Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251
Gnutzmann Küster SchrammAspekte der Sprachpsychodramaturgie
121
1996
Bernard Dufeu
flul2510144
Bemard Dufeu Aspekte der Sprachpsychodramaturgie Abstract. Linguistic Psychodramaturgy (LPD) is based on a view of man which influences its ways of teaching a foreign language. Since the foreign language acquisition and learning process is part of the general development of the person, LPD has two sorts of objectives, on the one hand behavioural and attitudinal objectives (deep ones) and on the other hand linguistic and cultural objectives (surface ones). The last part of the article deals with the applications of this concept of teaching in the foreign language class. Die Psychodramaturgie Linguistique (PDL) wird seit 1977 von Bemard Dufeu in Zusammenarbeit mit Marie Dufeu entwickelt. 1 Da wir an anderen Stellen die Grundlagen und die Praxis der PDL bereits ausführlicher beschrieben haben 2, werden wir uns in diesem Beitrag auf drei wesentliche Aspekte der PDL konzentrieren: auf das ihr zugrunde liegende Menschenbild, auf ihre Ziele und auf ihren Zugang zur Fremdsprache. 3 1. Die Konzeption des Menschen Jede Sprachmethode beruht auf einer Konzeption des Menschen (vgl. Dufeu 1995a) und auf einer damit verbundenen Konzeption des Lehr-/ Lembzw. Erwerbsprozesses.4 Diese Konzeption spiegelt sich ebenfalls in der Haltung der Lehrer gegenüber den Teilnehmern wider und zeigt sich in ihrem Umgang mit diesen. Bernard und Marie Dufeu gingen von einem zweiwöchigen Experiment mit der Expression Spontanee an der Mainzer Universität unter der Leitung von W. Urbain (1977) aus, um die PDL zu entwickeln. Der Name Psychodramaturgie verweist auf die zwei Hauptquellen der PDL: das Psychodrama und die Dramaturgie, aus denen Grundlagen und Techniken übernommen wurden, um den Spracherwerb zu fördern (vgl. Dufeu 1991, 1993 und insbesondere 1992a und 1996a, b). Sie wird aus praktischen Gründen öfter als PDL bezeichnet. 2 Vgl. insbesondere Dufeu (1992a und 1996a, b). Weitere kürzere deutschsprachige Beiträge in Dufeu (1991, 1992b, 1993a, b; 1995a, b). 3 Das Schema im Anhang (S. 159) gibt eine Übersicht über die in diesem Aufsatz angesprochenen Aspekte der PDL. 4 Die PDL fördert durch ihren Ansatz eher einen Erwerbsprozeß, was jedoch Lernprozesse nicht ausschließt. Wir teilen in diesem Bereich nicht die eher manichäische Auffassung Krashens (vgl. Krashen 1982). FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 145 1.1 Die Einzigartigkeit jedes Teilnehmers und die Individualität des Erwerbsprozesses Jeder geht seinen Weg: Der Teilnehmer wird als einzigartiges Wesen betrachtet; dies bedeutet beim Spracherwerb, daß jeder seinem Weg bei der Erkundung der Fremdsprache folgt. Jeder Erwerbsprozeß ist an erster Stelle ein individueller Prozeß in einer Gruppe. Diese Individualität wird in der POL durch den Einsatz offener Verfahren (Settings und Rahmenaktivitäten, vgl. unten 3.) gefördert, die dem unterschiedlichen Kenntnisstand und dem persönlichen Lernrhythmus jedes Teilnehmers Raum geben. 5 Statt vorauszusetzen, daß man in einer bestimmten Reihenfolge besser lernen kann, beruht die POL auf der Hypothese, daß die Teilnehmer die Fremdsprache besser erwerben, wenn sie die Inhalte selbst bestimmen (Prinzip der persönlichen Resonanz). Jeder folgt seinem eigenen Rhythmus: Es wird vorausgesetzt, daß jeder die Fremdsprache dadurch am besten erwirbt, daß er seinem persönlichen Rhythmus folgt, statt zu versuchen, so schnell wie möglich ein bestimmtes Ziel in einer festgelegten Zeit zu erreichen. Es wird keine Einheitlichkeit der Lernschritte angestrebt 6, sondern es wird versucht, die Bedingungen zu schaffen, die den Erwerb der Fremdsprache bei jedem einzelnen am besten ermöglichen. Diese Einstellung zur Individualität des Erwerbsbzw. Lernprozesses wird durch Anweisungen der Trainer ebenso wie durch Gedichte, die diese Thematik ansprechen, oder durch entsprechende Metaphern gefördert. Jeder ist woanders: Individualität bedeutet auch, daß jeder seine eigene Referenz ist. In einer Gesellschaft, die sich vorwiegend nach dem „Besten" richtet, besteht eine starke Neigung, diese Einstellung auf den Sprachunterricht zu übertragen; da der Spracherwerb sich nicht linear entwickelt und viele Reifungsprozesse nicht kontinuierlich direkt wahrnehmbar sind, sondern in „Sprüngen" spürbar werden, verstärkt sich diese Haltung manchmal in Sprachkursen. Bei der POL hingegen werden die Teilnehmer ermutigt, den Entwicklungsprozeß reifen zu lassen, anstatt zu hohe Ansprüche an sich zu stellen bzw. die anderen als Maßstab zu nehmen. 5 Die PDL verzichtet auf die illusionäre pädagogische Erwartung, daß alle zugleich das Gleiche im gleichen Moment und im gleichen Rhythmus lernen, d.h., sie verzichtet auf die Uniformierungstendenzen eines inhaltlich „programmierten" bzw. programmbestimmten Unterrichts. Auch wenn die Didaktik den Unterschied zwischen Input und Intake hervorhebt, pflegen viele Lehrer weiter die Illusion der pädagogischen Macht, indem sie eine Einheit erwarten zwischen dem, was sie lehren, und dem, was gelernt werden soll. Diese Illusion wird durch immer ausgeklügeltere Progressionen und immer genauere Inhaltsbestimmungen verstärkt, obwohl jeder Lehrer weiß, daß selbst Nullanfänger schon nach einer Stunde nicht den gleichen Kenntnisstand besitzen. 