eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 26/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1997
261 Gnutzmann Küster Schramm

Sprach(lern)bewußtsein im Kontext

121
1997
Annelie Knapp-Potthoff
flul2610009
Annelie Knapp-Potthoff Sprach(lern)bewußtheit im Kontext Abstract. Starting from reflections upon the current attractiveness of the concept of Language Awareness, this article presents a critical discussion of the vagueness of the concept itself and its potential benefits for L2 learning. In particular, it is argued that Language Awareness as it is generally conceived of is not easily accessible to empirical research and that the problem of different qualities of learners' Language Awareness is largely neglected. lt is suggested that a conceptualization of Language Awareness as the ability and readiness to develop adequate and (potentially) explicit subjective theories of language(s) and language learning presents a more promising framework for empirical research. Several hypotheses conceming influences upon learners' subjective theories and their relation to foreign language learning are proposed. 0. Einleitung Wenn von einem didaktischen Vorschlag heutzutage behauptet wird, er fördere „Sprachbewußtheit" oder „Sprachbewußtsein", stehen die Chancen für eine hohe Akzeptanz dieses Vorschlags gut: "Sprachbewußtheit" gilt durchweg als positiv, sinnvoll und nützlich. Viele Fremdsprachendidaktiker und Sprachlehrforscher sind sich dabei allerdings selbst dessen „bewußt", daß man es hier mit einem vagen, diffusen und vielschichtigen Konzept zu tun hat, das von unterschiedlichen Autoren durchaus nicht in gleicher Weise verstanden wird. Auch die Fragen, wie sich Sprachbewußtheit denn manifestiert und weshalb sie überhaupt erstrebenswert sein kann, wird unterschiedlich, oft vage oder auch gar nicht beantwortet. Die fehlende Konturierung des Konzepts „Sprachbewußtheit" macht es für empirische Untersuchungen schwer zugänglich und erlaubt im Grunde kaum eine Überprüfung der Annahme, die Förderung von Sprachbewußtheit sei nützlich für das Fremdsprachenlernen. Bei der Arbeit an diesem Beitrag nahm für mich die Zahl auftauchender Fragen in Relation zu möglichen Antworten ~xponentiell zu. Ich werde deshalb konsequenterweise den Fragen in bezug auf Sprachbewußtheit Priorität einräumen. Ich werde Überlegungen dazu anstellen, warum Sprachbewußtheit gegenwärtig ein so attraktives Konzept ist, was unter Sprachbewußtheit überhaupt zu verstehen sein kann, welche Funktionen sie möglicherweise haben kann, ob der Terminus „Sprachbewußtheit" vielleicht eher den Plural verdient und ob sie denn grundsätzlich positiv zu werten ist. Dabei wird das Konzept „Sprachbewußtheit" (im folgenden 'Language Awareness') in den Kontext einiger anderer Themen gestellt, die derzeit in der sprachlembezogenen Forschung diskutiert werden. Ich werde mich anschließend mit einer möglichen Variante des Konzepts, nämlich Sprachbewußtheit als Fähigkeit und Bereitschaft zur Bildung adäquater expliziter oder explizierbarer subjekti- FLuL 26 (] 997) 10 Annelie Knapp-Potthoff ver Lernertheorien über Sprache(n) und Sprachenlernen, auseinandersetzen und in diesem Zusammenhang einige Forschungsfragen formulieren. 1. Zur gegenwärtigen Attraktivität des Konzepts Language Awareness Mir scheint, daß es gerade die Vagheit des Konzepts 'Language Awareness' ist, die seine Faszination und Attraktivität ausmacht: Es läßt sich leicht in verschiedene andere Diskussionszusammenhänge integrieren, für unterschiedlichste Zwecke zurechtbiegen und als „Hoffnungsträger" für die Lösung diverser Probleme einsetzen. Ich möchte hier zunächst nur einige mögliche Gründe für seine gegenwärtige Attraktivität nennen: • Das Konzept der 'Language Awareness' bietet sich an als mögliche Klammer zwischen natürlichem und gesteuertem Spracherwerb und offeriert damit die Chance, die Beziehung zwischen diesen beiden Spracherwerbstypen neu zu fassen und dichotomisierende Betrachtungsweisen zu überwinden. 'Language Awareness' -was immer sie genau ist-kann sich offenbar sowohl natürlich entwickeln als auch über unterrichtliche Verfahren gefördert werden. 'Language Awareness' könnte damit sowohl einen Erklärungsals auch einen Handlungsrahmen für die Förderung „natürlicher", außerschulischer Sprachlernprozesse durch Unterricht einerseits und die Entwicklung natürlicher Sprachlernprozesse im Rahmen von Unterricht andererseits darstellen, somit also der Dreh- und Angelpunkt einer auf den ersten Blick paradox erscheinenden - "Steuerung natürlicher Sprachlernprozesse" sein. • Dieser „Zwischen"-Charakter von 'Language Awareness', der ihm sicherlich einen großen Teil seiner Attraktivität verleiht, läßt sich noch aus einer anderen Perspektive beleuchten: Mit 'Language Awareness' kann eine Reflexionsebene angesprochen werden, die jenseits bloßer Sprachverwendung liegt, die andererseits aber auch nicht notwendig die in ihrer Funktion für Sprachlernprozesse kontrovers diskutierte Vermittlung grammatischer Regeln impliziert. Hier bietet sich also kompromißartig eine Ebene der Sprachverarbeitung und des sprachlichen Wissens an, die zwischen implizitem und dem Lerner von außen nahegebrachtem explizitem Regelwissen liegt. • Das Konzept der 'Language Awareness' ermöglicht darüber hinaus auch eine integrative Betrachtung von muttersprachlichem und fremdsprachlichem Handeln und Lernen unter Einbeziehung von Bilingualismus. • 'Language Awareness' läßt sich beziehen auf allgemein-didaktische, in jüngerer Zeit auch gerade in bezug auf fremdsprachliches Lernen verstärkt diskutierte Tendenzen zur Förderung von Lernerautonomie. Mehr Selbstbestimmung und mehr Selbststeuerung erfordert Bewußtheit von Lerngegenständen, Lernzielen, Lernverfahren, Lernproblemen. 