eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 27/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1998
271 Gnutzmann Küster Schramm

Zur Einführung in den Themenschwerpunkt oder: Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern - wozu?

121
1998
Inez De Florio-Hansen
flul2710003
Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern lnez De Florio-Hansen Zur Einführung in den Themenschwerpunkt oder: Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern wozu? „1. Keine Wissenschaft beginnt damit, zunächst ihre Grundlagen zu entwickeln. Erst wenn sich eine Wissenschaft eine Stück weit entfaltet hat, wird die Frage sinnvoll, auf welche Grundlagen sie sich eigentlich stützt [... ]. 2. [... ] Es ist zwar möglich, daß wir über Begriffe wie Wissen, Methode, Definition, Argumentation, Hypothese, Erklärung usw. philosophieren, aber dabei stützen wir uns weniger auf den Gebrauch dieser Begriffe in den verschiedenen Wissenschaften als auf unseren umgangssprachlichen Umgang mit diesen Begriffen (der zweifellos von den einzelnen Wissenschaften her geprägt ist, aber ebenso auch von unseren vorwissenschaftlichen Fragestellungen) [... ]" (Wunderlich 1976: 2). Anläßlich eines Symposiums zum Thema „Wissenschaftstheorie der Linguistik" brachte Wunderlich durch zehn Thesen, von denen ich die beiden ersten in verkürzter Form zitiert habe, seine Skepsis gegenüber der etablierten Wissenschaftstheorie zum Ausdruck, "die alle Wissenschaften mehr oder weniger über denselben Kamm schert" (1976: 2). Zwar bestreitet er nicht, daß die Linguistik permanenter wissenschaftstheoretischer Reflexion bedarf; "Fremdorientierungen" (a.a.O.: 4) an einer allgemeinen Wissenschaftstheorie und/ oder den Paradigmen anderer Disziplinen führten s.E. jedoch nicht zu relevanten Erkenntnissen in der Linguistik. Wunderlichs Überlegungen und Forderungen gelten mutatis mutandis auch für die Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Um sich gegen ältere und neuere Disziplinen abzugrenzen, ist die Diskussion über geeignete Methodologien und Methoden in der Fremdsprachenforschung bereits aufgenommen worden, als nur wenige (empirische) Untersuchungen vorlagen. Daher gibt es inzwischen eine Reihe programmatischer Darstellungen zu forschungsmethodologischen Ansätzen (vgl. u.a. Bausch 1977, Vollmer 1985, Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1995a, 1995b, Grotjahn 1998), die von explorativen Designs hermeneutischer Ausrichtung über die strenge Prüfung von Hypothesen bis hin zur Handlungsforschung reichen (vgl. Grotjahn 3 1995). Und es wird immer wieder betont, daß die mit der Erforschung des Fremdsprachenlehrens und -lernens befaßten Disziplinen keinen Wissenschaftsbereich „mit einheitlicher Fragestellung und einheitlichem Forschungsparadigma" darstellen (TimmNollmer 1993: 13). Mit der Zeit hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß Designs mit weitgehend kontrollierten Experimenten, wie sie vielen Psychologen als Königsweg empirischer Forschung gelten, für die Untersuchung des gesteuerten Fremdsprachenlernens aufgrund der Faktorenkomplexion nur bedingt geeignet sind (vgl. Grotjahn 3 1995). FLuL 27 (1998) 4 Inez De Florio-Hansen Aus Sorge, andere Forschungsansätze könnten als Defizitärformen des scientific paradigm abqualifiziert werden, haben jedoch viele Forscher nur Gegenstände aufgegriffen, die eine Untersuchung mit „naturwissenschaftlichen" Methoden gestatten (vgl. Müller 1985). Nicht zuletzt aus diesem Grund sind empirische Arbeiten, "die sich explizit auf die Beschreibung und Analyse von real durchgeführtem Fremdsprachenunterricht richten", bisher die Ausnahme geblieben (vgl. die entsprechende Forderung von TimmNollmer 1993: 36 sowie das Bochumer