eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 25/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
251 Gnutzmann Küster Schramm

Hans G. HÖNIG: Konstruktives Übersetzen

121
1996
Bernd Stefanink
Hans G. HÖNIG: Konstruktives Übersetzen. Tübingen: Stauffenberg 1995 (Studien zur Translation I), 195 Seiten [DM 36,80]
flul2510259
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 259 Fähigkeit, Aspekte in Texten möglichst differenziert unterscheiden zu können, hängt in hohem Maße vom sprachlichen, kulturellen und linguistischen 'Welt'-wissen des Lesers/ Übersetzers ab". Aber nicht nur bei der Erstellung der Aspektliste wird die Subjektivität des Übersetzers eingebracht. Die Liste der prioritär zu wertenden Aspekte und ihre Gewichtung auf der Wertskala hängt von seiner subjektiven Beurteilung ab. Nicht gebührend gewürdigt wird die Rolle der Intuition, die ja in Wirklichkeit die Grundlage für die Erstellung der Aspektliste ist: erst nachträglich, wenn der Leser bereits beim 2. Schritt ist, wird nebenbei erwähnt, daß die 'Auffälligkeiten' „intuitiv notiert" wurden. Auch scheint es kein besonderes Verfahren zu geben, mit dem aus diesen Auffälligkeiten 'Aspekte' "entwickelt" werden, sondern 'Auffälligkeit' wird einfach mit 'Aspekt' gleichgesetzt. « Et le tour est joue! » Mich stört daran, daß in dieser Darstellung die Rolle der Intuition hinter wissenschaftlich „stringent" klingenden Termini versteckt wird, als ob man sich ihrer schämen müßte, als ob sie nicht den gleichen epistemologischen Status wie kognitives Texterfassen beanspruchen dürfte. Die Gefahr ist groß, daß derartige kognitive Kategorien dem Lerner den Weg zur Empathie mit dem Text versperren. Wie oben zitiert, sollen diese Kategorien, die ja die Grundlage für die Invarianzforderungen bilden vor dem Übersetzen (28) aufgestellt werden, nach einer „Erstlektüre" (95). Dieses Verfahren schafft eine gewisse Distanz zum Text, der nur noch durch diese kognitiven Kategorien gesehen wird auf Kosten der Nuancen, die nicht in diese Kategorien eingeordnet werden können. Angesichts der Erkenntnisse der Prototypensemantik bezüglich der semantischen Kategorien sollten Lernende zumindest in einen anderen übersetzungstheoretischen Ansatz wie den hermeneutischen eingeführt werden. Letztere hat zwar keinerlei streng „disjunkte" Kategorien und kein eindrucksvolles Zahlenmaterial aufzuweisen, in seiner Beweisführung zwecks intersubjektiver Überprüfbarkeit steht er dem aspektuellen Ansatz jedoch in nichts nach und bietet den Vorteil, den Weg für ein dialektisches Hin-und-Her zwischen Intuition und Kognition offen zu lassen; eine Erfahrung, die jedem Übersetzungspraktiker geläufig sein dürfte. G.-A. nimmt die Auseinandersetzung um die Haefssche Übersetzung von Lempriere's Dictionary als Anlaß, um Mängel einer Übersetzungskritik aufzuzeigen, die auf der Basis mikrostruktureller Verabsolutierungen ein Urteil über das Gesamtwerk fällt. Sie schlägt statt dessen eine Beurteilungsmatrix vor, mit der die Übersetzung in Hinblick auf die verschiedenen im Werk als relevant erscheinenden Aspekte beurteilt wird. Die Übersetzung soll also nicht mehr global als „gut" oder „schlecht", sondern als unter diesem oder jenem Aspekt „äquivalent" bezeichnet werden. Der Versuch, von Globalurteilen wegzukommen und verschiedene Äquivalenzebenen zu differenzieren, ist übrigens nicht neu. Darum haben sich bereits Übersetzungstheoretiker wie Catford, Nida, Jäger oder Koller bemüht. G.-A. bemängelt jedoch, daß angesichts der Tatsache, daß beim Übersetzen nicht alle Äquivalenzrahmen mit gleicher Gewichtung berücksichtigt werden können keinerlei Angaben darüber gemacht werden, "welcher Äquivalenzrahmen unter welchen Bedingungen Priorität hat" (93). Sie übersieht dabei, daß ReißNermeer (1984) derartige Prioritäten angeben wenn auch allgemeinerer Art (d.h. im groben Rahmen der drei Textsorten) und nicht in der von G.