eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 25/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251 Gnutzmann Küster Schramm

Heidrun GERZYMISCH-ARBOGAST: Übersetzungswissenschaftliches Propädeutikum

121
1996
Bernd Stefanink
Heidrun GERZYMISCH-ARBOGAST: Übersetzungswissenschaftliches Propädeutikum. Tübingen: Francke 1994 (UTB 1782), 190 Seiten [DM 26,80]
flul2510257
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 257 un enseignement de Ja traduction dont J'objectif est de degager Je sens du texte (et d'eviter de traduire ! es significations des mots) avant de Je faire reexprimer" (122) zeugen von einem sehr eingeschränkten Verständnis von Fremdsprachenunterricht. Schade, daß die Texttypologie nur am Rande erwähnt wird (161), ohne ausführliche Begründung der vier unterschiedenen Texttypen und ohne Beispiele, die diese Unterteilung nachvollziehbar machen. Hier wäre eine Auseinandersetzung mit Reiß' Textsorten sicher interessant gewesen. Begrüßenswert ist das Glossar, in dem die für das Verständnis des « modele interpretatif » relevanten Termini aufgeführt werden. Leider ist der Begriff "intuition" trotz häufiger Verwendung und trotz ihres hohen Stellenwerts ist sie doch die Gabe, die dem Muttersprachler gestattet, sich dem "genie et la langue" gemäß auszudrücken im Glossar nicht aufgeführt und auch sonst nicht näher definiert: Sie scheint für M.L. nur dem Muttersprachler gegeben zu sein, angeboren und nicht erlernbar und bietet somit die Rechtfertigung für das Übersetzen in die Muttersprache; auch hier wäre eine Diskussion der andersgearteten und differenzierteren Rolle, die die Intuition bei Paepcke/ Forget (1981), bei Stolze (1992) oder bei Hönig (1993) spielt, angebracht gewesen (vgl. auch Stefanink 1996). Sehr störend sind schließlich die ca. 15-20 Rechtschreibfehler, bei denen es sich ganz offensichtlich nicht um Flüchtigkeitsfehler handelt. So ist mit dem Wort toumois auf S. 58 keineswegs der im 13. Jahrhundert in Tours geprägte Taler gemeint, sondern schlichtweg ein toumoi de tennis. Desgleichen sollte sich der deutsche Leser auch durch Formen wie plar; ions (mit cedille) nicht verunsichern lassen: Nach wie vor gilt, daß dieses 'Ornament' nur zur Kennzeichnung der palatalen Aussprache des c vor velaren Vokalen benutzt wird. Gravierender sind Verwechselungen bzw. Übersetzungsfehler im Bereich der Idiomatik: Das französische Äquivalent für engl. "to bring coal to Newcastle" bzw. für deutsch "Eulen nach Athen tragen" ist nicht porter de l'eau au moulin, wie auf S. 58 suggeriert, sondern porter de l'eau a la riviere, während porter de l'eau au moulin de qq. heißt, daß man ihn in seiner Argumentation unterstützt. Fazit: Ein Buch, das sicher nicht dem anspruchsvollen Titel La traduction aujourd'hui gerecht wird, das aber in konzentrierter Form die « traduction interpretative » der "Ecole de Paris" darstellt und dazu beitragen kann, bei Studenten übersetzerisches Bewußtsein zu wecken. Heidrun GERZYMISCH-ARB0GAST: Übersetzungswissenschaftliches Propädeutikum. Tübingen: Francke 1994 (UTB 1782), 190 Seiten [DM 26.80] G.-A. prägt den Begriff der „Intersubjektiven Überprüfbarkeit und Transparenz" (14). Wer jedoch glaubt, daß darunter intersubjektive Überprüfbarkeit im Sinne eines Nachvollzugs intutitiv gefundener Problemlösungen verstanden wird (etwa im Sinne von Stefanink 1996 [vgl. Anm. 3]), der irrt. Zumindest ist das nicht die Absicht der Vf.in, selbst wenn sich herausstellt, daß bei der Erstellung der von ihr befürworteten „Aspektmatrix" die Intuition eine wesentliche Rolle spielt. G.