Tertiärsprachenprojekt Bausch [et al.] 1986 und De Florio-Hansen 1994). In den letzten Jahren hat die Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen eine „subjektive Wende" genommen. Während intro- und retrospektive Daten in früheren Untersuchungen eine untergeordnete Rolle spielten (vgl. jedoch Krings 1986, Börner 1989, Haastrup 1989), stehen die Kognitionen von Fremdsprachenlernern und -lehrern 1 inzwischen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Das Paradigma 'Subjektive Theorien' soll zu einer stärkeren Integration von quantitativer und qualitativer bzw. analytisch-nomologischer und explorativ-interpretativer Forschung beitragen (vgl. dazu Scheele/ Groeben und Grotjahn in diesem Band). Schon Ende der 80er Jahre hat Börsch (1987: 220 ff) den soziologischen Bedeutungsbegriff und den der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik in die Diskussion eingeführt: Da soziale Realität dem Menschen etwas bedeutet, gesellschaftliche Wirklichkeit nicht „objektiv" vorgegeben ist, sind die individuellen Bedeutungszuschreibungen der interaktiv Handelnden zu berücksichtigen. Dabei ist es nur konsequent, daß in Einklang mit der Lernerorientierung das vorrangige Interesse den Alltagstheorien von Fremdsprachenlernern gilt. Aber schon in der Arbeit von Kallenbach (1996), die in Anlehung an das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) von Groeben [et al.] (1988) systematisch untersucht, "was Schülerinnen und Schüler über Fremdsprachenlernen denken", wird die Interdependenz von Schüler- und Lehrertheorien deutlich. Lehrer haben in der Regel Vorstellungen davon, was ihre Schüler über die Fremdsprache, das Fremdsprachenlernen und den (von ihnen erteilten) Fremdsprachenunterricht denken. Da diese Annahmen einen Teil ihres beruflichen Selbstverständnisses ausmachen und in ihr konkretes Handeln einfließen, sind subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern vermutlich vielschichtiger als diejenigen der Lernenden (zu den zahlreichen „Einschließungsverhältnissen" vgl. Scheele/ Groeben in diesem Band [S. 14]). Das belegt die Lehrerforschung, die in den Erziehungswissenschaften eine lange Tradition hat (vgl. u.a. Bachmair 1969, Gemer 1976, Dieterich 1983, Mandl/ Huber 1983, Hofer 1986, 1987, Hirsch 1990, Bromme [et al.] 1992, Kelchtermans 1992, Terhart [et al.] 1994, Bauer [et al.] 1996). Während die Didaktisierung von Lernertheorien vor allem im Zusammenhang mit der Vermittlung von Lernstrategien dis- Selbstverständlich umfaßt diese generische Verwendung weibliche und männliche Lerriende und Lehrende. FLuL 27 (] 998) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 kutiert wird, können die bisher von Erziehungs- und Sozialwissenschaften vernachlässigten Alltagstheorien von Fremdsprachenlehrern (vgl. jedoch Hart 1992 zu den Wertesystemen von Englischlehrern) der Lehreraus- und -fortbildung wichtige Impulse geben (vgl. die Beiträge von Quetz, Caspari, Hermes, Rippen). Was sind eigentlich subjektive Theorien? Zwar lehnen sich die meisten Forscher an die weite Definition von Groeben [et al.] (1988) an, die darunter ein komplexes Aggregat von Kognitionen der Selbst- und Weltsicht verstehen, welches eine (zumindest implizite} Argumentationsstruktur aufweist und „auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt" (Scheele/ Groeben in diesem Band [S. 16]). Sie erheben dann freilich Kognitionen jeder Art, wie z.B. subjektive Daten oder subjektive Hypothesen zu Einzelaspekten des Fremdsprachenlehrens und -lernens. Selbst wenn man die Kritik von Knapp-Potthoff (1997: 18) an der Vagheit des Begriffs Language Awareness teilt, kann man ihrem Vorschlag nur bedingt folgen, „einen empirischen Zugang zum Konzept 'Language Awareness' über