung visueller Hilfsmittel (Fotos usw.) ist hier besonders die Lehrersprache wichtig, eine besondere Art und Weise des Sprechens, die ähnlich wie die Elternsprache (caretaker speech) den Input einfacher und damit verständlicher und leichter erwerbbar macht (vgl. Henrici 1995: 10-13). Neben der lautlichen Komponente (deutlichere Artikulation, langsameres Sprechen, stärkere Betonung und Dehnung wichtiger Wörter) ist dabei besonders die nach Meisel (1977) elaborierte Simplifizierung des Inputs wichtig, d.h. ein Zuwachs an Oberflächenformen durch Wiederholungen, Paraphrasen und genereller Sichtbarmachung syntaktischer Zusammenhänge. Diese elaborierte Simplifizierung trägt dabei nicht nur zu einer besseren Verständlichkeit des Inputs bei, sondern ermöglicht auch einen genaueren perzeptiven Zugriff auf einzelne Formen und deren Funktionen. Der Rolle der Lehrersprache im perzeptiven Erwerb steht die Rolle des Nachsprechens im produktiven Erwerb gegenüber. Nach Keenan und MacWhinney (1987) muß jede perzeptiv (auditiv) gespeicherte Wortform noch einmal neu gespeichert werden, nämlich artikulatorisch, bevor sie mit einer produktiven Funktion (Sprechintention) verknüpft und damit für einen produktiven Sprachgebrauch eingesetzt werden kann. Das Nachsprechen an sich speichert natürlich nur artikulatorische Formen, selbst wenn der (perzeptive) Sinn des Gesagten verstanden wird. Die Verknüpfung produktiver Formen und Funktionen und damit der eigentliche produktive Erwerb findet erst statt, wenn Lerner eine Sprechintention (produktive Funktion) mit der dazugehörigen produktiven Form zur Äußerung bringen. Allerdings bewirkt das Nachsprechen, vor allem wenn dazu Feedback gegeben wird, daß produktive Formen relativ klar gespeichert werden, was den späteren Abruf erleichtert. 3.6 Affektive Faktoren Wie bereits erwähnt, beeinflussen affektive Faktoren die Auswahl der Unterrichtsinhalte, also wie und worüber im Unterricht gesprochen wird (Welt der Lerner; deutschsprachige Welt [s. Abschnitt 3.2]). Darüber hinaus wird Partner- und Gruppenarbeit betont, da diese Interaktionsformen anscheinend bedeutend weniger Ängste erzeugen als z.B. das freie Sprechen vor der Klasse (Kochfferrell 1991; Young 1991). In erster Linie affektive Kriterien bilden die Grundlage für den vielleicht umstrittensten Vorschlag des Natural Approach, nämlich die Fehlerkorrektur im mündlichen Fremdsprachenunterricht völlig abzuschaffen, weil sie nicht nur nutzlos, sondern möglicherweise sogar schädlich sei, da sie die Aufmerksamkeit der Studenten auf die Form von Äußerungen lenkt, nicht auf deren Inhalt, und weil sie eine affektiv negative Stimmung erzeugen kann. Fehler sollen deshalb nur indirekt kor- FLuL 25 (1996) 66 Erwin Tschirner rigiert werden, indem sie vom Lehrer im Sinne einer wiederholenden Entgegnung kommunikativ berichtigt werden (Terrell 1982). Dieser Vorschlag Terrells bezieht sich allerdings nur auf kommunikative Situationen und nicht auf Lernphasen, in denen eine kommunikative Interaktion vorbereitet oder nachbereitet wird. Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, gibt es Phasen in einem kommunikativen Unterricht, in denen bewußt auf die Ausdrucksseite der Sprache eingegangen wird, z.B. beim Nachsprechen oder auch bei schriftlichen Grammatikübungen. In solchen Phasen ist Feedback im Sinne einer Fehlerkorrektur selbstverständlich angebracht. Trotzdem sollte auch hier nicht vergessen werden, daß Sprechen vor der Klasse von vielen Studenten affektiv negativ besetzt ist. Deshalb sollte vermieden werden, Studenten individuell herauszugreifen und sie ihre Fehler berichtigen zu lassen. Eine Eigenkorrektur sollte, wenn überhaupt, nur in der Gruppe stattfinden. Meistens jedoch genügt ein klares Signal des Lehrers, daß ein Fehler gemacht wurde, zusammen mit einer korrekten Wiedergabe der fehlerhaften Äußerung, ohne daß dies zum Nachsprechen der Studenten selbst führen muß. Besonders im Anfängerunterricht kann jeglicher Art von Sprechzwang zu Ängsten führen und den Erwerbsprozeß beeinträchtigen. Daher schlägt Terrell vor, den Studenten eine stille Phase (silent phase) zu gewähren, in der sie nur sprechen müssen, wenn sie sprechen wollen. Es scheint allerdings auch generell von Vorteil zu sein, wenn Lernern die Möglichkeit, nichts zu sagen, immer offen steht. Deshalb wird im Natural Approach vorgeschlagen, ein eher offenes Klassengespräch zu führen, in dem die gesprochenen Beiträge der Studenten auf freiwilliger Basis gegeben werden und Ausspracheübungen nur in der Gruppe durchgeführt werden. Dabei muß man nicht auf individuelle Antworten verzichten, um z.B. zu gewährleisten, daß alle Lerner an Hörverständnisübungen teilnehmen. So kann man die Lerner z.B. bitten, durch