Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251
Gnutzmann Küster SchrammFreinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht?
121
1996
Gerald Schlemminger
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Gerald Schlemminger Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? Abstract. In this article we present first the different steps of F'REINET Pedagogical Method in language learning. We present also the techniques and practices of this method. In the second section we discuss the characteristics of the principle concepts in use. Today F'REINET methods are marginal or even in opposition to existing paradigms. In a last part we compare them to the dominant paradigm in applied linguistics. 0. Vorbemerkungen In diesem Beitrag möchte ich die Frage untersuchen, ob die Freinet-Pädagogik einen eigenen Ansatz für den Fremdsprachenunterricht entwickelt hat und in wieweit die Freinet-Techniken eine Antwort auf die besonderen Bedingungen des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs sein können. Dazu wird es zunächst notwendig sein, die speziellen Arbeitsmittel dieser Pädagogik und ihre methodisch-didaktische Anwendung auf den Fremdsprachenunterricht genauer darzustellen. Es wird darum gehen, sowohl die typischen Lehr- und Lernverfahren als auch die unterrichtspraktischen Vorgehensweisen aufzuzeigen. In einem weiteren Abschnitt wird zu klären sein, auf welchen lerntheoretischen und lernpsychologischen Grundlagen der Freinet-Ansatz beruht. In einem abschließenden Kommentar wird dann zu sehen sein, wie sich die Freinet-Pädagogik in die Diskussion um die Erneuerung des Fremdsprachenunterrichts und um die sog. alternativ-innovativen Methoden einordnen ließe. Ich gehe von folgenden Arbeitshypothesen aus: Die Freinet-Pädagogik ist zunächst einmal ein Ansatz, der den Prozeß des Lernens als ganzheitlichen, alle Fähigkeiten und Fertigkeiten umfassenden Vorgang erfaßt. Das bedeutet u.a., daß die Freinet-Techniken ursprünglich nicht für einen speziellen Lernbereich, wie z.B. den der fremden Sprachen, entwickelt worden sind. In seinen lerntheoretischen und lernpsychologischen Annahmen bezieht sich dieser Ansatz auf Herleitungen, die in der Sprachlehr- und -lernforschung nicht unbedingt gebräuchlich sind, da sie in der Tradition einer erziehungswissenschaftlichen Debatte stehen. Eine direkte Übertragung der Begriffe und Theoriebildungen von einem auf den anderen Bereich gerät daher auch wenn sie offensichtlich erscheint leicht in Gefahr, Konzepte zusammenhanglos aneinanderzureihen und mehr Verwirrung als Klarheit zu schaffen. FLuL 25 (1996) 88 Gerald Schlemminger 1. Freinet-Praxis im Fremdsprachenunterricht Die Freinet-Techniken im Fremdsprachenunterricht gehen in Frankreich auf Mitte der 50er Jahre, in Deutschland auf Anfang der 70er zurück (vgl. dazu Schlemminger 1995a, 1996b). 1 Nach vorsichtiger Schätzung so hat meine Untersuchung zur Freinet-Pädagogik im Fremdsprachenunterricht ergeben (Schlemminger 1996b) sind in diesem Zeitraum in ungefähr 2500-3000 französischen Schulklassen die Freinet-Techniken mehr oder weniger angewandt worden. Das ist natürlich verschwindend wenig, wenn man bedenkt, wieviel Jahrgänge von Schülern in über 40 Jahren durch den schulischen Fremdsprachenunterricht gehen. Hervorzuheben ist aber die bis heute ununterbrochene Praxis, die im öffentlichen Schulunterricht und trotz vielfältiger Paradigmawechsel in der Fremdsprachendidaktik ein sog. Nischendasein geführt hat. Es scheint mir vorerst wichtig, die wichtigsten unterrichtspraktischen Vorgehensweisen vorzustellen, damit der Gegenstand der Diskussion klarer wird. 2 Dazu werde ich mich als Bezugsrahmen auf den klassischen Phasenablauf im Fremdsprachenunterricht beziehen (Einführen der sprachlich neu zu lernenden Elemente - Einüben - Festigen - Anwenden), auch wenn dieser den Freinet-Ansatz in ein Unterrichtskonzept zwängt, das weder seinem Anspruch noch seiner Praxis entspricht. Denn abgesehen von den Konstanten, die die Freinet-Arbeitstechniken ausmachen, hat die Freinet-Pädagogikwie wir noch sehen werden eine recht vielfältige Unterrichtsgestaltung und ist deshalb oft schwer auf einen Nenner zu bringen. Mein etwas mechanistisches Vorgehen hat aber den Vorteil, die Freinet-Praxis mit anderen Ansätzen eher vergleichbar zu machen. 1.1 Entdecken der neuen sprachlichen Elemente Die Freinet-Pädagogik, ganz in der Tradition der Arbeitsschulpädagogik, ist vor allem erst einmal ein produktionsorientierter Ansatz: Im Mittelpunkt des Klassenlebens steht das gemeinsam zu erstellende „Produkt", das aus einem kollektiv gewählten Interessengebiet und aus den Kontakten zur Um- und Außenwelt erwachsen ist. Dieser Produktionsprozeß wird dann, wie zu zeigen sein wird, auch zum Im universitären Bereich des Fremdsprachenerwerbs gibt es in Französisch und Deutsch als Fremdsprache einige Erfahrungen mit den Freinet-Techniken. Vgl. Cabral (1976), Launay/ Ueberschlag (1975), Mabuchi (1976); Brysch (1984), Müller (1982), Schlemminger (1984, 1985a, 1985b, 1988, 1992a, 1992b). Diese Praktiken sind jedoch als marginal anzusehen. 