'Language Awareness' ist damit auch ein attraktives Konzept für diejenigen, die eine Veränderung traditioneller Lehrer- und Schülerrollen für erstrebenswert halten. • Die in enger Verknüpfung mit autonomem Fremdsprachenlernen geforderte Vermittlung von Strategien des Fremdsprachenlernens kommt ohne ein Konzept wie Language Awareness nicht aus: Wenn die Vermittlung von Sprachlernstrategien auch ein Ziel des Unterrichts sein soll, erfordert dies u.a. einen Austausch zwischen Schülern und Lehrer über erfolgreiche Lernstrategien und damit seine kommunikative Bearbeitung in der Unterrichtsinteraktion, d.h. ein Reden über Sprache und Sprachenlernen, das entsprechende Bewußtheit voraussetzt oder/ und fördert. • Schließlich „paßt" das Konzept 'Language Awareness' unter forschungsmethodologischem Gesichtspunkt in die gegenwärtige Zeit: Erst seit introspektive Verfahren in der FLuL 26 (1997) Sprach(lern)bewußtheit im Kontext 11 fremdsprachenbezogenen Forschung eine gewisse Akzeptanz erreicht haben, kann 'Language Awareness' überhaupt ein relevanter Gegenstand der Forschung sein bzw. als Mittel zur Erforschung sprachlernrelevanter Fragen eingesetzt werden. 2. Was ist „Bewußtheit"? Was kann nun „Bewußtheit" oder 'awareness' in bezug auf Sprache überhaupt bedeuten? Wissen, was man tut, wenn man spricht? Wissen, warum man selbst sich sprachlich so verhält, wie man es tut - oder warum andere sich sprachlich so verhalten, wie sie es tun? Wissen, welche Regelmäßigkeiten Sprachen aufweisen und nach welchen Regeln sprachliche Kommunikation abläuft? Handelt es sich vielleicht gar nicht so sehr um „Wissen" als vielmehr um ein „Erkennen" oder „Sich darüber klar sein"? Oder ist „Bewußtheit" eher eine Fähigkeit, eine Haltung oder ein Zustand? Geht es um eine grundsätzliche und dauerhafte oder eher um eine temporäre, auf bestimmte sprachliche - oder allgemeiner: kommunikative - Phänomene bezogene Sache? Es gibt hier sicherlich keine „richtige" Auffassung; nur sollte einigermaßen klar sein, worüber man schreibt oder spricht, bevor man versucht, es zu fördern oder zu erforschen. Konsens besteht wohl darüber, daß mit „Bewußtheit" eine Reflexionsebene bzw. eine Ebene der mentalen Verarbeitung angesprochen ist, die über rein mechanisches "Verhalten" und die bloße „Verwendung" von Sprache als Instrument hinausgeht. Jenseits dieses Konsenses ist so ziemlich alles unklar. Die Auseinandersetzung mit bisherigen Definitionsversuchen (so etwa dem von Hecht aus dem Jahre 1994) verwirrt eher, als daß sie Klarheit schafft, und soll deshalb auf einige Beispiele beschränkt bleiben. Schon die Frage der Präposition ist schwierig: Geht es um 'awareness about', 'awareness of', 'awareness for', um „Wissen über Sprache", um „Wissen von Sprache" oder eher um eine „Sensibilität in bezug auf Sprache"? Die wenigen folgenden Beispiele für Definitionen bzw. Fragen nach dem Kern von 'Language Awareness' vermitteln bereits eine Ahnung von der Vielfalt der mit 'Language Awareness' verbundenen Vorstellungen: Die britische NCLE Working Party an Language Awareness legt folgende Definition zugrunde: "Language Awareness is a person's sensitivity to and conscious awareness of the nature of language and its role in human life" (Donmall 1985 [zitiert nach James/ Garrett 1992b: 4]). Van Lier (1995: xi) bleibt in seinem Vorwort zu lntroducing Language Awareness mindestens ebenso unspezifisch: "Language awareness can be defined as an understanding of the human faculty of language and its role in thinking, leaming and social life". Der überwiegende Teil des Buches kommt dann einer Kurz-Einführung in die Linguistik gleich. Candlin stellt in seinem Vorwort zu Language Awareness in the Classroom die Frage, ob es sich bei 'awareness' um "heightened perception of salience" handelt oder vielleicht um eine "attitude or evaluative judgement" (1992: xii). Während James/ Garrett sogar fragen, "whether Language Awareness is just another name for linguistics" (1992b: 7), behauptet Nichoias (1992: 78): "learners can be 'aware' of aspects of FLuL 26 (1997) 12 Annelie Knapp-Potthoff language without being able to explicitly articulate that awareness. This awareness is evidenced through the language use ofthe speakers". In einer frühen Definition kennzeichnen Gleitman/ Gleitman (1970: 19) Language Awareness als "ability to manipulate the superficial levels of language structure in non-communicative settings" eine nur auf den ersten Blick brauchbare Operationalisierung, wirft sie doch die Frage auf, ob diese Definition nicht auch die Fähigkeit zur Bearbeitung von pattem drills einschließt. Wenn man unter 'Language Awareness' eine spezifische Art von Wissen über Sprache und Kommunikation verstehen möchte, bieten sich mindestens zwei Varianten dieser Möglichkeit an: Man kann jegliches Wissen über Sprache als Language Awareness bezeichnen, oder man kann das Konzept 'Language Awareness' so fassen, daß es auf die temporäre Aktualisierung von sprachbezogenem Wissen in konkreten Sprachverwendungssituationen beschränkt ist. Letzteres wäre im Unterschied zur ersten Variante z.B. dann der Fall, wenn ein Sprachbenutzer sich während der mündlichen Produktion eines langen, komplexen deutschen Satzes „bewußt" zu erinnern versucht, ob das Subjekt seines Satzes im Singular oder im Plural stand, damit er die Subjekt-Prädikat-Kongruenz adäquat realisieren kann. Letzteres wäre auch dann der Fall, wenn ein Deutscher, der sich in einer Interaktion mit einem Engländer befindet, sich „bewußt" vornimmt, demnächst