eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 27/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1998
271 Gnutzmann Küster Schramm

Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung: Methodologische Grundlagen und Perspektiven

121
1998
Rüdiger Grotjahn
flul2710033
Rüdiger Grotjahn Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung: Methodologische Grundlagen und Perspektiven Abstract. Subjective theories are very complex cognitive structures: they are highly individual, relatively stable, and relatively enduring. Examples are learners' and teachers' general beliefs about learning and teaching, and about language. lt has been demonstrated that subjective theories are an important tool for the explanation and prediction of human action and thinking. In psychology and educational science since the end of the seventies, the Research Programme Subjective Theories has been established and a special methodology for the analysis of subjective theories has been developed. This methodology is based on both hermeneutics and empiricism, which are integrated into a coherent framework. In the present article it is argued that the concept of subjective theory and the corresponding methodology has a considerable potential for foreign language research. The use of the term "subjective theory" and the application of the methodology in the field of language teaching and learning is exarnined and critically assessed, and perspectives for further research are outlined. 1. Einleitung Lange Zeit erfolgte die wissenschaftliche Untersuchung des Lehrens und Lernens von Sprachen vor allem aus der Außensicht, d.h. aus der Perspektive eines externen Beobachters, der versucht, Realität „objektiv" zu erfassen. In jüngerer Zeit findet jedoch verstärkt auch die Innensicht (Binnensicht) von Lehrenden und Lernenden Berücksichtigung, d.h. die Perspektive des sich selbst introspektiv ergründenden Lehrers und Lerners. 1 Es wird u.a. argumentiert, daß erst die Erforschung der Innensicht der an Lehr- und Lernprozessen beteiligten Aktanten tiefergehende Einsichten in den Gegenstand „Lehren und Lernen von Sprachen" ermöglicht. 2 Zur Erforschung der Innensicht unterschiedlichster Aktanten ist in der deutschen Psychologie insbesondere von Norbert Groeben und Brigitte Scheele Ende der 70er Jahre das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien" im folgenden als FST bezeichnet initiiert und danach kontinuierlich weiterentwickelt worden. Im Rahmen des FST ist „Subjektive Theorie" ein Oberbegriff zu Konzepten wie Alltagstheorie, Laien-Theorie und naive, implizite oder intuitive Theorie. Auch in Personenbezeichnungen wie Lehrer und Lerner sind stets im generischen Sinne zu verstehen. 2 Anstelle von Innensicht und Außensicht wird auch von ernischer und etischer Perspektive gesprochen (vgl. Headland/ Pike/ Harris 1990 sowie in bezug auf den Fremdsprachenunterricht Borg 1998). Die Bedeutung der Innensicht wird mittlerweile von Vertretern unterschiedlichster Disziplinen betont (vgl. Atmanspacher/ Dalenoort 1994). FLuL 27 (1998) 34 Rüdiger Grotjahn der deutschen Fremdsprachenforschung (unter Einschluß von Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik) gewinnt das Konstrukt „Subjektive Theorie" in jüngerer Zeit immer mehr an Bedeutung. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß der Begriff „Subjektive Theorie" das gleiche gilt in bezug auf die anderen genannten Begriffe in der Fremdsprachenforschung häufig in einer sehr vagen und allgemeinen Bedeutung sowie ohne eine hinreichende theoretische Verankerung verwendet wird. Im Rahmen des FST hat das Konstrukt „Subjektive Theorie" dagegen eine relativ präzise Bedeutung: Es wird als strukturell und funktional analog zum Begriff der objektiv-wissenschaftlichen Theorie expliziert. Zudem hat das Konstrukt eine mehrfache theoretische Verankerung. Sowohl die Explikation des Konzepts „Subjektive Theorie" im FST sowie auch dessen theoretische Einbettung ist jedoch von der Mehrzahl der Fremdsprachenforscher bisher entweder gar nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen worden. Weiterhin ist im Rahmen des FST eine spezifische Forschungsmethodologie zur Erhebung von Subjektiven Theorien entwickelt worden die sog. Dialog-Konsens- Methodik (vgl. Scheele 1992). Die entsprechenden forschungsmethodologischen Arbeiten sind jedoch in der Fremdsprachenforschung bisher erst in Ansätzen rezipiert. Aus den genannten Gründen scheint mir sowohl eine tiefergehende Beschäftigung mit den konzeptuellen Grundlagen des Konstrukts „Subjektive Theorie" als auch mit der Dialog-Konsens-Methodik dringend geboten. Man sollte sich m.E. aber auch aus allgemeineren Gründen mit dem FST beschäftigen. So vermag das FST zum einen in ganz spezifischer Weise zur Überwindung des unfruchtbaren Gegensatzes von sog. qualitativer und quantitativer Forschung beizutragen. Zum anderen haben Forschungsergebnisse auf der Basis des FST eine hohe potentielle Praxisrelevanz. Im folgenden werde ich zunächst einmal relativ ausführlich auf das FST, so wie es vor allem in der deutschen Psychologie etabliert ist, eingehen. Darauf aufbauend sollen die Rezeption des FST in der Fremdsprachenforschung einer kritischen Analyse unterzogen sowie Perspektiven für eine am FST orientierte fremdsprachenspezifische Forschungsmethodologie aufgezeigt werden. 2. Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien 2.1 Begriffsexplikation des Konstrukts „Subjektive Theorie" Dann (1994: 166 f) nennt unter Bezug auf diverse Vertreter des FST „in weitgehender, wenn auch nicht völliger Übereinstimmung zwischen verschiedenen Autoren" fünf zentrale Definitionsmerkmale Subjektiver Theorien. Leicht abgewandelt und erweitert lauten diese folgendermaßen (vgl. auch Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft sowie Kallenbach 1996: 34 f): FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 35 1. Subjektive Theorien sind relativ stabile kognitive Strukturen (mentale Repräsentationen). 3 2. Subjektive Theorien können sowohl aus bewußten, der Person zugänglichen Kognitionen als auch aus impliziten, nicht-bewußtseinsfähigen Kognitionen bestehen und sich sowohl auf die Welt als auch auf die eigene Person beziehen. 3. Subjektive Theorien weisen zu wissenschaftlichen Theorien analoge Struktureigenschaften auf - und zwar insbesondere eine zumindest implizite Argumentationsstruktur. Diese ermöglicht, z.B. über Wenn-dann-Beziehungen, logische Schlüsse zu ziehen und neues Wissen zu generieren. 4. In Analogie zu wissenschaftlichen Theorien erfüllen Subjektive Theorien folgende Funktionen: (a) Realitätskonstituierung in Form von Situationsdefinitionen; (b) Erklärung (und auch Rechtfertigung) von Sachverhalten; (c) Vorhersage von Sachverhalten; (d) Konstruktion von Handlungsentwürfen (Technologien) zur Ht; rbeiführung von Sachverhalten. 5. Subjektive Theorien beeinflussen im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (z.B. Persönlichkeitsmerkmalen, Emotionen) beobachtbares Verhalten/ Handeln und haben damit eine verhaltensbzw. handlungsleitende Funktion. Das Merkmal (1) grenzt Subjektive Theorien von momentanen, auf einen aktuellen Sachverhalt bezogenen Kognitionen ab. Das Merkmal (3) ermöglicht eine Abgrenzung sowohl gegen Einzelkognitionen als auch gegen komplexere Wissensstrukturen, die nicht das Merkmal "(implizite) Argumentationsstruktur" aufweisen, wie z.B. Schemata, Skripts, Frames oder auch konzeptuelle Netzwerke. Analog zu wissenschaftlichen Theorien enthalten nach Groeben/ Wahl/ Schlee/ Scheele (1988: 54 ff) Subjektive Theorien u.a. Subjektive Konstrukte, Subjektive Daten und Subjektive Hypothesen bzw. Gesetzmäßigkeiten. Bei den Subjektiven Konstrukten als zentralem Bestandteil Subjektiver Hypothesen bzw. Subjektiver Gesetzmäßigkeiten handelt es sich um relativ abstrakte Begriffe, die über das unmittelbar Beobachtbare hinausgehen. So können z.B. die Begriffe „Lemerautonomie" und „kommunikative Kompetenz" zentrale Subjektive Konstrukte der fremdsprachenunterrichtlichen Vermittlungstheorie eines bestimmten Lehrers sein, wobei in diesem Fall die Subjektiven Konstrukte zwar sprachlichformal, in der Regel jedoch nur partiell auch inhaltlich mit den objektiven Konstrukten einer bestimmten fachwissenschaftlichen Theorie übereinstimmen. Subjektive Daten sind dagegen konkrete Belege für Subjektive Konstrukte und können sich auf Ereignisse und Zustände sowohl in der Außenwelt als auch in der Innenwelt des Subjektiven Theoretikers beziehen. Ein Subjektives Datum für das lehrerseitige Subjektive Konstrukt „Kommunikative Kompetenz" könnte z.B. folgende lehrerseitige Beobachtung sein: Der Lerner Fritz wählt bei der Formulierung von Aufforderungen einen der Zielsprache angemessenen Grad der Direktheit. Ver- 3 Hinsichtlich der Stabilität Subjektiver Theorien spielt natürlich insbesondere das Alter der Personen und z.T. hiermit verbunden der Umfang bestätigender Erfahrungen eine Rolle. So dürften unter der Voraussetzung, daß spätere Erfahrungen frühere Erfahrungen bestätigen die Subjektiven Sprachlerntheorien jüngerer Fremdsprachenlerner mit wenig Fremdsprachenlernerfahrung tendenziell instabiler sein als die entsprechenden Theorien älterer Fremdsprachenlerner mit umfangreicher Fremdsprachenlernerfahrung. FLuL 27 (1998) 36 Rüdiger Grotjahn bindet ein Lehrer dagegen mit dem Konstrukt „kommunikative Kompetenz" in erster Linie lexikalische und. grammatische Korrektheit, dann würde dieser Lehrer vermutlich eher lexikalische und grammatische Fehler in den Äußerungen von Fritz als Subjektive Daten für das Konstrukt „kommunikative Kompetenz" interpretieren. Unter Subjektiven Hypothesen bzw. Gesetzmäßigkeiten ist nach Groeben [et al.] (1988: 61) "die Kombination von Subjektiven Konstrukten (bzw. Daten) zu mehr oder minder generellen Sätzen zu verstehen, die an zentraler Stelle der (zumindest impliziten) Argumentationsstruktur Subjektiver Theorien stehen". Subjektive Hypothesen und Subjektive Gesetzmäßigkeiten sind in Analogie zu objektiv-wissenschaftlichen Hypothesen und Gesetzmäßigkeiten häufig in Form von Wenn-dann-Aussagen formuliert. Subjektive Gesetzmäßigkeiten müssen zudem einen Bezug zur Erfahrung des Subjektiven Theoretikers aufweisen. Eine weitere Analogie zu objektiven Theorien ergibt sich über die Formulierung von Bewertungskriterien für Subjektive Theorien. Groeben [et al.] (1988: 100 ff) nennen eine Reihe von Analoga zu den klassischen metatheoretischen Bewertungskriterien. So entspricht z.B. der im Kontext objektiv-wissenschaftlicher Theorien zentralen Forderung nach Validität im Kontext Subjektiver Theorien die abgeschwächte Forderung nach Veridikalität (vgl. 1988: 107 ff). Der aus der Attributionstheorie stammende Begriff der Veridikalität (Glaubwürdigkeit) bezieht sich u.a. auf die Realitätsadäquanz der vom Subjektiven Theoretiker vorgenommenen Operationalisierungen Subjektiver Konstrukte (deskriptive Veridikalität) sowie auf die Realitätsadäquanz z.B. von Subjektiven Hypothesen und Gesetzmäßigkeiten (explanative Veridikalität). 