-A. vorgeschlagenen Differenziertheit. Ein weiterer Punkt, den sie nicht zur Geltung bringt, ist die Tatsache, daß die von den oben erwähnten Übersetzungtheoretikern aufgestellten Äquivalenzkategorien allgemein sprachanalytisch - und nicht auf den jeweils zu übersetzenden Text bezogen erarbeitet wurden. Hans G. HöNIG: Konstruktives Übersetzen. Tübingen: Stauffenberg 1995 (Studien zur Translation 1), 195 Seiten [DM 36,80]. Konstruktives Übersetzen ist der irritierte Aufschrei von einem, der auszog, um die Studenten das Übersetzen zu lehren und der ein für allemal mit den weitverbreiteten „Illusionen" über das Übersetzen aufräumen möchte. FLuL 25 (1996) 260 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Er schleudert seine Irritation sowohl den unprofessionellen „Auch-Übersetzern" (l 19) ins Gesicht, die vermeinen, ohne einen theoretischen Hintergrund und ohne Ausbildung Übersetzungen [= Ü.] anfertigen und beurteilen zu können, als auch den Theoretikern, die noch immer der Illusion der objektiven Ü. und illusorischen Äquivalenzkriterien hinterherlaufen oder die der anderen Illusion erlegen sind, nämlich mit den Methoden des „Lauten Denkens" den Übersetzungsprozeß algorithmisch abbilden zu können (wie z.B. Krings' Flußdiagramm 1986). Anhand eines Flußdiagramms (das wir bereits in Hönig 1993 finden), in dem der „unkontrollierte Arbeitsraum" eine maßgebende Rolle spielt, und unter Heranziehung der „Prototypensemantik", die die Illusionen der Strukturalisten bezüglich der Wortsemantik zunichte macht, sowie der Sprachpsychologie, die den Verstehensprozeß als wesentlich assoziativ verlaufend darstellt ("schemes and frames"), zeigt H. die Komplexität übersetzerischen Handelns auf, dessen sich der Übersetzer bewußt werden muß, wenn er das für das Übersetzen unerläßliche „Selbst-bewußtsein" erlangen will. „Selbst-bewußtsein" erlangt der Übersetzer nur, wenn er sein Handeln theoretisch hinterfragt und sich durch eine „üs.-vorbereitende Textanalyse" (88) eine "Makrostrategie" erarbeitet, die die Weichen für die Lösung mikrotextueller Probleme stellt. Dieses „Selbst-bewußtsein" (im doppelten Sinne) gibt dem Übersetzer das nötige Selbstvertrauen gegenüber seinem Auftraggeber, aber einerseits auch das Vertrauen in seine oft intuitiv gefundenen Lösungen, sowie andererseits das Bewußtsein von der unausweichlichen Subjektivität dieser Lösungen, auch wenn diese sich innerhalb der durch die makrostrategischen Überlegungen abgesteckten semantischen Bahnen zu bewegen hat. Zu "konstruktivem Übersetzen" gelangt man, wenn alle am Übersetzungsprozeß Beteiligten über dieses übersetzerische Bewußtsein verfügen, ihre Illusionen über die Einfachheit übersetzerischen Handelns hinter sich gelassen haben und kooperieren wollen. Die Grundlagen dieser Geisteshaltung werden in der Ausbildung gelegt. H. liefert uns auch seine Konzeption vom curricularen Aufbau eines Studiums der „mehrsprachigen Kommunikation" bei dem ganz allgemein „das Verhältnis zur traditionellen Philologie überdacht werden muß" (S. 170) und die „Übersetzungstheorie fest in den Curricula zu verankern" ist (S. 157). Im didaktischen Detail muß vor allem die Fehlerbewertung im Lichte der zielsprachlichen Textfunktion neu durchdacht werden. Das Ganze ist in einem erfrischenden, metaphorischen Stil geschrieben; ziel- und adressatengerecht, da sich der Vf. nachdrücklich nicht nur an Übersetzungstheoretiker und -praktiker wendet, sondern an alle, die mit Übersetzen zu tun haben: an Auftraggeber, an gelegentliche "Üs.-kritiker" (wie z.B. Reich-Ranicki), aber auch an professionelle (wie z.B. Gerzymisch- Arbogast), die sich um die Beurteilung der Ü. von Lempriere's Wörterbuch bemüht haben, usw. Fragt sich noch, wie man H.'s Erkenntnisse an die richtigen Adressaten vermittelt. Die Tatsache, daß das Werk als Bd. 1 in der neuen Reihe Studien zur Translation erscheint, wird sicher die Aufmerksamkeit der Übersetzungstheoretiker sowie einiger Praktiker wecken, den Auftraggebern aber könnte man es höchstens durch Hinweise oder Auszüge in den einschlägigen Fachzeitschriften zugänglich machen. An einigen Stellen erscheint mir die Kritik an einer linguistisch ausgerichteten Übersetzungstheorie etwas polemisch. So z.B., wenn es auf S. 77 heißt: "Wer Übersetzern einen 'linguistischen' oder anderen Richtigkeitsnachweis für ihre Übersetzung abverlangt, zwingt sie zur Produktion jener gesammelten Texte, die wir alle kennen". Doch sollte man dies als eine Reaktion auf eine zu starke Abhängigkeit von dieser Disziplin in den letzten Jahrzehnten werten. 