6 Eine Einheitlichkeit des Lernprozesses anzustreben ist sowieso illusionär. Es sei denn, die Ziele werden auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ausgerichtet. Dies würde jedoch zu einer Unterforderung der meisten Teilnehmer führen. FLuL 25 (1996) 146 Bernard Dufeu Die PDL kann als eine Pädagogik des Weges betrachtet werden, denn sie versucht, dem Teilnehmer dort zu begegnen, wo er sich gerade befindet, sowohl sprachlich (auf seinem jetzigen Kenntnisstand, statt ihn auf fremdbestimmte Ziele unter Leistungsdruck und Anspannung zu setzen) als auch psychologisch (mit seinen Erwartungen und Ängsten, Wünschen und Zweifeln, statt zu versuchen, ihn aufgrund eines fremdbestimmten Programms zu einem vorbestimmten Ziel zu bringen). Damit unterscheidet sich die PDL von einer Pädagogik des Zieles. 1.2 Der FU als Beitrag zur Selbstentwicklung Der Erwerb einer Fremdsprache ist grundsätzlich ein persönlichkeitsbildender Prozeß, der zur Entwicklung der Teilnehmer, ihrem Individuationsprozeß beiträgt (vgl. M.-L. von Franz in Jung 1968: 160-229). 7 Leben und Pädagogik bilden eine Einheit: Lernen ist ein Lebensakt, Leben ein fortwährender Lernprozeß. Die Pädagogik bereitet im Unterricht nicht nur auf das Leben außerhalb des Kurses vor, sondern sie ist Teil des Lebens. Dieses Leben drückt sich auf realer und imaginärer Ebene, in direkter oder symbolischer Weise in der anwesenden Gruppe aus. Da die PDL sich als Beitrag zur Entwicklung der Person betrachtet und den Teilnehmer als Person, als „Parletre" (siehe Lacan), anspricht, sprechen wir von einer Pädagogik des Seins. Sie unterscheidet sich damit von einer Pädagogik des Habens, die sich vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, auf die Vermittlung von Inhalten konzentriert (vgl. Dufeu 1982, 1983b, 1992a, 1995c, 1996). 1.3 Der Teilnehmer trägt Polaritäten in sich „Without Contraries is no progression. Attraction and Repulsion, Reason and Energy, Love and Hate are necessary to human existence. " William Blake Das Individuum lebt mit Polaritäten: mit seinen Wünschen und Ängsten, Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Zweifeln, Akzeptanz und Verweigerung, mit seinen „Ja" und „Nein". Beide Seiten sind unentbehrliche Bestandteile auf dem Weg zur Selbstentfaltung und zur Differenzierung der Persönlichkeit. Die Anerkennung und die Integration dieser antagonistischen Kräfte führt zur individuellen Ganzheit. Der Antagonismus dieser Kräfte fördert die Dynamik des Lebens der Teilnehmer und der Gruppe. Die PDL berücksichtigt das Zusammenwirken dieser Kräfte bei dem Aufbau ihrer Übungen und bei der Auswahl der Texte. Dies bedeutet auch, daß die Trainer die Inhalte der Kommunikation in der Gruppe nicht nur auf rein positive Aspekte beschränken. 7 Jeder Unterricht, auch der traditionellste, hat einen Einfluß auf die Entwicklung der Persönlichkeit, er kann zur Erweiterung oder zur Versteifung, zur Autonomie oder zur Abhängigkeit führen. Der traditionelle Fremdsprachenunterricht kann durch seine Kommunikationsformen pathogene Tendenzen wie Konfluenz, Deflektion, Introjektion, ... fördern (vgl. B. Dufeu 1995: 12). Wir lehren immer mehr als nur die Sprache. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 147 1.4 Der Teilnehmer wird als. Beziehungswesen betrachtet Die POL richtet sich an den Teilnehmer als Gesamtpersönlichkeit (d.h. auf der physischen, affektiven und intellektuellen Ebene), die ihre sozialen und geistigen Erfahrungen und Kontexte in den Unterricht miteinbringt. Sie betrachtet den Teilnehmer als ein in Beziehungen stehendes Wesen, und zwar zu sich selbst, dem anderen, den anderen in der Gruppe, der Umwelt. Diese Reihenfolge weist auf eines der Progressionskriterien der POL hin. Die Begegnung (vgl. Moreno 1914) 8 steht also im Mittelpunkt des pädagogischen Prozesses. Die Sprache wird als Mittel zur Beziehung und zur Interaktion unter den Teilnehmern eingesetzt, statt vorwiegend oder ausschließlich Objekt bzw. Ziel des Unterrichts zu sein. Viele Übungen tragen zum gegenseitigen Zuhören, zur Anerkennung des anderen mit seiner besonderen Persönlichkeit und seiner daraus resultierenden Unterschiedlichkeit sowie zur gegenseitigen Unterstützung bei. Die POL beinhaltet eine starke soziale Komponente. Aus diesen Gründen betrachten wir die POL als eine Pädagogik der Begegnung und der Beziehung. In der POL sprechen wir von „Teilnehmern", denn sie werden als Mitglieder einer Gruppe betrachtet (soziometrischer Aspekt), die an einem Erwerbsprozeß teilnehmen, und nicht von Lernern, wodurch sie aus funktionellen Gründen auf ein fremdbestimmtes Ziel festgelegt werden, nämlich den geplanten Stoff mehr oder weniger programmgemäß zu lernen. Statt von Lernerzentriertheit geht die POL von einer Teilnehmerorientierung aus. 2. Die Ziele der PDL Die POL betrachtet den Erwerb einer Fremdsprache als einen zweischichtigen Prozeß (vgl. Schema im Anhang S. 159). Auf der tiefen Ebene findet die Entwicklung der Einstellungen, Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten statt, die notwendig sind, um eine Fremdsprache zu erwerben bzw. zu lernen. Zwei Grundfähigkeiten werden dsfür insbesondere in Betracht gezogen: die Rezeptivität und die Fähigkeit, sich auszudrücken. 