4 Eine weitere Präzisierung des Konstrukts „Subjektive Theorie" findet sich bei Alisch (1982; 1991). Nach Alisch läßt sich eine Subjektive Theorie folgendermaßen charakterisieren: (1) Es handelt sich um eine Struktur, die aus einer Basismenge von Konzepten besteht und aus auf die Basismenge anwendbaren Relationen und Operationen. (2) Bei den Elementen der Basismenge handelt es sich um Fuzzy- Konzepte, d.h. um vage (unscharfe) Begriffe, die mental in unterschiedlichen Modalitäten und auch mehrmodal repräsentiert sein können. (3) Neben Definitionen und verwandten psycholinguistischen Relationen, die auch z.B. für Schemata und semantische Netzwerke gelten, enthalten Subjektive Theorien typische, sie auszeichnende Beziehungen und Operationen. Dabei handelt es sich insbesondere um Kausalrelationen und Inferenzoperationen zum Aufbau von Argumentationsstrukturen. Eine mögliche Präzisierung des Verhältnisses von Subjektiven Theorien und situationsspezifischen Kognitionen findet sich bei Alisch (1996) im Kontext einer 4 Hiervon m.E. abweichend bezieht Alisch (1991: 450) Veridikalität auf subjektiv angenommene Grade der Glaubwürdigkeit (der Subjektive Theoretiker hält seine Subjektive Theorie oder auch einzelne Bestandteile der Theorie für mehr oder minder glaubwürdig). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 37 Auseinandersetzung mit dem Konstrukt „Mentales Modell". 5 Nach Alisch (1996: 94) verfügt der Mensch als kognitives System „einerseits über abstrakte Kategorien (Theorien), die den Organisationsprinzipien des gedächtnismäßig Gespeicherten entsprechen [sie! ] und andererseits über die Fähigkeit, via Hardware-Berechnungsvorgängen situative Mentale Modelle dieser Kategorien zu erzeugen, die modalitäts- und merkmalsspezifisch beliebig angereichert werden können. Diese Anreicherungen stellen meist keinen Gedächtnisbesitz dar; sie werden überwiegend auch nicht in einen solchen umgeformt und spiegeln nur das Vermögen des kognitiven Systems wider, höchst flüchtige und instabile Konkretisierungen für Gedächtniseinträge zu generieren." In Übereinstimmung mit der üblichen Definition im Rahmen des FST weist Alisch darauf hin, daß Subjektive Theorien „eher allgemeingültiges und kontextfreies, abstraktes Wissen" beinhalten. Mentale Modelle sind dagegen nach Alisch „qualitative, dynamische Situationsunikate" (1996: 93), die in ihrer Rolle als „Funktoren zwischen einer abstrakten Kategorie und einer konkretere Objekte beinhaltenden, ggf. kontrafaktischen Kategorie dafür sorgen, daß kognitive Funktionen des Verstehens, Erklärens, Diagnostizierens und Prognostizierens erfüllt werden können" (1996: 94). Sie geben den in Form von Subjektiven Theorien gespeicherten Wissensbeständen „Kontextanknüpfung und singuläre Relevanz" (1995: 95) und sind damit die Grundlage für (erfolgreiches) Handeln. Folgt man dieser Argumentation, dann kann dies u.a. bedeuten, daß man bei der Erhebung z.B. der Kognitionen eines Lehrers in einer spezifischen Unterrichtssituation zwar relativ direkte Hinweise in bezug auf das aktuelle mentale Modell erhält, daß diese situationsspezifischen Kognitionen jedoch möglicherweise· nur einen sehr indirekten Zugang zu den zugrundeliegenden Subjektiven Theorien ermöglichen. Nach Groeben [et al.] (1988) charakterisieren die genannten fünf Definitionsmerkmale die sog. weite Begriffsvariante von „Subjektiver Theorie", der ein hohes Integrations- und Rekonstruktionspotential zukommt. Sie weisen darauf hin, daß sich allein in bezug auf den Problembereich „unterrichtliche Lern-Lehr-Prozesse" 13 verschiedene Ansätze unter dem Konstrukt „Subjektive Theorie" rekonstruieren lassen (vgl. 1988: 20 f). Zur Charakterisierung der engen Variante nennen Groeben [et al.] (1988: 22) die beiden folgenden zusätzlichen Merkmale (vgl. auch Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft): 6. Subjektive Theorien müssen im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sein. 7. Die Akzeptabilität von Subjektiven Theorien als „objektive" Erkenntnis ist zu prüfen. Subjektive Theorien im Sinne der engen Variante sind häufig vor allem mit dem Ziel einer Heuristik für die „objektive" Theoriebildung in Gegenstandsbereichen 5 Für Alisch sind Mentale Modelle nicht wie z.B. bei Johnson-Laird (1989) Repräsentationen, sondern Funktoren. FLuL 27 (1998) 38 Rüdiger Grotjahn erhoben worden, in denen die wissenschaftliche Theoriebildung noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. Ein Beispiel ist die Untersuchung des Transfers von lehrerseitigen Handlungsabsichten in den Schulalltag. Mutzeck (1992) kommt hier zu dem Schluß, daß die von ihm rekonstruierten Subjektiven Theorien die fachwissenschaftlichen Theorien in inhaltlicher Differenziertheit und Komplexität überträfen und deshalb heuristisch äußerst fruchtbar seien. Die Forderung nach Aktualisierbzw. Rekonstruierbarkeit im Dialog-Konsens steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem von Groeben/ Scheele und anderen Repräsentanten des FST vertretenen epistemologischen Subjektmodells. Das Modell geht von folgenden spezifischen Menschenbildannahmen aus: Der Mensch wird gesehen als handelndes Subjekt mit den Merkmalen (1) Intentionalität, (2) Reflexivität, (3) potentielle Rationalität, (4) sprachliche Kommunikationsfähigkeit. Die positiven Menschenbildannahmen des epistemologischen Subjektmodells stehen im fundamentalen Gegensatz