eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 26/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1997
261 Gnutzmann Küster Schramm

Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen

121
1997
Juliane House
flul2610068
Juliane House Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen Abstract. The role of awareness of features of the target language in language learning is commonly restricted to awareness of aspects of the language system. lt is argued in this paper that the notion of awareness be extended to the communicative use of the target language in context. Firstly, evidence is brought forward that the transfer of first language knowledge and skills does not ensure communicative skills in a second language. Secondly, studies are examined that support the claim that handling pragmatic and discourse features of a target language in the classroom leads to increased proficiency in their use. On the basis of such evidence, principles for pedagogic practice are finally proposed. 0. Einleitung Der Begriff „Sprachbewußtheit" wird oft so interpretiert, als ob er ausschließlich Bewußtheit auf den Ebenen der Phonologie, Morphosyntax und Lexis umfasse, die Ebenen der Pragmatik und des Diskurses werden also ausgespart. Dies ist sicherlich historisch bedingt, denn Pragmatik und Diskursanalyse sind relativ junge Zweige der Sprachwissenschaft, die erst in den letzten drei Jahrzehnten intensiver erforscht worden sind. Die Ebenen der Pragmatik und des Diskurses sind jedoch, wenn es um Sprachbewußtheit geht, nicht weniger wichtig als die „klassischen" Ebenen des Sprachsystems. Insbesondere wenn es um das Lehren und Lernen von Sprachen als Kommunikationsmittel geht, muß unter „Sprachbewußtheit" wesentlich die Bewußtheit von pragmatischen und Diskursphänomenen mitverstanden werden, die ich hier "kommunikative Bewußtheit" nenne, also die Bewußtheit von Sprache im Gebrauch, d.h. Sprache-in-Funktion-in-Situation-im kulturellen Kontext. In diesem Beitrag werde ich 1. einige begriffliche Klärungen vornehmen, 2. einen kurzen Überblick über einige Kernbereiche pragmatischer Forschung geben, 3. eine Reihe empirischer Studien zur Bewußtmachung pragmatischer und diskursiver Aspekte beim Fremdsprachenlernen diskutieren und 4. Wege der Bewußtmachung pragmatischer und diskursiver Aspekte im Fremdsprachenunterricht aufzeigen. 1. Was ist kommunikative Bewußtheit? Die kommunikative Signifikanz einer sprachlichen Einheit ergibt sich aus ihrer Verwendung durch menschliche Wesen in bestimmten Kontexten. Daher ist die "kommunikative Bedeutung" sprachlicher Einheiten nicht als in lexikalischen FLuL 26 (1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 69 Einheiten inhärent gegeben anzusehen, sie ergibt sich vielmehr aus dem dynamischen Prozeß der Interaktion zwischen den Beteiligten, dem physischen und soziokulturellen Kontext, dem sprachlichen Ko-text und dem Bedeutungspotential der sprachlichen Einheit selbst. Kommunikative Bewußtheit bezieht sich auf kommunikative Handlungen im Kontext, wobei diese Handlungen nicht nur sogenannte Sprechakte (z.B. Entschuldigungen) umfassen, sondern auch die Verflechtung dieser Akte in einem größeren Ganzen, dem Diskurs. "Diskurs" bezieht sich auf über einzelne Äußerungen und Sprechhandlungen hinausgehende sprachliche Strukturen, für deren Erfassung z.B. die Art und Weise, wie von den Interaktionspartnern gemeinsam realisierte Äußerungspaare einander bedingen, wichtig ist. Diskurs meint also den konzeptuell-sozialen Prozeß, der der Produktion von Äußerungssequenzen zugrunde liegt und durch Sprache vermittelt wird. Somit bezieht sich "kommunikative Bewußtheit" auch auf die (Diskurs-)Mechanismen des Redewechsels, auf die der Interaktion zugrunde liegenden Konversationsmaximen, auf die systematische Interaktion von illokutiven und interaktiven Funktionen, den motivierten Einsatz von Gambits und Diskursstrategien, die Art und Weise, wie Themen gefunden, eingeleitet, weitergeführt und beendet werden und wie verschiedene Sprechhandlungen bestimmte Diskurstypen und Diskursphasen determinieren. Kommunikative Bewußtheit umfaßt neben dem situativen (Mikro-)Kontext auch den kulturellen (Makro-)Kontext von Äußerungen, insbesondere auch stark kontextbedingte sprachliche Phänomene wie Routinen, Gambits, Diskursstrategien, Höflichkeit und Direktheit, Konversationsmaximen, Diskurskohärenz, sowie soziopragmatische Phänomene wie die soziolinguistischen Variablen soziale Distanz und Dominanz und die durch soziale Konventionen determinierten Rechte und Pflichten der Interaktanten oder der Grad der Zumutung, Faktoren, die alle der Realisierung und Interpretation kommunikativer Handlungen zugrunde liegen. Die Bewußtheit über alle diese pragmatischen und diskursiven Phänomene schließt beim Fremdsprachenlernen noch ein Bewußtsein über Kontraste und Ähnlichkeiten zwischen Mutter- und Fremdsprache in diesen Bereichen ein. Was nun bedeutet es, sich dieser beschriebenen Phänomene „bewußt" zu sein? Bewußtheit ist ein vieldeutiger Begriff, und es ist äußerst wichtig, ihn zunächst theoretisch zu differenzieren, wie z.B. Schmidt (1994a) dies versucht hat. Schmidt (1994a: 15 ff) unterscheidet zwischen den folgenden Arten der Bewußtheit: Bewußtheit als "Intentionality" (Intentionalität), als "Attention" (Aufmerksamkeit), als "Awareness" (Bewußtsein) und als "Control" (Kontrolle), die ich im folgenden kurz erläutern werde (vgl. hierzu auch die Einleitung zu diesem Band). Bewußtheit als "Intentionality" bezieht sich auf das, was umgangssprachlich als "Absichtlichkeit", als planvolles, zielbewußtes Vorhaben bezeichnet wird. Bewußtheit als "Attention" ist subjektive, gerichtete Aufmerksamkeit, wobei diese Art von Bewußtheit der Idee des „Bewußtseinsflusses" nahekommt, der teilweise unter der Willenskontrolle steht. Mit Bezug auf das Erlernen einer Fremdsprache ist die Hypothese aufgestellt worden (z.B. von Schmidt 1990; 1993a,b; 1994a,b), daß Attention für die Umwandlung von 'Input' in 'Intake' nötig ist. Durch Bewußtheit als FLuL 26 (1997) 70 Juliane Hause "Awareness" ist man sich seiner Existenz und seiner Umgebung bewußt. Bewußtheit als Attention kontrolliert den Zugang zu Bewußtheit als Awareness und führt zu der subjektiven Erfahrung von Bewußtheit. Awareness ist auch verantwortlich für den Prozeß des sogenannten "Notice-the-Gap" (Klein 1986; Schmidt und Frota 1986), d.h. der Wahrnehmung des Unterschieds zwischen der eigenen sprachlichen Performanz und dem, was in der native-speaker-Performanz bewußt beobachtet wird. Explizites (gegenüber implizitem) Lernen korreliert mit Bewußtheit als Awareness. Mit Bewußtheit als "Control", d.h. als kognitiver Kontrolle, wird umgangssprachlich gemeint, daß