Handheben eine Antwort zu signalisieren, man kann sie die Antworten aufschreiben lassen oder sich mit Hilfe von TPR-Techniken (Total Physical Response) vergewissern, daß ein Hörverständnis tatsächlich stattgefunden hat. 3.7 Unterrichtsmedien Ohne den Einsatz vor allem visueller Medien ist ein Anfängerunterricht, der sich dem Spracherwerb verpflichtet fühlt, wahrscheinlich gar nicht denkbar. In der ersten Auflage von Dos Mundos (Terrell/ Andrade/ Egasse/ Mufioz 1986), dem ersten Natural Approach-Lehrwerk, wurde neben dem stark visuell ausgerichteten Kursbuch vor allem mit einer großen Anzahl von Fotos (picture file) im Unterricht gearbeitet. Zehn Jahre später mit der dritten Neuauflage von Kontakte (Terrell/ Tschirner/ Nikolai/ Genzmer 1996) hat sich die Medienkomponente noch einmal wesentlich erweitert. Zusammen mit dem Kursbuch werden den Lehrern Vokabularschaubilder und Bildgeschichten für den Tageslichtprojektor zur Verfügung gestellt, Fotos im A 4-Format, ein Videoband bzw. eine Bildplatte mit Mitschnitten aus dem deutschen Fernsehen, eine Audiokassette, die die Dialoge, Rollenspiele und literari- FLuL 25 (1996) Spracherwerb im Unterricht: Der Natural Approach 67 sehen Texte des Kursbuchs enthält, und eine CD-Rom mit visuell-gestützten Wortschatz- und Grammatikübungen. Dazu finden sich im Arbeitsbuch, das von den Studenten außerhalb des Unterrichts bearbeitet wird, auf Audiokassetten basierende Aussprache- und Orthographieübungen und eine große Anzahl von Hörverständnisübungen. Diese Ausweitung des Medienangebots ermöglicht es Lehrern und Lehrerinnen, den täglichen Unterricht mit Hilfe visueller und akustischer Medien aufzuwerten. Studentenzentrierte Interaktionen lassen sich z.B. mit Hilfe eines kurzen Videoausschnitts motivieren und thematisch vorbereiten. Wörter, Sätze und Sprechintentionen lassen sich visuell einführen, Hörverständnis läßt sich üben, und Informationen und Eindrücke kultureller Art lassen sich gewinnen. Wer einmal begonnen hat, mit Multimedia zu arbeiten, kann sich schwer vorstellen, wie der ungemein reichhaltige linguistische und kulturelle Input, den moderne Medien in den Unterricht einbringen, ohne diese Medien überhaupt annähernd erreicht werden kann. Das Anbieten von reichhaltigem linguistischen und kulturellen Input allerdings ist das sine qua non eines Ansatzes, der Spracherwerb im Unterricht möglich machen möchte. 4. Schluß In den zehn Jahren seit dem Erscheinen der ersten Natural Approach-Lehrwerke (Terrell/ Andrade/ Egasse/ Mufioz 1986; Terrell/ fschirner/ Nikolai/ Genzmer 1988) hat sich der Natural Approach zur einflußreichsten und mit am weitesten verbreiteten Methode im universitären Fremdsprachenunterricht in Nordamerika etabliert. Besonders für die Fächer Spanisch und Deutsch hat der Natural Approach in Nordamerika die Stelle der kommunikativen Methode in Europa eingenommen. Der größte Verdienst Terrells ist, daß er die „kommunikative Revolution" in die Klassenzimmer der Fremdsprachenabteilungen getragen hat und damit die Lücke im Entwicklungsstand zwischen dem Fremdsprachenunterricht und dem Unterricht Englisch als Zweitsprache (ESL) geschlossen hat. Noch vor zehn Jahren hinkte der Fremdsprachenunterricht dem ESL-Unterricht um ca. zehn Jahre hinterher; mittlerweile befruchten sie sich gegenseitig (Baltra 1995). Während der knapp 20 Jahre seiner Existenz hat sich der Natural Approach weiterentwickelt, in dem Maße, wie sich der Erkenntnisstand der Zweitsprachenerwerbsforschung, auf deren Ergebnissen der Natural Approach aufbaut, erweitert hat. Seine Grundlagen sind allerdings die gleichen geblieben. Nach wie vor stehen im Mittelpunkt des Natural Approach Terrells ursprüngliche Prinzipien: l. Perzeption kommt vor Produktion; 2. Wörter sind wichtiger als Grammatik; 3. affektive Faktoren können wichtiger sein als kognitive; und vor allem 4. Bedeutung ist primär. Nur wenn Sprache benutzt wird, um Gehörtes oder Gelesenes zu verstehen oder um sich mündlich oder schriftlich mitzuteilen, findet Spracherwerb statt. Und Spracherwerb ist schließlich das Ziel des Fremdsprachenunterrichts oder sollte es zumindest sein. FLuL 25 (1996) 68 Erwin Tschirner Bibliographische Angaben American Council on the Teaching of Foreign Languages (1986): ACTFL Proficiency Guidelines. Hastings-on-Hudson, NY: ACTFL. BALTRA, Armando (1995): "On breaking with tradition: The significance of Terrell's Natural Approach". In: HASHEMIP0UR, Peggy/ MALD0NAD0, Ricardo / VAN NAERSSEN, Margaret (Hrsg.): Studies in language learning and Spanish linguistics. In Honor of Tracy D. Terrell. New York: McGraw-Hill, 45-69. B0LINGER, Dwight (1976): "Meaning and memory". In: Forum Linguisticum I, 2-14. 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