9 Eine besondere Aufmerksamkeit gilt also der Entwicklung dieser „Tiefenziele" auf der Verhaltensebene, denn sie fördern den Spracherwerbs- 8 Moreno ist nicht nur der Begründer des Psychodramas sondern auch der Soziometrie, einer Wissenschaft, die das Beziehungsgeflecht zwischen den Teilnehmern einer Gruppe analysiert (vgl. Moreno 1954). 9 Unter Rezeptivität verstehen wir u.a. die Entwicklung der Fähigkeit des Zuhörens, der Aufnahmebereitschaft (Disponibilität), der Präsenz zu sich und zu den anderen. Zur genaueren Aufzählung der diesen zwei Grundfähigkeiten untergeordneten Fähigkeiten und Fertigkeiten vgl. Dufeu (1992: 92-94, 1995a: 36) bzw. Dufeu (1996: Kap. 2). Diese Ziele werden als „richtungsweisend" betrachtet, was einer Pädagogik des Weges entspricht, und nicht als zwingend zu erreichen angesehen. FLuL 25 (1996) 148 Bemard Dufeu prozeß grundlegend (vgl. Tabelle im Anhang S. 159). Dafür werden spezifische Aktivitäten verwendet. Da diese Übungen in der Fremdsprache stattfinden, nehmen die Teilnehmer zugleich die Fremdsprache in sich auf. 10 Die lexikalischen, strukturellen, funktionellen und interkulturellen Komponenten, die die Oberflächenziele des Fremdsprachenunterrichts bilden, werden u.a. durch den Einsatz von Übungen erreicht, die den Ausdrucks- und Kommunikationswunsch der Teilnehmer stimulieren. Dies sei exemplarisch dargestellt. Zunächst werden wir anhand einer Übung des ersten Tages eines POL-Kurses ein Beispiel für die Entwicklung einer Einstellung zeigen, und zwar die Präsenz im Hier und Jetzt. Dann wird die Entwicklung einer Fähigkeit, nämlich der Sensibilisierung für das Zuhören (ecoute) durch eine Übung illustriert, die am zweiten Tag eines Intensivkurses stattfindet. 11 Die Oberflächenziele werden wir im dritten Teil dieses Beitrages behandeln. Die Entwicklung einer Haltung: die Präsenz im Hier und Jetzt 12 Der traditionelle Unterricht und insbesondere der pragmatische Unterricht ist stark zukunftsorientiert und zielgerichtet: er soll die Teilnehmer auf eine hypothetische Zukunft vorbereiten (Heterochronie); damit wird die gegenwärtige Unterrichtssituation von der Zukunftgerichtetheit der Programmautoren abhängig. Statt direkt zu „sein", werden die Teilnehmer kontinuierlich auf ein zukünftiges Sein vorbereitet (prepares a etre). Diese Orientierung auf eine fiktive Zukunft verstärkt die Trennung zwischen Unterrichtsraum und Außenwelt (Heterotopie), die Welt innen wird der Welt draußen untergeordnet. Die POL hingegen konzentriert sich auf der Stufe I des Sprachtrainings vorrangig auf das Hier und Jetzt. 13 Sie geht von den Teilnehmern und von der anwesenden Gruppe aus. Die Sprache entsteht spontan im Hier und Jetzt der Übung. Bei- IO Die wichtigste pädagogische Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen notwendig sind, um eine Fremdsprache zu erwerben. Welche Strukturen, lexikalischen Einheiten oder Sprechakte benötigt werden, um sich in einer bestimmten Situation sprachlich durchsetzen zu können, bestimmen in der Stufe I hauptsächlich die Teilnehmer selbst durch ihre Ausdruckswünsche. 11 Wir werden hier Momente der PDL in ihrer Standardanwendung beschreiben, d.h. bei Intensivkursen (3-6 Std. pro Tag) in der Form von Intensivwochenenden bzw. Intensivwochen. 12 Der Begriff Hier und Jetzt ist breitgefaßt. Er beinhaltet, daß die Teilnehmer einerseits als Träger einer immer gegenwärtigen Vergangenheit (passe-present) mit ihren Erinnerungen, positiven Erfahrungen, Enttäuschungen, Problemen und mit einer ebenso gegenwärtigen Zukunftsdimension (jutur-present) mit ihren Wünschen und Ängsten, Erwartungen, Hoffnungen und Zweifeln, Interessen und Vorhaben als Wunschwesen (etre-de-desir) anwesend sind. Die Gegenwart ist also mehrdimensional zu betrachten. 13 Auf der Stufe 11 z.B. beim Erwerb von Fachsprachen gehen die Trainer von Situationen aus, die die Teilnehmer beherrschen möchten. Sprechakte, Sprechintentionen sowie die erforderliche Lexik und Syntax entstehen aus diesen Situationen. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 149 spielsweise in der Doppelübung (vgl. unten 3.1) am ersten Tag eines Intensivkurses läßt die Trainerin die Sprache kommen, die ihr spontan einfällt, indem sie sich in den Protagonisten 14 hineinversetzt. Bei der Variante zur Spiegelübung am Ende des zweiten Tages eines Intensivkurses fängt der Protagonist von sich aus an, seine erste Ausdruckssequenz zu entwickeln. Dabei beginnt er mit der Konzentration auf seinen Atemrhythmus und begleitet zuerst rein gestisch den inneren Monolog, der ihm gerade einfällt; in einer weiteren Phase versucht er, von der Gestik getragen, diese Ausdruckssequenz mit Lauten, Wörtern oder Sätzen zu verbalisieren. Die Trainerin bietet ihm in der folgenden Phase eine sprachlich ausgebaute Verbalisierung dieser Sequenz an. Die Sprache entsteht so aus dem Augenblick heraus. Schon in dieser Phase lernen die Teilnehmer, sich spontan auszudrücken, auch wenn sie noch nicht selbst über einen Großteil der dazu notwendigen sprachlichen Mittel verfügen. Die fehlenden Sprachmittel werden