zu dem sog. behavioralen Subjektmodell, das den Menschen als ahistorisches, naturwissenschaftlich zu erforschendes, mechanistisch unter der Kontrolle der Umwelt funktionierendes Erkenntnisobjekt ansieht und das nach Groeben/ Scheele und anderen Vertretern des FST charakteristisch für weite Teile der Psychologie ist. Nur unter der Annahme des epistemologischen Subjektmodells macht die Forderung nach Aktualisierbzw. Rekonstruierbarkeit im Dialog-Konsens im übrigen überhaupt Sinn (vgl. Groeben [et al.] 1988: 11-17 sowie die weiterführende Diskussion bei Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft). Akzeptiert man die Forderung, daß Subjektive Theorien im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sein müssen, dann entfallen die von Dann genannten impliziten, nicht-bewußtseinsfähigen Kognitionen (Definitionsmerkmal 2) als Merkmal des Konstrukts „Subjektive Theorie", da diese wegen ihrer Implizitheit nicht im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar sind. 6 Die Folge ist eine erhebliche Einschränkung der Anwendungsbreite der Kategorie Subjektive Theorie. Akzeptiert man darüber hinaus auch das methodische Postulat nach Prüfung von Subjektiven Theorien als „objektive" Erkenntnis (Definitionsmerkmal 7), wird der Forschung ebenfalls eine wesentliche Einschränkung auferlegt, da z.B. rein deskriptive Forschung zu Subjektiven Theorien verstanden im Sinne der Merkmale (1) bis (5) oder auch (1) bis (6) ausgeschlossen wird. Neben den aufgezeigten strukturellen und funktionalen Parallelen zwischen Subjektiven und objektiv-wissenschaftlichen Theorien gibt es natürlich auch potentiell differierende Merkmale. Mit Fumham (1988: 2 ff) und Groeben [et al.] (1988: 22- 24) lassen sich u.a. folgende mögliche Unterschiede zwischen Subjektiven und wissenschaftlich-objektiven Theorien nennen 7 : (1) Subjektive Theorien sind selten 6 Bromme (1992) geht davon aus, daß das Expertenwissen des Lehrers notwendigerweise in beträchtlichem Ausmaß implizit ist. 7 Fumham selbst spricht nicht von Subjektiven Theorien, sondern von Laien-Theorien (lay theories). Vgl. auch Kallenbach (1996: 34ft). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 39 explizit und praktisch niemals formalisiert. (2) Subjektive Theorien können widersprüchlich sein, ohne daß dies den Subjektiven Theoretiker (bei Fumham: lay person/ lay people) stört. (3) Subjektive Theorien müssen lediglich aktualisierbar, objektive Theorien dagegen möglichst präzis (fach-)sprachlich aktualisiert sein. 2.2 Zwei-Phasen-Konzeption empirischer Forschung Die Definitionsmerkmale (6) und (7) implizieren nach Groeben (1986) sowie Groeben [et al.] (1988) zugleich eine Zwei-Phasen-Konzeption empirischer Forschung zu Subjektiven Theorien (vgl. auch den Beitrag von Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft sowie Grotjahn 1991). In der 1. Phase wird in einem ersten Teilschritt der Inhalt der Subjektiven Theorie erhoben und in einem zweiten Teilschritt deren Struktur rekonstruiert (vgl. Groeben 1992). Für die Inhaltsrekonstruktion sind zunächst einmal prinzipiell alle qualitativen Verfahren der Inhaltserhebung einsetzbar. Für die Strukturrekonstruktion kann auf diverse Struktur-Lege-Verfahren zurückgegriffen werden, wie z.B. die Heidelberger Struktur-Lege-Technik (SLT) zur Darstellung definitorischen und empirischen Wissens, die Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen (ILKHA) oder die Ziel-Mittel-Argumentation (ZMA) zur Rechtfertigung präskriptiver Inhalte (vgl. Dann 1992b, Dann/ Barth 1995, König 1995, Marsal 1997 sowie auch den Beitrag von Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft). Ziel der 1. Phase ist einzig und allein die Rekonstruktion der Innensicht des Subjektiven Theoretikers in Form einer verstehenden Beschreibung der Gründe, Intentionen und Ziele des Handelnden. Sowohl bei der Rekonstruktion des Inhalts als auch der Struktur von Subjektiven Theorien ist darauf zu achten, daß der untersuchten Person soweit wie möglich Gelegenheit gegeben wird, die Bedeutung von Konzepten und Relationen selbst festzulegen. Der Methodik der engen Variante des FST liegt damit ein dreigliedriges Meßkonzept in Form einer triadischen Grundeinheit ,Jndividuum X Objekt X Merkmal" im Sinne von Gigerenzer (1981: 63) zugrunde. Das dreigliedrige Meßkonzept erfordert den Einsatz von (relativ) offenen Erhebungsformen, wie teilstrukturierten oder offenen Interviews oder auch von autobiographischen Erzählungen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu Verfahren auf der Basis eines zweigliedrigen Meßkonzepts „Objekt X Merkmal", wie z.B. standardisierten Fragebögen mit geschlossenen Antworten oder standardisierten Tests. Im Fall von standardisierten Fragebögen kann der Befragte in der Regel nur zwischen mehreren Alternativen wählen oder muß ein mehrstufiges Rating abgeben, dessen Differenziertheitsgrad vorgegeben ist. Dadurch erlauben entsprechende Instrumente lediglich eine Reaktion auf vom Forscher vorgegebene Bedeutungen. Die Folge ist ein stark eingeschränkter Zugang zur Innensicht des Individuums (vgl. auch Grotjahn 1997a sowie Hofer 1985: 133). Allerdings können auch in der engen Variante des FST geschlossene Verfahren im Rahmen eines Mehr-Methoden-Ansatzes zusätzlich eingesetzt werden (vgl. z.B. den Ansatz von FLuL 27 (1998) 40 Rüdiger Grotjahn Wagner 1995 sowie die Triangulation Subjektiver Theorien mit Hilfe unterschiedlicher qualitativer Verfahren bei Flick 1992). 