eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 25/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251 Gnutzmann Küster Schramm

Marianne LEDERER: La traduction aujourd’hui

121
1996
Bernd Stefanink
Marianne LEDERER: La traduction aujourd’hui. Paris : Hachette 1994 (F.L.E.), 224 Seiten [FF 95]
flul2510255
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 255 ausgesagt haben. Es gibt für sie nicht den Sinn des Textes. den es zu erforschen gilt und den der Übersetzer in die Zielsprache zu übertragen hätte, sondern jedes einzelne Wort weckt beim Leser jeweils andere Konnotationen, die zu einer jeweils anderen Übersetzung führen. Fazit: G. gewährt einen Einblick in übersetzungstheoretische Ansätze, die sich stark von der zur Zeit in Deutschland geführten Diskussion abheben und die sicher zur Relativierung dieser Ansätze beitragen können, wenn sie auch dem Praktiker manchmal etwas esoterisch vorkommen mögen. Dem Übersetzungsdidaktiker sind sie allerdings nicht sehr hilfreich; dies ist auch nicht das Ziel des Autors. Marianne LEDERER: La traduction aujourd'hui. Paris: Hachette 1994 (F.L.E.), 224 Seiten [FF 95] Der Titel, unter dem dieses Buch angekündigt ist, könnte falsche Erwartungen wecken: Hier wird nicht etwa panoramaartig ein Überblick über den heutigen Stand der Übersetzungswissenschaft gegeben, sondern es wird das sogenannte « modele interpretatif » dargestellt, wie es von den Vertretern der "Ecole de Paris" allen voran Danica Seleskovitch und Marianne Lederer an der E.S.I.T. gelehrt wird. Dreh- und Angelpunkt dieses Modells ist die Deverbalisierung ("Deverbalisation"). Der Übersetzer muß sich vom Wortlaut lösen und den Sinn übersetzen. Am überzeugendsten wird dies am Dolmetschen demonstriert. "Verba volant, scripta manent": Der Dolmetscher kann sich nicht an schriftliche Vorlagen halten, er übersetzt den Sinn. Dies wird durch die "memoire cognitive" (23), das kognitive Gedächtnis, des Dolmetsche.s ermöglicht: Er merkt sich nicht Wörter, sondern Sinneinheiten. Diesen Sinn erfaßt man nicht, wie häufig behauptet wird, in zwei Etappen (1. Verstehen der Sprache des Textes, 2. Inferenzierung des Sinnes), sondern die Sinnerfassung ist "immediate" (25). Dies scheint mir allerdings der dreiphasigen Darstellung des Übersetzungsprozesses - Verstehensphase, Deverbalisierung, zielsprachliche Wiedergabe-, die der gesamten Theorie zugrunde liegt, zu widersprechen: Phase 1 und 2 müßten dann zusammenfallen. Die Sinnerfassung wird neben den Sprachkenntnissen durch das "bagage cognitif' (das Weltwissen) einerseits und durch den "contexte cognitif' (das ko-textuelle Wissen) andererseits gewährleistet. Den sprachlichen Ausdruck versteht M.L. als "Synecdoque", d.h. als die "partie explicite du sens" (58). Jeder Text besteht aus einem Minimum an expliziten Elementen, hinter denen sich Implizites verbirgt. Den Sinn übersetzen heißt, dieses Implizite übersetzen. Sprachliche Zeichen benennen den Referenten aufgrund eines hervorstechenden Merkmals, das die Rolle einer "pars pro toto" spielt. Die gewählten Merkmale sind von Sprache zu Sprache verschieden. Dieser mangelnde Isomorphismus von expliziter 'Synecdoche' und implizitem Referenten stellt die Problematik des Übersetzens dar. Genauso selbstverständlich, wie das lexikalisierte dt. Schublade auf der Basis des Merkmals „schieben" benannt mit dem frz. tiroir (tirer = ziehen) übersetzt wird, genauso selbstverständlich sollte laut L. im folgenden Text von Stefan Zweig: "In der kleinen Pension an der Riviera, wo ich damals, 10 Jahre vor dem Kriege, wohnte, war eine heftige Diskussion an unserem Tische ausgebrochen[...]", das Syntagma an unserem Tische mit Un soir, a la table ou je dinais übersetzt werden (61). Obwohl ich grundsätzlich mit M.L. in vielem übereinstimme, scheint mir die Auslegung in diesem Beispiel zu weit zu gehen: Nichts im Kontext läßt darauf schließen, daß es sich um ein 'Abendessen' handelt. Diese übersetzerische Freiheit mutet um so befremdlicher an, als die Vf.in andererseits die von ihr vertretene "traduction interpretative" streng von der "traduction libre" abgrenzt, der sie gerade "nombre d'omissions et d'ajouts" vorwirft (217). Auch fehlt in diesem Beispiel gänzlich die "analyse justificative", die sie andernorts (44) fordert. Als solche ist jedenfalls die lapidare Behauptung "cette equivalence est conforme au genie du