man mit Anstrengung „dabei war". Die Arbeiten von z.B. Langer (1989) sowie Heckhausen und Beckmann (1990) zu "Action slips" zeigen die Konsequenzen der Abwesenheit solcher kognitiven Kontrolle, wenn dadurch, daß Handlungsschemata, Scripts und Frames ohne kontrollierende Bewußtheit automatisch ablaufen, interaktionelle „Ausrutscher" auftreten. Kontrolle und Aufmerksamkeit unterscheiden sich insofern, als Kontrolle als "Output Processing", Aufmerksamkeit als "Input Processing" beschrieben werden kann. Bewußtheit als Kontrolle hängt eng mit "Fluency", der flüssigen Sprachproduktion, zusammen und der sog. "Automatizität" beim Sprechen (Schmidt 1994a: 21; House 1996b), wobei die Hypothese aufgestellt werden kann, daß spontane, automatische Sprachperformanz aus frühen Stufen bewußter Sprachkontrolle abgeleitet werden kann. Es ist wichtig, sich über diese vier unterschiedlichen Konzeptionen von Bewußtheit im klaren zu sein und zu versuchen, sie auseinanderzuhalten, wenn über Bewußtheit beim Fremdsprachenlernen reflektiert wird. Bevor wir uns nun aber der Problematik kommunikativerBewußtheit in ihrer je spezifischen Spielart zuwenden, muß zuerst geklärt werden, ob es überhaupt notwendig ist, kommunikative Aspekte der Sprachverwendung im Fremdsprachenunterricht zu lernen, und inwiefern solche Kenntnisse (mit oder ohne Awareness) nicht schon durch die kommunikative Kompetenz in der Muttersprache vorliegen. Die Beantwortung dieser Fragen ist eng verbunden mit der Frage nach der Universalität pragmatischer und diskursiver Phänomene. Deshalb soll im nächsten Abschnitt zunächst auf diese Problematik eingegangen werden. 2. Universalität und Kulturspezifik kommunikativen Sprachgebrauchs Die Frage, ob kommunikatives Verhalten in verschiedenen Sprachen universaler Natur ist oder sprachspezifische Züge hat und welche diese sind, ist für das Fremdsprachenlernen allgemein und für die Frage der Bewußtheit von großer Bedeutung. Wenn davon ausgegangen wird, daß kommunikative Fähigkeiten nicht gelernt und vermitttelt zu werden brauchen, da sie universal sind, durch die Sozialisation in der Muttersprache größtenteils schon gegeben sind und dann automatisch aus der Muttersprache transferiert werden wie dies z.B. Ende der siebziger Jahre von Kritikern des Kommunikativen Ansatzes beim Fremdsprachenlehren geglaubt wurde (vgl. z.B. Müller 1977) -, dann erübrigt sich auch die Diskussion um Vorteile oder FLuL 26 (1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 71 Notwendigkeit von Bewußtheit beim Fremdsprachenlernen. Jedoch sind in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe von Forschungsergebnissen vorgelegt worden, die darauf hindeuten, daß die kommunikativen Normen und Präferenzen in verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften in bestimmter, beschreibbarer Weise differieren. Ferner muß natürlich darauf hingewiesen werden, daß das dialektische Verhältnis zwischen kommunikativen Handlungen und den sie realisierenden sprachlichen Tokens jede naive, umfassende Universalitätsannahme in Frage stellen dürfte. Im folgenden soll die Frage der Universalität und Kulturspezifität nun exemplarisch anhand eines zentralen, intensiv beforschten Konzepts pragmatischer Forschung, der Höflichkeit, kurz dargelegt werden. Höflichkeit ist in bezug auf eine Reihe unterschiedlicher Phänomene diskutiert worden, z.B. umgangssprachlich als aus persönlicher Motivation erwachsende Bemühung, in Interaktionen „nett" oder „freundlich" zu sein, oder als soziale Norm (Fraser 1990), die die in einer Gesellschaft: gültigen Regeln der sozialen Etikette und des guten Benehmens widerspiegeln und sich insbesondere in mehr oder weniger formellen Sprechweisen äußert. Diese Art Höflichkeit ist in das Sprachsystem vieler Sprachen „eingebaut" (z.B. das TN-System oder die im Japanischen notwendige Markierung von Status und sozialer Distanz). Höflichkeit ist aber auch als pragmatisches Phänomen interpretiert worden (z.B. von Lakoff 1973; Leech 1983), welches bestimmte philosophische Maximen und Prinzipien widerspiegelt, oder aber als Instrument zum "Face Management" (Brown und Levinson 1987). Lakoff (1973) stellt zwei grundlegende (universale) Strategien menschlicher Kommunikation vor, eine Strategie der Klarheit (die sich durch die Gricesche Kooperationsmegamaxime und seine Maximen der Quantity, Quality, Relation and Manner beschreiben läßt) und eine Strategie des Rapport, aus der sich drei spezielle Höflichkeitsprinzipien ableiten: Distance "Dräng dich nicht auf'), Deference "Gib dem Kommunikationspartner Entscheidungsfreiheit") und Cameraderie "Sei freundlich"). Auch Leech (1983) stellt in seiner „Interpersonellen Rhetorik" neben die Griceschen Maximen ein sogenanntes „Höflichkeitsprinzip", das aus einer Reihe von Maximen besteht, u.a. der "Tact Maxim" und der "Agreement Maxim". Die einflußreichste pragmatische Theorie der Höflichkeit ist die von Brown und Levinson (1987), die Höflichkeit als grundlegendes biologisches, psychosoziales Phänomen beschreiben und ihre Theorie auf Goffmans Begriff "Face" und die Griceschen Maximen stützen. Sie differenzieren positives Face (ähnlich der Goffmanschen Auffassung als Wunsch einer Person nach Anerkennung durch andere) und negatives Face, d.h. der Freiheit von der Auswirkung der Handlungen anderer. Abweichungen von den Griceschen Maximen sind motiviert durch den Einsatz von Höflichkeitsstrategien, mit denen gegen sog. "Face Threatening Acts" {FTAs) angegangen wird. Da praktisch jeder Sprechakt einer Bedrohung entweder des positiven oder des negativen Face gleichkommt, müssen in jedem kommunikativen Akt Höflichkeitsstrategien aus einem differenzierten Repertoire von positiven und negativen Höflichkeitstrategien gemäß des Sprechers Einschätzung des FTA in FLuL 26 (] 997) 72 luliane House Abhängigkeit von den pragmatischen Parametern soziale Distanz, Autorität und dem Grad der Zumutung, der durch die Realisierung einer Sprechhandlung entsteht, ausgewählt werden. Brown und Levinson erheben explizit den Anspruch auf Universalität ihres Höflichkeitsmodells, und auch die Griceschen Maximen, auf die sich Lakoffs und Leechs Höflichkeitstheorien stützen, sind als universale Grundlagen menschlichen Verhaltens konzipiert. In jüngster Zeit ist Browns und Levinsons Universalitätsanspruch stark kritisiert worden, insbesondere von Forschern, die sich mit nichtwestlichen Sprachen und Kulturen auseinandergesetzt haben (vgl. z.B. Watts [et al.] 1992; Ide [et al.] 1992) und die darauf hinweisen, daß z.B. zwischen angelsächsischen und japanischen Höflichkeitsnormen so tiefgreifende Unterschiede bestehen, daß keinesfalls von Universalität gesprochen werden kann: Das Japanische ist gekennzeichnet durch obligatorische