8 Zur Sicherung der Rekonstruktionsadäquanz ist die Subjektive Theorie im Dialog-Konsens kommunikativ zu validieren. Die 1. Phase ist abgeschlossen, wenn der Untersuchungspartner und der Forscher übereinkommen, daß die Rekonstruktion die Subjektive Theorie adäquat wiedergibt. Um als kommunikative Validierung zu gelten, muß allerdings der Dialog soweit wie möglich die Bedingungen einer idealen, herrschaftsfreien Sprechsituation erfüllen (vgl. Obliers 1992). Methodologisch ist damit für die 1. Phase eine Dialog-Hermeneutik konstitutiv, die dem Untersuchungspartner die letztendliche Entscheidungskompetenz über die Adäquatheit der rekonstruierten Subjektiven Theorie zugesteht. Erkenntnistheoretisch begründet werden kann dieses Vorgehen mit der für die cartesianische Philosophie des Geistes zentralen Annahme, daß „jedes Individuum im Vergleich zu einem außenstehenden Beobachter über einen privilegierten Zugriff zum Inhalt seiner bewußt ablaufenden mentalen Vorgänge" verfügt (Alisch 1991: 453). Die dialog-hermeneutische Methodik der 1. Phase steht im klaren Gegensatz zu einer ausschließlich monologisch-hermeneutischen Vorgehensweise, wie z.B. der objektiven Hermeneutik Oevermanns (vgl. z.B. Reichertz 1995), bei der allein die Forscher über die Gültigkeit von Interpretationen und Rekonstruktionen befinden (zum Unterschied zwischen dialogischer und monologischer Hermeneutik vgl. auch Sommer 1987: 165 ff). Wie u.a. Groeben [et al.] (1988: 65 f) deutlich machen, geht es bei der Rekonstruktion von Subjektiven Theorien nicht nur um eine bloße Abbildung von subjektiven Reflexionen und Kognitionen, sondern vielmehr um eine elaborative Re- Konstruktion unter dem Aspekt der Strukturparallelität zu wissenschaftlich-objektiven Theorien. Im Zuge dieser Re-Konstruktion werden Reflexionen und Kognitionen des Subjektiven Theoretikers (d.h. des Erkenntnisobjekts) "in einen expliziteren und präziseren Zustand überführt" (Groeben [et al.] 1988: 66). Man kann deswegen die durch den Wissenschaftler rekonstruierte Subjektive Theorie nach einem Vorschlag von Groeben/ Scheele (1982: 27 f) auch als Epi-Konstrukt bezeichnen in Abhebung vom Konstrukt „Subjektive Theorie" als mental repräsentierter Struktur. Wagner (1995: 185) kommt bei einem empirischen Vergleich zwischen der FST-Methodik und der Fragebogenmethodik zu folgender Wertung: "Die differenzierten Analysen [...] zeigen, daß durch ein FST-geleitetes Vorgehen die Präzision der Erhebung verbessert und weiterführendere Erkenntnisse gefunden werden können (im Vergleich zur reinen Fragebogenforschung). [...] Das FST-Vorgehen erweist sich somit unter quantitativen (differenziertere Erfassung) wie unter qualitativen Aspekten (neue, individuelle Konstrukte werden erfaßt) als alltagsnäheres und valideres Verfahren". Wagner verweist in diesem Zusammenhang auf Lohaus (1983), der ebenfalls gezeigt hat, daß über eine Steigerung der Freiräume des Untersuchten die Qualität der erhobenen Daten verbessert werden kann. FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 41 Berücksichtigt man zusätzlich, daß bereits die Kognitionen des Subjektiven Theoretikers eine gesellschaftlich vermittelte Konstruktion der Wirklichkeit 9 beinhalten und daß das Sprechen des Subjektiven Theoretikers über die eigenen Kognitionen eine erneute, möglicherweise in erheblichem Maße kontextabhängige Konstruktion darstellt, dann gehen in eine rekonstruierte Subjektive Theorie letztendlich mehrfache, aufeinander aufbauende Konstruktionen ein. Dieser Sachverhalt wird m.E. nicht immer deutlich genug gesehen. Nach Groeben (1992: 72) ist mit der Dialog-Konsens-Methodik der 1. Phase nur "das rekonstruktive Verstehen der selbst-interpretativen Beschreibung von Handelnden erreichbar". In der 2. Phase sind die rekonstruierten Subjektiven Theorien empirisch hinsichtlich ihrer Realitätsadäquanz und handlungsleitenden Funktion zu überprüfen, d.h., es ist festzustellen, inwieweit die Inhalte und Strukturen der rekonstruierten Subjektiven Theorie mit entsprechenden Einheiten fachwissenschaftlicher Theorien übereinstimmen 10 und in welchem Ausmaß die Subjektive Theorie tatsächlich das Handeln des jeweiligen Subjektiven Theoretikers leitet (explanative Validierung aus der Außensichtperspektive auf der Basis eines falsifikationistischen Wahrheitskriteriums zur Ermittlung von objektiven Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen). Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, daß auch völlig realitätsinadäquate Subjektive Theorien handlungsleitend sein können z.B. wenn ein Lehrer eine bestimmte unterrichtliche Maßnahme aufgrund von völlig falschen subjektiven Annahmen über das Lehren und Lernen von Fremdsprachen ergreift. Das Beispiel macht erneut deutlich, daß zur Erklärung menschlichen Handelns die Einbeziehung der Innenperspektive unverzichtbar ist. 11 Die explanative Validierung in der 2. Phase kann u.a. über Korrelationsanalysen, Prognosen und Retrognosen sowie Modifikationsstudien erfolgen (vgl. auch die weiterführenden Hinweise in Grotjahn 1991). In Korrelationsstudien steht der berechnete Korrelationskoeffizient für den meßbaren Zusammenhang zwischen der 9 Ich gehe allerdings davon aus, daß Realität nicht allein in Form subjektiver oder sozial geteilter Sichtweisen existiert, sondern zugleich auch unabhängig vom erkennenden Subjekt. Zu Varianten des Konstruktivismus vgl. z.B. Knorr-Cetina (1989); zum interpretativen Charakter jeglicher Welterfassung vgl. Lenk/ Maring (1997). Vgl. auch die Diskussion von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung sowie der Rolle von Texten als Mittel der Welterzeugung bei Flick (1996: 44 ff). 