franc; : ais comme l'original l'est au genie de l'allemand" (61) pädagogisch nicht überzeugend. Die Forderung nach einer solchen rechtfertigenden Analyse wird übrigens FLuL 25 (1996) 256 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel auch von R. Stolze im Rahmen ihres „hermeneutischen Übersetzens" aufgestellt, und man fragt sich zu Recht, warum sich L. unter Berufung auf Danica Seleskovitch so vehement vom hermeneutischen Übersetzen abgrenzt, zumal sie auf S. 93 "theorie hermeneutique" und "theorie interpretative" gleichsetzt: "Pour Levy la communication humaine doit etre fondee sur une theorie hermeneutique (nous disons interpretative)" (93). Ebenso widersprüchlich mutet die Behauptung an, es gehe nicht darum, die "intention d'un auteur" (25) zu übersetzen (sondern eben den Sinn des Textes), wenn andererseits klargemacht wird, daß es nicht darum gehe, den Sinn zu übersetzen, so wie ihn der Übersetzer erfaßt, sondern daß dieser Sinn möglichst mit dem "vouloir dire de l'auteur" (35) übereinzustimmen habe: "Pour que Je sens que comprend le traducteur rejoigne Je vouloir dire de l'auteur [...] Le sens est ce que veut dire un auteur, ce qu'il veut faire comprendre a travers ce qu'il dit" (35). Desgleichen wird auf S. 63 "rester fidele a un auteur" implizit als das Ziel des Übersetzens dargestellt. Zumindest wäre hier eine Auseinandersetzung mit Christiane Nord und dem von ihr vertretenen "Loyalitätsprinzip" angebracht. Ebenso hätte eine Auseinandersetzung mit der „Skopostheorie", so wie sie von ReißNermeer (1984) vertreten wird, Antworten auf einige der von L. aufgeworfenen Fragen geben können. Von einer Publikation, die den Anspruch erhebt, "La traduction aujourd'hui" darzustellen unter diesem Titel (also ohne den Untertitel "La traduction interpretative") wurde sie auch im "Salon de la traduction" 1995 angekündigt-, kann man wohl Derartiges erwarten. Ein Blick auf eines der Faktorenmodelle, die Auftraggeber und Funktion der Übersetzung berücksichtigen, hätte m.E. bessere Entscheidungskriterien für die Übertragung kultureller Elemente geliefert, als die von L. vorgeschlagenen: Es kann nicht Aufgabe des Übersetzers sein "A apporter au lecteur etranger des connaissances sur un monde qui n'est pas le sien", wie auf S. 128 impliziert wird, es sei denn, es ist sein expliziter Auftrag. Wie weit kulturelle Elemente in den zielsprachlichen Text hineingetragen werden, hängt vom durch den Auftraggeber festgelegten Ziel ab. Auch bei der heiklen Frage der Äquivalenzbeurteilungen wäre eine breitere Diskussionsgrundlage zu empfehlen, so wie wir sie z.B. bei Gerzymisch-Arbogast (1994) finden. Die fünf Äquivalenzkriterien von Koller (1979) als einzige Grundlage zu zitieren, heißt den Stand der Diskussion verkennen: Das von Gerzymisch-Arbogast vorgeschlagene Kriterium der Äquivalenz von lsotopien bietet da eine interessante Alternative. 3 Die Tatsache, daß das Wort „lsotopie" weder im Glossar noch an anderer Stelle im gesamten Werk auftaucht, ist symptomatisch für einen wesentlichen Mangel des hier dargestellten« modele interpretatif ». Das Modell würde durch eine Berücksichtigung des Isotopiekonzepts theoretisch an Stringenz und didaktisch an Überzeugungskraft gewinnen. Was die Übersetzungsdidaktik angeht, so unterscheidet die Vf.in zwischen "traduction pedagogique" (der Terminus ist übrigens nicht von J. Delisle geprägt worden, wie irrtümlicherweise von M.L. angenommen, sondern wir finden ihn bereits bei K. Reiß) und "traduction professionnelle": Aufgabe der ersten sei es, "d'apprendre les correspondances entre deux langues", während die zweite "! es methodes de creation d'equivalences quelles que soient les langues en cause" beizubringen hätte (134). So lobenswert der Versuch ist, klare Unterscheidungskriterien zwischen diesen beiden Übersetzungsarten aufzustellen bei Smith-Klein-Braley (1985) z.B. wird die Unterscheidung gemacht, ohne daß die Unterschiede je definitorisch herausgestellt würden -, so wenig scheint sie mir didaktisch fruchtbar. Es ist deshalb auch zweifelhaft, daß die so konzipierte "traduction pedagogique" die Studierenden darauf vorbereiten kann, "a suivre les enseignements de Ja veritable traduction" (130). Behauptungen wie: "On ne repetera jamais assez qu'il n'est pas possible d'enseigner a Ja fois Ja langue et Ja traduction, car l'enseignement de Ja langue porte sur ! es formes