2 Zur Freinet-Pädagogik im allgemeinen verweise ich auf: Dietrich (1995); Clanche/ Testaniere (Hrsg.) (1989), Clanche/ Debarbieux/ Testaniere (Hrsg.) (1994), Bruliard/ Schlemminger (1996). In diesen Veröffentlichungen befinden sich zudem umfangreiche Bibliographien (siehe auch die Bibliographie zur Freinet-Pädagogik von Schlemminger 1996a). Eine chronologische Liste der deutschen Veröffentlichungen zur Freinet-Pädagogik im Fremdsprachenunterricht befindet sich in Schlemminger (1995a). FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 89 Lernprozeß. Er stellt jedoch nicht das unmittelbare Ziel dar. Dies besteht vielmehr darin, das erarbeitete Produkt wieder anderen, außerhalb der Klasse, zugänglich zu machen, darüber Erfahrungen auzutauschen, sich darüber mitzuteilen. Konkret für den Fremdsprachenunterricht heißt das: Die Klassenkorrespondenz und die Erkundungen deren Anknüpfungspunkt die Klassen- und Schulbibliothek, ein Ausflug, ein Film, die ausländischen Briefpartner usw. sein kann bilden den Ausgangspunkt für die Produktion einer Klassenzeitung, einer Wandzeitung, einer Ausstellung, einer Diareihe, für das Verfassen der kollektiven oder Einzelbriefe, der Kurzreferate usw. Das im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht dominierende Lehrbuch erhält hier, im Rahmen der Klassenbibliothek, die Funktion einer Bezugsquelle, genau wie Zeitschriften, Zeitungen, Bücher, Comics usw. Dieser Vielfalt der Materialien entspricht auch die Vielfalt, ihnen zu begegnen, sie zu be- und verarbeiten, sie zu vermitteln. Natürlich ist dieses Ausgangsmaterial in seiner „Rohform" nur in den seltensten Fällen direkt zur Vermittlung an andere, geschweige denn als Lerngegenstand geeignet. Es muß erst gemeinsam aufgearbeitet werden. Die erste Stufe ist also, das ausgewählte Material grob zu verstehen und zu sichten. Erst dann kann gemeinsam entschieden werden, ob und inwieweit es auch als Lerngegenstand behandelt werden soll. Die Sichtung des Materials kann z.B. heißen: Der/ Die verantwortliche Schüler/ -in der Korrespondenz und/ oder die Lehrperson stellt die eingegangene Post sofern sie sofort verständlich ist in der Fremdsprache vor; bei schwierigeren Texten bzw. im Nullanfängerunterricht machen sie dagegen zunächst eine Zusammenfassung in der Muttersprache. Erfolgt die Vorstellung in der Fremdsprache, kann es auch sein, daß die das Verständnis hemmenden Wörter an die Tafel geschrieben werden. Handelt es sich um kurzes Textmaterial, mag es sein, daß es gleich vervielfältigt wird und jeder Schüler ein Exemplar in die Hand bekommt. Kommt nun eine Kassette an, wird sie wahrscheinlich erst einmal ganz abgehört (und zwar in kleineren Abschnitten), wobei der Austausch über das Verständnis in der Muttersprache abläuft. Manchmal haben die Korrespondenten auch eine Umschrift mitgeschickt. Ein anderes Mal kommt ein Video. Und da nicht unbedingt jede Woche Post eingeht, kommen in der Zwischenzeit dann die Kurzvorträge der Schüler an die Reihe. Je nach Schwierigkeitsbzw. Lernstufe erfolgt eine Kurzvorstellung des Themas in der Mutter- oder in der Fremdsprache. 3 Da es bei drei oder vier Wochenstunden natürlich unmöglich ist, alle von den Schülern erarbeiteten Materialien und jede Post im Detail im Unterricht zu bearbeiten, muß (über Abstimmung) eine Auswahl der für die Klasse interessantesten Themen, die vorgestellt werden sollen, vorgenommen werden. Es muß entschieden 3 Es ist selbstverständlich, daß keine Schülerarbeit „verlorengeht". Aus denjenigen, die nicht im Unterricht behandelt werden, wird ein „Album" erstellt, das über der Klassenbibliothek dann jedem zugänglich ist; oder aber die Arbeit wird an die Korrespondenten geschickt, ausgestellt u.ä.m. FLuL 25 (1996) 90 Gerald Schlemminger werden, welche dabei explizit zum Lerngegenstand werden. Denn nicht notwendigerweise muß jedes Dokument unter diesem Gesichtspunkt behandelt werden; man kann es auch einfach zur Kenntnis nehmen, seine Meinung dazu äußern und dann ad acta legen. Bei der Aufbereitung des Materials (eventuelles Kürzen; gemeinsames Sichten dessen, was für die Kommunikation der Klasse an sprachlichem Material wichtig ist; Unwichtiges wird ggf. in einem Heft festgehalten, auf das man dann später zurückgreifen kann; Vervielfältigung usw.) greift der Lehrer besonders im Anfängerunterricht mit seiner fachlichen Kompetenz helfend ein. Halten wir zunächst fest: Bei dieser Vielfalt des Herangehens an ein neues Dokument sind folgende Elemente hervorzuheben: (a) Zu allererst wird bei allen Schülern das Sinnverständnis des zu behandelnden Materials abgesichert. (b) Es erfolgt dann eine Auswahl dessen, was zum Produktions- und Lerngegenstand der Gruppe wird. (c) Erst anschließend wird der Lernprozeß im engeren Sinne angesteuert. (d) Unter didaktischem Gesichtspunkt heißt das Abkehr von dem Totalitätsanspruch: Erarbeitung aller sprachlichen Elemente, Übung aller Fertigkeiten an einem Dokument, bzw. Wahl eines „leichteren" Dokuments. 4 1.2 Einüben Diese Sequenz ist durch zwei Arbeitsphasen gekennzeichnet: die kollektive und die individuelle. Die erste besteht im Anfängerunterricht aus dem abschnittsweisen Chornachsprechen. Die Schüler sind meist im Besitz des Dokuments, samt Vokabelliste oder Übersetzung. Im fortgeschrittenen Unterricht besteht diese Phase oft in der gemeinsamen Lektüre bzw. dem Hören des Dokuments. Ihr folgt das Klassengespräch, in dem der Inhalt rekonstruiert wird, besondere Strukturen hervorgehoben, Details angesprochen werden usw. In der individuellen Arbeitsphase (Kleingruppen-, Partner-, Einzelarbeit) kann dann jeder in Partnerarbeit (oder auch allein) das Dokument weiter durcharbeiten. Hilfsmittel sind hier die „Partnerbögen", die eine gegenseitige Korrektur ermöglichen; ggf. stehen auch eine Tonaufnahme und Abspielgerät mit Kopfhörer bereit. Fassen wir zusammen: (a) Das Verstehen der zu assimilierenden Elemente ist explizit abgesichert. Der Ablauf hat, zumindest in der ersten Phase, Ähnlichkeit mit dem herkömmlichen Unterricht. 