ihnen von den Trainern angeboten. Die Teilnehmer lernen in zahlreichen Aufwärm- und Hauptübungen, sich auf den Augenblick zu konzentrieren und spontan zu reagieren. Sie lernen, präsent bei dem zu sein, was gerade ist (etre present a ce qui est), und den Augenblick in seiner Intensität zu erleben. Der Einsatz von neutralen Masken in den ersten drei Tagen fördert ebenfalls die Konzentration auf das Geschehen. Einfache Atemübungen verstärken diesen Prozeß. Let it be (The Beatles): Präsenzfähigkeit beinhaltet eine Haltung der Disponibilität, eine Offenheit für das, was in dem Augenblick geschieht, eine Haltung des Loslassen-Könnens, also die Fähigkeit, geschehen zu lassen und kommen zu lassen, was gerade kommen will (gelassen sein), statt unbedingt etwas erreichen zu wollen. 15 Diese Präsenzfähigkeit wird auch durch die Entspannungsübung am Anfang jedes Unterrichtstages und durch andere Wahrnehmungs- und Konzentrationsübungen gefördert. Die Entwicklung einer Fähigkeit: das Zuhören (l'ecoute) Das aufmerksame Zuhören fängt beim Teilnehmer selbst während der Entspannungsübung an, die am Anfang j~des Kurstages stattfindet. Dieses Zuhören konzentriert sich zuerst auf physische Wahrnehmungen: auf den Kontakt des Körpers mit dem Boden, auf die Wahrnehmung des Schweregefühls, auf den Atemrhythmus, auf die Atembewegung ... 14 Als Protagonisten bezeichnen wir Teilnehmer, die direkt in einer Übung einbezogen sind. 15 Der Wille, unbedingt etwas erreichen zu wollen, kann den Erwerbsprozeß behindern oder blockieren. Ein banales Beispiel im Alltagsleben zeigt uns der „Schluckaufeffekt": Wenn eine Person einen unaufhörlichen Schluckauf hat und ihr eine bestimmte Summe versprochen wird, falls sie den Schluckauf dreimal im Laufe der nächsten zwei Minuten hat, dann stoppt der Wille den Prozeß. Ebenso wenn jemand Schwierigkeiten hat einzuschlafen, hindert das Schlafenwollen den Prozeß des Einschlafens. Im Sprachbereich unbedingt alles verstehen zu wollen, kann den Verstehensprozeß stören oder verhindern. FLuL 25 (1996) 150 Bernard Dufeu Der Händespiegel, der als Gruppenaufwärmung auf die Hauptübung 16 des zweiten Tages (Spiegelübung) vorbereitet, zeigt unter anderem, wie das Zuhören mit einem Partner geübt wird. Die Teilnehmer bilden Zweiergruppen und stehen einander gegenüber, A fängt mit langsamen Händebewegungen an, B versucht, diese Handbewegungen zu „spiegeln" und sich damit in den Rhythmus von A hineinzuversetzen. Dieses physische Zuhören bereitet auf das verbale Zuhören vor und sensibilisiert dafür, sich auf einen fremden Rhythmus einzustellen (eine Fremdsprache wird in erster Linie durch den ihr eigenen Rhythmus charakterisiert). In der anschließenden Hauptübung, der Spiegelübung, stellt sich ein Teilnehmer auf die Trainerin ein, die ihm gegenübersitzt. Er versucht, ihre Haltung soweit wie möglich zu übernehmen. Nachdem er eine halbe Maske aufgesetzt hat, mit der er nicht sehen kann, konzentriert er sich auf die Sprechsequenz, die sie entwickelt. Er versucht dann, die fremde Sprache als Echo zu übernehmen. In einer weiteren Phase dieser Übung wechselt er mit der Trainerin den Platz; dieses Mal trägt er eine offene Maske, mit der er sehen kann. Während die Trainerin ihre Sequenz wiederholt, versucht er, nicht nur Echo ihrer Stimme zu sein, sondern auch ihre Gestik zu übernehmen. Auf diese Weise ist es ihm möglich, noch tiefer in ihre Sequenz hineinzukommen und sich in sie hineinzuversetzen; dadurch kann er die Sprache besser von innen heraus erfassen. In dieser Übung wird er dafür sensibilisiert, den anderen durch „inneres" Zuhören genauer wahrzunehmen. Diese Fähigkeit bildet eine wichtige Basis für die zwischenmenschliche unq damit für die interkulturelle Kommunikation. 17 Durch die Gruppengröße von maximal vierzehn Personen auf der Stufe I kann sich jeder der anderen Teilnehmer mit dem/ den Protagonisten identifizieren und selbst die Übung innerlich nachvollziehen und damit die Fähigkeit des Zuhörens weiterentwickeln. Ab dem vierten Tag eines POL-Intensivkurses werden die Teilnehmer sehr oft zu „Dopplern" der Protagonisten und versuchen, sie in ihrem sprachlichen Ausdruck zu unterstützen. Dadurch üben sie sich fortwährend im aufmerksamen Zuhören. Die Tatsache, daß die Inhalte der Kommunikation nicht vorgegeben sind, und der persönliche Charakter der Aussagen fördern die Bereitschaft zum Zuhören. Es handelt sich nicht nur darum, einfach Wörter in der Fremdsprache zu hören, sondern jemandem zuzuhören, der sich persönlich ausdrückt. 18 16 Jede Hauptübung wird durch eine Aufwärmübung vorbereitet. Zwischenübungen erlauben eine Alternanz zwischen individuellen und Gruppenaktivitäten; sie helfen zugleich, bestimmte für den Spracherwerb nützliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. 17 Diese Fähigkeit, dem anderen auf „verfeinerte" Art zuzuhören, trägt zugleich zu einer nuancierteren Wahrnehmung der phonetischen Besonderheiten der Fremdsprache bei. 18 Die Themen entsprechen i.a. Inhalten, die man mit Bekannten ansprechen könnte. Der Begriff „persönlich" bedeutet nicht, daß in die engere Privatsphäre eingedrungen wird, sondern daß die Teilnehmer ihre „persönliche" Antwort zu der gegebenen Situation artikulieren. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 151 3. Der Zugang zur Fremdsprache Die meisten Sprachlernmethoden stellen die Benutzung eines Lehrwerks in den Mittelpunkt der Fremdsprachenvermittlung. Das Lehrwerk bestimmt zum größten Teil die Inhalte der Kommunikation unter den Lernenden, auch wenn die sogenannte Transferphase die Möglichkeit eines freieren Gebrauchs des Gelernten gewähren soll. Die Form der Kommunikation ist meistens hierarchisch geprägt und verläuft häufig nach dem Frage-Antwort-Prinzip. 19 Der Verlauf des Unterrichts ist im allgemeinen an die Abfolge bestimmter Unterrichtsphasen gebunden: Einführung des unbekannten Wortschatzes, Übungsphase zur Aneignung der sprachlichen Inhalte, Transferphase. Dies entspricht einem „Zweitaktverfahren": Die Lerner sollen zuerst die Sprache lernen, um anschließend kommunizieren zu können. Statt den Lernern zuerst die Sprache beizubringen, die sie anschließend in Kommunikationssituationen anwenden sollen, bietet die POL Übungen, die den Wunsch der Teilnehmer stimulieren, sich direkt auszudrücken und zu kommunizieren. Die sprachlichen Mittel werden ihnen nach Bedarf gegeben; damit sind beide Prozesse, Erwerb und Kommunikation, vereint. 20 3.1 Zugang zur Fremdsprache über ihren Rhythmus und ihre Melodie Am Anfang war das Ohr: Der Einstieg in die Fremdsprache erfolgt mit dem individuellen Kontakt jedes Teilnehmers mit dieser Sprache. Die Trainerin setzt sich hinter den Protagonisten in einer Dopplerposition, d.h. sie versucht, die gleiche Körperhaltung wie er einzunehmen und stellt sich auf seinen Atemrhythmus ein. Sie versucht, sich so weit wie möglich in den Protagonisten hineinzuversetzen. Dann läßt sie eine Sprechsequenz entstehen, die der Protagonist möglicherweise in dieser Situation ausdrücken könnte, wenn er die sprachlichen Mittel dazu zur Verfügung hätte. In einer zweiten Phase nimmt sie diese Sequenz sinngemäß wieder auf und schlägt dem Protagonisten vor, sich nun mit dem Rhythmus und der 19 Der Lehrer stellt Fragen, deren Antworten er kennt; weicht der Lerner von der erwarteten Antwort ab, ertönt oft das berühmte „Ja, aber ...". Es scheint uns adäquater, auf Nachfrage zu antworten, statt künstliche Antworten zu erfragen. Die „kommunikativen Methoden" insbesondere in Deutschland und in Frankreichhaben zwar inhaltliche Veränderungen angebahnt, indem sie untersucht haben, welche sprachlichen Mittel in bestimmten Kommunikationssituationen notwendig sind (z.B. Aufstellung der relevanten Kommunikationssituationen, Erkundung der nützlichen Sprechakte, Redemittel, ...), sie sind aber damit vorwiegend auf der linguistischen Ebene geblieben. Der Unterrichtsprozeß ist meistens nicht wirklich kommunikativer geworden. 20 Die Tatsache, daß die Teilnehmer in der Fremdsprache nicht die Wörter zur Verfügung haben, um sich auszudrücken, berechtigt nicht dazu, ihnen das Recht auf eigenen Ausdruck zu entziehen. Sich an den Teilnehmern zu orientieren, setzt voraus, daß man nicht vorher festlegt, welche sprachlichen Inhalte sie lernen und anwenden sollen. Es schließt ein vorgefertigtes sprachliches Programm aus. FLuL 25 (1996) 152 Bernard Dufeu Melodie der Fremdsprache vertraut zu machen, indem er versucht, die Wörter und Sätze dieser ersten Sprechsequenz zu übernehmen und sich vom Rhythmus der Fremdsprache tragen zu lassen. Die Trainerin moduliert diese Sequenz, je nachdem wie der Protagonist ihren Sprachvorschlag übernimmt (Unterlassungen, andere Intonation ... ). In diesen Sequenzen spielt sie oft mit den Rhythmen und Lauten der Fremdsprache, manchmal entstehen Alliterationen, die den rhythmischen Charakter der Sprache hervorheben (z.B.: "J'avance progressivement pas a pas, peu a peu, dans cette langue inconnue"). Die Teilnehmer kommen dadurch unmittelbar in Kontakt mit der Poesie dieser Sprache und entwickeln zugleich eine Sensibilität für die suprasegmentalen Aspekte der Fremdsprache und für die Wahrnehmung der konnotativen Werte der Botschaft. Die Sprache wird so nicht als eine Summe von sich aneinanderreihenden lexikalischen Elementen präsentiert, sondern in ihrer melodischen Gesamtheit erfaßt. Sie verliert damit einen Teil ihres Fremdheitscharakters und gewinnt so an Vertrautheit. Diese Arbeit wird durch die Einführung von Gedichten vertieft, die von Körperbewegungen begleitet werden, um die rhythmischen, melodischen und segmentalen Eigenarten der Fremdsprache deutlich erfahrbar zu machen. 21 3.2 Die Fremdsprache von innen und von sich ausgehend erleben Von den bekannten Inseln zu neuen Ufern: Die Teilnehmer bilden (jeder für sich) während der ersten zwei Tage einen „Sprachkern" 22 in der Fremdsprache; von diesem Sprachkern ausgehend, bahnen sie sich ihren Weg in der Fremdsprache. Ihre Ausdrucks- und Kommunikationswünsche werden durch gezielte Verfahren geweckt, d.h. durch „Settings" bzw. Rahrnenaktivitäten. 23 Die Teilnehmer drücken 21 Wir verdanken in diesem Bereich viel der Arbeit von Marcel Jousse (1974, 1975), die uns von Gabrielle Baron (1981) vermittelt wurde, und der Arbeit von Marie-Louise Aucher (1977). Wir berücksichtigen dabei die Grundsätze der verbotonalen Methode, die uns von Petar Guberina (1965, 1972) und Genevieve Calbris nahegebracht wurden (Calbris 1975, 1981). Vgl. dazu Dufeu (1976). 