10 Existieren zu einem Realitätsausschnitt noch keine gut bestätigten fachwissenschaftlichen Theorien, müssen aus der zu überprüfenden Subjektiven Theorie testbare Hypothesen abgeleitet und empirisch überprüft werden (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Diskussion zur „Austauschperspektive von Subjektiven und objektiven Theorien" bei Groeben [et al.] 1988). 11 Daß „Menschen ,Dingen' gegenüber auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen" (Blumer 1969/ 1973: 81), ist im übrigen eine zentrale Prämisse der Methodologie des Symbolischen Interaktionismus. Besonders prägnant hat diesen Sachverhalt bereits in den 20er Jahren der Soziologe William I. Thomas in Form seines bekannten Thomas-Theorem formuliert: "If men define situations as real, they are real in their consequences" (vgl. Flick 1996: 29 ff). FLuL 27 (1998) 42 Rüdiger Grotjahn z.B. in Form von Inhaltskategorien repräsentierten Innensicht und der z.B. in Form von Beobachtungskategorien repräsentierten Außensicht (vgl. Groeben [et al.] 1988: 185 ff und die dort diskutierten Probleme von Korrelationsstudien). Nach Groeben [et al.] ist die 2. Phase zwar der 1. Phase zeitlich nachgeordnet, jedoch gleichzeitig übergeordnet, weil nur ein externer Beobachter die Frage nach der handlungsleitenden Funktion von Subjektiven Theorien valide beantworten kann. Dies bedeutet nach Groeben [et al.] (1988: 72) zugleich auch, daß durch die 2. Phase lediglich die Realgeltung der Subjektiven Theorie falsifiziert werden kann, nicht jedoch auch die in Phase 1 erfolgte Rekonstruktion. Hier ist allerdings kritisch anzumerken, daß eine Falsifikation in Phase 2 nichtsdestoweniger ein Indiz für eine inadäquate Rekonstruktion in Phase 1 (z.B. aufgrund einer absichtlichen Täuschung des Forschers durch den Untersuchungspartner) sein kann. Im Gegensatz zu Groeben geht Alisch (1994; 1995) nicht von einer Überordnung der 2. Phase, sondern von einer Komplementarität beider Phasen aus, und zwar vor allem deswegen, weil es seiner Ansicht nach Fälle gibt, die nur der qualitativen Methodik der 1. Phase zugänglich sind. Diese Phänomene seien allerdings zur Zeit noch nicht eindeutig klassifizierbar (vgl. Alisch 1995: 157 f). Unabhängig davon, ob man die zwei Phasen als komplementär oder einander übergeordnet ansieht, handelt es sich m.E. bei der Zwei-Phasen-Konzeption um einen grundlegenden Beitrag zu einer partiellen Überwindung des unfruchtbaren Gegensatzes zwischen hermeneutischer und empiristischer bzw. qualitativer und quantitativer Methodologie. 12 2.3 Idiographische vs. nomothetische Forschung Zumindest für die enge Variante des FST ist der Ausgangspunkt der Forschung stets der Einzelfall. Die Perspektive ist damit zunächst einmal idiographisch. Die enge Variante des FST erhebt jedoch zugleich den Anspruch, im Zuge der Zwei- Phasen-Konzeption die hermeneutische und die empiristische Tradition zu integrieren. Dies impliziert neben der idiographischen Perspektive auch eine nomothetische oder zumindest nomothetikorientierte Perspektive im Sinne einer Formulierung von über das einzelne Individuum hinausgehenden Gesetzmäßigkeiten. Nach Groeben, Scheele und anderen Vertretern des FST ist die nomothetische Perspektive auch unter dem Gesichtspunkt der Praxisrelevanz unverzichtbar. So sei es z.B. wichtig zu ermitteln, ob Teilgruppen von Lehrern partiell vergleichbare Subjektive Theorien 12 Die Begriffe „qualitativ" und „quantitativ" weisen leider ein beträchtliches Maß an interpersonaler Unschärfe auf (vgl. Grotjahn 1993). Groeben selbst (z.B. 1986: 322ff) spricht in bezug auf die Zwei-Phasen-Konzeption präziser von einer Integration hermeneutischer und empiristischer Methodologie. Bei Alisch scheint dagegen die Dichotomie „qualitativ" vs. "quantitativ" in erster Linie für den mathematisch exakt explizierbaren Unterschied zwischen qualitativen und quantitativen Strukturen (im Sinne Bourbakis) zu stehen. Es ist zu fragen, ob Alisch damit nicht eine von der Position Groebens partiell abweichende Explikation der Zwei-Phasen-Konzeption vornimmt. FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 43 und hierdurch bedingt bestimmte unterrichtliche Schwierigkeiten aufweisen, die über eine Modifikation der übereinstimmenden Subjektiveri Theorieanteile möglicherweise zu beheben sind (vgl. StösseVScheele 1992: 336). Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer methodischen Integration von Idiographik und Nomothetik stellt die Zusammenfassung der in der 1. Phase rekonstruierten individuellen Subjektiven Theorien zu einer überindividuellen Subjektiven Theorie dar, die die gemeinsamen Anteile der Kognitionsstrukturen mehrerer Personen abbildet, wobei diese Anteile für das einzelne Individuum nicht mehr notwendigerweise zustimmungsfähig sind (vgl. Schreier 1997: 48). In einem weiteren Schritt kann dann die handlungsleitende Funktion der rekonstruierten überindividuellen Subjektiven Theorie falsifikationstheoretisch überprüft werden. Bei der Aggregierung von Subjektiven Theorien stellt sich als zentrales Problem, daß diese sowohl einen Inhaltsals auch einen Strukturaspekt aufweisen. Eine Aggregierung allein auf der Inhaltsebene z.B. mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren greift deshalb zu kurz: Zusätzlich muß auch eine Integration auf der Ebene der Struktur stattfinden. 