einmal please einzufügen, da er weiß, daß Engländer dazu tendieren, häufiger please und thank you zu sagen als Deutsche. Sobald man nach Beispielen für Manifestationen von 'awareness' sucht, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Explizierbarkeit: Ist schon das diffuse, ungute Gefühl, daß man nicht mehr recht weiß, wie man seinen begonnenen Satz zu Ende bringen soll, eine Manifestation von 'Language Awareness' (Haben L2-Lerner nicht ständig solche „unguten Gefühle"? ) - oder möchte man von 'Language Awareness' erst dann sprechen, wenn man dieses „ungute Gefühl" reflektierend metasprachlich realisieren kann z.B. in der Form „jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich meinen Satz begonnen habe" oder, genauer, gar unter Verwendung einer spezifischen Metasprache in der Form „jetzt weiß ich nicht mehr, ob das Subjekt meines Satzes im Singular oder im Plural stand, und deshalb weiß ich auch nicht, welche Verbform ich gleich verwenden soll"? Für manche Autoren z.B. Nicholas (1992) ist ja noch nicht einmal eine potentielle umgangssprachliche Explizierbarkeit ein Kriterium für das Vorliegen von 'Language Awareness' (s. Zitat oben). Ist 'LanguageAwareness' vielleicht nicht so sehr das Wissen über Sprache, über das ein Individuum verfügt, sondern eher der Augenblick seines Entstehens also die plötzliche spezifische Erkenntnis -, etwa wie in Edmondsons Beispiel (1987: 1077), in dem er als Sprachlerner plötzlich erkennt, daß die Betonung eines Wortes eine wichtige Rolle für das Verstehen spielt, oder auch wie bei der Erkenntnis eines Sprachbenutzers, daß ein vertrautes, lange Zeit als monomorphematisch wahrgenommenes Lexem z.B. der Städtename 'Charleston' - Struktur hat und aus zwei Morphemen zusammengesetzt ist (vgl. dazu Beispiel 7 unten (S. 16)? 'Language Awareness' kann auch als ein Zustand oder eine Haltung aufgefaßt werden: als ein Zustand besonderer Aufmerksamkeit oder Wahrnehmungsbereit- FLuL 26 (1997) Sprach(lern)bewußtheit im Kontext 13 schaft für sprachbezogene Phänomene. Hier könnte man wiederum unterscheiden zwischen einem temporären Zustand, der z.B. in bestimmten Lernsituationen oder in kritischen Kommunikationssituationen vorherrscht, und einer durchgängig vorhandenen 'Language Awareness', letzteres in dem Sinne, daß sie kontinuierlich vorhanden ist, daß Individuen sich grundsätzlich hinsichtlich ihrer 'Language Awareness' unterscheiden können und daß ihre 'Language Awareness' auch grundsätzlich verbessert werden kann. Die Frage, ob sprachliche Explizierbarkeit als Kriterium für das Vorliegen von 'Language Awareness' gelten sollte was man in bezog auf eine Vorstellung von 'Language Awareness' als Wissen geneigt ist zu bejahen -, läßt sich bei der „Haltungsvariante" viel schwieriger beantworten. Komplizierter wird die Situation noch durch die Tatsache, daß 'Language Awareness' auch als Kombination aus Wissens-, Erkenntnis- und Haltungsvariante konzeptualisiert werden kann: Wissen als Basis für die Bereitschaft zum Erkennen bestimmter sprachbezogener Phänomene eine in bezog auf Sprachenlernen sicherlich nicht ganz uninteressante Variante. In einer früheren eigenen Arbeit (Knapp-Potthoff 1994) habe ich in Anlehnung an Schmidt (1990) ein Verständnis von „interkultureller Kommunikationsbewußtheit" als 'noticing' (Möglichkeit, bestimmte Inhalte und Prozesse bei Bedarf zu bemerken) und 'understanding' (Möglichkeit, diese Phänomene zu analysieren und bei Bedarf über sie zu reflektieren), gestützt durch spezifische Arten von Wissen, favorisiert. Heute scheinen mir diese Vorstellungen besser im Rahmen des weiter unten vorgestellten Konzeptes von subjektiven Lernertheorien aufgehoben. 3. Bewußtheit wovon? Mit 'Language Awareness' ist also zunächst nur eine Ebene der mentalen Verarbeitung angesprochen, die jenseits bloßer Sprachverwendung liegt. Über die Inhalte ist damit noch nichts gesagt. 'Language Awareness' kann sich auf so ziemlich alles beziehen, was mit Sprache zu tun hat bzw. womit die Sprachwissenschaft einschließlich ihrer Bindestrich-Disziplinen sich beschäftigt. 1 Dazu kommt für Fremdsprachenlerner das Sprachenlernen selbst als Bezugsgröße von 'awareness': 'Language Leaming Awareness' als Bewußtheit von Prozessen des (Fremd-)Sprachenlernens. Je nach dem „Inhalt" von 'Language Awareness' bzw. Language Leaming Awareness können für Fremdsprachenlerner u.a. die folgenden Sorten von 'awareness' relevant sein (die Liste ist sicherlich nicht vollständig und ist darüber hinaus noch weiter differenzierbar): - Language Awareness als „Sprachstrukturbewußtheit" (differenzierbar z.B. in „Muttersprachstrukturbewußtheit" und „Fremdsprachenstrukturbewußtheit") - Language Awareness als „Sprachvariationsbewußtheit" (im soziolinguistischen Sinn) Vgl. James/ Garretts Frage "whether LA is just another name for linguistics" (1992: 7). FLuL 26 (1997) 14 Annelie Knapp-Potthoff - Language Awareness als „Lernersprachbewußtheit" - Language Awareness als „Sprachverwendungsbewußtheit" (im pragmatischen Sinn) - Language Awareness als „Kommunikationsbewußtheit" (differenzierbar z.B. in „interkulturelle Kommunikationsbewußtheit", "Lernersprachkommunikationsbewußtheit") - Language Awareness als „Lernbedarfsbewußtheit" - Language Awareness als „Sprachlernprozeßbewußtheit" usw. 4. Language Awareness wozu? Was kann man von 'Language Awareness' erwarten? Ist sie ein Ziel an sich, oder wird sie eher als Mittel zur Erreichung anderer Ziele angesehen? Auch hier unterscheiden sich die Auffassungen sofern diese Frage überhaupt problematisiert wird. Grundsätzlich läßt sich eine mögliche instrumentelle von einer möglichen emanzipatorischen Funktion von 'Language Awareness' unterscheiden: Wird 'Language Awareness' als instrumentell gesehen, wird ihr allgemein eine Hilfsfunktion für das Sprachenlemen/ den Spracherwerb zugesprochen. In diesem Zusammenhang könnten die folgenden spezifischeren Hypothesen - und um mehr geht es zunächst nicht interessant sein: - Language Awareness bzw. eine bestimmte Art von Language Awareness 2 fördert Sprachenlernen als Monitor bei lernersprachlichem Output. - Language Awareness schafft Schemata/ Kategorien für die Analyse und Verarbeitung von sprachlichem Input. - Language Awareness führt allgemein zu größerer Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Input. - Language Awareness steuert die Fokussierung auf bestimmte sprachliche Eigenschaften im Input. 