das Konzept 'subjektive Lemertheorien' zu versuchen". Denn die gleichen Fragen, die sie im Zusammenhang mit Language Awareness aufwirft, gelten auch für subjektive Theorien: Handelt es sich dabei um dauerhaft repräsentierte Kognitionsaggregate oder temporäre und somit instabile Kognitionen? Welche Rolle spielt die Dichotomie 'explizit vs. implizit' im Hinblick auf diese Gedächtnisinhalte? Inwieweit sind solche Kognitionen handlungsleitend? Nicht nur die Klärung des Terminus 'subjektive Theorie' wirft Probleme auf, auch der forschungsmethodische Zugriff auf Kognitionen ist nach wie vor umstritten. Im Zusammenhang mit der Erhebung intro-/ retrospektiver Daten bei der Sprachrezeption und -produktion hat sich herausgestellt, daß das Erinnerungsvermögen der Probanden selbst bei bewußten bzw. bewußtseinsfähigen mentalen Vorgängen sehr unterschiedlich ist. Bereitschaft und Fähigkeit zur Verbalisierung mentaler Prozesse variieren von Individuum zu Individuum beträchtlich. Huber/ Mandl (1982: passim) geben außerdem zu bedenken, daß der Wahrheitsgehalt und die Handlungsrelevanz von Kognitionen, d.h. in diesem Fall den durch (nachträgliches) Lautes Denken ermittelten Epi-Kognitionen, nicht mit Sicherheit bestimmt werden können. Bei Verbalisierungen kommt es zu bewußten und unbewußten Verzerrungen, die auch durch das Verhältnis zwischen Forscher und Erforschtem bedingt sind (vgl. De Florio-Hansen 1994). Während ad hoc-Kognitionen sich unmittelbar auf konkrete Problemlösungsaufgaben und/ oder aktuelle Situationen beziehen, sind subjektive Theorien aus vielfältigen Erfahrungen „aggregiert" und gestatten dem 'Subjektiven Theoretiker' nicht zuletzt aufgrund ihrer (relativen) Stabilität eine gewisse reflexive Distanz. Das kann den Zugriff eine entspannte und doch anregende Erhebungssituation vorausgesetzt erleichtern. Da subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung nicht journalistischen, sondern wissenschaftlichen Zielen dienen sollen, hält die Forschergruppe um Groeben die schon von Huber/ Mandl (1982: passim) geforderten Verfahren der kommunikativen und der explanativen Validierung für unabdingbar (zu Einzelheiten vgl. FLuL 27 (1998) 6 Inez De Florio-Hansen Grotjahn 1991 sowie den Beitrag von Scheele/ Groeben). Selbst wenn man dem FST nicht in allen Einzelheiten folgen will, ist durch einen mehrstufigen Validierungsprozeß eine Überprüfung der Handlungsrelevanz und vor allem eine Gegenüberstellung von subjektiven Theorien und „objektiven" (wissenschaftlichen) Theorien anzustreben. Daß dies nur möglich ist, wenn subjektive Theorien zu einer überindividuellen Theorie zusammengefaßt werden, unterstreicht Grotjahn (in diesem Band [S. 43]). Auf das FST greifen die bisher im Bereich der Fremdsprachenforschung vorgelegten Untersuchungen zu Alltagstheorien von Fremdsprachenlernern und -lehrern nur zum Teil zurück (vgl. die Diskussion des Ansatzes von Groeben [et al.] bei Kallenbach 1996 und bei Edmondson 1996 sowie in diesem Band). Wie bei der von Wunderlich angedeuteten Entwicklung in der Linguistik konzentrieren sich die Untersuchungen, die dem „neuen" Forschungsparadigma in irgendeiner Form folgen, auf heuristisch-deskriptive Analysen. Welche Einblicke diese explorativen Studien gestatten, zeigen die Beiträge in diesem Themenheft. Wenn das Paradigma 'Subjektive Theorien' für die Fremdsprachenforschung nutzbar gemacht werden soll, müssen Alltagstheorien sofern sie Einblicke und Erkenntnisse hinsichtlich des Lernens und Lehrens fremder Sprachen versprechen mit Methoden erhoben und dargestellt werden, die wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen. Das Unbehagen, das die Rationalität, der Reduktionismus, die Akribie „naturwissenschaftlicher" Methoden