13 Es liegen mittlerweile eine Reihe von Vorschlägen zur Methodik der Aggregierung vor (vgl. den Forschungsüberblick von Schreier 1997 sowie z.B. Birkhan 1987; Mischo/ Groeben 1995; Scheele 1992; Schründer-Lenzen 1997). Auch entsprechende Software ist inzwischen verfügbar (vgl. Oldenbürger 1992, 1994 sowie auch Kuckartz 1997). Allerdings gibt es noch eine Vielzahl von unzureichend gelösten Problemen u.a. hinsichtlich der Festlegung von Äquivalenzkriterien. Ein interessantes Beispiel für die Aggregierung von Subjektiven Theorien ist die Arbeit von Mischo/ Groeben (1995) zur „Bezugsnormorientierung von Lehrerinnen". Zwecks Gewinnung einer überindividuellen Theoriestruktur haben die Autoren u.a. alle individuellen subjektiven Konzepte durch (überindividuelle) inhaltsanalytische Konzepte unter Berücksichtigung der Kodiererübereinstimmung ersetzt, Distanzmaße zwischen einzelnen Personen hinsichtlich der Ähnlichkeit ihrer Ziel-Mittel- Argumentationen sowie kophenetische Korrelationen zwischen Distanzmatrizen berechnet. Die Autoren stellen in bezug auf ihre Arbeit abschließend m.E. zu Recht fest: "Für die nomothetische Orientierung des Forschungsprogramms Subjektive Theorien stellt das hier dargestellte innovative Vorgehen [...] eine erfolgversprechende qualitativ-quantitative Strategie mit methodologischem Integrationspotential dar" (1995: 452). 13 Schreier (1997: 41) weist zu Recht darauf hin, daß sich die charakteristischen Schwierigkeiten einer Aggregierung erst dann ergeben, wenn man von dem engen Verständnis von Subjektiver Theorie ausgeht. FLuL 27 (1998) 44 Rüdiger Grotjahn 3. Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung: Eine kritische Bestandsaufnahme 3.1 Arbeiten zu „Überzeugungen", "Alltagswissen" und analogen Konzepten Es gibt mittlerweile eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten im Bereich des Lehrens und Lernens von Sprache, die der weiten Variante des FST zugeordnet werden können. Bis zum Ende der 80er Jahre fehlt allerdings ein expliziter Bezug auf das FST, und es werden anstelle von „Subjektiver Theorie" diverse andere Begriffe verwendet. Grotjahn (1991: 189) nennt als Beispiele für entsprechende Arbeiten und für die jeweils verwendete Begrifflichkeit: "students' mini-theories of second language learning" (Hosenfeld 1978), Überzeugungen ("beliefs") von Lehrern und Lernern hinsichtlich Sprache, Lehren und Lernen (Horwitz 1987; 1988; Wenden 1986a; 1986b; 1987), "leamers' representations of the leaming process" (Holec 1987), "learners' philosophy of language leaming" (Abraham/ Vann 1987) und "learners' foreign language self-concepts" (Laine 1988). Entsprechende Arbeiten aus den 90er Jahren sind u.a. 14 • Barkhuizen (1998): "learners' perceptions of ESL classroom teaching/ learning activities"; • Borg (1998): "teachers' personal pedagogical systems stores of beliefs, knowledge, theories, assumptions, and attitudes"; • Dufva/ Lähteenmäki (1996): "everyday knowledge of language"; • Elbaum/ Berg/ Dodd (1993): "strategy beliefs"; • Kinginger (1997): "conceptual metaphors and folklinguistic theories in teachers' philosophies"; • Kühler (1990): "Leamers' conceptualisations of learning"; • Littlewood (1991): "foreign language teachers' classroom schemata"; • Markee (1997): "teachers' methodological beliefs"; • Mauranen (1996): "notions of language" und "lay concepts" von Austauschstudenten; • Miller/ Ginsberg (1995): "folklinguistic theories of language learning"; • Mitchell/ Brumfit/ Hooper (1994): "Perceptions of language and language learning"; • Murray (1990): EFL teacher trainees' "beliefs and concepts about language and language teaching"; • Richards/ Lockhart (1994: Kap. 2): "teachers' belief systems"; • Ridley (1997): "learners' conceptions about themselves as language leamers part of the self-concept"; • Woods (1996): "beliefs and assumptions about language learning and language teaching". Für alle bisher genannten Arbeiten ist zwar kennzeichnend, daß die Autoren von der Innensicht des Lehrers bzw. Lerners ausgehen und die jeweiligen individuellen Kognitionen als potentielle explanative Konstrukte im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen ansehen. Die Arbeiten fokussieren dainit eine bisher vernachlässigte Perspektive sowie einen bisher vernachlässigten Erklärungszusam- 14 In alphabetischer Reihenfolge! Die jeweils verwendete Begrifflichkeit findet sich nach dem Doppelpunkt. FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 45 menhang. Gleichzeitig ist jedoch kritisch anzumerken, daß der Mehrzahl der Arbeiten eine kohärente theoretische und methodologische Basis fehlt zumindest im Vergleich zur Forschung auf der Basis des FST. Zudem wird zumeist das Potential an Kommunikativität und potentieller Rationalität der Untersuchungspersonen nicht voll ausgeschöpft. So verwenden einige Autoren als Hauptforschungsinstrument das "Beliefs About Language Learning Inventory" von Horwitz (vgl. z.B. Horwitz 1987 sowie auch Richards/ Lockbart 1994: Kap 2: "Exploring teachers' beliefs"). Dieses enthält Aussagen folgender Art: "lt is easier for children than adults to learn a foreign language" oder 'The most important part of learning a foreign language is learning vocabulary words". Der Grad der Zustimmung wird anhand einer fünfstufigen Likert-Skala mit den Polen "strongly agree" und "strongly disagree" gemessen. Die Untersuchungspersonen haben damit keine Möglichkeit, ihre häufig sehr komplexen, idiosynkratischen Vorstellungen vom Sprachenlernen in einer über die fünf Stufen der Likert-Skala hinausgehenden Differenziertheit mitzuteilen (vgl. die Kritik an der Fragebogenforschung in Abschnitt 2.2 oben). Die gleiche Kritik gilt im übrigen auch in bezug auf den außerhalb der Fremdsprachenforschung relativ häufig eingesetzten Schommer Epistemological Questionnaire (vgl. Schommer 1994). 