Auswahl sprachlicher Indikatoren und dem sog. "Discernment", wodurch Sprecher aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Konventionen gezwungen werden, "höfliche" Ausdrucksweisen zu verwenden, wohingegen angelsächsische Sprecher in ihrer Auswahl der sprachlichen Mittel frei sind. Auch Leechs Maximen können nicht mehr als universelle kommunikative Prinzipien gelten. Thomas (1995) gibt viele Beispiele kulturspezifischer Realisierungen von Leechs Politeness-Maximen. Die 'Tact Maxim' z.B. ist zwar zentral für westliche Höflichkeitskonzeptionen, insofern als bestimmte Sprechakte wie Bitten/ Aufforderungen routinemäßig abgeschwächt werden durch das Angebot von „Optionalität"; die Situation ist jedoch ganz anders im Chinesischen (Spencer-Oatey 1992). Aber auch für zwei so nah verwandte Sprachen und Kulturen wie das Englische und das Deutsche sind viele Unterschiede z.B. bzgl. der 'Agreement Maxim' nachgewiesen worden, die mit „Indirektheit" bei der Realisierung verschiedener Sprechhandlungen in Beziehung gesetzt wird (vgl. z.B. House 1989a; 1996a; House und Kasper 1981; 1987). Während frühe sprachvergleichende Studien (vgl. z.B. Walters 1979; House 1979) sprachliche Formen als Indikatoren von Höflichkeitsnormen untersuchten, wandten sich spätere Studien der je nach Sprache unterschiedlichen Auswirkung isolierter sozialer und kontextueller Variablen (z.B. sozialer Distanz und Dominanz) zu und untersuchten auch deren sprachspezifische Interaktion bei der Realisierung von Sprechhandlungen (vgl. z.B. Takahashi und Beebe 1993; Wolfson [et al.] 1989). Auch die Untersuchungen bestimmter kontextinterner Charakteristika einzelner Sprechakte (z.B. die mit ihrer Realisierung verbundenen Rechte und Pflichten der Interaktanten oder der Grad der wahrgenommenen Zumutung) wurde für viele verschiedene Sprachen verglichen (für Bitten/ Aufforderungen vgl. z.B. Blum- Kulka und House 1989, House 1989a; für Entschuldigungen House 1989b, Bergman und Kasper 1993; für Beschwerden Olshtain und Weinbach 1993). Auch die komplexe Interaktion der verschiedenen kontextinternen Variablen ist vielfach sprachvergleichend untersucht worden. In letzter Zeit ist man davon abgekommen, isolierte kontextuelle Variablen zu untersuchen und in ihrer Wirksamkeit in bestimmten Sprechhandlungen in verschiedenen Sprachen zu vergleichen; vielmehr FLuL 26 (1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 73 hat man begonnen, "ganzheitlich" Höflichkeits- und Diskursnormen zu kontrastieren, so z.B. bei der Kommunikation am Arbeitsplatz (Clyne 1994), in interkulturellen Verhandlungen (Ehlich und Wagner 1995) oder auch Face-to-Face-Konversationen (House 1996a). All diese Studien und viele andere, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ergaben, daß Höflichkeitsnormen, kommunikative Stile und Präferenzen sprach- und kulturbedingt variieren. Für das Erlernen einer fremden Sprache im Gebrauch, also für die Entwicklung kommunikativer Kompetenz, läßt sich daraus die Hypothese ableiten, daß ein Wissen um diese unterschiedlichen Normen wichtiger Bestandteil dieser kommunikativen Kompetenz sein muß und daß es erlernt werden muß. Für die Frage der Universalität von Höflichkeit bedeuten diese und viele andere sprachvergleichende Studien und ihre Resultate nun aber nicht etwa, daß Höflichkeit kein universales Phänomen ist. Vielmehr wäre zur Erklärung dieser Befunde eine differenzierte Theorie notwendig, die auf mindestens drei Ebenen operiert: einer ersten, biologischen, psycho-sozialen Ebene, auf der Höflichkeit auf artspezifischen Bedürfnissen nach Nähe und Distanz basiert, einer zweiten, philosophischen Ebene, auf der Höflichkeit in Form von Maximen und Prinzipien gefaßt werden kann, und einer dritten, empirisch-deskriptiven Ebene, die der Tatsache Rechnung trägt, daß in unterschiedlichen Sprach- und Kulturgemeinschaften Höflichkeit gemäß je spezifischer kommunikativer Normen und Präferenzen operiert. Für die erste und die zweite Ebene kann dann die Universalitätshypothese aufrechterhalten werden, auf der dritten Ebene könnte noch unterschieden werden zwischen relativ offenen, aushandelbaren Regeln und anderen, die eher geschlossen und normativ sind. Diese Unterscheidung ist relevant für die oben angeschnittene Frage, inwiefern im Sprachsystem selbst bereits Höflichkeitsnormen determiniert sind (z.B. Honorifika im Japanischen). 'Top-down' vorgehend könnte man einen Parameter "Aushandelbarkeit" hypostasieren, der den Grad der Flexibilität bei der Realisierung bestimmter Maximen und Prinzipien in einer Sprachgemeinschaft determiniert. Mit der Annahme dieses Parameters läßt sich erklären, warum bestimmte Höflichkeitsformen in Kultur A sprachlich differenziert gehandhabt werden können, in Kultur B dagegen inflexibel bleiben müssen. Wenn 'Bottom-up' vorgegangen wird, kann man durchaus zu Maximen und Prinzipien gelangen, die nicht universal sind. Diese hier nur angedeutete Möglichkeit einer Theorie zur Erklärung eines der zentralen Phänomene von Sprache im Gebrauch kann also sowohl universale Aspekte als auch interkulturelle Variationen erklären. Dieser Theorieansatz kann auch zur Erfassung universaler und sprachspezifischer Aspekte der Diskurskohärenz dienen, einem ebenso zentralen Thema in der pragmatischen wie in der Diskursforschung. Edmondson (1997) unterscheidet vier Ebenen in seinem Modell zur Erklärung von Universalität oder Kulturspezifik von Diskursen. Auf der ersten universalen Ebene, die (wie in dem o.g. Höflichkeitsmodell) biologisch gegeben und mit der Dialektik von Nähe und Distanz erklärbar ist, sind grundlegende interaktionale Strukturen gegeben, welche auch in anderen FLuL 26 (1997) 74 Juliane Hause semiotischen Systemen und Arten zu finden sind. Die zweite (ebenso universale) Ebene ist die soziolinguistische Ebene, auf der die interaktionalen Strukturen mit sprachlichen Formen „gefüllt werden"; bestimmte sprachliche Resultate müssen durch und mit Sprache ermöglicht werden, um den Bestand menschlicher Gesellschaften zu gewährleisten, und Sprechhandlungen wie z.B. Bitten/ Auffordern, Vorschläge oder Entschuldigungen ergeben sich aus so grundlegenden perzeptuellen Parametern wie „ich versus alter", "Zukunft versus Vergangenheit", "positiv versus negativ". Die dritte Ebene ist die interaktionale Ebene. Sie enthält generelle Regeln der sprachlichen Performanz (z.B. konversationelle Maximen), und die universellen Kategorien auf den ersten beiden Ebenen werden hier sprachlich realisiert. Ebene 4 ist dann die Ebene der je sprach- und kulturspezifischen Realisierung von Sprechhandlungen. Die Verbindung universeller Aspekte der Repräsentation von sprachlichem Wissen mit sprachspezifischen Aspekten, wie sie in dem