-A. greift die kontroverse Diskussion um Hanswilhelm Haefs' Übersetzung von Lawrence Norfolks Lempriere's Dictionary auf, um „anhand dieser Diskussion [zu] zeigen, wie systematische, klare und einheitliche Kriterien dazu beitragen können, die Diskussion zu versachlichen, und wie eine wissenschaftlich durchgeführte Übersetzungskritik von der Methodik her aussehen müßte" (21). Als Grundlage für eine derartig angelegte Übersetzungskritik dient das von Murdersbach (1987) entworfene „ASPEKTRA"-Programm, das als „Eine Methode des wissenschaftlichen Übersetzens (mit Computerunterstützung)" bzw. als „Ein Programm zur Textanalyse und berechenbarer Übersetzung" (162) beschrieben wird. Die Vf.in will damit von Globalurteilen, wie „die Ü. ist 'gut' oder 'schlecht' (14), wegkommen, die oft auf Verabsolutierungen von mikrostrukturellen Beurteilungen beruhen. Die Frage muß vielmehr lauten: "gut" oder „schlecht" in bezug auf was? "(z.B. in bezug auf den Aspekt der FLuL 25 (1996) 258 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Idiomatik oder der Wiedergabe von Metaphern)" (14). Der Äquivalenzbegriff wird also nicht mehr absolut gefaßt, sondern relativ zu bestimmten 'Invarianzforderungen', "die vor der Übersetzung als Qualitätsmaßstab festzusetzen sind" (28). 'Äquivalenz' impliziert nicht eine „Gleichheit von Texten oder Textelementen in Original und Übersetzung", sondern wird als „relationaler Begriff [gefaßt], in bezug auf bestimmte Aspekte, die an ein Original im Hinblick auf die Übersetzung angelegt und als Vergleichsstandard herangezogen werden[...]. D.h. wir kommen auf der Basis von mikro- und makrostrukturellen Bewertungen zu einer makrostrukturellen Äquivalenzaussage vom Typ: Text Aist zu Text B bezogen auf die Aspekte al, a2, a3 als mehr oder weniger äquivalent anzusehen" (29). Die Gesamtheit der Aspekte, unter denen eine Übersetzung beurteilt werden soll, bilden eine Aspektmatrix. Den Aspektstatus erlangen Textmerkmale aufgrund ihrer „Auffälligkeit" (95). Die "Übersetzerin" geht in 5 Etappen vor: „In einem ersten Schritt notiert sie sich die (inhaltlichen und formalen) Auffälligkeiten, die sie im Original feststellt und ordnet sie den entsprechenden Textstellen zu (...). In einem zweiten Schritt (...) entwickelt sie aus den zunächst intuitiv notierten Auffälligkeiten Aspekte, denen sie wiederum einzelne Werte zuordnet, die möglichst klar gegeneinander abgrenzbar (disjunkt) sind. So fällt in unserem Textauszug aus Lemprieres Dictionary z.B. der Wechsel der Erzählperspektive auf [...]. Wir setzen daher Erzählperspektive als Aspekt an und ordnen ihm z.B. die Werte Betrachterperspektive, Erzählfigur (Innensicht), Erzählfigur (Außensicht) zu. In einem dritten Schritt (...) wird nun jede Textstelle unter jedem Aspekt gelesen und der entsprechende Wert zugeordnet. Als Ergebnis erhält man eine Textmatrix, die sozusagen die Lesart (Interpretation) durch die Übersetzerin darstellt. Schließlich werden in Schritt 4 (...) die ermittelten Aspekte im Hinblick auf das Übersetzungsziel gewichtet, d.h. es wird z.B. auf einer Skala von 1-99 eine Prioritätenliste erstellt, welcher Aspekt im Hinblick auf die Übersetzung am höchsten zu bewerten