lexicales et ! es structures syntaxiques et interfere avec 3 Ein Beispiel für eine derartige Isotopieanalyse zwecks Rechtfertigung intuitiv gefundener Lösungen habe ich in Stefanink ( 1996) gegeben. FLuL 25 (1996) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 257 un enseignement de Ja traduction dont J'objectif est de degager Je sens du texte (et d'eviter de traduire ! es significations des mots) avant de Je faire reexprimer" (122) zeugen von einem sehr eingeschränkten Verständnis von Fremdsprachenunterricht. Schade, daß die Texttypologie nur am Rande erwähnt wird (161), ohne ausführliche Begründung der vier unterschiedenen Texttypen und ohne Beispiele, die diese Unterteilung nachvollziehbar machen. Hier wäre eine Auseinandersetzung mit Reiß' Textsorten sicher interessant gewesen. Begrüßenswert ist das Glossar, in dem die für das Verständnis des « modele interpretatif » relevanten Termini aufgeführt werden. Leider ist der Begriff "intuition" trotz häufiger Verwendung und trotz ihres hohen Stellenwerts ist sie doch die Gabe, die dem Muttersprachler gestattet, sich dem "genie et la langue" gemäß auszudrücken im Glossar nicht aufgeführt und auch sonst nicht näher definiert: Sie scheint für M.L. nur dem Muttersprachler gegeben zu sein, angeboren und nicht erlernbar und bietet somit die Rechtfertigung für das Übersetzen in die Muttersprache; auch hier wäre eine Diskussion der andersgearteten und differenzierteren Rolle, die die Intuition bei Paepcke/ Forget (1981), bei Stolze (1992) oder bei Hönig (1993) spielt, angebracht gewesen (vgl. auch Stefanink 1996). Sehr störend sind schließlich die ca. 15-20 Rechtschreibfehler, bei denen es sich ganz offensichtlich nicht um Flüchtigkeitsfehler handelt. So ist mit dem Wort toumois auf S. 58 keineswegs der im 13. Jahrhundert in Tours geprägte Taler gemeint, sondern schlichtweg ein toumoi de tennis. Desgleichen sollte sich der deutsche Leser auch durch Formen wie plar; ions (mit cedille) nicht verunsichern lassen: Nach wie vor gilt, daß dieses 'Ornament' nur zur Kennzeichnung der palatalen Aussprache des c vor velaren Vokalen benutzt wird. Gravierender sind Verwechselungen bzw. Übersetzungsfehler im Bereich der Idiomatik: Das französische Äquivalent für engl. "to bring coal to Newcastle" bzw. für deutsch "Eulen nach Athen tragen" ist nicht porter de l'eau au moulin, wie auf S. 58 suggeriert, sondern porter de l'eau a la riviere, während porter de l'eau au moulin de qq. heißt, daß man ihn in seiner Argumentation unterstützt. Fazit: Ein Buch, das sicher nicht dem anspruchsvollen Titel La traduction aujourd'hui gerecht wird, das aber in konzentrierter Form die « traduction interpretative » der "Ecole de Paris" darstellt und dazu beitragen kann, bei Studenten übersetzerisches Bewußtsein zu wecken. Heidrun GERZYMISCH-ARB0GAST: Übersetzungswissenschaftliches Propädeutikum. Tübingen: Francke 1994 (UTB 1782), 190 Seiten [DM 26.80] G.-A. prägt den Begriff der „Intersubjektiven Überprüfbarkeit und Transparenz" (14). Wer jedoch glaubt, daß darunter intersubjektive Überprüfbarkeit im Sinne eines Nachvollzugs intutitiv gefundener Problemlösungen verstanden wird (etwa im Sinne von Stefanink 1996 [vgl. Anm. 3]), der irrt. Zumindest ist das nicht die Absicht der Vf.in, selbst wenn sich herausstellt, daß bei der Erstellung der von ihr befürworteten „Aspektmatrix" die Intuition eine wesentliche Rolle spielt. G.-A. greift die kontroverse Diskussion um Hanswilhelm Haefs' Übersetzung von Lawrence Norfolks Lempriere's Dictionary auf, um „anhand dieser Diskussion [zu] zeigen, wie systematische, klare und einheitliche Kriterien dazu beitragen können, die Diskussion zu versachlichen, und wie eine wissenschaftlich durchgeführte Übersetzungskritik von der Methodik her aussehen müßte" (21). Als Grundlage für eine derartig angelegte Übersetzungskritik dient das von Murdersbach (1987) entworfene „ASPEKTRA"-Programm, das als „Eine Methode des wissenschaftlichen Übersetzens (mit Computerunterstützung)" bzw. als „Ein Programm zur Textanalyse und berechenbarer Übersetzung" (162) beschrieben wird. Die Vf.in will damit von Globalurteilen, wie „die Ü. ist 'gut' oder 'schlecht' (14), wegkommen, die oft auf Verabsolutierungen von mikrostrukturellen Beurteilungen beruhen. Die Frage muß vielmehr lauten: "gut" oder „schlecht" in bezug auf was? "(z.B. in bezug auf den Aspekt der FLuL 25 (1996)