4 Eine sehr plastische Beschreibung dieses Vorgehens in einer 5. Gesamtschulklasse Englisch mit allen ihren auch gruppendynamischen Implikationen befindet sich in Hövel (1990/ 91); für die Arbeit in der Oberstufe siehe Schlemminger (1994b). FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik- (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 91 (b) Unter didaktischem Gesichtspunkt ist festzuhalten, daß die Einzel- und Partnerarbeit eine frühe Binnendifferenzierung ermöglicht. 5 1.3 Festigen Auch beim Festigen neuer lexikalischer und grammatisch-syntaktischer Strukturen wechseln wieder kollektive mit individuellen Arbeitsformen ab. Die Strukturen werden gemeinsam, meist über die Muttersprache erarbeitet. Das induktive Verfahren herrscht vor: Die Klasse hat schon über einen gewissen Zeitraum zu bestimmten Kategorien oder Wortbereichen Strukturen schriftlich festgehalten. Sie werden nun gegenübergestellt, erweitert, auf Regelmäßigkeiten überprüft, Hypothesen werden aufgebaut, (vorläufige) Regeln aufgestellt (vgl. Hövel 1990/ 91.) In der individuellen Arbeitsphase stehen im allgemeinen für das Trainieren der verschiedenen Fertigkeiten Selbstkorrektur-Arbeitskarteien bereit. Die Schüler können so je nach ihrem individuellen Lernrhythmus und ihren besonderen Schwierigkeiten arbeiten. Während die einen schon an der Umsetzung und Wiederverwendung des Materials in der Klassenkorrespondenz oder bei der Erarbeitung eines kleinen Referats tätig sind, können die anderen (noch) in der Übungsphase sein. Die wichtigsten Punkte sind also: (a) Das lineare, kollektive und zeitgleiche Einüben aller weicht einem individuell abgestimmten Lernprogramm. (b) Das Schwergewicht wird auf selbständiges Lernen (Arbeit mit Selbstkorrektur) gelegt. (c) Die Verlagerung des Einübens von der Frontalphase in Gruppen- und Einzelarbeit ermöglicht es dem Lehrer, dem Schüler eine individuell zugeschnittenere Hilfestellung zu geben. 6 1.4 Anwenden Diese Phase ist in einem Freinet-orientierten Unterricht das wichtigste und zeitlich wohl auch längste Moment. Es ist die eigentliche Produktionsphase. Sie läuft in Gruppen- und Einzelarbeit ab. Hier werden ausgehend von dem vorgestellten Dokument die Briefe für die Korrespondenten verfaßt, in und außerhalb der Klassenbibliothek weiter zum Thema geforscht, neue Kurzreferate ausgearbeit, eine Ausstellung vorbereitet; hier wird auch die Zeitung gedruckt, ein Plakat gemalt u.ä.m. Diese Phase endet mit der Vorstellung der Arbeitsergebnisse vor der Klasse und dem Verbreiten der Materialien außerhalb des Klassenraums: Ausstellen, Post abschicken, Zeitung verteilen oder verkaufen usw. Eine gute Darstellung dieser Phase ist in Bertrand (1969) zu finden. 6 Zur Arbeit mit Selbstlernmaterialien im Fremdsprachenunterricht siehe in Tracer (Sept. 1993, N° 3) und Schlemminger (1995c). FLuL 25 (1996) 92 Gerald Schlemminger Die Vorstellung der Arbeitsprodukte ist damit gleich auch wieder Anknüpfungspunkt für neue Lernprozesse. Die Phasen sehen daher selten so nacheinanderfolgend aus, wie sie hier aufgezählt sind. Halten wir fest: (a) Auch wenn das Individuum die Lernprozesse in den dargestellten Etappen durchläuft, laufen auf der Ebene der Lerngruppe Klasse aufgrund der natürlicherweise unterschiedlichen Lern- und Arbeitsrhythmen meist mehrere Phasen parallel ab. (b) Die Mitteilung der Arbeitsergebnisse in der Klasse und nach außen ruft auch sprachlich eine authentische Kommunikation hervor: Man spricht, um real existierende Arbeitsprozesse zu organisieren, Probleme und Konflikte zu beheben, um anderen die eigenen Ergebnisse mitzuteilen, um sich auszutauschen. 7 Diese schematische Phasen-Darstellung kann leicht den Eindruck einer didaktischpädagogischen Idylle der Freinet-Pädagogik hervorrufen. Daß wie in jedem Unterricht - Konflikte, Disziplinprobleme, Lernhemmungen u.a.m. auftreten, zeigen die Fallbeispiele und Monographien auf. 8 2. Theoretische Grundlagen des Freinet-Ansatzes Die pädagogischen Konzepte liegen ausgearbeitet vor: Es handelt sich zum einen um die unterschiedlichen Arbeitsmittel, zum anderen um die Begriffe des natürlichen Lernens und des entdeckenden Lernens. Die Bezugspunkte zum gesteuerten Spracherwerb beruhen auf Übertragungen pädagogischer Konzepte auf den Sprachunterricht. Sie sind jedoch nicht theoretisch abgeleitet. Ein Sprachbegriff läßt sich daher nur implizit und deduktiv aufdecken. Wie bei den meisten Ansätzen aus der Arbeitsschulpädagogik, die Lernprozesse anhand praktischer Arbeitsprojekte initiieren, so stehen auch bei der Freinet-Pädagogik die Arbeitsorganisation, die Bereitstellung der Arbeitsmittel und ein ganzheitliches Lernkonzept im Vordergrund. 2.1 Arbeitsmittel und Arbeitsorganisation Für einen Freinet-Lehrer ist Fremdsprachenunterricht zunächst einmal kein didaktisch-methodisches Problem. Für ihn stellt sich also nicht zuerst die Frage: Welches sprachliche Material erscheint mir für den Spracherwerb am geeignetsten? Wie 7 Die Literaturlage istwas die Darstellung dieser „Transferphase" bzw. der Arbeitsergebnisse angeht sehr vielfältig (vgl. die Bibliographien in Schlemminger 1995a, 1996a). In bezug auf Darstellung eines ganzen Lernzyklus sei u.a. verwiesen auf Bertrand (1969, 1971), Lemaitre (1974). 