22 Dieser „Ausdruckskern" besteht aus den in den vorherigen Phasen erworbenen Sprachkenntnissen, die bewußt über die Erklärungen zu dem methodischen Vorgehen, über die Anweisungen zu den Übungen oder über die Entspannungsübungen, die am Anfang bilingual stattfinden, oder auch durch die intuitiv erfaßte Bedeutung von Sequenzteilen bei sich und anderen aufgenommen wurden. Dazu kommen auch eventuell vorhandene Vorkenntnisse der Teilnehmer bzw. "Intemationalismen" sowie para- und nonverbale Kommunikationsmittel. 23 Eine Rahmenaktivität bietet einen offenen Rahmen, der die Ausdruckswünsche der Teilnehmer stimuliert. Die Teilnehmer bestimmen selbst die Inhalte. Die Kommunikationswünsche der Teilnehmer bestimmen die angewendete Sprache. Statt im voraus und in Abwesenheit der Betroffenen zu bestimmen, was für sie gut ist, halten wir es für besser, ihnen die Verantwortung für ihre Sprache zu lassen. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 153 sich zuerst mehr oder weniger bruchstückhaft aus. Die Trainer stellen sich sprachlich auf sie ein und geben ihnen die fehlenden sprachlichen Mittel, um ihre Ausdruckssequenz genauer zu artikulieren und zu erweitern. Sie folgen ihnen in ihren Ausdruckswünschen, statt ihnen mit einem festgelegten Programm vorauszugehen. Die Sprache entspringt aus den Kommunikationswünschen und -bedürfnissen der Teilnehmer, sie wird sozusagen maßgeschneidert. Jeder eignet sich seine persönliche Ausdrucksweise und seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten in der Fremdsprache an. Jeder wird zum Architekten seiner Sprache. Jeder ist aktives Subjekt seines Erwerbsprozesses, statt passives Objekt eines fremdbestimmten Programms zu sein. Bei den verwendeten Übungen wird die Fremdsprache direkt in Aktion und Interaktion erfahren und erworben, sie wird erlebt, statt nur gelernt. Trotz der Verschiedenheit der angesprochenen Themen bildet sich in jeder Gruppe eine gemeinsame Sprache, die man als relationelle Sprache bezeichnen kann. 24 Die Fremdsprache wird zum Mittel des eigenen Ausdrucks und der lebendigen Kommunikation unter den Teilnehmern, statt Ziel des Unterrichts zu sein. Dadurch entsteht eine Kenntnis der Sprache; auf dieser Grundlage kann je nach Bedürfnis ein Wissen aufgebaut werden. 25 Da die Teilnehmer selbst Urheber ihres Ausdrucks sind, besteht eine enge Beziehung und Kongruenz zwischen Sprecher und Sprache ebenso wie zwischen Ausdruck und Ausdruckswunsch, zwischen dem Gesagten und dem Ausgedrückten, zwischen Ausdruck und realer bzw. imaginärer Situation. 26 Die sprachlichen Inhalte haben damit für die Teilnehmer eine Bedeutung. 27 Die Teilnehmer tun mehr, als 24 Diese relationelle Sprache drückt unter anderem aus: Wünsche, Bedürfnisse, Empfindungen, Befindlichkeit, Interesse, persönliche Vorliebe, die Situierung in Raum und Zeit, den Wunsch bzw. die Schwierigkeit oder die Angst, sich in der Fremdsprache auszudrücken, die Eindrücke über die angewandte Methode, Ereignisse vor dem Kurs oder während des Kurses .. . Diese Sprache bildet sozusagen die Grundsprache der Kommunikation mit sich selbst und mit anderen. 25 Ein Beispiel aus einem anderen Bereich kann den Unterschied zwischen Kenntnis und Wissen verdeutlichen: Wenn wir ein Buch über ein Land lesen, besitzen wir ein Wissen über dieses Land, wenn wir es besuchen, erwerben wir eine Kenntnis dieses Landes durch direkte Erfahrung. 26 Diese Kongruenz erleichtert den Semantisierungsprozeß des neuen sprachlichen Materials und sein Behalten. Damit wird die doppelte Verfremdung vermieden, die wir im traditionellen Unterricht antreffen (die Lerner benutzen nicht ihre Wörter, da es nicht ihre Muttersprache ist, sie benutzen aber auch nicht ihre Worte, da man ihnen meistens fremde Inhalte auferlegt, zu denen sie keinen inneren Bezug haben). Diese doppelte Verfremdung erschwert den Erwerb bzw. das Lernen der Fremdsprache. 27 Wir machen den Unterschied zwischen dem Sinn (Denotat) und der Bedeutung einer Aussage: "Es ist sechs Uhr" hat den denotativen Sinn einer Zeitangabe, die Bedeutung beinhaltet persönliche und soziale Konnotationen: "Schon", "Endlich", "Ich muß weg", ... Sehr oft begreifen die Teilnehmer in der PDL den unbekannten Sinn eines fremdsprachlichen Ausdrucks über die intuitive Erfassung der Bedeutung der Aussage, die durch Situation, Kontext, Beziehung zwischen den Sprechern, paraverbale und non-verbale Elemente getragen wird. FLuL 25 (1996) 154 Bemard Dufeu nur sprechen: sie drücken sich aus. Da die Fremdsprache in ihnen eine persönliche Resonanz hervorruft, kann dies den Integrationsprozeß erleichtern. Um eine lineare Progression im Ausdruck zu vermeiden, werden die Sprechsequenzen der Teilnehmer meistens unter Veränderung eines ihrer Parameter (z.B. neuer Gesprächspartner für die gleiche Sequenz, Veränderung einer Komponente der Situation, einer Charakteristik beim Gesprächspartner) mehrmals aufgerollt; dies fördert eine spiralförmige Erweiterung der Sprache. Die neuen Ausdrucksmittel können auf diese Weise wieder aufgegriffen, erweitert und so leichter behalten werden. Dieses Verfahren gibt außerdem dem Ausdruck der Teilnehmer eine gewisse Dynamik, denn es