eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 25/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251 Gnutzmann Küster Schramm

Edwin GENTZLER: Contemporary Translation Theories

121
1996
Bernd Stefanink
Edwin GENTZLER: Contemporary Translation Theories. London: Routledge 1993 (Translation Studies), 224 Seiten [Hb £ 40.80; Pb £ 12.99]
flul2510253
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 253 Wilss' Beitrag zur übersetzungstheoretischen Diskussion für letzteren etwas negativ auswirkt. Auch K. Reiß wird nicht immer wohlwollend behandelt (z.B. 156, 164, 166). Wenn die Vf.in die „Skopostheorie" von Reiß mit dem „Diktum der Manipulationisten [gleichsetzt], eine Übersetzung sei, was dafür ausgegeben wird" (163), so führt dies zu falschen Zuordnungen. Der Begriff der „Deverbalisierung" (185), mit dem das Wesen des Übersetzungsprozesses erfaßt und Ladmirals „sprachphilosophischer Ansatz" (183) begründet werden soll, stammt nicht von Ladmiral, sondern von Elisabeth Lavault (1985: 77 et passim) und ist Seleskovitchs Überlegungen zum konsekutiven Übersetzen entsprungen, mit denen sie die „Pariser Schule" (E.S.I.T.) begründet hat. Schade, daß diese wichtige Schule in dieser "Einführung" mit keinem Wort erwähnt wird (vgl. Seleskovitch 1975). Ein Blick in Lavault (1985: 77 et passim) hätte der Vf.in auch gezeigt, daß die didaktische Strategie, "das Gemeinte 'mit eigenen Worten' nachzuerzählen" (222), nicht Hönig zuzuschreiben ist, sondern zu den von Lavault empfohlenen « exercices de 'deverbalisation' » gehört, dessen Grundlagen bereits bei Seleskovitch (1975) gelegt wurden. Neben der erwähnten Unterscheidung zwischen Makro- und Mikrostrukturalisten würde die Darstellung einerseits durch eine Beschränkung auf die „Schule machenden" Theoretiker sowie andererseits durch eine deutlichere Trennung zwischen Theoretikern und Didaktikern an Klarheit gewinnen. Zwischen dem empirisch-prozessalen Ansatz eines Hans P. Krings und den metaphorischen Formulierungskünsten eines Jean-Rene Ladmiral besteht nämlich ein so himmelweiter Unterschied, daß ihre gemeinsame Behandlung im Kapitel „Der Blick auf den Übersetzer" nur schwer zu rechtfertigen ist. Für Verwirrung sorgen schließlich auch die bibliographischen Angaben: manche Publikationen erscheinen mit Titel und Erscheinungsort Gedoch ohne Verlagsangabe) bis zu dreimal, nämlich in den "Literaturhinweisen" am Ende eines jeden Kapitels, in der „Bibliographie" am Ende des Buches und in den "Anmerkungen". Hingegen werden einige bibliographische Hinweise im Text, wie z.B. "Simon 1978" (57, 58) oder "Nord 1986" (175 [hier muß es wohl 1988 heißen]) an keiner Stelle aufgelöst. Dem Sachregister hätte ein Autorenregister zur Seite gestellt werden sollen, womit es erst möglich wird, den gedanklichen Weg einzelner Theoretiker über die von der Vf.in aufgestellten Kategorien hinweg zu verfolgen. Trotz dieser kritischen Einwände kann man dieses Buch, das einen Weg durch den übersetzungstheoretischen Dschungel bahnt, auch dem Studienanfänger durchaus empfehlen. Edwin GENTZLER: Contemporary Translation Theories. London: Routledge 1993 (Translation Studies), 224 Seiten [Hb f 40.80; Pb f 12.99] Die Tatsache, daß dieses Buch in der Reihe "Translation Studies" erscheint, die von Susan Bassnet und Andre Lefevere herausgegeben wird, prägt bereits die Erwartungshaltung des Übersetzungswissenschaftlers. Bassnet und Lefevere sind bekanntlich Vertreter der sog. "Manipulation School", die davon ausgehend, daß jede Übersetzung auch schon immer eine "manipulation" des zu übersetzenden Textes beinhaltet sich gar nicht mehr darum bemüht, nach Äquivalenzkriterien etwa im Sinne von ReißNermeer (1984) zu suchen, die „Wirkungsgleichheit" sichern sollen, sondern die als Übersetzung das ansieht, was als solche ausgegeben wird. Und diese Übersetzungen werden dann unter dem Blickwinkel der kulturellen Einflüsse, die sie auf die zielsprachliche Literatur ausüben, betrachtet. Wenn G. von "Translations Theories" spricht, so meint er vorrangig eine Auswahl von Theorien des literarischen Übersetzens. Es werden fünf verschiedene übersetzungstheoretische Ansätze kritisch untersucht. Als erstes gilt seine Aufmerksamkeit dem "American Translation Workshop". Hier finden wir Namen wie Jonas Zdanys, der Übersetzen als eine "subjective FLuL 