3 - Language Awareness ermöglicht den Einsatz besserer Lernstrategien. - Language Awareness ist Grundlage für Metakommunikation und damit auch für Kommunikation über das Sprachenlernen (z.B. zwischen Lehrer und Schüler(n)) und fördert damit indirekt das Sprachenlernen. - Language Awareness als Bewußtheit von lernersprachlichen Defiziten und Kommunikationsproblemen schafft/ erhält Motivation zum Weiterlernen. - Aber auch: Language Awareness als Bewußtheit von lernersprachlichen Defiziten demotiviert und behindert damit weiteres Sprachenlernen. Auf die möglicherweise nicht nur positiven Auswirkungen von 'Language Awareness' gehe ich an späterer Stelle noch ein. Hier. soll zunächst betont werden, daß die Nützlichkeit von 'Language Awareness' für das (Fremd-)Sprachenlemen auch wenn der Gedanke eine gewisse intuitive Plausibilität hat zunächst im wesentlichen nur global behauptet wird. Empirische Überprüfungen stehen noch weitgehend 2 3 Diese Einschränkung gilt auch für die folgenden Hypothesen. Vgl. van Liers "focal awareness" (1995: 3). FLuL 26 (1997) Sprach(lem)bewußtheit im Kontext 15 aus. 4 Auch die Tatsache, daß in der Bilingualismus-Forschung ein hoher Grad an Sprachbewußtheit bei bilingualen Kindern festgestellt wurde (vgl. z.B. Wolff 1993, 1997), beantwortet die Frage nach einer ursächlichen Rolle von 'Language Awareness' für das Sprachenlernen noch nicht. Es ist ja denkbar, daß die beobachteten zahlreichen metasprachlichen und metakommunikativen Äußerungen bilingual aufwachsender Kinder eine Folge der Konfrontation mit zwei Sprachen sind, jedoch nicht ursächlich ihren Erwerb mitbeeinflussen. Gleichermaßen könnte auch allein die Tatsache der Konfrontation mit einer anderen Sprache im Fremdsprachenunterricht 'Language Awareness' fördern und damit auch ein natürliches Bedürfnis bei den Lernern erzeugen, über diese beiden (oder auch mehr) Sprachen zu reflektieren bzw. darüber zu sprechen. Ob sich dann mit den Ergebnissen der Bilingualismus- Forschung die Forderung nach speziellen Language-Awareness-Aktivitäten im Fremdsprachenunterricht zur Förderung des Sprachenlernens wirklich stringent begründen läßt, ist zweifelhaft. Als problemlos begründbar erscheint mir zunächst lediglich die Forderung, Lernerbedürfnisse nach Kommunikation über Sprache und Sprachenlernen im Unterricht nicht zu unterdrücken. Die mögliche emanzipatorische Funktion von 'Language Awareness' beschreibt van Lier (1995: xii) folgendermaßen: "Language awareness is its own reward. Since language makes us into whatever we are, language awareness enriches all our experiences and gives us a sense of being more in control of our destiny, and to perceive the things that go on around us with greater clarity". Dieser zweite Funktionsbereich ließe sich z.B. in die folgenden Annahmen differenzieren: - Language Awareness ermöglicht selbstbestimmteres Sprachenlernen: Lerner, die über Language (Learning) Awareness verfügen, sind Sprachlernsituationen nicht mehr oder weniger hilflos als Objekte ausgeliefert, sondern sie durchschauen (zu einem gewissen Grade) Ziele, Prozesse und Bedingungen der Beeinflussung dieser Situationen und haben damit eine Grundlage für eigene Einflußnahme. - Language Awareness ermöglicht generell eine Kontrolle über Sprache als Instrument: die Beherrschung von Sprache statt einer Beherrschung durch sie, die bewußte Auswahl aus kommunikativen Alternativen zur Erreichung kommunikativer Ziele, auch und gerade in interkulturellen Kontaktsituationen. - Language Awareness ermöglicht Erkennnen von Manipulation durch Sprache. - Language Awareness verbessert die Möglichkeiten des kreativen Umgangs mit Sprache. - Language Awareness ist Voraussetzung für Metakommunikation. 4 Van Essen (1996) zieht als Fazit einer Durchsicht der Fachliteratur zum Thema LA: "[...] LA is founded on belief rather than evidence and [...], in the absence of any solid empirical findings, any proposal for the introduction of LA into the foreign-language curriculum needs tobe looked at critically" (67). FLuL 26 (1997) 16 Annelie Knapp-Potthoff 5. Language awarenesses und Sprachbewußtheiten? 