Drei-Ebenen-Modell der Höflichkeit und dem Vier-Ebenen-Diskursmodell beschrieben worden ist, charakterisiert auch Bialystoks (1994: 558) kognitives Modell, das die verschiedenen Wissensspeicher wie folgt gliedert: Language-Specific Details: Ll -Lexicon -Settings Language Conceptual -Pragmatics .,__.. -Principles and Parameters ~ -Knowledge ofthe World t -Universal Categories -Semantic Knowledge L2 -Lexicon -Settings -Pragmatics (Nach Bialystok 1995, 558) Abb. 1: Wissensquellen bei der Sprachverarbeitung In diesem Modell wird pragmatisches Wissen zwar als sprachspezifisch deklariert, d.h., für jede Sprache gelten je spezifische Instruktionen der Verbindung zwischen sprachlichen Einheiten und ihrem Gebrauch in bestimmten 'settings' (situativen Kontexten), doch ist durch die in den Pfeilen angedeutete Verbindung mit den universalen Prinzipien und Parametern sowie dem konzeptuellen Weltwissen auch die in den beiden oben beschriebenen Stufenmodellen vorgesehene Möglichkeit der Universalität pragmatischer Maximen und Prinzipien gegeben. Bialystok argumentiert, daß sprachliches Wissen, zu dem auch pragmatisches Wissen gehört, einer Analyse (Analysis) unterworfen werden muß, wobei diese Analyse definiert wird FLuL 26 ( 1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 75 als ein Prozeß, durch den sprachliche und konzeptuelle Repräsentationen expliziter und strukturierter gemacht werden. Dies bedeutet, daß durch diesen Analyseprozeß Wissen, das ursprünglich als implizites, unanalysiertes Wissen erworben worden ist, nunmehr explizit wird, d.h. für Introspektionen zugänglich wird. Explizit gemachtes Wissen differiert von implizitem Wissen in mindestens zwei Aspekten: Es ist dem Bewußtsein (im Sinne von Awareness) zugänglich, und es kann entweder durch Analyse aus implizitem Wissen entstehen oder direkt als solches gelernt werden. Bialystok (1994: 566) stellt die Hypothese auf, daß die in den sprachspezifischen Details enkodierten Informationen im wesentlichen von Anfang an explizit sind, d.h., bzgl. des uns hier interessierenden pragmatischen und diskursiven kommunikativen Wissens bedeutet dies, daß es sich auf Grund je spezifischer kommunikativer Bedürfnisse entwickelt. Dieses Wissen kann anschließend automatisiert werden was keinesfalls damit gleichzusetzen ist, daß es „implizit" wird durch verbesserte Möglichkeiten des Zugangs, Abrufs oder in Bialystoks Terminologie der "Kontrolle". Explizites Wissen wird also nicht implizit, sondern bleibt explizit. Zusammenfassend gesagt, Bialystoks (1994) gegenüber ihrem früheren Modell (1978) derart revidierte Theorie betont die explizite Repräsentation sprachlichen Wissens: Explizites Wissen im Bereich der sprachspezifischen Details ist von Anfang an explizit, und die implizit und universal angelegten sprachlichen und konzeptuellen Repräsentationen entwickeln sich aus ihrer ursprünglichen Implizitheit zu zunehmender Explizitheit (und damit Zugänglichkeit zu Bewußtheit im Sinne von Awareness), und so Bialystok (1994: 567) diese "increasing explicitness · can almost serve as a definition of what we mean by 'learning"'. Aus Bialystoks (1994) wie auch aus Edmondsons (1997) Modell der Quellen und Repräsentationen kommunikativen Wissens, in denen die Frage der Universalität pragmatischen und diskursiven Wissens thematisiert worden ist, ergibt sich nun jedoch noch nicht die Beantwortung der Frage, ob, von wem und wie dieses Wissen beim Erlernen kommunikativer Aspekte des Gebrauchs einer Fremdsprache bewußtgemacht werden soll (im Sinne von Aufmerksamkeit und Awareness). Daß Wissen, wenn es bewußt werden soll, explizit sein muß, ist aus dem Modell Bialystoks unmittelbar ersichtlich und soll hier als plausibel übernommen werden. Zur Beantwortung der Frage nach der Notwendigkeit von Bewußtheit bei der Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten in der Fremdsprache sollen nun im folgenden einige empirische Studien diskutiert werden. 3. Empirische Studien zur Bewußtheit und Bewußtmachung kommunikativer Aspekte beim Fremdsprachenlernen In einer detaillierten Tagebuchstudie bestätigen Schmidt und Frota (1986) die Hypothese, daß zum Erwerb kommunikativer Aspekte von Sprachkompetenz der Lerner zunächst seine Aufmerksamkeit auf diese Aspekte richten muß und zwar nicht nur auf die sprachlichen Formen, sondern auch und gleichzeitig auf die rele- FLuL 26 (1997) 76 Juliane Hause vanten kontextuellen Faktoren und den Satz pragmatischer Regeln, die die Verwendung dieser Formen in einem bestimmten kulturellen Makrokontext regeln. Durch diese gerichtete Aufmerksamkeit werden die kontextualisierten und regelhaft verwendeten Formen bewußtgemacht (Awareness). Schmidt und Frota (1986) beschreiben viele (in einem Tagebuch aufgezeichnete) Fälle, in denen der erste Autor (Richard Schmidt) während seines 22 Wochen dauernden Aufenthalts in Brasilien einzelne Formen und Funktionen des brasilianischen Portugiesisch „bemerkte", sich ihrer bewußt wurde und sich auch des Unterschieds zwischen seiner eigenen Performanz und der mit ihm in Kontakt tretender muttersprachlicher Sprecher bewußt wurde ("noticing-the-gap"). Schmidt gibt eine Vielfalt von Beispielen über die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten durch kommunikative Bewußtheit (Attention und Awareness), die sich in der Interaktion mit Muttersprachlern entwikkelten und das Zusammentreffen von Bewußtheit und der Erweiterung kommunikativer Fähigkeiten dokumentieren. Ein gutes Beispiel betrifft die Schwierigkeiten, die Schmidt mit Telefongesprächen in Brasilien hatte (vgl. Schmidt 1993b: 29 und Schmidt und Frota 1986: 276), insbesondere mit dem Beenden eines Telefongesprächs. Schmidt berichtet, daß er einmal zuhörte, wie ein brasilianischer Freund bei ihm telefonierte. Schmidt richtete seine Aufmerksamkeit darauf, wie dieser Freund die Beendigung des Telefongesprächs bewerkstelligte, und er identifizierte dabei die Formel entao ta als eine Pre-Closing-Routine-Formel. Nachdem er diese Formel (Form, Funktion, Kontext) bewußt wahrgenommen hatte (und also nach dem "noticing-the-gap" sich der Möglichkeit gewahr wurde, "how to close the gap", d.h. wußte, wie er die Lücke zwischen seiner und der nativen Kompetenz schließen konnte), probierte er diese bewußt erworbene Formel sofort aus und war auch erfolgreich damit. Schmidt (1993b: 31) interpretiert diese und eine Reihe weiterer Beispiele aus dieser Studie dahingehend, daß er eine enge Verbindung hypostasiert zwischen Aufmerksamkeit und Awareness dessen, was im Input vorhanden ist, also der sprachlichen Form und deren erweitertem Kontext und entsprechendem intentionalen Lernen (wobei auch Bewußtheit als Intentionality eine Rolle spielt). In dem eben beschriebenen Beispiel