25 (1996) 254 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel activity" (11) ansieht, der aber davon überzeugt ist, daß es in jedem Gedicht so etwas wie ein "unified meaning" (12) gibt, i.e. the author's intention" (14), das dem "perfect reader" zu entdekken gegeben ist. Zum "perfect reader" wird man trainiert und gehört dann zu einer kleinen „Elite" (16). Man denkt unwillkürlich an die "Happy few" von Stendhal. Die überragende Figur dieses amerikanischen 'Translation Workshops' war jedoch Ezra Pound, der sich nicht mehr um Probleme möglicher Äquivalenz oder um Dekodierungs- und Kodierungsprozesse scherte, sondern der vom Übersetzer die Wahrnehmung und Übertragung der im ausgangssprachlichen Gedicht enthaltenen "energy" forderte. Hierzu ist das Erfassen von "luminous details" (28) wichtiger als die Beschäftigung mit Syntax, "which get in the translator's way" (28). Wichtigste Eigenschaft des Übersetzers ist dabei die "intuition" (24). Einer seiner Nachfolger, Frederic Will, bezeichnet diese Energie als "thrust", eine Art Energiestoß. Dieser "thrust" ist der Sinn ("meaning" [35]), den der Übersetzer hinüberzubringen hat. Diese theoretische Grundlage führt u.a. zu einem Übersetzungsverfahren, bei dem der Sinn eines Gedichts in Form eines "cribs" in der Zielsprache expliziert wurde und einem Dichter als Vorlage zu einem zielsprachlichen Gedicht diente, das als "Übersetzung" galt. Den 2. Ansatz nennt G. den übersetzungswissenschaftlichen: "The 'science' of translation" (42-73). Diese „wissenschaftliche" Betrachtungsweise beginnt mit Chomsky und Nida, um dann in Deutschland zur Blüte zu gelangen. Die Darstellung beschränkt sich hier zu sehr auf W. Wilss' Theorien. G. widmet ihm insgesamt 10 Seiten, während die Leipziger Schule, ReißNermeer und Snell-Hornby auf jeweils etwa einer Seite abgehandelt werden. Den Tenor von Wilss' Gesamtwerk scheint G. allerdings nicht zu treffen, wenn er erklärt, daß Übersetzungswissenschaft für Wilss eine "cognitive/ hermeneutic/ associative" Wissenschaft sei (62). Man denke nur an Wilss' letztes Werk: Übersetzungsfertigkeiten! Mit keiner Silbe erwähnt werden übrigens der funktionale Ansatz von Ch. Nord und die hermeneutische Tradition von Gadamer oder Paepcke, die heutzutage vor allem von R. Stolze gepflegt wird von dem prozeduralen Ansatz von Krings oder Lörscher ganz zu schweigen. Ein dritter Ansatz, der sich sowohl vom literaturwissenschaftlichen Ansatz des 'American Translation Workshop' als auch vom linguistischen Ansatz der Übersetzungs"Wissenschaftler" absetzt, um die Übersetzung als selbständige Disziplin zu begründen, bezieht sich auf jene Gruppe, die sich "Translation-Studies" nennt. Der Terminus stammt von J. Homless. Die bekanntesten Vertreter der Gruppe sind Susan Bassnet und Andre Lefevere. G. unterscheidet eine erste Phase, die er im Kapitel "Early Translation Studies" behandelt und in der die Gruppe sich das Ziel setzt, den Übersetzungsprozeß zu studieren. Sie müssen jedoch feststellen, daß dieses anspruchsvolle Ziel stärker interdisziplinär angegangen werden muß. Während sich die "Translation Studies"-Gruppe in ihren Anfängen noch mit Äquivalenzfragen beschäftigte, begründet Even-Zohar die "Polysystem Theory", die jegliche Form von Literatur, einschließlich Kochbücher, Kriminalromane oder andere „nicht-kanonisierte" Literaturformen als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ansieht. Übersetzte Literatur wird dementsprechend in ihrer Funktion innerhalb des gesamten Polysystems untersucht. Für Gideon Toury heißt dies: nicht unter aprioristisch-theoretischen Gesichtspunkten ist eine Übersetzung als gut oder schlecht anzusehen, sondern Übersetzungen sind als solche zu akzeptieren, und anhand verschiedener Übersetzungen ein und desselben Textes sind Überlegungen zu den impliziten theoretischen Grundlagen anzustellen. Nur so kann man zu realitätsnahen "translation norms" kommen (130). Viele Anhänger dieser Schule publizieren in einer von Theo Hermans herausgegebenen Reihe, die den Namen The Manipulation of Literature trägt, was ihnen den Namen "Manipulation School" eingetragen hat. Die Vertreter des „Dekonstruktivismus", zu denen der Vf. Foucault, Heidecker und Derrida rechnet, werden normalerweise nicht als Übersetzungstheoretiker angesehen. Wenn G. ihnen dennoch seine