ist, welcher an zweiter Stelle realisiert werden soll usw., bis eine vollständige Rangordnung erstellt ist. In Schritt 5 (...) schließlich werden in den einzelnen Textstellen Übersetzungsvarianten erstellt, die wiederum nach der bereits erstellten Prioritätenliste gewertet werden. So erhält die Übersetzerin ein 'Programm', mit dem sie klare und einheitliche Kriterien formuliert, nach denen die Übersetzung (aus der Sicht der Übersetzerin) systematisch gestaltet werden soll und die für einen Dritten nachvollziehbar sind. Damit sind die Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Vorgehen beim Übersetzen erfüllt: Es werden klare und einheitliche Kriterien zur Verfügung gestellt, die systematisch an alle Textstellen angelegt werden und intersubjektiv überprüfbar sind" (95). Die Vf.in fügt hinzu, daß dieses Programm derzeit an der Universität des Saarlandes in der Didaktik des Übersetzens eingesetzt und erprobt wird. So sehr die Einführung des Begriffs der intersubjektiven Überprüfbarkeit vor der Illusion der Objektivität schützen mag, so sehr sollte man sich doch vor der Illusion hüten, durch Zahlenmaterial und Aufstellung von strengen Kategorien wieder zur Objektivität zurückgefunden zu haben. Sicher unterliegt die Vf.in nicht dieser Illusion. So stellt sie z.B., in einem Vergleich mit dem Eiskunstlauf, dieses Programm als eine „Pflichtübung" dar, auf die dann die „Kür" folgen kann, in welcher „Intuition und Einfallsreichtum" freier Lauf gelassen werden kann; allerdings: "Erst wenn dieses Programm exakt und systematisch absolviert werden kann"(46). Obwohl ich mich mit der strikten Einhaltung dieser Reihenfolge nicht anfreunden kann (vgl. Stefanink 1996 [Anm. 3]), bin ich vom didaktischen Wert einer Bewußtmachung solcher Aspekte überzeugt. Angesichts von Kategorien deren „disjunkter" Charakter betont wird und angesichts von einer bis hinter das Komma differenzierten Aspektwertung auf einer Skala von 1-99, stellt sich jedoch die Frage, ob die Lerner nicht Gefahr laufen, der Illusion objektiver Stringenz zu unterliegen. Dies um so mehr, als sich die Vf. selbst zu Formulierungen hinreißen läßt, die den Eindruck einer objektiv im Originaltext vorgefundenen Aspektliste vermitteln: "Als Ergebnis unserer Betrachtung liegt uns für unseren Beispieltext eine Liste mit Aspekten vor, die wir im Original angelegt fanden und die wir auch an die Übersetzung anlegten" (148 [Hervorhebung von mir]). Allzu schnell könnte der Lerner darüber vergessen, was auf S. 99 gesagt wird: "Die FLuL 25 (1996) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 259 Fähigkeit, Aspekte in Texten möglichst differenziert unterscheiden zu können, hängt in hohem Maße vom sprachlichen, kulturellen und linguistischen 'Welt'-wissen des Lesers/ Übersetzers ab". Aber nicht nur bei der Erstellung der Aspektliste wird die Subjektivität des Übersetzers eingebracht. Die Liste der prioritär zu wertenden Aspekte und ihre Gewichtung auf der Wertskala hängt von seiner subjektiven Beurteilung ab. Nicht gebührend gewürdigt wird die Rolle der Intuition, die ja in Wirklichkeit die Grundlage für die Erstellung der Aspektliste ist: erst nachträglich, wenn der Leser bereits beim 2. Schritt ist, wird nebenbei erwähnt, daß die 'Auffälligkeiten' „intuitiv notiert" wurden. Auch scheint es kein besonderes Verfahren zu geben, mit dem aus diesen Auffälligkeiten 