bei Fremdsprachenforschern hervorrufen mag, darf nicht dazu führen, daß der Anspruch auf Objektivität aufgegeben wird. Subjektive Theorien, in diesem Fall „aggregierte" Hypothesen von Fremdsprachenlernern und -lehrern, sind nicht Selbstzweck, sondern Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung. Sie stellen eine Art Induktionsbasis dar, um zu Generalisierungen zu kommen. Wie Grotjahn (in diesem Band) gehe ich davon aus, daß es unabhängig von allen menschlichen Konstruktionen und Repräsentationen eine Wirklichkeit gibt, die dem rationalen Denken (zumindest partiell) zugänglich ist. Das scientific paradigm, über dessen Ausformungen man trefflich streiten kann,··ist der Versuch, die Subjektivität des Meinens bis zu einem gewissen Grad zu überwinden und die Natur - und dazu gehört auch das lernende Individuum in einem Zustand zu ergründen, in dem sie noch nicht zum geistigen Konstrukt geworden ist (vgl. Zimmer 1998). Kulturen sind nach Searle (1997) iterative kollektive Symbolisierungen, aber neben und vor ihnen existieren sogenannte 'rohe' Gegebenheiten, die unabhängig vom menschlichen Denken bestehen. Wer sich einem relativistischen Perspektivismus hingibt, muß auch die Position des Perspektivismus selbst relativieren! Insbesondere die Sprachlehrforschung hat ähnlich wie Wunderlich immer wieder vor „Fremdorientierungen" an den Paradigmen anderer Disziplinen gewarnt (vgl. Bausch/ Raabe 1978). Betrachtet man die Forschungslandschaft, hat man den Eindruck, daß lediglich ein „Rollentausch" stattgefunden hat: An die Stelle der geschmähten Linguistik sind Psychologie und Kognitionswissenschaften getreten. Damit soll die Bedeutung von Erkenntnissen dieser Disziplinen für die Erforschung FLuL 27 (1998) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 des Fremdsprachenlernens nicht in Zweifel gezogen werden. Bisweilen scheint jedoch die Wahl einer „attraktiven" Methodologie der des Forschungsgegenstands vorgeordnet zu sein. Wenn Fremdsprachenforschung zu praxisrelevanten Ergebnissen führen soll, darf der Primat des Forschungsgegenstands nicht zur Disposition stehen. Und dieser Primat könnte auch dazu führen, daß die mit der Erforschung des Lehrens und Lernens befaßten Disziplinen feststellen, daß sie eigene Forschungsmethodologien entwickeln müssen. Nach Groeben [et al.] (vgl. auch in diesem Band) liegen dem FST veränderte Menschenbildannahmen zugrunde: An die Stelle des behavioralen menschlichen "Forschungsobjekts" ist das epistemologische Subjektmodell getreten. Rationalität, Selbstreflexivität und Kommunikationsfähigkeit des Menschen verbieten es, seine Kognitionen im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung eines ihn betreffenden Phänomens oder Problems als irrelevant abzutun. Der Wechsel von der Außensicht des Forschers zur Innensicht des Erforschten ist jedoch auch bei diesen Menschenbildannahmen vom Forscher gelenkt. Bei allen Bekenntnissen zur Offenheit des Designs sind die Fragen bei den Interviews, der gängigsten Methode zur Erhebung subjektiver Theorien, weitgehend vorstrukturiert (vgl. z.B. Kallenbach 1996: 82- 85). Man müßte prüfen, ob größere Offenheit bei der Erhebungssituation nicht bessere Einblicke in Denkinhalte und -strukturen der Betroffenen gestattet. Ob sich Probanden im Rahmen eines Forschungsprojekts ernstgenommen oder „beforscht" fühlen, hängt nicht allein davon ab, welches Gewicht der Forscher ihren Alltagstheorien beimißt. Zum „Forschungssubjekt" werden Probanden m.E. vor allem dann, wenn ihre Beobachtungen und Probleme beim Fremdsprachenlernen und -lehren zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analysen gemacht und relevante Einzelprobleme in enger Zusammenarbeit von Forscher und Praktiker