8 Vgl. u.a. Armand (1976), Baillet (1978, 1980), Janot (1979), Favier (1982), Schlemminger (1989), Schlemminger [et al.] (1992.) FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 93 kann ich es methodisch aufbereiten und vermitteln? Für ihn steht zunächst die gruppenpädagogisch-organisatorische Anforderung im Vordergrund: Wie kann die Schülergruppe an authentisches Material, an authentische Sprecher herankommen? Welche Arbeitsmittel und -techniken muß ich minimal bereitstellen, damit der Gruppe und dem Individuum selbständiges Arbeiten möglich wird? Diese pädagogisch-methodische Vorentscheidung induziert natürlich gleichzeitig einen bestimmten Lern- und Sprachbegriff, wie zu zeigen sein wird. Der Bezug zur Um- und Außenwelt wird durch die Kommunikationsmittel wie Klassenkorrespondenz, Klassenzeitung und Erkundung 9 hergestellt. Ihre sozialisierte Aneignung wird durch Ausdrucks- und Darstellungsmittel wie z.B. den freien Text gewährleistet. Sie verlangen Zugang zu den Reproduktionsmitteln wie Abzugsmaschine, Photokopiergerät usw. 10 Ein weiteres Arbeitsmittel ist die Klassenbibliothek11, die im Klassenraum oder in der Schulbibliothek untergebracht es dem Schüler gestattet, direkt an Material heranzukommen, es zu sichten und je nach seinen Interessensschwerpunkten auszuwählen und ggf. zu bearbeiten. Zu den Lerntechniken zählen vor allem die unterschiedlichen Selbstkorrekturkarteien, die es dem Schüler ermöglichen sollen, sich in den vier Sprachfertigkeiten zu üben. Diese Karteien sind so aufgebaut, daß jeder Schüler ohne Lehrerhilfe damit arbeiten kann.12 9 Es werden aber auch andere Kommunikationsmittel wie das Radio (Schlernminger 1986) oder neuere wie Fax und Internet benutzt (siehe u.a. Lafosse 1994, Valette 1994 und Vidal 1994). 10 Aufgrund der guten Literaturlage verzichte ich hier auf eine ausführlichere Darstellung. Für eine Einführung in diese Kommunikationsmittel siehe u.a.: • Freier Text: « Dossier texte libre ». Tracer 1993, n° 1; Schlemminger (1985), Minuth (1991, 1993). • Klassenkorrespondenz: « Dossier Correspondence ». Tracer 1993, n° 2. 11 Was eine solche Bibliothek enthalten kann, zeigt Hövel (1989). 12 Diese Karteien sind meist in Eigenarbeit des Lehrers erstellt und auf die Bedürfnisse seiner Klasse zugeschnitten. Neben den Karteien zu den Sprachfertigkeiten gibt es natürlich auch Karteien, die nicht zum Sprachtraining mit Selbstkorrektur sondern zu kreativem Handeln anregen. Es sind Poesiekarteien, Karteien nur mit Bildern und Photos als Schreibanlaß usw. Für eine genauere Beschreibung einer Grammatik-Selbstkorrekturkartei und einer Lesekartei für den DaF- Unterricht siehe Schlernminger (1993, 1995c); siehe auch Müller (1982). Es liegen zunehmend mehr Arbeitskarteien auch allgemein zugänglich vor: • Englisch: Freie Texte selber schreiben in Deutsch und Englisch (Hövel 1987), Englisch- Kartei "Verb-Game" (Sehreitmüller 1988a), Adjectives: Opposites (Sehreitmüller 1988b). • Französisch: Fichier d'orthographe. Fichier B. (o.J.), Fichier d'orthographe. Fichier C. (o.J.), Livret autocorrectif ortho D (o.J.); Fichier de lecture. Fichier 01, 02, 03. (o.J.), Fichier de lecture. Fichier Al, A2, A3. (o.J.), Fichier de lecture. Fichier C. (o.J.), Fichier de lecture. Fichier D. (o.J.), Fichier de lecture. Fichier Presse. (o.J.). Es handelt sich hier um Karteien der französischen Freinet-Bewegung, die im muttersprachlichen Grundschulunterricht eingesetzt werden; sie werden aber auch im Fremdsprachenunterricht Französisch angewendet. • Deutsch als Fremdsprache: Freie Texte selber schreiben in Deutsch und Englisch (Hövel FLuL 25 (1996) 94 Gerald Schlemminger Als Hilfsmittel der Arbeitsplanung zählt vornehmlich der Arbeitsplan. Hiermit wird gemeinsam das Arbeitspensum für einen bestimmten Zeitraum festgelegt. Die inhaltliche Ausfüllung obliegt außerdem dem Schüler. 13 In den unteren Klassen werden manchmal große Tafeln verwendet, auf denen die Lernfortschritte der Schüler festgehalten werden. Die Arbeitsorganisation der Klasse ist je nach Tendenz des Freinet-Pädagogen gruppendymamisch mehr oder weniger ausgearbeitet und durch „Mittierinstitutionen" strukturiert. 14 Diese ermöglichen mit präziser Zuweisung von Verantwortung und Aufgaben eine genauere Bestimmung der Rollen und Funktionen der handelnden Personen (verantwortlich für, Leiter von, ... ), der Kleingruppen (Redaktionskomitee, Tischgruppe, ... ), der Arbeitsplätze (Leseecke, Grammatiktisch, ... ). Die Schüler und Lehrer stehen sich nicht dual gegenüber, sondern handeln als Vertreter von bestimmten Klassenaufgaben und -interessen das Arbeitsprogramm, die Konflikte usw. aus. Dies geschieht meist im Rahmen des sogenannten Klassenrats. Der Einsatz dieser Arbeitsmittel und Organisationsformen verfolgt, zusammenfassend gesagt, folgende Ziele: (a) Lernen von selbständigem und selbstverantwortlichem Arbeiten in für den Schüler übersichtlichen und klar abgrenzbaren Sachgebieten; (b) bewußte Delegation von Verantwortung in der Auswahl und der Organisation der Arbeit und damit Befreiung des Lehrers von auf Schüler übertragbaren Aufgaben, damit jener sich intensiver dem einzelnen oder einer Lerngruppe