'Aspekte' "entwickelt" werden, sondern 'Auffälligkeit' wird einfach mit 'Aspekt' gleichgesetzt. « Et le tour est joue! » Mich stört daran, daß in dieser Darstellung die Rolle der Intuition hinter wissenschaftlich „stringent" klingenden Termini versteckt wird, als ob man sich ihrer schämen müßte, als ob sie nicht den gleichen epistemologischen Status wie kognitives Texterfassen beanspruchen dürfte. Die Gefahr ist groß, daß derartige kognitive Kategorien dem Lerner den Weg zur Empathie mit dem Text versperren. Wie oben zitiert, sollen diese Kategorien, die ja die Grundlage für die Invarianzforderungen bilden vor dem Übersetzen (28) aufgestellt werden, nach einer „Erstlektüre" (95). Dieses Verfahren schafft eine gewisse Distanz zum Text, der nur noch durch diese kognitiven Kategorien gesehen wird auf Kosten der Nuancen, die nicht in diese Kategorien eingeordnet werden können. Angesichts der Erkenntnisse der Prototypensemantik bezüglich der semantischen Kategorien sollten Lernende zumindest in einen anderen übersetzungstheoretischen Ansatz wie den hermeneutischen eingeführt werden. Letztere hat zwar keinerlei streng „disjunkte" Kategorien und kein eindrucksvolles Zahlenmaterial aufzuweisen, in seiner Beweisführung zwecks intersubjektiver Überprüfbarkeit steht er dem aspektuellen Ansatz jedoch in nichts nach und bietet den Vorteil, den Weg für ein dialektisches Hin-und-Her zwischen Intuition und Kognition offen zu lassen; eine Erfahrung, die jedem Übersetzungspraktiker geläufig sein dürfte. G.-A. nimmt die Auseinandersetzung um die Haefssche Übersetzung von Lempriere's Dictionary als Anlaß, um Mängel einer Übersetzungskritik aufzuzeigen, die auf der Basis mikrostruktureller Verabsolutierungen ein Urteil über das Gesamtwerk fällt. Sie schlägt statt dessen eine Beurteilungsmatrix vor, mit der die Übersetzung in Hinblick auf die verschiedenen im Werk als relevant erscheinenden Aspekte beurteilt wird. Die Übersetzung soll also nicht mehr global als „gut" oder „schlecht", sondern als unter diesem oder jenem Aspekt „äquivalent" bezeichnet werden. Der Versuch, von Globalurteilen wegzukommen und verschiedene Äquivalenzebenen zu differenzieren, ist übrigens nicht neu. Darum haben sich bereits Übersetzungstheoretiker wie Catford, Nida, Jäger oder Koller bemüht. G.-A. bemängelt jedoch, daß angesichts der Tatsache, daß beim Übersetzen nicht alle Äquivalenzrahmen mit gleicher Gewichtung berücksichtigt werden können keinerlei Angaben darüber gemacht werden, "welcher Äquivalenzrahmen unter welchen Bedingungen Priorität hat" (93). Sie übersieht dabei, daß ReißNermeer (1984) derartige Prioritäten angeben wenn auch allgemeinerer Art (d.h. im groben Rahmen der drei Textsorten) und nicht in der von G.-A. vorgeschlagenen Differenziertheit. Ein weiterer Punkt, den sie nicht zur Geltung bringt, ist die Tatsache, daß die von den oben erwähnten Übersetzungtheoretikern aufgestellten Äquivalenzkategorien allgemein sprachanalytisch - und nicht auf den jeweils zu übersetzenden Text bezogen erarbeitet wurden. Hans G. HöNIG: Konstruktives Übersetzen. Tübingen: Stauffenberg 1995 (Studien zur Translation 1), 195 Seiten [DM 36,80]. Konstruktives Übersetzen ist der irritierte Aufschrei von einem, der auszog, um die Studenten das Übersetzen zu lehren und der ein für allemal mit den weitverbreiteten „Illusionen" über das Übersetzen aufräumen möchte. FLuL 25 (1996)