aufgearbeitet werden (vgl. Königs 1996). Einern so verstandenen „Subjektmodell", das die Betroffenen als Experten akzeptiert, kommt m.E. Handlungsforschung am nächsten (vgl. Altrichter/ Posch 1990 sowie Hermes in diesem Band). Action Research und Reflective Teaching greifen jedoch zu kurz, wenn kein Bezug zu (einigermaßen) gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn keine Verbindung von praktischem Handeln und wissenschaftlicher Rationalität hergestellt wird. Dabei ist zu bedenken, daß das Lehren fremder Sprachen (wie pädagogisches Handeln überhaupt) nicht einfach als angewandte Wissenschaft betrachtet werden kann, sondern ein Arbeitsfeld mit eigener Rationalität darstellt. Wissenschaftliche Theorien sind daher zwangsläufig mannigfaltigen Transformationsprozessen unterworfen, bevor sie von Praktikern, die ihr Tun nicht am wissenschaftlichen Wahrheitskriterium, sondern an der Brauchbarkeit und am Erfolg messen, in ihren Unterricht integriert werden können. Wenn die Akzeptanz wissenschaftlicher Theorien in der Praxis des Fremdsprachenlehrens und -lernens erhöht werden soll, müssen Fremdsprachenforscher für Lehrende und Lernende erfahrbar machen, daß und wie ihre Ergebnisse positive praktische Folgen haben (vgl. Kommission zur Neuordnung der Lehrerausbildung an Hessischen Hochschulen 1997: 44). FLuL 27 (1998) 8 Inez De Florio-Hansen Die weitgehend subjektive Zuordnung der einzelnen Beiträge zu drei Themenblöcken bedarf der Begründung: In Themenblock I "Methodologie und Methoden des Paradigmas 'Subjektive Theorien"') stellen Brigitte Scheele und Norbert Groeben (Köln) das FST noch einmal in seinen Grundzügen dar und gehen auf die Möglichkeiten seiner Umsetzung bei der Erforschung des Lernens und Lehrens fremder Sprachen ein. Da sie Lernen im Fremdsprachenunterricht als willkürlich, d.h. willentlich, und bewußt ansehen, wird der Rahmen angedeutet, in dem der Einsatz des Paradigmas Sinn macht. Rüdiger Grotjahn (Bochum) ergänzt und erweitert in seinem Beitrag nicht nur die Ausführungen von Scheele/ Groeben; er geht auch über seine eigenen früheren Arbeiten zum FST hinaus, indem er sich mit anderen Zugriffen auf Denkinhalte und -strukturen von Fremdsprachenlernern und -lehrern auseinandersetzt. Dabei wird deutlich, daß ad hoc-Kognitionen aufgrund ihrer fuzziness und Instabilität nur selten der Ausgangspunkt für begründete Veränderungen beim Fremdsprachenlernen und -lehren sein können. Deutlich wird das im Aufsatz von Hans- Wilhelm Dechert (Kassel), der nicht zuletzt aufgrund der Zitate im Anhang und der umfänglichen Bibliographie - Möglichkeiten und Grenzen von Mental Folk Models aufzeigt. Neuere Untersuchungen zum Selbstbild und dem beruflichen Selbstverständnis von Lehrern lassen im Gegensatz zur Darstellung bei Dechert hoffen: Das Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) hat bei einer Befragung von 1123 Lehrern ermittelt, daß sich 79% der Sekundarschullehrer und sogar 85% der Grundschullehrer noch einmal für denselben Beruf entscheiden würden (vgl. Die Zeit Nr. 12 vom 15. März 1996). Und: Auch bei Studienrat G., dessen Leiden an seinen unzureichenden Englischkenntnissen Dechert uns in einer Anekdote näherbringt, haben die Schüler Englisch gelernt! Den Beitrag von Willis J. Edmondson (Hamburg) habe ich im Theorie-Teil plaziert, weil der Autor sich kritisch-konstruktiv mit dem FST auseinandersetzt. Sein Ziel - und damit folgt er dem FST nicht besteht darin, "to set up perceptual parameters, along which belief-systems, goals and practices reported on by different individuals can be located". Eine Alternative zeigt er beim Datenerhebungsverfahren auf: An die Stelle der Befragung ist die small group discussion getreten, in der sich vier