zuwenden kann; (c) weitgehende Übernahme der Verantwortung des Lerners für seinen Lernprozeß; (d) jedem Schüler zu ermöglichen, nach seinen Interessen, Fähigkeiten und seinem Lernrhythmus zu arbeiten. Es seien nur stichwortartig die Bezugspunkte innerhalb der ersten internationalen reformpädagogischen Bewegung in den 20-30er Jahren dieses Jahrhunderts angedeutet, auf die die Freinet-Pädagogik aufbaut, aus denen Celestin Freinet (1896- 1966) seinen Ansatz für die öffentlichen Schulen entwickelt hat. Das Ausgeben von den Interessenschwerpunkten der Schüler (les centres d'interet) beim Lernen bezieht sich mehr oder weniger direkt auf die Arbeiten des Belgiers Decroly und die Projektmethode des amerikanischen Pädagogen Dewey. Die 1987), Lesekartei für den Anfängerunterricht Deutsch als Fremdsprache. Experimentierfassung (Freinet-Gruppe im Goethe-Institut Paris 1995). Bei der Freinet-Gruppe im Goethe- Institut Paris sind weitere Karteien im Aufbau. 13 Abdruck von Arbeitsplänen in Bertrand (1969), Schlemminger (1994b). 14 Diese Elemente sind von der Institutionellen Pädagogik entwickelt worden. Sie ist besonders in den Ballungszentren mit Großstadtschulen entstanden und hat die Freinet-Pädagogik in den 60er Jalrren begrifflich und praktisch vorangebracht (siehe u.a. Vasquez/ Oury 1967.) Zu Institutioneller Pädagogik und Fremdsprachenunterricht vgl. Schlemminger ( 1990). FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik- (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 95 Arbeit in Gruppen beruht auf der Rezeption u.a. der Psychologen Decroly und Claparede. Vorläufer des Arbeitsplans ist der Jahres- und Wochenplan der amerikanischen Lehrerin Purkhust. Selbstkorrekturmaterialien standen in den 20-30er Jahren groß in der Diskussion. F'REINET setzte sich sowohl ideologisch als auch fachlich-didaktisch besonders mit den Selbstkorrekturheften im Rechenunterricht eines C. Washburne auseinander (vgl. Schlemminger 1994c). 2.2 Natürliche Lernmethoden Der Begriff der „natürlichen Lernmethoden" geht auf die hermeneutische, kindzentrierte Pädagogik der Jahrhundertwende zurück, die in der empiristischen Tradition der Assoziationspsychologie und der sensualistischen Philosophie steht: Alle Vorstellungsinhalte lassen sich durch elementare sinnliche Wahrnehmung aneignen. Über erinnerungsmäßige Verknüpfungen können dann Wissen, Verstehen und abstraktere Erkenntnisse aufgebaut werden. Auf einen Freinet-orientierten Unterricht bezogen, handelt es sich weniger um die Entwicklung und den Einsatz ausgearbeiter Lernverfahren oder Vermittlungsstrategien, als vielmehr um die Herstellung von Rahmenbedingungen, d.h. von Arbeitsmitteln und Organisationsformen, die einen direkten, sinnlichen Kontakt mit dem Unterrichtsgegenstand ermöglichen. Für die Fremdsprache bedeutet dies den bereits beschriebenen Aufbau eines Verbindungsnetzes mit Sprechern der anderen Sprache, die Möglichkeit des freien Ausdrucks und den Einsatz der dafür notwendigen Kommunikationsmittel. Für den gesteuerten Spracherwerb werden damit folgende Axiome gesetzt: (a) Sprache lernt man durch Sprechen/ Schreiben in motivierten, authentischen Kommunikationssitutationen; in einer Freinet-orientierten Klasse werden sie einerseits durch die Notwendigkeit der Organisierung und Regulierung realer Arbeitsprozesse und andererseits durch den Austausch in und außerhalb der Klasse über die Produktionsergebnisse hergestellt. (b) Erst wenn der Schüler für sich eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage „Warum spreche ich in der künstlichen Situation 'Schulklasse' in einer fremden Sprache? " gefunden hat, wird ein erfolgversprechender Lernprozeß in Gang gesetzt. Der Begriff des motivierten, persönlichen Mitteilungsbedürfnisses, gerade im Zusammenhang mit dem freien Text, ist hier entwickelt und teilweise theorisiert worden (vgl. Minuth 1993, Schlemminger 1985b, 1996b). (c) Der Spracherwerbsprozeß ist ein kollektiver, interkultureller Sozialisationsprozeß. Er schafft die Rahmenbedingungen für einen sach- und personenbezogenen Sprachaustausch. FLuL 25 (1996) 96 Gerald Schlemminger 2.3 Entdeckendes Lernen (tiitonnement experimental) Der Begriff des experimentierenden, entdeckenden, forschenden Lernens 15 lehnt sich hauptsächlich an die entwicklungspsychologischen Untersuchungen Piagets an. Diese zeigen auf, wie ein Kind Neues zunächst an die vorhandenen eigenen Erkenntnisschemata assimilierend angleicht. Wenn die Anpassung der Objektwelt an diese Schemata nicht mehr funktioniert, dann werden diese Strukturen in Richtung auf die sich den bisherigen Schemata widersetzende Objektwelt verändert. Auf den Fremdsprachenunterricht bezogen, läßt sich das „entdeckende Lernen" wie folgt charakterisieren: Unter günstigen Rahmenbedingungen hat der Lerner die Sicherheit und das Vertrauen, sich selbst in der fremden Sprache zu versuchen. Er benutzt sie so, wie er meint, verstanden zu werden. Er baut Hypothesen über Gebrauch und Regelmäßigkeiten dieser Sprache auf. Er versucht, sich in der Klasse und mit den Korrespondenzpartnern zu verständigen. Er überprüft sein Sprecherverhalten, stößt auf Schwierigkeiten, korrigiert sich. In kooperativer Auseinandersetzung mit den Überlegungen und Sprechäußerungen seiner Mitschüler, des Lehrers, der Korrespondenten, des vorliegenden Materials usw. baut er neue Hypothesen über den Sprachgebrauch auf. Dieses