'Awareness' ist ein Wort, das keinen Plural hat. Auch von „Bewußtheiten" zu reden ist ungewöhnlich. Dennoch ist dann, wenn man 'Language Awareness' nicht als eine Art kollektives Bewußtsein, sondern als ein an je individuelle Lerner gebundenes Konzept versteht, davon auszugehen, daß 'Language Awareness' individuell unterschiedlich repräsentiert ist, es also unterschiedliche 'language awarenesses' bzw. "Sprachbewußtheiten" gibt. Die singularisch formulierte Redeweise, wie z.B. "Sprachbewußtheit fördern", suggeriert in unglücklicher Weise, daß es die 'Language Awareness' geben könnte, die in Individuen lediglich in unterschiedlichem Maße ausgeprägt ist. Sie ignoriert aber die Möglichkeit unterschiedlicher Qualität von 'Language Awareness' bei verschiedenen Individuen. Die These individueller Variation bezüglich der Qualität von 'Language Awareness' läßt sich sowohl theoretisch als auch empirisch stützen. Aus theoretischer Sicht müssen hier sowohl die Tatsache konkurrierender linguistischer Beschreibungen von Sprache als auch Hypothesen über Art und Entstehung von Lernersprache berücksichtigt werden: Gäbe es „die" richtige 'Language Awareness', müßten Linguisten am ehesten darüber verfügen und sich auf eine linguistische Theorie, auf ein Beschreibungsmodell von Sprache einigen können. Dem Konzept „Lernersprache" ist inhärent, daß die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten auf der Bildung von Hypothesen über die Struktur der zu erlernenden Sprache beruht, wobei einige dieser Hypothesen typischerweise zunächst unzutreffend sind. Dasselbe gilt im Prinzip für die Entwicklung muttersprachlicher Kompetenz. Auch eine Bewußtrnachung solcher zunächst ja als unbewußt gedachter - Hypothesen würde zu einer 'Language Awareness' führen, die in gewissem Sinne „falsch" ist. Auch empirisch ist ja die Unangemessenheit lernersprachlicher Hypothesen an lernersprachlichen Äußerungen, die in regelhafter und charakteristischer Weise von zielsprachlichen Äußerungen abweichen, ausreichend belegbar. Darüber hinaus zeigen Lerneräußerungen über Sprache und Sprachenlernen, daß Lerner mehr oder weniger angemessene Vorstellungen von entsprechenden Sachverhalten oder Prozessen haben. Hier nur einige Beispiele aus eigenen Datensammlungen: 1. "Man sollte (im Englischunterricht, A.K.) mit dem simple present anfangen. Das ist ja die einfachste Zeit und wird auch am häufigsten gebraucht." [Studentin, 5. Sem.] 2. "In Englisch wird ja alles klein geschrieben! " [Schülerin, 4. Schuljahr] 3. "Höh? 'In Englisch wird alles klein geschrieben'? Stimmt doch gar nicht! " [Schüler, 4. Schuljahr] 4. "Heißt das jetzt Bössin oder Bosseuse? Es gibt ja auch Friseur und Friseuse - und auch Friteuse." [M., 11 Jahre] 5. "Irgendwie stimmt da was nicht." [Schülerin, 7. Schuljahr] 6. "Copyright, copyleft, copywrong" [M., 11 Jahre] 7. "Charleston wie der Charles. Und -ton heißt dann bestimmt town. Klar, Karlsstadt, so wie bei uns im Deutschen Neustadt! " [M., 11 Jahre] FLuL 26 ( 1997) Sprach(lern)bewußtheit im Kontext 17 8. "Ich hab da auch nach dem Lernen immer so'n Fragezeichen im Kopf, weil ich nie genau weiß: Kann ich das englische Wort immer dann verwenden, wenn das deutsche da steht? " [Schülerin, 15 Jahre, in bezug auf Vokabellernen mit zweisprachigen Vokabellisten] (vgl. Knapp-Potthoff 1996) 9. "Ich halte immer eine Seite zu und lerne dann die Vokabeln. Wenn ich das drei- oder viermal gemacht habe, sitzen die." (Frage: Hast du das Gefühl, daß du dann alles über die neuen Wörter weißt? ) "Klar, die kann ich dann." [Schüler, 14 Jahre] 10. "Hier weiß ich wieder nicht, welche Zeit da hin soll. Ich nehm jetzt mal would have found, weil das Programm diese have-Zeiten haben will." [Schüler, 15 Jahre, bei der Bearbeitung eines Computer-Lernprogramms] (vgl. Knapp-Potthoff 1997) 11. "Ja, Wörter, die lernt man ja auch nicht. Wörter fliegen einem zu. Nur Vokabeln kann man lernen." [Schüler, 14 Jahre] (vgl. Knapp-Potthoff 1996) 12. "Vor allem komplizierte Vergangenheitsstrukturen sind fehlerhaft, da man im mündlichen, am meisten angewandten Sprachgebrauch am häufigsten das Präsens oder die einfache Vergangenheit benutzt. Futurkonstruktionen werden nicht so häufig falsch gemacht, da deren Gebrauch weitaus unkomplizierter ist und auch nicht so viele Fehlermöglichkeiten bietet." [Schüler, 15 Jahre, schriftliche Analyse seiner eigenen Sprachproduktionsdaten] (vgl. Knapp- Potthoff 1997). 13. "Ich möchte da auch immer was Nettes sagen, aber ich kann nicht so schnell übersetzen." [erwachsene Sprecherin in einer komplexen interkulturellen Interaktionssituation] 14. "Die Deutschen sind sehr unhöflich. Sie verwenden bitte und danke viel seltener, als wir please und thank you sagen." [britischer Manager] (vgl. Knapp-Potthoff 1994) Schon diese wenigen Beispiele die natürlich durch Datenmaterial aus Fremdsprachenunterrichtsstunden leicht beliebig vermehrbar wären zeigen nicht nur unterschiedliche Grade, sondern auch unterschiedliche Qualitäten von Language Leaming Awareness. Die Verwendung einer spezifischen Metasprache ist dabei nicht notwendig Garant der Güte. Man vergleiche nur Beispiel 1 mit den Beispielen 6 und 7. Besonders schwierig zu behandeln erscheinen mir die Fälle der Kombination bzw. Mischung „guter" und weniger „guter" Sprach(lem)bewußtheiten, z.B. bei der adäquaten Verwendung metasprachlicher Ausdrücke für sachlich problematische Aussagen. Individuelle Unterschiede bezüglich 'Language Awareness' sollte man also mindestens hinsichtlich der folgenden Faktoren annehmen: Grad von Language Awareness Umfang von Language Awareness Differenziertheit von Language Awareness Explizierbarkeit von Language Awareness Qualität von Language Awareness Permanenz von Language Awareness. FLuL 26 (1997) 18 Annelie Knapp-Potthoff 6. Ist Language Awareness grundsätzlich gut? Vor diesem Hintergrund muß die naive Annahme, daß 'Language Awareness' grundsätzlich positiv sei, in Frage gestellt werden. Die Beispiele im vorangehenden Abschnitt enthalten eine Reihe von Lerneräußerungen über Sprache und Sprachenlernen, die man als mehr oder weniger unzutreffend charakterisieren muß. Sie haben teilweise den Charakter von Stereotypen. So lassen die Beispiele 1, 9 und 14 auf das Vorhandensein relativ verfestigter, unzutreffender stereotyper Vorstellungen über Sprache und Sprachenlernen schließen, die sich u.U. kontraproduktiv auf das Lernen und Lehren fremder