sieht Schmidt den Fall eines bewußten Suchens nach der Regelhaftigkeit von Telefonbeendigungsformeln. Für das Erlernen pragmatischer Faktoren in der Fremdsprache ist also die gerichtete Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form, deren funktionale Bedeutung und die relevanten Kontextfaktoren nötig. Ferner stellt Schmidt die Hypothese auf, daß L2-Lerner das Lernen der L2- Pragmatik aktiv erfahren, daß Intentionalität, Aufmerksamkeit und Awareness subjektiv erfahrbar sind und erfahren werden. Und besonders wichtig: Wenn die Aufmerksamkeit des Lerners bewußt auf bestimmte pragmatische Phänomene im Input gerichtet ist und wenn er versucht, deren Bedeutung für tiefere sprachlich-konzeptuelle Verallgemeinerungen zu analysieren, dann ist dies für das „tiefe" Lernen und Behalten dieses Phänomens bedeutsam. Schmidt und Frotas Befunde werden unterstützt durch eine empirische Studie, die House (1986) im Kontext des Fremdsprachenunterrichts mit fortgeschrittenen FLuL 26 (1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 77 erwachsenen Englischlernern in universitären Sprachkursen durchgeführt hat. Hier wurden im Rahmen eines auf empirischen Forschungen zum Erwerb kommunikativer Kompetenz beruhenden Kommunikationskurses für deutsche Anglistikstudenten (vgl. Edmondson 1982) Daten zum Interaktionsverhalten dieser Lerner erhoben. Ziel dieses Kurses war es, die kommunikative Kompetenz der Lerner auf der Grundlage eines Diskursanalysemodells (Edmondson 1981) zu erweitern, d.h., der Kurs hatte eine starke kognitive metapragmatische Komponente. Den Lernern wurden Formen, Funktionen und Distributionen bestimmter Sprechhandlungen, Diskursstrategien, Gambits sowie deren typische Formationen in größeren Einheiten wie Diskursphasen und Diskurstypen systematisch demonstriert und erklärt. In der praktischen Komponente des Kurses erprobten die Lerner die Verwendung der fremdsprachlichen Tokens, auf die ihre Aufmerksamkeit bewußt gelenkt worden war, in offenen Rollenspielen und Szenarien, in denen die soziolinguistischen Variablen Dominanz, soziale Distanz und Grad der Zumutung systematisch variiert wurden. Die resultierenden Lernerproduktionen wurden auf Tonband aufgenommen, transkribiert und jeweils in der folgenden Sitzung des Kurses den Lernern vorgespielt, mit ihnen anhand der ihnen vorliegenden Transkriptionen interpretiert und mit Hilfe der ihnen vermittelten Metasprache analysiert. Ferner wurden den Lernern Aufnahmen entsprechender Native-Speaker-Rollenspiele und Szenarien vorgespielt, welche sie mit ihren eigenen Produktionen vergleichen sollten ("noticing-the-gap"). In der Studie (House 1986) wurden nun zusätzlich zu den aufgezeichneten Interaktionen auch die Diskussionen über den eigenen Output aufgezeichnet, und es wurde ein Vergleich zwischen den Lernerrollenspielen und den Lernerdiskussionen über diese Rollenspiele durchgeführt. Der Vergleich dieser beiden Diskurstypen ergab, daß die Lerner sehr wohl in der Lage waren "to notice the gap", daß sich ihre kommunikative Kompetenz im Hinblick auf alle im Kurs unterrichteten pragmatisch-diskursiven Phänomene verbessert hatte, daß jedoch die kommunikativen Fähigkeiten in den auf Alltagssituationen basierenden Rollenspiel-Interaktionen (mit denen sich die Lerner laut eigener Aussage gut identifizieren konnten) sehr viel besser ausgeprägt waren als in den Diskussionen über diese Interaktionen. Dieser eklatante Unterschied wurde dahingehend interpretiert, daß die Lerner die kommunikativen Phänomene in den simulierten Alltagsinteraktionen bewußt gelernt hatten, das Management des Unterrichtsdikurses in der Fremdsprache, einem sui-generis- Diskurs, jedoch nicht. Die Lerner waren zwar in der Lage, ihre eigenen und die Defizite ihrer Mitlerner (auf der Inhaltsebene) zu diagnostizieren, doch waren die kommunikativen Fähigkeiten der Lerner in diesem Diskurstyp so viel schlechter als in den Rollenspielen, daß man hätte annehmen können, es handele sich um völlig andere Personen. Man könnte aus diesem Ergebnis folgern, daß ex negativo die Hypothese des Erwerbs kommunikativer Fähigkeiten durch gerichtete Aufmerksamkeit und Awareness bestätigt ist, da in dem von denselben Lernern durchgeführten Unterrichtsdiskurs, der nicht das Thema bewußter Aufmerksamkeit und Awareness gewesen war, die in den Simulationen von ihnen bewußt erlernten und erfolgreich demonstrierten Fähigkeiten nicht nachgewiesen werden konnten. FLuL 26 (1997) 78 Juliane House In einem weiteren Unterrichtsexperiment knüpft House (1996b) an eine frühe empirische Studie (House und Kasper 1981) an und versucht, sie zu präzisieren. House und Kasper hatten ein Experiment mit dem oben beschriebenen Kommunikationskurs durchgeführt, wobei in einer Version des Kurses kognitive, den Lernern die vermittelten kommunikativen Phänomene bewußtmachende Verfahren betont und „explizit" unterrichtet wurden, die andere Version (beide Versionen wurden von ein und derselben Lehrperson unterrichtet) dagegen „implizit", mit vermehrter Praxis unterrichtet wurde. Die Lerner präferierten eindeutig die explizite Version des Kurses; die implizite Version, in der den Lernern weder eine Metasprache zum Erfassen der kommunikativen Phänomene vermittelt wurde, noch ihre Aufmerksamkeit auf diese Phänomene in der Interaktionspraxis gerichtet wurde, sie vielmehr lediglich vermehrten Input erhielten und in vielfältig variierten Szenarien ihre Fähigkeiten erprobten, konnte in der vorgesehenen, Bewußtmachung bewußt blokkierenden Weise gar nicht bis zum Ende durchgeführt werden, da sich die so Unterrichteten weigerten, weiter an diesem Experiment teilzunehmen, d.h., sie verweigerten die ohne explizite Bewußtmachung vonstatten gehende Art der Vermittlung kommunikativer Aspekte der Fremdsprache. Aus diesem Ergebnis kann geschlossen werden, daß die gerichtete Aufmerksamkeit und Awareness fortgeschrittener erwachsener Fremdsprachenlerner bzgl. der für den Erwerb kommunikativer Kompetenz notwendigen kommunikativen Aspekte den Bedürfnissen dieser Lerner entspricht. Es folgt hieraus jedoch noch nicht, daß es sinnvoll ist, die zu erwerbenden kommunikativen Aspekte explizit bewußtzumachen. Dieser zweiten wichtigen Frage nachzugehen, war das Ziel des folgenden Experiments. House (1996b) ist eine Longitudinalstudie, in der auf der Grundlage des gleichen universitären Kommunikationskurses versucht wurde herauszufinden, ob "pragmatic fluency" (die Angemessenheit und Flüssigkeit bei der Realisierung kommunikativer Phänomene) im Fremdsprachenunterricht durch die Bereitstellung von Input und die Ermöglichung extensiver Praxis allein (implizite Version) erreicht werden kann oder ob neben Input und fremdsprachlicher Praxis zusätzliches