Vorgehen des tastenden Ausprobierens ist durch eine große Aufnahme- und Lernbereitschaft gekennzeichnet, wobei die Gruppe die Rolle des helfenden Feedbacks spielt. Jeder Schüler entwickelt dabei seine eigenen Sprachlernverfahren und -Strategien; er konstruiert sich seine „eigene" fremde Sprache, die sich zunehmend der Zielsprache nähert. Das „entdekkende Lernen" hat im Fremdsprachenunterricht zum Ziel: (a) Entwickeln von persönlichen, erfolgsorientierten Aneignungs- und Spracherwerbsstrategien; (b) Entwickeln eines positiven Selbstbewußtseins im Umgang mit der fremden Sprache; (c) Entwickeln von situationsgerechtem sprachlichem Verstehen und Verhalten; (d) Erfahren, daß nicht nur rein innersprachliche, sondern auch außersprachliche Faktoren, wie interkulturelles Verständnis, Entschlüsseln von sozialen Kodes u.ä.m., zum Spracherwerb beitragen; (e) Entwickeln eines persönlichen, nicht nur sprachgebundenen Zugangs zuranderen Kultur. Der Aufbau seiner „eigenen" Fremdsprache durch „entdeckendes Lernen", der zu Beginn der 70er Jahre von den französischen Freinet-Lehrern entwickelt wurde, deutet auf das Konzept der Interimssprache hin, die zur gleichen Zeit in den USA 15 Die Eindeutschung dieses Begriffes erfolgt unterschiedlich. Baillet (1983) und Dietrich (1995) benutzen z.B. dafür „tastendes Versuchen". In der deutschen Freinetbewegung wird auch „tastendes Lernen" benutzt. Diese Vielfalt spiegelt die noch relativ ungenaue Begrifflichkeit wider. Meines Erachtens spiegelt „entdeckendes Lernen" den psychogenetischen Aspekt dieses Prozesses, wie Piaget ihn entwickelt hat, am besten wider. FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 97 um Selinker diskutiert wurde. Es sei jedoch erwähnt, daß diese Debatte in Frankreich erst Ende der 70er Jahre über Galisson (1980) und Besse rezipiert wird. Erste Untersuchungen mit der introspektiven Methode des lauten Nachdenkens haben gezeigt, welche Lernstrategien Schüler in einem Freinet-orientierten Unterricht bei der Textproduktion einsetzen (Minuth 1993). Es wäre sicherlich interessant, sie mit Arbeiten aus der Sprachlehr- und -lernforschung, die Lernerstrategien untersucht haben (z.B. Krings 1986), zu vergleichen. 2.4 Sprachbegriff Der Freinet-Sprachbegriff ist relativ weit gefaßt; die Arbeitsmittel, die Organisation der Sprachvermittlungsphasen, die Begriffe der „natürlichen Methode" und des „entdeckenden Lernens" deuten schon darauf hin. Dieser Sprachbegriff ist bisher von den Freinet-Praktikern wenig theorisiert bzw. zu Sprachtheorien in Bezug gesetzt worden. Ich werde versuchen, kurz die wichtigsten Merkmale zusammenzufassen: (a) Sprache wird weniger unter ihrem kognitiven und systematischen Aspekt in Betracht gezogen als unter ihrem funktional instrumentalen Gesichtspunkt in interaktiven Handlungsabläufen, zu deren Regulation und in der individuellen und Gruppensozialisation. Eine reale Kommunikationssituation kann sich in der künstlichen Klassensituation danach erst dann aufbauen, wenn die entsprechenden Arbeits- und Kommunikationsmittel bereitgestellt sind. (b) Der affektive Charakter der Sprache wird betont: Sprache als Mittel, persönliche Befindlichkeit auszudrücken und mitzuteilen, Reaktion, Betroffenheit auszulösen, um so bei dem Gegenüber ein verbales/ non-verbales persönliches Sich-Einlassen-auf-den-anderen zu fördern. (c) Sprachrichtigkeit ist kommunikationsbedingt und wird nicht aus der innersprachlichen Systematik abgeleitet. Die korrekte Benutzung der sprachlichen Form ist so dem individuellen Sprachbedürfnis untergeordnet, d.h., Vorrang des Inhalts vor der Form. (d) Die Beherrschung des Sinns einer Mitteilung steht eindeutig vor dem Gebrauch und der aktiven Benutzung neuer sprachlicher Formen. Der Bezug auf die Muttersprache erfolgt gerade bei der Verständnisabsicherung. Dieser Sprachbegriff steht dem anderer nicht konventioneller Sprachlernansätze wie der suggestopädischen Methode, dem „Community Language Learning", dem „Humanistic Approach" oder dem „Total Physical Response" nahe: Sie alle heben den situationsgebundenen, affektiven Charakter von Sprache hervor. Der gruppendynamische Aspekt beim Spracherwerbsprozeß wird besonders betont. Der Einbezug der Muttersprache wird, wie z.B. im suggestopädischen Ansatz, als wichtig betrachtet. FLuL 25 (1996) 98 Gerald Schlemminger 2.5 Lernkonzept - Spracherwerbsmodell Wie schon beim „entdeckenden Lernen" angedeutet, überwiegt in der Freinet- Fremdsprachenpädagogik ein konstruktivistischer Ansatz a la Piaget. Er widerspricht dem mentalistischen Ansatz, der Sprachlernen nur als eine Aktualisierung der bereits vorhandenen, angeborenen Sprachkompetenz sieht, wie er teilweise in der Zweitsprachenerwerbsforschung vertreten wird. Wenn auch der Behaviorismus als Lernkonzept sowohl vom ideologischen als auch vom praktisch-pädagogischen Standpunkt aus abgelehnt wird, finden sich behavioristische Elemente in der Freinet-Pädagogik, wie ich nachgewiesen habe (Schlemrninger 1994c). Sie beziehen sich auf die Einzelarbeit mit den Selbstkorrekturkarteien, da zumindest die älteren Fassungen häufig nach diesem Prinzip aufgebaut sind. Die Einbeziehung der Muttersprache, die „natürliche Methode", die Ablehnung einer besonderen Sprachlehr- und -lernmethode legen nahe, der Freinet-Pädagogik einen naturalistischen Ansatz zu unterstellen, der Erst- und Zweitsprachenerwerb strukturell und