Sprachen auswirken können, indem sie als kognitive Schemata die Wahrnehmung anderskultureller Kommunikationspartner (Beispiel 14), das spätere Lehrverhalten und evtl. auch die eigene Sprachverwendung (Beispiel 1) sowie das eigene Lernverhalten (Beispiel 9) in ungünstiger Weise steuern. Wie läßt sich vor diesem Hintergrund aber die „richtige" Bewußtheit von Sprache eingrenzen? Ist dann doch nur „richtige" 'Language Awareness', was mit linguistischen Theorien oder Spracherwerbstheorien vielleicht gar einer bestimmten Theorie kompatibel ist? Oder ist es um eine bereits weiter oben vorgestellte Variante von 'Language Awareness' weiter zu elaborieren die Bereitschaft als solche, nach Regelmäßigkeiten und Prinzipien zu suchen, Fragen in bezug auf Sprache(n) und Sprachenlernen zu stellen, über Sprache und Sprachenlemen zu reflektieren ~ auch wenn dies vielleicht nicht auf Anhieb zu adäquaten Lösungen führt -, die 'Language Awareness' ausmacht? Gehört auch die Bereitschaft zur Veränderung interpretierbar als Flexibilität kognitiver Schemata dazu? 7. Language Awareness im Kontext subjektiver Lernertheorien Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich vorschlagen, einen empirischen Zugang zum Konzept 'Language Awareness' über das Konzept „subjektive Lernertheorien" zu versuchen. Ich werde diesen Vorschlag im folgenden kurz skizzieren und einige mögliche Konsequenzen für die Forschung andeuten. Es muß betont werden, daß der Gedanke, 'Language Awareness' als subjektive Lernertheorien anzusehen, nur eine mögliche Variante der Konzeptualisierung von 'Language Awareness' betrifft, die sicherlich nicht alle oben angesprochenen Aspekte berücksichtigt. Insbesondere konzentriert sich dieser Vorschlag auf die instrumentelle Variante von 'Language Awareness' im Sinne einer Funktion für das (Fremd-)Sprachenlernen. Die emanzipatorische Funktion spielt hier eher eine untergeordnete Rolle. Vorwissenschaftliche Vorstellungen von Laien sind in den Sozialwissenschaften, vor allem der Psychologie und der Erziehungswissenschaft, schon seit längerer Zeit ein wichtiges Thema. Sie sind dort mit unterschiedlichen Namen belegt worden: "Alltagsvorstellungen", "Alltagstheorien", "Laientheorien", "naive Lernertheorien" oder „subjektive Lernertheorien". In bezug auf fremdsprachliches Lernen haben FLuL 26 (1997) Sprach(lem)bewuj3theit im Kontext 19 1991 Grotjahn und in jüngster Zeit z.B. Mauranen (1996) sowie Dufva/ Lähteenmäki (1996) subjektive Lemertheorien untersucht bzw. ihre Erforschung vorgeschlagen. Allgemein können Alltagstheorien bzw. subjektive Lemertheorien mit Grotjahn (1991: 188) charakterisiert werden als "complex cognitive structures that are highly individual, relatively stable, and relatively enduring, and that fulfil the task of explaining and predicting such human phenomena as action, reaction, thinking, emotion, and perception". Die obigen Beispiele könnten somit als empirisch faßbare Indikatoren für derartige zugrunde liegende subjektive Lemertheorien in bezug auf Sprache(n) und Sprachenlernen angesehen werden. 'Language Awareness' kann verstanden werden als die Bereitschaft und Fähigkeit zur Bildung adäquater expliziter oder durch ihren „Besitzer" explizierbarer subjektiver Lemertheorien über Sprache(n) und Sprachenlemen was die Bereitschaft und Fähigkeit zu ihrer Revision einschließt. Dieses Konzept hätte den Vorteil, unterschiedliche Qualitäten von 'Language Awareness' berücksichtigen zu können und einen besseren empirischen Zugang zu erlauben als viele der sonstigen Varianten von Language-Awareness-Konzepten. Subjektive Lemertheorien bzw. Teile davon können sich als spontane Meta-Äußerungen über Sprache und Sprachenlernen manifestieren auch als längere Meta-Diskurse -, aber auch als durch introspektive Erhebungsverfahren elizitierte Meta-Äußerungen, wobei natürlich nicht auszuschließen ist, daß die Elizitation selbst u.U. subjektive Lernertheorien verändert oder in bezug auf das fokussierte sprachliche Phänomen erst entstehen läßt. Aber auch aus bestimmten Sorten von Nicht-Meta-Äußerungen kann man auf das Vorliegen von subjektiven Lernertheorien schließen: etwa aus Äußerungen, die sich als „sprachspielerisch", "poetisch" oder sonstwie „ungewöhnlich" charakterisieren lassen, ebenso Selbstkorrekturen sowie Sprach- oder Varietätenwechsel (vgl. dazu auch Wolff 1993: 513). Solche Äußerungen stellen empirisch erfaßbare Hinweise auf ihnen zugrunde liegende subjektive Lernertheorien dar. Modellhaft können subjektive Lernertheorien als in Form kognitiver Schemata hierarchisch organisierte individuelle Wissensbestände aufgefaßt werden. Sie können sich zwischen Individuen und im Lauf der Zeit sowie auch in bezug auf einzelne ihrer Komponenten bei demselben Individuum z.B. unterscheiden hinsichtlich: ihres Umfangs ihrer Differenziertheit ihrer Adäquatheit ihrer Rigidität bzw. Flexibilität ihrer Explizitheit. 