explizites, bewußtheitsförderndes Vermitteln sprachlicher Routinen bessere Ergebnisse erzielt. Folgende Hypothese lag dieser Untersuchung zugrunde: Explizites Lehren pragmatischer Routinen unter Verwendung einer Metasprache, mit Hilfe derer die Aufmerksamkeit der Lerner auf die zu lernenden Routinen (Form, Funktion, Distribution) gerichtet wird, so daß sie sich dieser Phänomene bewußt werden, verhilft den Lernern dazu, pragmatisch adäquat und flüssig sprechen zu können. Es wurden zwei Gruppen von Probanden über einen Zeitraum von 14 Wochen von ein und derselben Lehrperson in unterschiedlicher Weise unterrichtet: einmal mit Vergabe expliziter metapragmatischer Information und einmal ohne diese Information. Die pragmatischen Fähigkeiten der Lerner wurden in drei Tests zu Beginn, in der Mitte und zum Ende des Kurses ermittelt. In der expliziten Kursvariante erhielten die Lerner neben mündlichen Erklärungen detaillierte Handouts. Die von den Lernern durchgeführten Simulationen wurden ihnen vorgespielt, und sie wurden explizit dazu aufgefordert, ihre Produktionen einzuschätzen, wodurch also die eigene Performanz FLuL 26 (1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 79 bewußtgemacht wurde (Aufmerksamkeit plus Awareness). Die Bewußtheit wurde gerichtet auf die gemäß soziolinguistischer Parameter (soziale Distanz, Dominanz) systematisch variierenden pragmatischen Routinen, mit denen Gambits, Diskursstrategien und bestimmte Sprechhandlungen realisiert werden. Ein wichtiger Faktor in der expliziten Kursvariante ist die Kontrastierung muttersprachlicher und fremdsprachlicher Interaktionsnormen auf der Grundlage relevanter Forschungen (vgl. zusammenfassend House 1996a, 1997). In der impliziten Version erhielten die Lerner keinerlei metapragmatische Information. Sie hatten die Gelegenheit zu intensiver Praxis, und es wurde ihnen ihr eigener Output vorgespielt, sie wurden aber nicht dazu aufgefordert, selbst darüber zu reflektieren, vielmehr erhielten die Lerner Feedback durch die Lehrperson, und es wurden ihnen normgerechte Varianten als Korrektur angeboten. Zusätzlich zu den extensiven Audioaufnahmen der Lernerinteraktionen in allen Sitzungen der beiden Kurse, den drei pragmatischen Tests, in denen die sich entwickelnden kommunikativen Fähigkeiten der Lerner in offenen Rollenspielen festgestellt wurden, und den introspektiven, interpretierenden Kommentaren der Lerner in der expliziten Kursvariante wurden noch Interviews zu Beginn der Kurse, in denen Lernbiographien erhoben wurden, sowie Interviews am Kursende zur Evaluation des Unterrichts durchgeführt. Weiter wurde Methodentriangulation durch Unterrichtsbeobachtung zu erreichen versucht. Die Auswertung der Test-Interaktionen der Lerner (13 pro Gruppe pro Test) ergab, daß die explizit metapragmatisch unterrichtete Gruppe in der Realisierung sprachlicher Routinen in der Fremdsprache in initiierenden Zügen den implizit unterrichteten Lernern insofern überlegen waren, als sie ein reicheres, differenzierteres, normgerechteres und interpersonal wirksameres (d.h. auf den Interaktanten eingehenderes) Repertoire an sprachlichen Routinen realisieren konnten als die implizite Gruppe, womit also die Arbeitshypothese für initiierende Züge bestätigt werden konnte. Die implizit unterrichtete Gruppe zeigte in der Realisierung sprachlicher Routinen eine deutlichere Ausrichtung auf den zu vermittelnden Inhalt hin, q.h. weniger (strategische) Berücksichtigung der Konversationspartner. Beide Gruppen aber zeigten gleichermaßen Defizite bei der Realisierung respondierender Züge, d.h., unabhängig von der Unterrichtsform traten nicht-konventionalisierte, nicht-routinisierte Äußerungen in den ritualisierten Eröffnungs- und Beendigungsphasen auf sowie unerwartete, nicht-normative, minimalistische „unhöfliche" Äußerungen. Diese Befunde (die auch die Ergebnisse in House 1993 bestätigen) lassen sich im Lichte folgender Erklärungshypothesen interpretieren: (1) Durch die Auto-Input-Hypothese (Sharwood Smith 1988), die besagt, daß die Bewußtmachung des eigenen Outputs zur Kompetenzerweiterung beim Fremdsprachenlernen beiträgt. Diese Hypothese wird insofern unterstützt, als diejenigen Lerner, die metapragmatische Erklärungen erhielten und zugleich regelmäßig mit expliziter Anweisung zur Selbstanalyse mit ihrem eigenen Output konfrontiert wurden, schließlich verbesserte "pragmatic fluency" zeigten. (2) Durch pragmatischen Transfer aus der Ll: Die Unterrepräsentierung interpersonal fokussierter Routinen bei der Realisierung von Gambits und Diskursstategien kann durch Transfer aus FLuL 26 (1997) 80 Juliane House der deutschen Muttersprache der Lerner erklärt werden. Konvergierender Evidenz aus verschiedenen kontrastiv-pragmatischen Studien zufolge (vgl. House 1996a und 1997 für eine Zusammenfassung) differieren Verfügbarkeit und Gebrauch sprachlicher Routinen im Deutschen und Englischen, wobei auch eine unterschiedliche Orientierung auf den Inhalt und auf die an der Interaktion beteiligten Personen deutlich wird. Pragmatischer Transfer bei der Verwendung von Routinen tritt bei beiden Gruppen auf. Er ist jedoch deutlich stärker bei der impliziten Gruppe als bei der expliziten Gruppe, deren Unterricht die Förderung bewußter Analysen und Kontrastierungen des Gebrauchs von Routinen in Ll und L2 beinhaltete. Es kann also die Hypothese aufgestellt werden, daß durch die gerichtete Aufmerksamkeit auf und die Bewußtheit von L2-spezifischen Routinen pragmatischer Transfer verringert werden kann. In der Tat, aus den Interviews mit den Teilnehmern der expliziten Gruppe geht hervor, daß die Lerner selbst glauben, daß die Bewußtmachung der pragmatischen Kontraste zwischen Ll und L2 ihnen „die Gefahren" des Transfers aus der Ll verdeutlicht habe, so daß sie durch dieses Bewußtwerden dem Transfer aktiv und bewußt entgegenwirken konnten (Details in House 1996b.) (3) Durch kognitive Überlastung beim Respondieren: Prozedurales Wissen und prozedurale Strategien der Lerner sind dadurch überbeansprucht, daß sowohl rezeptive als auch produktive kommunikative Kompetenz im schnellen Hin und Her des gesprochenen Diskurses eingesetzt werden müssen. Wie Möhle (1994) für den Erwerb von Repräsentationen im mentalen Lexikon dargelegt hat, ist für fortgeschrittene erwachsene L2-Lerner beim Aufbau kommunikativer Kompetenz nicht vordringlich die Repräsentation pragmatischen und diskursiven Wissens (deklaratives Wissen) das größte Problem, sondern der Mangel an prozeduralem Wissen. Das Respondierproblem der Lerner ist auf defizitäres "Control of Processing" im Sinne von Bialystok (1993) zurückzuführen, d.h. auf Kontrollstrategien, mit denen der Input effizient verarbeitet wird und Wissensrepräsentationen zügig abgerufen