prozessual auf die gleiche Stufe stellt. Diese In-Beziehung-Setzung hieße jedoch, etwas vorschnell eine Entscheidung in dieser Theoriefrage treffen zu wollen. Zumindest auf der praktischen Unterrichtsebene erkennen die Freinet- Lehrer die besonderen Bedingungen des gesteuerten Zweitsprachenerwerbs an und versuchen, diesen durch den Aufbau bestimmter Rahmenbedingungen positiv zu fördern. Die Lehrer selbst haben sich zu diesem Problem unterschiedlich geäußert (vgl. Schlemminger 1996.) Man kann zusammenfassend sagen, daß institutionelles Zweitsprachen-Lernen als sozial induzierter und gesteuerter Prozeß verstanden wird. Erst sozialisierte Praktiken ermöglichen eine reale Kommunikation, motivieren einen persönlichen Ausdruck. Es wäre zu diskutieren, inwieweit man hier Bezüge zu der Tätigkeitstheorie russischer Psychologen wie A. A. Leontjew und 1. P. Galperin herstellen kann. Es sei erwähnt, daß Schneuwly (1994) versucht, Beziehungenim muttersprachlichen Bereich zwischen dem „entdeckenden Lernen" eines Freinet und den Forschungen zu den Spracherwerbsprozessen eines Wygotski herzustellen. 3. Pädagogisches versus didaktisches Paradigma eine kritische Einschätzung 3.1 Reformpädagogik heute An Kritik der ersten Reformpädagogikbewegung fehlt es nicht. 16 Sie bezieht sich hauptsächlich auf den puerozentristischen Ansatz, den Bezug zum „Natürlichen", zur Natur und auf das hermeneutische Verfahren der Erkenntnisgewinnung. 16 Vgl. Cahiers Pedagogiques 1977, Rang/ Rang-Dudzik (1978), Gleim (1979), Oelkers (1989), Böhm [et al.] (1994). FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 99 Ein politisch revolutionäres Selbstverständnis wie bei Freinet verhindert deshalb nicht eine sehr eklektische Rezeption seiner Pädagogik, die bis zu den Jesuiten- Schulen geht (vgl. Bruliard/ Schlemminger 1996). In Deutschland spiegeln Dietrich (1982) und Jörg (1989) die widersprüchlichen Rezeptionsweisen wider. Auch wenn heute noch, hauptsächlich wegen mangelnder Rezeption der neueren Schriften der Freinet-Bewegung und der einseitigen Fokalisierung auf die Gründerfigur Celestin Freinet, das Bild der idyllischen Landschulpädagogik oft vorherrscht, haben Bruliard/ Schlemrninger (1996) versucht, die Entwicklungslinien dieser Pädagogik aufzuzeigen. Sie heben besonders hervor, wie die (französische) Freinet- Pädagogik neuere Entwicklungen in den Erziehungs- und Humanwissenschaften nicht ganz konfliktfrei rezipiert hat, wie sich diese Pädagogik seit den 50er Jahren zunehmend auf das höhere Schulwesen verbreitet hat und wie sie gerade der Entwicklung der Massen- und Großstadtschule mit Theorie- und Praxiserweiterung Rechnung trägt. Es sei noch festgehalten, daß die Freinet-Pädagogik wohl der einzige Ansatz aus der reformpädagogischen Bewegung ist, in dem versucht wird, reformpädagogisches Gedankengut konsequent auf den Fremdsprachenunterricht zu übertragen. 17 3.2 „Pfingstwunderdidaktik" Haueis (1983) und Schneuwly (1995) bezeichnen Ansätze wie der Freinet-Pädagogik, bei denen man eine Fertigkeit scheinbar nur durch praktisches Handeln lernt, ironisch als „Pfingstwunderdidaktiken". Ich würde noch konsequenter argumentieren wollen: Der Freinet-Ansatz hat keine Didaktik, kein didaktisches Konzept im traditionellen Sinne. Damit ist die für gesteuerte Lernprozesse zentrale Frage nach der didaktischen Transposition (vgl. Chevalard 1985, Clanche 1989) aufgeworfen. Eine didaktische Transposition besteht bekanntermaßen aus drei Schritten: (a) Bestimmung des Gegenstandsbereichs und der betroffenen Wissenschaften: Für die Fremdsprachendidaktik sind je nach Definition die Bezugswissenschaften die Linguistik und/ oder die (Lern-)Psychologie und/ oder die Pädagogik usw. In Anlehnung an die Bezugswissenschaften erfolgt dann auch, je nach dorninan- 17 Mir sind in der Literatur nur wenige Aufsätze begegnet, die sich für den Fremdsprachenunterricht explizit auf reformpädagogische Ansätze beziehen: Gaudig (1921); zum Arbeitsschulkonzept: Krüger (1925), Gill (1972); zur Steiner-Pädagogik: Petit (1974). Meiner Kenntnis nach haben die heutigen reformpädagogisch orientierten Schulen, wie z.B. die Waldorf- oder die Peter- Petersen-Schulen, für die Fremdsprachen einen herkömmlichen didaktischen Ansatz, der dem Konzept des offenen Unterrichts nahesteht. Das soll nicht heißen, daß die um die Jahrhundertwende gerade entstehende Fremdsprachendidaktik, besonders in der Entwicklung ihrer „Direkten Methode", nicht wie Puren (1988) aufzeigt auch von der Reformpädagogik dieser Zeit beeinflußt wurde. Dieser Einfluß äußerte sich aber nur in der Übernahme einiger Unterrichtsverfahren (Elemente des Anschauungsunterrichts, direktes Verfahren usw.), jedoch nicht in einem pädagogisch-didaktischen Gesamtansatz. FLuL 25 (1996) 100 Gerald Schlemminger tem Paradigma, die Gegenstandsbestimmung. Es kann sich dabei um die Lexik, das Sprachsystem, die Sprechakte, das Kommunikationssytem u.