4 4 Daß man mit linguistischen Argumentationen intuitive Problemlösungen intersubjektiv nachvollziehbar machen kann, habe ich zuletzt in Stefanink 1996 [vgl. oben Anm. 3] nachzuweisen versucht. FLuL 25 (1996) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 261 Fazit: Ein Buch, in dem der gesunde Menschenverstand die Balance zwischen Theorie und Praxis hält und das uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden kann. 5 [Zitierte) Literatur BRITISH COUNCIIJENS-CREDIF/ GOETHE INSTITUT {Hrsg.) (1991): The Role of Translation in Foreign Language Teaching. Paris: Didier (Triangle 10). CHUQUET, Helene/ PAILLARD, Michel (1989): Approche linguistique des problemes de la traduction. Paris: Ophrys 1989. HöNIG, Hans G. (1993): "Vom Selbstbewußtsein des Übersetzers". In: HOLZ-MANTIARI, Justa / NORD, Christiane (Hrsg.): Traducere Navem. Festschrift für Katharina Reiß. Tarnpere: Universität 1993 (Studia Translatologica), 77-90. KOLLER, Werner (1979): EINFUHRUNG IN DIE ÜBERSETZUNGSWISSENSCHAFT. Heidelberg: Quelle & Meyer (UTB 819). KOTCHEVA, Krassimira ( 1992): Probleme des literarischen Übersetzens aus textlinguistischer Sicht, dargestellt am Beispiel bulgarischer Übersetzungen zu Prosatexten aus der deutschen Gegenwartsliteratur. Frankfurt/ M.: Lang (Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache; ? ? )) LAVAULT, Elisabeth (1985): Fonctions de la traduction en didactique des langues. Paris: Didier (Traductologie n° 2). NIDA, Eugene A. (1964): Towards a Science of Translating. Leiden: Brill. NIDA, Eugene A. / TABER, A. (1969): The Theory and Practice of Translation. Leiden: Brill. PAEPCKE, Fritz/ FORGET, Philippe (1981): Textverstehen und Übersetzen/ Ouvertures sur la traduction. Heidelberg: Groos. SELESKOVITCH, Danica (1975): Langue, langues et memoire. Etude de la prise de notes en interpretation consecutive. Paris: Minard-Lettres Modemes. SMITH, Veronika/ KLEIN-BRALEY, Christine (1985): In other words. München: Hueber. STEFANINK, Bernd (1991): "Vom Nutzen und der Notwendigkeit der Theorie für den universitären Übersetzungsunterricht". In: British Council 1991, 59-83. STEFANINK, Bernd (1992): "[Rez. von] Kotcheva 1992". In: Info DaF April/ Mai 1994, 258-264. STEFANINK, Bernd (1996): "'Esprit de finesse' - 'Esprit de geometrie': Das Verhältnis von 'Intuition' und 'Übersetzerrelevanter Textanalyse'". In: KELLER, Rudi (Hrsg.): Linguistik und Literaturübersetzen. Tübingen: Narr [im Druck]. STOLZE, Radegundis (1992): Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen. Tübingen: Narr. 5 Bei einer Neuedition sollten folgende Mängel behoben werden: (a) Rechtschreibfehler: S. 109 matinal statt „matinale", S. 164, Z. 10 Semester statt "Semster", S. 177 Prunc statt „Prunc". (b) Folgende im Text gemachte Literaturangben erscheinen nicht im „Literaturverzeichnis": S. 55: Borsch 1986, Gerloff 198; S. 129: Schmitt 1986; S. 168: ReißNermeer 1984; S. 174: Nord 1988 (die beiden letzten erscheinen in der kommmentierten Auswahlbibliographie, ein Hinweis darauf im "Literaturverzeichnis" wäre sinnvoll); auf S. 59 ist die Angabe Hönig 1993 unvollständig, (richtig wäre I993a). N.B.: Der Ausdruck / es bei/ es infideles wird von H. nicht in dem in der einschlägigen französischen Literatur üblichen Sinn verstanden: Georges Mounin (1957) z.B. versteht darunter Gedichtübersetzungen, die zwar „schön" sind, dem Original jedoch untreu geworden sind (etwa im Sinne von Pierre Leyris: "La traduction de poemes c'est comme ! es femmes, quand elles sont helles elles ne sont pas fideles, quand elles sont fideles elles ne sont pas helles") und nicht „Interferenzen", ,.faux amis" oder „erworbene Idiosynkrasien" (wie bei H. auf S. 119). FLuL 25 (1996)