werden, die bei den Lernern unterentwickelt sind. Solche Kontrollstrategien sind für das Erzielen kommunikativer Kompetenz von größter Wichtigkeit: Die Bereitstellung metapragmatischen Wissens ist also nicht ausreichend, es müssen vielmehr sowohl Strategien entwickelt werden, die im jeweiligen Kontext angemessene Interpretationen eingehenden Inputs ermöglichen, als auch Strategien, die eine genügend reiche Auswahl an soziokulturell und intentionsadäquaten sprachlichen Formen und deren regelhafte Verknüpfungen einsatzbereit machen, d.h., die Aneignung prozeduralen Knowhows und die Verfügbarkeit von "Vollzugsmechanismen" müssen als Voraussetzung für spontane gebrauchsfertige fremqsprachliche Ausdruckfähigkeit in Form einer entsprechenden prozeduralen Repräsentation von Redemitteln hinzukommen. Ob diese Repräsentation dem Bewußtsein (im Sinne von Control) zugänglich gemacht werden kann, ist eine offene Frage. Zwei Schlußfolgerungen lassen sich aus dieser Studie (für die hier unterrichteten Lerner) ziehen: (1) Die Vergabe metapragmatischer Informationen und die Bewußtmachung pragmatischer und diskursiver Phänomene ist bedeutsam als Gegengewicht gegen Transfer aus der Ll, als Mittel zum Erwerb eines differenzierten interpersonal potenten Repertoires sprachlicher Routinen und zur Förderung von "pragmatic fluency". (2) Metapragmatische Bewußtheit hat keinen nachweisbaren Einfluß auf die Verbesserung des Respondierverhaltens der Lerner in Alltagsinteraktionen. Obwohl die Bewußtmachung sich positiv ausgewirkt hat auf die Entwicklung und Differenzierung von Diskursrepräsentationen, haben vermutlich die Unterrichtsumgebung und die Artifizialität der Simulationen den Lernern nicht genügend FLuL 26 (] 997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 81 differenzierte Möglichkeiten geboten, um "Control" selbst routinisierter Formeln zu erwerben, wodurch die Entwicklung von "pragmatic fluency" im Bereich respondierender Züge blockiert wurde. Es ist schwierig, im Fremdsprachenunterricht eine optimale Kombination aus der Vergabe expliziten metapragmatischen Wissens zur Bewußtmachung pragmatisch-diskursiver Phänomene mit der Umwandlung dieses Wissens in eine prozedurale· Wissensform zu erreichen, und sicher ist dies ein viel längerer Prozeß als die 14 Lernwochen, die diese Longitudinalstudie erfaßt hat. Dennoch kann als Fazit aus dieser Studie gelten, daß für die Entwicklung pragmatisch angemessenen und flüssigen Sprechens in der Fremdsprache Bewußtheit (Aufmerksamkeit, Awareness und Control) eine sinnvolle und förderliche Rolle spielt. Daß die Bewußtmachung pragmatisch-diskursiver Phänomene im Fremdsprachenunterricht aber bisher weitgehend unberücksichtigt geblieben ist, wird deutlich in einer kürzlich abgeschlossenen empirischen Studie (Bardovi-Harlig und Dörnyei 1997), in der festgestellt wurde, daß bzgl. der Bewußtheit über pragmatische Phänomene ein großer Unterschied zu bestehen scheint zwischen dem Lernen einer L2 als Zweitsprache und einer L2 als Fremdsprache. Bardovi-Harlig und Dörnyei verwendeten ein Video mit 20 Szenarien (Alltagsinteraktionen), um die pragmatische und grammatische Bewußtheit von Englisch-als-Fremdsprache-Lehrern und -Lernern (EFL) mit derjenigen von Englisch-als-Zweitsprache-Lehrern und -Lernern in den USA (ESL) zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigen, daß EFL-Lehrer und -Lerner sich grammatischer Phänomene stärker bewußt waren als pragmatischdiskursiver und daß sie grammatische Fehler als schwerwiegender einschätzten als pragmatische, wohingegen dies bei ESL-Lehrern und -Lernern genau umgekehrt war. Die Autoren interpretieren dieses Ergebnis dahingehend, daß im Fremdsprachenunterricht noch immer viel zu wenig Wert auf die Bewußtmachung pragma~ tisch-diskursiven Wissens in der Fremdsprache gelegt wird. Ferner betonen die Autoren, daß aus ihren Ergebnissen zu folgern sei, daß besonders in einer Umgebung, in der die L2 als Fremdsprache unterrichtet wird, "awareness raising and noticing activities should supplement the introduction of pragmatically relevant input in instructed L2 leaming" (1997: 27). Diese Schlußfolgerung wird auch von Kasper (im Druck) unterstützt, die im Gefolge der oben beschriebenen Studien von House und Kasper (1981) und House (1996b) die relative Effektivität expliziter und impliziter Ansätze bei der Vermittlung pragmatischer Kompetenz (und hier insbesondere ausgewählter L2-Routineformeln) mit einer neuen Population untersucht hat, nämlich mit Lernern des Japanischen als Fremdsprache im universitären Anfangsunterricht. Kasper teilte diese Probanden wie in den vorangegangenen Studien in zwei Gruppen ein: eine explizite und eine implizite Gruppe, deren Unterricht sich durch die An- oder Abwesenheit expliziter metapragmatischer Aktivitäten voneinander unterschied. Kasper setzte eine Vielfalt unterschiedlicher Bewertungsinstrumente ein (Interviews, Multiple-Choice-Aufgaben, Discourse-Completion-Tests, Writing Task etc.), um die Beherrschung der pragmatischen Routineformeln zu untersuchen. Ihre Ergebnisse FLuL 26 (1997) 82 Juliane Hause bestätigen insgesamt die in den früheren Studien aufgestellten Hypothesen: Die explizit unterrichtete Gruppe schnitt insgesamt besser ab als die implizit unterrichtete Gruppe, und beide Gruppen bekundeten in den evaluativen Interviews, daß sie die explizite Unterrichtsweise, in der ihnen die Formen, Funktionen und Distributionen sprachlicher Routinen bewußtgemacht wurden, gegenüber einer impliziten Vorgehensweise eindeutig (und begründet) präferierten. 4. Wie kann kommunikative Bewußtheit im Fremdsprachenunterricht gefördert 'werden? Aus den beschriebenen empirischen Studien zur Rolle der Bewußtheit im Fremdsprachenunterricht läßt sich folgern, daß es nicht zu genügen scheint, Fremdsprachenlerner soziolinguistisch angemessen differenziertem Input „auszusetzen" und darauf zu vertrauen, daß pragmatisches und diskursives Wissen sich von allein entwickelt. Theoretisch müßten Lerner, wenn sie auf universale pragmatische Fähigkeiten vertrauen oder wenn der pragmatische Transfer aus der Ll positiv ist, pragmatisch angemessen agieren können, doch Fremdsprachenlerner tendieren dazu, dieses Wissen nicht zu aktivieren, wenn es nicht so vermittelt wird, daß es ihre Aufmerksamkeit erreicht und sie sich dessen bewußt werden. Für diese Vermittlung eignet sich der Fremdsprachenunterricht sehr gut, denn gerade in der geschützten Umgebung des Unterrichts kann (relativ konsequenzenloses) "Probehandeln" in der Fremdsprache durchgeführt und auch über dieses Handeln bewußt reflektiert werden. Wie Schmidt (1993b: 36) betont, sind die fremdsprachlichen Realisierungen pragmatischer Funktionen den Lernern oft unklar, weil die relevanten