ä.m. handeln. Es ist der Sprachbegriff des jeweiligen didaktischen Paradigmas. (b) Bearbeitung des wissenschaftlichen Gegenstands in Gegenstände einer gesteuerten Vermittlung: Hier findet die Bestimmung der Beschreibungsmodelle des Gegenstands statt, die Lernzielbestimmung allgemein, aber auch sprachlich und kulturell, so wie man sie in den Lehrprogrammen wiederfindet. Die Inhalte werden hier ausgewählt. (c) Verarbeitung zu Unterrichtsgegenständen: Hier finden wir die verschiedenen Unterrichts- und Lehrbuchmethoden, Unterrichtsverfahren und -techniken wieder. Die Freinet-Pädagogik entzieht sich dieser Transpositionsschritte (vgl. Clanche 1989, Schlemminger 1995b). Die Sprache ist das, was von der Um- und Außenwelt in die Klasse hereinkommt. Sie wird eher intuitiv beschrieben, der Aufbau eines Systems von Regelmäßigkeiten der Sprache wird auf das Individuum und seine ihm besonderen Spracherwerbsstrategien verlagert. Von einer phasengeleiteten Unterrichtsmethode und einer didaktischen Auswahl des Stoffes ist gar nicht zu sprechen. Der Klassenraum ist aber bekannterweise kein natürlicher Sprachraum. Deshalb kann man sagen: Wenn überhaupt Didaktisierung stattfindet, dann nur im Vorraum der Fremdsprachenvermittlung, und zwar durch die Bereitstellung der spezifischen Arbeitsmittel. Daß ein solcher Ansatz nicht unproblematisch ist, zeigen nicht nur die Konflikte mit der Schulaufsicht. Er läuft auch Gefahr, als naiv bezeichnet zu werden, da die Unterrichtenden egal ob aufgrund guter oder schlechter Lehrerausbildung natürlich immer ein, wenn auch nicht jedesmal bewußtes, universitär oder schulisch geprägtes Sprach(vermittlungs)verständnis mitbringen. Eine Auswahl sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher Art findet statt wenn auch jetzt nicht vor, sondern im Klassenraum mit den Betroffenen und wenn auch nicht unbedingt nach pädagogischen Kriterien. Diese Art und Weise, Spracherwerb „undidaktisch" zu sehen, stellt natürlich nicht nur an den Lehrer und seine Flexibilität eine Herausforderung dar: Er ist nicht der Ausführende einer Methode, sondern der Berater in einem komplexen, produktionsorientierten Lernprozeß. Dieser radikal arbeitspädagogische Zugang zur Fremdsprache hat wohl auch mit dazu beigetragen, daß er von der allgemeinen Fremdsprachendidaktik lange Zeit nicht beachtet worden ist. 3.3 Freinet-Pädagogik und neuere Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik Betrachtet man die Tendenzen der letzten 15 Jahre in der Fremdsprachendidaktik und in der (über Zeitschriften vermittelten) Unterrichtspraxis, so lassen sich Ansätze festmachen, die Freinet-pädagogischen Elementen nicht unähnlich sind. Es handelt sich dabei nur in äußerst seltenen Fällen um eine Rezeption dieser Päd- FLuL 25 (1996) Freinet-Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? 101 agogik als vielmehr um eine gerade in Deutschland zu beobachtende Entwicklung, die pädagogische Überlegungen zunehmend mit in den Fremdsprachenunterricht einbezieht. Auf eher konzeptueller Ebene sei da nur die Sprachlehr- und lernforschung erwähnt. So vertreten die Handlungsanweisungen an den Fremdsprachenlehrer von Krumm (1981, 1982) ein Lehrerkonzept, das dem der Freinet-Pädagogik sehr nahe stehen würde. Die Tandembögen, die Spengler (1991, 1993) zwar nur im Rahmen eines Französisch-Lehrbuchs entworfen hat, sind der Freinet-Pädagogik und ihren Selbstkorrekturkarteien nicht fremd (vgl. auch Heloury 1983, Wessling 1983). Die Übernahme von Leitungsfunktionen von Schülern im wenn auch lehrbuchgesteuerten - Fremdsprachenunterricht bei der Methode „Lernen durch Lehren" (vgl. Martin 1986, 1989; Graef/ Preller 1994), findet man auch im Freinet- Ansatz wieder. Daß ganzheitliches Lernen der Fremdsprachen nicht nur ein Anspruch der Freinet-Pädagogik ist, zeigen die Aufsätze in Timm (1995). Die Beispiele ließen sich noch fortsetzen. Das Besondere an dem Freinet-Ansatz ist jedoch das pädagogisch konsequent durchgedachte Gesamtunterrichtskonzept. Aus Raumgründen konnten in diesem Beitrag die theoretischen und praktischorganisatorischen Fragen nach der Sprach- und Grammatikprogression, nach Evaluation und Benotung, nach der Rückkopplung von individuellen und kollektiven Lernprozessen u.a.m. nicht angeschnitten werden. Es sei aber abschließend bemerkt, daß die Benutzung von Freinet-Techniken im Unterricht für den Lehrer zunächst weniger ein theoretisches Problem ist. Die Hemmschwelle für die Anwendung sog. alternativer Ansätze 18, welcher Richtung sie auch immer sein mögen, liegt m.E. zunächst einmal in der Lehrerausbildung. Es hat sich historisch gezeigt, daß die Sprachengruppe der französischen Freinet- Bewegung in den 70er Jahren u.a. deshalb so stark war, weil im Rahmen der Bildungsreform viele pädagogisch gut ausgebildete (Freinet-)Grundschullehrer in das weiterführende Schulwesen übergetreten sind. Der Sekundarstufenlehrer in Frankreich jedoch erhielt und erhält auch heute noch keine ausreichende praktischpädadogische Qualifikation, die es ihm ermöglicht, mit komplexen Unterrichtssituationen, z.B. in schwierigen Großstadteinzugsgebieten, fertig zu werden; noch immer erhält er nicht das theoretisch-methodische Grundlagenwissen zur Beherrschung der herrschenden Unterrichtsverfahren, um so ggf. eine positiv kritische Distanz dazu aufbauen zu können. Hierbei handelt es sich eindeutig um Defizite bildungspolitischer Entscheidungen. 19 18 Vgl. auch die m.E. sehr gute Kritik von Krumm (1982) an den alternativen Methoden im Fremdsprachenunterricht. 19 Zur Information: Anschrift der deutschen Freinet-Bewegungen: (a) Pädagogik Kooperative e.V., Goebenstr. 8, 28209 BREMEN. Zeitschrift: Fragen und Versuche. (b) Arbeitskreis Schuldruckerei: Eberhardt Dettinger, Rathenaustr. 21, 70191 STUTTGART. Zeitschrift: der schuldrucker. 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