regt den Kreislauf der schöpferischen Spontaneität an (vgl. Moreno 1954: 11-18). Vom Ich zum „Anderen": Die Progression basiert vorwiegend auf relationellen Kriterien. Die ersten drei Phasen eines Intensivkurses beinhalten eine individuelle Einführung jedes Teilnehmers in die Fremdsprache durch drei Grundübungen: Doppeln, Spiegeln und Triadische Begegnung. In diesen ersten Phasen dominiert die „Ich-Sprache", eine egozentrische Sprache (vgl. Piaget 1956). Ab der 4. Phase (Verzögerte Begegnung am vierten Tag) begegnen sich Teilnehmer zuerst in Zweiergruppen, bevor sie später mit mehreren Teilnehmern ins Gespräch kommen; damit ergibt sich eine „sozialisierte" Sprache. Es entsteht sozusagen eine Progression vom Ich zum Du und Ihr, eine Bewegung von innen (Rückkehr zu sich) nach außen (Kontakt mit den anderen). Die angewandten Verfahren werden in ihrer Auswahl und Reihenfolge so aufeinander abgestimmt und entsprechend der PDL- Konzeption des Spracherwerbs ausgesucht, daß eine kohärente Progression gewährleistet ist. In der Stufe I der PDL findet die Sprache ihren Ursprung im realen und imaginären Leben der anwesenden Gruppe. Wenn in der Stufe II Texte eingesetzt werden (z. B. literarische Texte, landeskundliche Texte oder Fachtexte), dienen diese nicht nur der Erweiterung der Sprache, sondern sie haben meistens eine Auslöserfunktion: Sie tragen vor allem dazu bei, die Ausdruckswünsche der Teilnehmer zu stimulieren. Situationen aus dem realen oder imaginären Leben der Gruppe geben ebenfalls Anlaß zu schriftlichen Aktivitäten (Bericht, Anzeige, Interview, ...). 28 Sprache entdecken und sich aneignen, statt fremde Erkenntnisse wiederzukäuen: Wenn sprachliche Probleme auftauchen, die eine bewußte kognitive Erklärung for- 28 In den ersten zwei Wochen eines Intensivkurses findet der Zugang zur Sprache hauptsächlich über die gesprochene Sprache statt. Der Kontakt mit dem schriftlichen Code geht ab dem dritten Kurstag zuerst von Schreibwünschen der Teilnehmer aus. Die Teilnehmer erhalten am Ende des ersten Wochenendes bzw. der ersten Woche die Texte der Gedichte und der Entspannungsübungen, so daß sie die Orthographie mit ihren eigenen Transkriptionsvorstellungen vergleichen können. Später werden Texte eingesetzt, die zum Teil nach dramaturgischen Kriterien ausgesucht werden (vgl. Dufeu 1995: 117-136 und 1996: Kap. VII). Die PDL geht von den persönlichen Schreibwünschen aus (Prinzip der persönlichen Resonanz), bevor die Schrift als Regelsystem in ihrer Gesamtheit vorgestellt wird. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodrarnaturgie 155 dem, dann wird diese soweit möglich von der Gruppe selbst gesucht. 29 Bei der Entdeckung des Regelsystems der Fremdsprache geht man wieder von den Teilnehmern aus, statt sie mit vorgefertigten Modellen zu konfrontieren. Die Grammatik wird also in der PDL nicht vorprogrammiert, sie steht in einer Outputposition (von den Problemen ausgehend) und nicht in einer Inputposition. Damit wird das Antizipieren bzw. das Entstehen von Problemen vermieden. Die Reflexion über grammatische Fragen ergibt sich aus der direkten Begegnung mit der Sprache, so daß die Grammatik nicht von der Anwendung der Sprache getrennt betrachtet wird. Der andere, der mir so fremd erscheint: Der Kontakt mit den interkulturellen Aspekten der Sprache geschieht ebenfalls auf zwei Ebenen: auf der Ebene des Verhaltens und auf der Ebene des Wissens. Auf der Verhaltensebene werden Fähigkeiten entwickelt, die im Kontakt mit Fremden und fremden Kulturen wichtig sind: die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören und sich in ihn hineinzuversetzen; die Schärfung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Akzeptanz der Andersartigkeit, ohne sie sofort mit Werturteilen zu belegen, sowie das Sich-Abgrenzen- Können. Neugierde für das Fremde wird geweckt 30, und zudem wird die Flexibilität erhöht. Alle diese Aspekte werden in der PDL besonders durch den regen Gebrauch von Imaginationsübungen gefördert. Die zweite Ebene betrifft das Wissen über das fremde Land und die Kenntnis dieses Landes. Um dies zu erreichen, werden unter anderem Texte dramaturgisch umgesetzt, die den Teilnehmern ein Erleben bestimmter Situationen von innen heraus ermöglichen. 31 4. Die PDL als Herausforderung Die Durchführung eines POL-Kurses in seiner „orthodoxen" Form kann mit einigen organisatorischen und institutionellen Schwierigkeiten verbunden sein. Denn dafür sind die Anwesenheit zweier Trainer 32 während der ersten zwei Wochen, eine 29 In diesem Zusammenhang wird u.a. die „Konzeptualisationstechnik" von Besse (1974) eingesetzt. 30 Das Fremde kann mit Neugier, aber auch mit Bedrohung verbunden sein. 31 Diesen Bereich haben wir bisher aus zeitlichen und entwicklungstechnischen Gründen wenig erforscht. Daniel Feldhendler, mit dem wir die relationelle Dramaturgie entwickeln, hat sich inbesondere mit der dramaturgischen Vermittlung interkultureller Aspekte befaßt und dabei Arbeitsformen entwickelt, die auf den methodologischen Grundlagen der Psychodramaturgie beruhen (Feldhendler 1983, 1989, 1990, 1991, 1992). 