kontextuellen Faktoren, auf die die Aufmerksamkeit zu richten wäre, nicht von selbst ins Auge springen ("non-salient" sind) oder aber deshalb ausgeblendet werden, weil sie so "unglaubhaft" stark von den L1 -Phänomenen differieren. So kann es geschehen, daß Fremdsprachenlerner es jahrelang versäumen, ihre Aufmerksamkeit auf wichtige pragmatische Faktoren zu richten, mit der Konsequenz, daß sie sich pragmatischer Unterschiede zwischen Ll und L2 nicht bewußt werden. Die Tatsache, daß dies beim Erwerb der Muttersprache nicht der Fall ist, daß also Kinder in ihrer Muttersprache mit lexikalisch-grammatischer Kompetenz gleichzeitig auch kommunikative Kompetenz erwerben, kann nun nicht, wie Schmidt (1993b: 36) argumentiert, auf die Aktivität irgendeines "Pragmatic Acquisition Device" zurückgeführt werden, dessen Potenz z.B. mit zunehmendem Alter abnimmt, bis es nach einem kritischen Alter nicht mehr wirksam ist, sondern sie steht einmal abgesehen davon, daß, wie Halliday (1973) so beeindruckend dargelegt hat, der einzige Zweck des Sprachlernens zu Beginn die vom Kind erkannte kommunikativ-pragmatische Funktionalität sprachlicher Zeichen ist in unmittelbarem Zusammenhang mit dem stetigen Bemühen von Eltern und anderen Bezugspersonen, diese kommunikative Kompetenz explizit zu lehren. Für das Erlernen FLuL 26 ( 1997) Kommunikative Bewußtheit und Fremdsprachenlernen 83 einer Fremdsprache hat sich in den oben beschriebenen Forschungen gezeigt, daß die Vergabe expliziter pragmatischer Information beim Fremdsprachenerwerb dann förderlich ist, wenn sie nicht nur auf unzuverlässiger native-speaker-Intuition, sondern auf kontrastiv-pragmatischen Forschungen beruht (vgl. hierzu House 1994; 1995; 1997). Die Bezugnahme auf kontrastive pragmatische Forschungsergebnisse im Fremdsprachenunterricht ist auch deshalb wichtig, weil Vergleiche von Lehrwerkdialogen und authentischen Dialogen ergeben haben, daß die Diskrepanz zwischen beiden oft deprimierend groß ist (vgl. hierzu z.B. Bardovi~Harlig [et al.] 1991). Welche Methoden expliziten, bewußtheitsfördernden Lehrens und Lernens im Fremdsprachenunterricht bieten sich an? Aus den oben beschriebenen empirischen Studien kann gefolgert werden, daß sich grundsätzlich eine Kombination von intensiver kommunikativer Praxis und Bewußtheitsförderung günstig auf die Entwicklung kommunikativer Kompetenz auswirkt die Kombination, die in den explizit unterrichteten Gruppen verfolgt worden ist. Neben den in den Experimenten verwendeten Rollenspielen, die auch mit erwachsenen Lernern sinnvolle Möglichkeiten kommunikativer Praxis darstellen, bieten sich auch Beobachtungsaufgaben an, in denen die Aufmerksamkeit der Lerner auf bestimmte kommunikative Merkmale in fremdsprachlichem Interaktionsverhalten (authentischer Art oder auf Video aufgezeichnet) gerichtet wird. Des weiteren ist an Beobachtungsaufgaben zu denken, in denen die Aufmerksamkeit der Lerner bewußt auf pragmatische Kontraste zwischen dem L 1- und L2-Interaktionsverhalten gelenkt wird. Im Zusammenhang mit der Bewußtmachung pragmatischen Wissens im Fremdsprachenunterricht ist es wichtig, die Frage zu stellen, ob denn die von den Lernern anzustrebende und in ihren Äußerungen zu realisierende pragmatische Norm unbedingt und automatisch die pragmatische Norm der L2-Muttersprachler sein und als solche vermittelt werden muß. Dies muß keineswegs so sein, denn diese Norm soll den Lernern lediglich bewußtgemacht werden, damit sie wenn sie dies für sich selbst wollen wissen, wann und wie sie diese Norm unter Umständen bewußt verletzen, und sie die Konsequenzen oder Sanktionen solcher Normabweichungen einschätzen können. Die pragmatische Kompetenz von L2-Lernern ist wie die anderen Teile der sich herausbildenden L2-Kompetenz eine zwischensprachliche Kompetenz, die die Lerner aktiv gestalten und verändern. Lerner, die sich intensiv und bewußt mit der fremden Sprache und Kultur im Kontrast mit der eigenen auseinandersetzen, schaffen sich damit auch eine eigene "Sphere of Interculturality", wie Kramsch (1993) dies nennt. Lerner sollen also über die Bewußtwerdung sprachlich-kultureller Kontraste und Eigenheiten der LI- und L2-Pragmatik keineswegs so „wie die L2 Muttersprachler" werden, sondern es soll ihnen ermöglicht werden, aktiv ihre Distanz oder Nähe auszuhandeln und ihre Äußerungen gemäß ihrer subjektiven Entscheidung darüber, was der eigenen Persönlichkeit angemessen ist, zu gestalten, damit sie nicht zu durch den Anpassungsdruck verstümmelten "reduced personalities" (wie Harder 1980 dies treffend genannt hat) werden, die verzweifelt versuchen, so zu sein wie die 'eingeborenen', nativen Sprecher, zu FLuL 26 (1997) 84 Juliane House denen sie nie gehören werden. Statt Anpassung und Konvergenz also durch Bewußtheit kommunikativer Normen eher ein bewußtes „Dazwischenstehen". Eine solche Abkehr von der dominierenden (und frustrierenden) muttersprachlichen Norm ist dann besser zu bewerkstelligen, wenn der Fremdsprachenlerner sich dieser Rolle bewußt ist, denn nur so ist sie ja den sich schnell verändernden kommunikativen Kontexten entsprechend flexibel veränderbar. Um die vorstehenden Überlegungen zur Förderung kommunikativer Bewußtheit im Fremdsprachenunterricht zusammenzufassen: 1. Die Bewußtmachung kommunikativer Aspekte der Fremdsprache sollte nicht auf muttersprachlichen Intuitionen welche oft nur gängige Stereotypen perpetuieren -, sondern auf kontrastiv-pragmatischen Forschungen basieren. Durch die bewußte Kontrastierung muttersprachlicher und fremdsprachlicher Kommunikationsnormen ließe sich auch eine nützliche Verbindung zu der muttersprachlichen Awareness ziehen, wie sie z.B. von Hawkins (1984) propagiert worden ist. 2. Kommunikative Bewußtheit im Fremdsprachenunterricht als Intentionalität, Aufmerksamkeit, Awareness und Control bedeutet, beim Lernen selbst aktiv zu werden, seinen Lernprozeß selbst zu steuern, anstatt belehrt, bedient und fremdgesteuert zu werden, d.h., die Einwände, die gegenüber „Sprachbewußtheit" durch Regelgebung, Auswendiglernen und Drills bezüglich morphosyntaktischem und lexikalischem Wissen erhoben wurden, gelten auch für kommunikative Bewußtheit. Kommunikative Bewußtheit im Fremdsprachenunterricht, so könnte eine resümierende Hypothese lauten, ist nicht nur eine nützliche Zutat zum praktischen Geschäft des Fremdsprachenlernens, sie ist vielmehr von zentraler Wichtigkeit, wenn es darum geht, die Praxis des Kommunizierens in der Fremdsprache kognitiv effizienter, sozial flexibler und persönlich bereichernder zu gestalten. Bibliographische Angaben BARDOVI-HARLIG, Kathleen/ DöRNYEI, Zoltan (1997): "Do language ! eaI11ers recognize pragmatic violations? 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