'Awareness raising' ließe sich somit nicht nur quantitativ verstehen, sondern als positive Veränderung jeder dieser Komponenten. Besonders hervorzuheben ist, daß der in bezug auf das Konzept 'Language Awareness' eher vernachlässigte Aspekt der Qualität bei subjektiven Lernertheo- FLuL 26 (1997) 20 Annelie Knapp-Potthoff tien eine zentrale Rolle spielt. Subjektive Lemertheorien können sich von wissenschaftlichen Theorien qualitativ mehr oder weniger unterscheiden. Charakteristischerweise sind sie im Unterschied zu wissenschaftlichen Theorien nicht notwendig in sich konsistent, vielmehr können sie durchaus einander widersprechende Aussagen enthalten (vgl. dazu auch Grotjahn 1991: 191). Nicht zuletzt deshalb kann auch die Adäquatheit subjektiver Theorien in bezug auf die vortheoretische Realität, also den Gegenstandsbereich, auf den sie sich beziehen, unterschiedlich sein. Wenn man schließlich noch hinzunimmt, daß subjektive Lemertheorien ebenfalls erst durch wissenschaftliche Beschreibungen rekonstruiert werden müssen, lassen sich vier aufeinander bezogene Systeme unterscheiden, die entgegen landläufiger Annahme nicht notwendig kongruent sind: REALITÄT □ □ □ von Sprache, Sprachverwen- ... dung und Sprachenlernen WISSENSCHAFTLICHE I\ REKONSTRUKTIONEN DER REALITÄT (linguistische Theorien "natürlich" arrangiert und Modelle, Grammatiken) i i- 1 i ~- □ □ □ ... INDIVIDUELLE SUBJEKTIVE WISSENSCHAFTLICHE KONSTRUKTIONEN - REKONSTRUKTIONEN DER REALITÄT (subjektive DER SUBJEKTIVEN Theorien von Fremd- KONSTRUKTIONEN DER sprachenlernern) REALITÄT (Beschreibungen der subjektiven Lernertheorien) Abb. 1: Subjektive Lemertheorien, wissenschaftliche Theorien und Realität Das Modell geht davon aus, daß verschiedene Konstruktionen bzw. Rekonstruktionen der Realität nicht a prioti kongruent sind, aber auf vielfältige Weise aufeinander Einfluß nehmen und sich angleichen können. Die Adäquatheit wissenschaftlicher Rekonstruktionen der Realität und auch wissenschaftlicher Rekonstruktionen subjektiver Lemertheorien ist wissenschaftliches Ziel; eine möglichst große Kongruenz subjektiver Konstruktionen der Realität also subjektiver Lemertheorien mit der Realität herzustellen, ist eine didaktische Aufgabe. Dabei ist eine Beeinflussung subjektiver Konstruktionen durch wissenschaftliche Rekonstruktionen (d.h. z.B. durch die Konfrontation mit grammatischen Regeln) ebenso denkbar wie die Veränderung subjektiver Konstruktionen durch didaktische Arrangements der Realität, die gezielte Primärerfahrungen erlauben (z.B. durch gebündelte Präsentation strukturgleicher Äußerungen, durch die Präsentation kontrastierender Sprachstruktu- FLuL 26 (1997) Sprach(lern)bewußtheit im Kontext 21 ren/ Kommunikationssituationen sowie durch gezielte Abweichungen von der „Normalität") oder durch Kommunizieren über individuell unterschiedliche subjektive Konstruktionen der Realität, also über unterschiedliche subjektive Lernertheorien. 8. Perspektiven für die Forschung Im Rahmen des skizzierten Modells kann eher ein empirischer Zugang zu Fragen der Entstehung und Wirkung „bewußter" Einsichten in Sprache und Sprachenlernen gefunden werden als innerhalb eines vagen Konzepts von 'Language Awareness'. Ich kann die Richtung hier nur andeuten und möchte einige Beispiele für mögliche Forschungsfragen zur Entstehung und Veränderung von subjektiven Lernertheorien und zu ihrem Einfluß auf sprachliches Lernen und Handeln formulieren. 5 Diese Fragen sind natürlich nicht gänzlich neu. Sie betreffen weite Bereiche der auf das Lernen von Sprachen bezogenen Forschung und damit teilweise auch bekannte Forschungsbereiche, erscheinen jetzt aber in einem neuen Kontext und mit der Implikation eines veränderten methodischen Zugangs: - Durch welche Aspekte des Umgangs mit der L1 (z.B. durch die Art des sprachlichen Input oder durch Ausmaß und Art der Kontrolle des eigenen Output) entstehen subjektive Lemertheorien bzw. werden sie verändert (in Frage gestellt, revidiert, problematisiert, erweitert)? - Beeinflußt die Konfrontation mit einer Vielzahl unterschiedlicher sprachlicher Varietäten und die Teilhabe an einer Vielzahl unterschiedlicher Interaktionssituationen subjektive Lemertheorien positiv? Wenn ja, in welcher Weise und in bezug auf welche Aspekte? - Werden subjektive Lemertheorien durch außersprachliche Erfahrungen und allgemeine Kognitionen beeinflußt? - Sind Aspekte eines generellen Formats von subjektiven Lemertheorien angeboren? - Werden Art und Veränderbarkeit von subjektiven Lemertheorien durch Persönlichkeitsvariablen beeinflußt? - Werden Art und Veränderbarkeit von subjektiven Lemertheorien durch kulturelle Faktoren beeinflußt? 6 - Durch welche Aspekte des Umgangs mit einer L2 werden subjektive Lemertheorien verändert? - Welche Rolle spielt die Erfahrung von „Problemen" in der Kommunikation und beim Sprachenlemen für die Entwicklung und Veränderung von subjektiven Lemertheorien? - Können subjektive Lemertheorien durch Kommunizieren über verschiedene subjektive Lemertheorien verändert werden? - Können subjektive Lemertheorien durch die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theo- 5 Es bietet sich übrigens auch an, für die Gewinnung von Hypothesen über sprachspezifische subjektive Lemertheorien sozialwissenschaftliche Literatur zur Entstehung und Veränderung von Alltagstheorien heranzuziehen. Insbesondere könnte interessant sein, ob sich dort Hinweise darauf finden, daß kulturspezifische Faktoren bei der Entstehung von Alltagsbw. subjektiven Theorien eine Rolle spielen. 6 Hinweise auf den kulturspezifischen Charakter von Laientheorien diskutiert z.B. Mauranen (1996). FLuL 26 (1997) 22 Annelie Knapp-Potthoff rien (bzw. Teilen davon, z.B. (Teilen von) grammatischen Beschreibungen) verändert werden? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? - Werden subjektive Lernertheorien durch gezielte Fokussierung von Teilen ihres Gegenstandsbereichs (z.B. gezielte Präsentation von Gegenevidenz, Häufung oder Hervorhebung von Evidenz, "Abweichungen vom Selbstverständlichen" in Form von „Fehlern" 7, poetischer Sprache, Sprachspielen usw.) verändert? - Werden subjektive Lernertheorien durch Elizitationsverfahren beeinflußt, z.B. explizierbarer gemacht? - In welcher Weise steuern subjektive Lernertheorien das Sprachverstehen? - In welcher Weise steuern subjektive Lernertheorien die Sprachproduktion? - In welcher Weise steuern subjektive Lernertheorien das Sprachenlernen (z.B. als Anreiz zum Lernen bzw. Weiterlernen, über den Einsatz bestimmter Lernstrategien oder als Struktur- und Regelfindungsheuristiken für die lernende Verarbeitung von sprachlichem Input)? - In welcher Beziehung stehen subjektive Lernertheorien zu anderen für das Sprachenlernen als relevant angesehenen Konstrukten, z.B. Sprachlerneignung? Erste Ansätze zur Erforschung subjektiver Theorien über Sprache und Sprachenlernen habe ich in zwei empirischen Studien realisiert. Einige der obigen Beispiele stammen aus diesen Untersuchungen. Es war im Rahmen dieser Studien noch nicht beabsichtigt, eine der oben aufgelisteten Forschungsfragen gezielt anzugehen. Ziel war es vielmehr, Möglichkeiten des empirischen Zugriffs auf subjektive Lernertheorien zu erproben und ihre individuell unterschiedliche Qualität sowie ihre Steuerungsfunktion für Fremdsprachenlernen und fremdsprachliches Verhalten zu dokumentieren. In der ersten Studie (Knapp-Potthoff 1996) ging es um subjektive Theorien des Vokabellernens, in der zweiten (Knapp-Potthoff 1997) um Einschätzungen von Lernern bezüglich Art und Ursache ihrer Fehler sowie ihres Bedarfs an Fehlerkorrekturen und der Nützlichkeit gegebenen korrektiven Feedbacks. In beiden Studien wurden introspektive Daten erhoben. Als ergiebig und aufschlußreich erwiesen sich insbesondere solche Daten, die konkret aufgabenbezogen waren, also während der Bearbeitung einer sprachlichen Aufgabe erhoben wurden und auf sie bezogen waren. Die Studien liefern deutliche Indizien für die Existenz subjektiver Lernertheorien, ihren Steuerungscharakter für Sprachlernverhalten und ihre Veränderbarkeit durch Elemente der Lernsituation. Es bleibt zu betonen, daß nicht nur viele inhaltliche Fragen, sondern auch solche zu einer adäquaten Forschungsmethodologie bei der Untersuchung von subjektiven Lernertheorien noch beantwortet werden müssen (Vorschläge bei Grotjahn 1991). Wichtig ist aber, überhaupt erst einen Weg zu finden, der es erlaubt, systematisch zu erforschen, wie subjektive Lernertheorien entstehen, wie sie sich verändern und wie sie sich auf das Sprachenlernen auswirken. Am Ende dieses Weges könnte man dann vielleicht genauer sagen, was 'Language Awareness' bewirkt, und besser begründen, weshalb man sie unter welchen Bedingungen fördern möchte. 7 Aus Gnutzmann (1992) und Köhring (1987) lassen sich z.B. interessante Anregungen zur Spezifizierung dieser Hypothese entnehmen. FLuL 26 (1997) Sprach(lern)bewußtheit im Kontext 23 Bibliographische Angaben CANDLIN, Christopher (1992): "General Editor's Preface". In: JAMES/ GARRETT 1992a, xi-xiii. DUFVA, Hannele / LÄHTEENMÄKI, Mika ( 1996): "What People Know about Language: A Dialogical View". In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 7.2, 121-136. EDM0NDS0N, Willis (1987): '"Acquisition' and 'Learning': the discourse system integration hypothesis". In: LöRSCHER, Wolfgang/ SCHULZE, Rainer (eds.): Perspectives on Language in Pe,formance. Studies in Linguistics, Literary Criticism, and Language Teaching and Learning. Vol. II. Tübingen: Narr, 1070-1089. GLEITMAN, Leila R./ GLEITMAN, Howard (1970): Phrase and Paraphrase. New York: Norton. GNUTZMANN, Claus (1992): "Reflexion über 'Fehler'. Zur Förderung des Sprachbewußtseins im Fremdsprachenunterricht". In: Der fremdsprachliche Unterricht - Englisch 8, 16-21. GR0EBEN, Norbert [et al.] (1988): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien: Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen: Francke. GR0TJAHN, Rüdiger (1991): "The Research Programme Subjective Theories. A New Approach in Second Language Research". In: Studies in Second Language Acquisition 13, 187-214. HECHT, Karlheinz (1994): "Lernziel Sprachbewußtheit". In: Die Neueren Sprachen 93.2, 128- 147. JAMES, Carl/ GARRETT, Peter (1992a) (eds.): Language Awareness in the Classroom. London & New York: Longman. JAMES, Carl / GARRETT, Peter (1992b): ."The scope of Language Awareness". In: JAMES/ GARRETT 1992a, 3-23. KNAPP-POTTH0FF, Annelie (1993): "Training interkultureller Kommunikationsbewußtheit". In: BUNGARTEN, Theo (Hrsg.): Kommunikationstraining im wirtschaftlichen Umfeld. Tostedt: Attikon Beiträge zur Wirtschaftskommunikation, Bd.12), 160-177. KNAPP-P0TTH0FF, Annelie (1996): "Leamers' Subjective Theories of Language and Language Leaming in Semi-Autonomous Leaming Activities". Siegen [unveröffentlichtes Manuskript]. KNAPP-P0TTH0FF, Annelie (1997): "Fehler und Fehlerkorrektur: eine Lernerperspektive". In: MATTHEIER, Klaus J. (Hrsg.): Norm und Variation. Frankfurt [usw.]: Lang [erscheint]. KöHRING, Klaus H. (1987): "Mit Fehlern spielen". In: Englisch-Amerikanische Studien 2, 259- 278. MAURANEN, Anna (1996): "Discourse Awareness and Non-Native Speakers of English". In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 7.2, 137-153. NICH0LAS, Howard (1992): "Language awareness and second language development". In: JAMES/ GARRETT 1992a, 78-95. SCHMIDT, Richard W. (1990): "The role of consciousness in second language leaming". In: Applied Linguistics 11.2, 129-158. V AN ESSEN, Arthur (1996): "Language Awareness in a Historical, Pedagogical, and Res~arch Perspective". In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 7.1, 60-69. V AN LIER, Leo (1995): Introducing Language Awareness. Harmondsworth: Penguin. W0LFF, Dieter (1993): "Sprachbewußtheit und die Begegnung mit Sprachen". In: Die Neueren Sprachen 92.6, 510-531. W0LFF, Dieter (1997): "Mehrsprachigkeit in Europa". In: Dow, James R./ W0LFF, Michele (eds.): Languages and Lives. Essays in Honor of Werner Enninger. New York: Lang, 255- 271. FLuL 26 (1997)