Fremdsprachenlektoren (Englisch) u.a. über das Verhältnis Lektor/ Studierende sowie Aspekte der Lehrerrolle unterhalten. Die Themenblock II "Subjektive Theorien in der Fremdsprachenlehrerausbildung") zugeordneten Beiträge lassen auf unterschiedliche Art erkennen, daß dem Überzeugungswissen von Lehrern große Bedeutung für ihr Handeln im Unterricht beigemessen wird. Deshalb soll eine Sensibilisierung und gegebenenfalls eine Veränderung von subjektiven Theorien möglichst schon während der 1. Ausbildungsphase angebahnt werden. Da ist es nur konsequent, wenn Jürgen Quetz (Frankfurt) darauf hinweist, daß man eine Modifikation von Denken und Handeln überhaupt nur dann erreichen kann, wenn man die subjektiven Theorien der Studierenden kennt. Anhand eines Beispiels zeigt er, wie bereits im 1. Semester subjektive Daten der Studierenden zum Fremdsprachenlehren und -lernen erhoben und zur Diskus- FLuL 27 (1998) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 sion gestellt werden können. Daniela Caspari (Gießen) versucht, Studierende auf ihr „Französischlehrerdasein" vorzubereiten, indem sie sie in einem fachdidaktischen Seminar mit subjektiven Theorien von Lehrern zu deren beruflichem Selbstverständnis konfrontiert und zu eigenen kleineren empirischen Untersuchungen anregt. Liese/ Hermes (Koblenz) legt in einem literaturwissenschaftlichen Seminar das Schwergewicht auf die Aktivierung der Studierenden durch Selbstreflexion, die auch die Dozentin einschließt. Mit Rückgriff auf Action Research die Autorin sieht Parallelen zum Paradigma 'Subjektive Theorien' möchte sie die Eigenverantwortung der Studierenden fördern, in der Annahme, daß eine Übertragung autonomen Lern- und Lehrverhaltens auf den Unterricht im Rahmen einer späteren Berufstätigkeit erfolgt. Gilda Rippen (Berlin) setzt sich zum Ziel, durch ihre Analyse subjektiver Konstrukte zum fachlichen Hintergrundwissen von Lehrkräften, die an Hochschulen und Fachhochschulen fachsprachlichen Englischunterricht erteilen, die Aus-/ Fortbzw. Weiterbildung dieser Lehrergruppe voranzubringen. Daß Themenblock III "Subjektive Theorien beim Fremdsprachenlehren und -lernen") lediglich zwei Beiträge umfaßt, macht deutlich, daß die vorliegenden Untersuchungen hauptsächlich auf das berufliche Selbstverständnis von Fremdsprachenlehrern und weniger auf ihre subjektiven Theorien zum Fremdsprachenlehren und -lernen fokussieren (vgl. die Spekulationen von Matz 1989 zur Verbindung von Zweitsprachenerwerbshypothesen und daraus resultierenden Lehrerauffassungen). Claudia Finkbeiner (Kassel) stellt subjektive Lehrerdaten und -hypothesen zum Verhältnis von fremdsprachlicher Lesekompetenz und der (möglichen) Verwendung von Lernstrategien durch die Schüler vor. Obgleich Heribert Rück (Landau) von Anfang an deutlich macht, daß es in seinem Beitrag nicht um subjektive Theorien, sondern um Prä-Kognitionen geht, sind seine Ausführungen von großem Interesse: Seine Fremdsprachenlern-Biographie und die Selbstbeobachtungen beim autodidaktischen Erlernen des Russischen geben Anlaß, einige als weitgehend gesichert geltende Hypothesen hinsichtlich der Dichotomie 'intuitives vs. bewußtes Lernen' zu überdenken. Das „biographisch begründete Wissenskonstrukt" von Rück unterstreicht darüber hinaus die Bedeutung subjektiver Annahmen und Überzeugungen für das Fremdsprachenlernen ein Grund mehr für Lehrer, sich mit den subjektiven Theorien ihrer Lernenden auseinanderzusetzen. [Zitierte Literatur] ALTRICHTER, Herbert/ POSCH, Peter (1990): Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Heilbronn: Klinkhardt. ARBEITSGRUPPE FREMDSPRACHENERWERB BIELEFELD (1995a): "Fremdsprachenerwerbsspezifische Forschung. Aber wie? 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