32 Die Durchführung mit einem Trainer während der ersten zwei Wochen setzt eine große Erfahrung voraus. Ein solcher Kurs ist für einen Trainer physisch sehr anstrengend und kann seine erforderliche Disponibilität und Konzentration beeinträchtigen. Die symbolische Kraft einiger Übungen wird reduziert oder geht verloren. Außerdem ist die Veränderung einiger Übungen FLuL 25 (1996) 156 Bemard Dufeu kleine Gruppe (maximal 14 Teilnehmer) und ein Intensivkurs Voraussetzung (Wochenenden bzw. Intensivwochen mit mindestens drei StuI).den pro Tag zumindest beim Einstieg in die Fremdsprache). Aus diesem Grunde wird die POL bisher vorwiegend in der Erwachsenenbildung eingesetzt. Die POL erfordert eine methodologische, technische und relationelle Ausbildung der Trainer. Die POL erfordert nicht nur Übung, um die Techniken zu beherrschen, sondern ein tiefes Umdenken. Da die Arbeit mit echten Anfängern schwieriger ist, wird den Trainern empfohlen, zuerst einige Erfahrungen mit Anfängern mit Vorkenntnissen bzw. mit Fortgeschrittenen zu sammeln. Die Grundausbildung besteht aus sechs Wochenenden, die über sechs Monate verteilt sind, so daß die Trainer in der Zwischenzeit mit Schülern oder Bekannten üben können. Aufbauseminare ergänzen diese Grundausbildung. Die POL weicht von gewissen Lehr- und Lerngewohnheiten und der traditionellen Konzeption des Fremdsprachenunterrichts ab. Ihre Umsetzung fordert von den Trainern, daß sie für die Teilnehmer die richtigen Worte, Bilder, Metaphern oder Erklärungen finden, um bei ihnen andere Einstellungen und Haltungen zum Erwerbsprozeß in die Wege zu leiten und das Besondere dieses Ansatzes verständlich zu machen. Die Trainer brauchen auch Geschick, Sensibilität und Erfahrung, um das Verhaltensspektrum der Teilnehmer zu erweitern, die Angst vor Fehlern haben bzw. befürchten, sich vor den anderen zu blamieren, oder die dazu tendieren, sich nach dem „Besten" richten. Die POL ist nicht nur eine mögliche Alternative zu anderen Sprachmethoden, sondern sie erweist sich auch wegen der methodologischen Fragen, die sie in den Raum stellt, und der ihr zugrunde liegenden Konzeption des Spracherwerbs als eine pädagogische Herausforderung. Ouvertüre als Abschluß Die POL hat eine fast zwanzigjährige Entwicklung hinter sich und bietet ein weites Entwicklungsfeld. Auch wenn sie seit etwa zehn Jahren ein kohärentes Gesamtbild aufweist, eröffnen sich fortwährend neue Erweiterungs- und Vertiefungsmöglichkeiten. Bisher ist die POL vorwiegend in der Erwachsenenbildung, ihrem ursprünglichen Entwicklungsfeld, eingesetzt worden. Einige vielversprechende Versuche sind mit Jugendlieben in Form von Intensivkursen und Arbeitsgemeinschaften gemacht worden. Immer mehr Kollegen setzen POL-Verfahren im schulischen Bereich ein. Auch hier führt die POL die trainierten Sprachlehrer zu anderen Haltungen gegenüber ihren Teilnehmern, zu einem anderen Rollenverständnis in ihrer Lehrerfunktion, zu anderen Einstellungen zum Spracherwerb. Gerade im schuerforderlich, was mit einem Verlust an Effektivität verbunden ist. Die Arbeit zu zweit erlaubt außerdem eine differenziertere Wahrnehmung der Gruppenprozesse und führt zu einer gegenseitigen beruflichen Bereicherung. Es ist die Frage, ob der durch Verzicht auf den zweiten Trainer erzielte wirtschaftliche Gewinn oder die organisatorische Erleichterung wirklich von Vorteil sind. FLuL 25 (1996) Aspekte der Sprachpsychodramaturgie 157 lischen Bereich ist noch viel zu tun, um von einer Pädagogik des Habens zu einer Pädagogik des Seins überzugehen. Eine Anwendung der Prinzipien der PDL auf Fremdsprachenunterricht für Kleinkinder, eine Anpassung einiger ihrer Verfahren an diese Altersstufe und die Erstellung entsprechend neuer Verfahren sind in Planung. Der Sprachunterricht kann zur Strukturierung und Erweiterung der Persönlichkeit des Kleinkindes beitragen und zugleich den Fremdsprachenerwerb fördern. Auch hier eröffnet sich noch ein weiteres Arbeitsfeld. Bibliographische Angaben AUCHER, Marie-Luise (1977): L'homme sonore. Paris: Epi. AUCHER, Marie-Luise (1977): Les plans d'expression. Paris: Epi. BARON, Gabrielle (1981): Memoire vivante. Paris: Le Centurion. BESSE, Henri (1974): "Les exercices de conceptualisation ou la reflexion grammaticale au niveau 2" In: Voix et Images du CREDIF 2, 38-44. CALBRIS, Genevieve / M0NTREDON, Jacques (1975): Approche rythmique, intonative et expressive du franr; ; ais langue etrangere. Paris: Cle International. CALBRIS, Genevieve/ M0NTREDON, Jacques (1981): Oh la la. 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Beruhend auf einer KONZEPTION DES MENSCHEN als einzigartiges Wesen in Entwicklung begriffen von Polaritäten getragen in Beziehung zu anderen AUFWARM-/ HAUPfUBUNGEN zum zur AUSDRUCK/ KOMMUNIKATION Entwicklung von EINSTELLUNGEN und HALTUNGEN zum ERWERBSPROZEß jedem seinen Weg jedem seinen Rhythmus jeder sich selbst als Referenz - Präsenz im Hier und Jetzt - Vertrauen lnterkulturalität SENSIBILISIERUNGS- UBUNGEN Entspannungs-, Atem-, Vokalisierung-, Rhythmusübungen, Gedichte Entwicklung von EINSTELLUNGEN/ HALTUNGEN FAffiGKEITENIFERTIGKEITEN, die den Spracherwerb fördern - Präsenz - Kontakt - Konzentration - Flexibilität - Zuhören - Spontaneität - Intuition - Kreativität -usw. -usw. Die Inhaltsebene umfaßt: Linguistische und interkulturelle Aspekte. FLuL 25 (1996)