Aufmerksamkeit schenkt, dann deshalb, weil sie Wesentliches über den Sinn FLuL 25 (1996) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 255 ausgesagt haben. Es gibt für sie nicht den Sinn des Textes. den es zu erforschen gilt und den der Übersetzer in die Zielsprache zu übertragen hätte, sondern jedes einzelne Wort weckt beim Leser jeweils andere Konnotationen, die zu einer jeweils anderen Übersetzung führen. Fazit: G. gewährt einen Einblick in übersetzungstheoretische Ansätze, die sich stark von der zur Zeit in Deutschland geführten Diskussion abheben und die sicher zur Relativierung dieser Ansätze beitragen können, wenn sie auch dem Praktiker manchmal etwas esoterisch vorkommen mögen. Dem Übersetzungsdidaktiker sind sie allerdings nicht sehr hilfreich; dies ist auch nicht das Ziel des Autors. Marianne LEDERER: La traduction aujourd'hui. Paris: Hachette 1994 (F.L.E.), 224 Seiten [FF 95] Der Titel, unter dem dieses Buch angekündigt ist, könnte falsche Erwartungen wecken: Hier wird nicht etwa panoramaartig ein Überblick über den heutigen Stand der Übersetzungswissenschaft gegeben, sondern es wird das sogenannte « modele interpretatif » dargestellt, wie es von den Vertretern der "Ecole de Paris" allen voran Danica Seleskovitch und Marianne Lederer an der E.S.I.T. gelehrt wird. Dreh- und Angelpunkt dieses Modells ist die Deverbalisierung ("Deverbalisation"). Der Übersetzer muß sich vom Wortlaut lösen und den Sinn übersetzen. Am überzeugendsten wird dies am Dolmetschen demonstriert. "Verba volant, scripta manent": Der Dolmetscher kann sich nicht an schriftliche Vorlagen halten, er übersetzt den Sinn. Dies wird durch die "memoire cognitive" (23), das kognitive Gedächtnis, des Dolmetsche.s ermöglicht: Er merkt sich nicht Wörter, sondern Sinneinheiten. Diesen Sinn erfaßt man nicht, wie häufig behauptet wird, in zwei Etappen (1. Verstehen der Sprache des Textes, 2. Inferenzierung des Sinnes), sondern die Sinnerfassung ist "immediate" (25). Dies scheint mir allerdings der dreiphasigen Darstellung des Übersetzungsprozesses - Verstehensphase, Deverbalisierung, zielsprachliche Wiedergabe-, die der gesamten Theorie zugrunde liegt, zu widersprechen: Phase 1 und 2 müßten dann zusammenfallen. Die Sinnerfassung wird neben den Sprachkenntnissen durch das "bagage cognitif' (das Weltwissen) einerseits und durch den "contexte cognitif' (das ko-textuelle Wissen) andererseits gewährleistet. Den sprachlichen Ausdruck versteht M.L. als "Synecdoque", d.h. als die "partie explicite du sens" (58). Jeder Text besteht aus einem Minimum an expliziten Elementen, hinter denen sich Implizites verbirgt. Den Sinn übersetzen heißt, dieses Implizite übersetzen. Sprachliche Zeichen benennen den Referenten aufgrund eines hervorstechenden Merkmals, das die Rolle einer "pars pro toto" spielt. Die gewählten Merkmale sind von Sprache zu Sprache verschieden. Dieser mangelnde Isomorphismus von expliziter 'Synecdoche' und implizitem Referenten stellt die Problematik des Übersetzens dar. Genauso selbstverständlich, wie das lexikalisierte dt. Schublade auf der Basis des Merkmals „schieben" benannt mit dem frz. tiroir (tirer = ziehen) übersetzt wird, genauso selbstverständlich sollte laut L. im folgenden Text von Stefan Zweig: "In der kleinen Pension an der Riviera, wo ich damals, 10 Jahre vor dem Kriege, wohnte, war eine heftige Diskussion an unserem Tische ausgebrochen[...]", das Syntagma an unserem Tische mit Un soir, a la table ou je dinais übersetzt werden (61). Obwohl ich grundsätzlich mit M.L. in vielem übereinstimme, scheint mir die Auslegung in diesem Beispiel zu weit zu gehen: Nichts im Kontext läßt darauf schließen, daß es sich um ein 'Abendessen' handelt. Diese übersetzerische Freiheit mutet um so befremdlicher an, als die Vf.in andererseits die von ihr vertretene "traduction interpretative" streng von der "traduction libre" abgrenzt, der sie gerade "nombre d'omissions et d'ajouts" vorwirft (217). Auch fehlt in diesem Beispiel gänzlich die "analyse justificative", die sie andernorts (44) fordert. Als solche ist jedenfalls die lapidare Behauptung "cette equivalence est conforme au genie du franc; : ais comme l'original l'est au genie de l'allemand" (61) pädagogisch nicht überzeugend. Die Forderung nach einer solchen rechtfertigenden Analyse wird übrigens FLuL 25 (1996)