3.2 Zur Verwendung des Konstrukts „Subjektive Theorie" Die erste Publikation im Bereich der Fremdsprachenforschung, in der ein expliziter Bezug zum FST hergestellt wird, ist meines Wissens die Arbeit von Matz (1989) "Zum Zusammenhang zwischen subjektiven Lehrertheorien und den ,großen' Hypothesen des Fremdsprachenerwerbs". Die erste umfassendere Aufarbeitung des FST im Bereich des Lehrens und Lernens von Sprachen findet sich in Grotjahn (1991). Die zur Zeit weitestgehende theoretische Aufarbeitung und empirische Umsetzung des FST hat Kallenbach (1996) in ihrer Monographie Subjektzve Theorien: Was Schüler und Schülerinnen über Fremdsprachenlernen denken vorgenommen (vgl. auch die Einleitung im vorliegenden Heft). Die Arbeit von Kallenbach gehört zudem zu den wenigen Arbeiten in der Fremdsprachenforschung, in denen die für die engere Variante des FST charakteristische Dialog-Konsens-Methodik unter Einschluß von Struktur-Lege-Verfahren eingesetzt wird. Neben den wenigen Publikationen in der Fremdsprachenforschung, die sich explizit am FST orientieren und auch weitergehend mit dem FST auseinandersetzen, gibt es eine Reihe von Arbeiten, in denen zwar der Begriff „Subjektive Theorie" zugrunde gelegt wird, allerdings in einer mehr oder minder vagen oder auch von der Verwendung im Rahmen des FST abweichenden Bedeutung. Zugleich fehlt in diesen Arbeiten in der Regel ein weitergehender Bezug auf das FST. Es werden u.a. Einzelkognitionen oder auch Kognitionsaggregate ohne das Merkmal einer (impliziten) Argumentationsstruktur als Subjektive Theorien bezeichnet. Zudem wird z.T. nicht hinreichend getrennt zwischen den Konstrukten (a) Subjektive Theorie im Sinne von im Gedächtnis gespeichertem Wissen, (b) Aktualisierung FLuL 27 (1998) 46 Rüdiger Grotjahn der Subjektiven Theorie in Form von verbalen Daten und (c) Rekonstruktion der Subjektiven Theorie durch den Forscher. Ich beschränke mich auf zwei aktuelle Belege für den beschriebenen Typ von Arbeit - und zwar auf Edmondson (1996) und Knapp-Potthoff (1997). Daran anschließend werde ich kurz auf die Verwendungsweise des Begriffs „Subjektive Theorie" bei Kallenbach (1996) eingehen. Die geäußerte Detailkritik bedeutet natürlich kein Infragestellen des Gesamtwerts der genannten Publikationen. Edmondson (1996) spricht zwar von "Subjective theories of second language acquisition"; bei den erhobenen autobiographischen Lernerdaten handelt es sich jedoch lediglich um Subjektive Daten• oder auch um Subjektive Hypothesen im Sinne des FST. Eine Rekonstruktion von Subjektiven Theorien im Sinne des FST, d.h. von komplexen Kognitionsaggregaten mit einer zumindest impliziten Argumentationsstruktur, findet ebensowenig statt wie eine Auseinandersetzung mit dem FST. Knapp-Potthoff (1997) setzt sich zwar im Rahmen ihrer interessanten Diskussion von "Language Awareness im Kontext subjektiver Lerntheorien" ausführlicher mit dem Konstrukt „Subjektive Theorie" auseinander, kommt allerdings ohne weitere Begründung zu folgender vom FST abweichenden Annahme hinsichtlich der mentalen Repräsentation Subjektiver Theorien: "Modellhaft können subjektive Lernertheorien als in Form kognitiver Schemata hierarchisch organisierte individuelle Wissensbestände aufgefaßt werden" (1997: 19 [Hervorhebung R.G.]). Kallenbach (1996: 22) kommt in ihrer grundlegenden und verdienstvollen Arbeit nach einer Diskussion verschiedener Wissenskonstrukte u.a. zu folgender Feststellung: "Hervorzuheben ist also, daß subjektive Theorien nicht im Bereich der Wissensrepräsentation angesiedelt sind. Sie stellen vielmehr ein Konzept dar, das sich auf Wissen bezieht. Dieses Wissen läßt sich in seiner deklarativen (d.h. reproduzierbaren) Form erfassen." 15 Nachfolgend stellt die Autorin dann fest, daß nach Groeben [et al.] (1988) "das subjektive Wissen grundsätzlich Theoriecharakter hat" (Kallenbach 1996: 39) und merkt sodann kritisch an (1996: 39): „Ihm [dem subjektiven Wissen] wird damit psychomentale Realität zugeschrieben. Ich unterstelle dem subjektiven Wissen zwar auch, daß es Sachverhalte erklären, strukturieren und prognostizieren können muß, also Funktionen erfüllt, die auch von wissenschaftlichen Theorien erwartet werden. Im Gegensatz zu Groeben et al. 1988 unterstelle ich den subjektiven Theorien jedoch keine psychomentale Realität. Der Theoriestatus wird dem subjektiven Wissen in meiner Konzeption erst im Zug ihrer [sie! ] Verbalisierung und Interpretation zugesprochen." 15 Hiermit übereinstimmend sagt Kallenbach (1996) an anderer Stelle, daß „es bei subjektiven Theorien um Wissen und damit verbundene Einstellungen geht und nicht um Fragen der Repräsentation [...]" (1996: 19). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 47 Ich halte diese Ausführungen aus mehreren Gründen für problematisch. Zum einen ist die Aussage, daß nach Groeben [et al.] (1988) "das subjektive Wissen grundsätzlich Theoriecharakter hat" (1996: 39), m.E. falsch. Wie bereits bei Groeben/ Scheele (1982) hat nach Groeben [et al.] (1988: 19) subjektives Wissen, das z.B. nicht das Merkmal einer (zumindest impliziten) Argumentationsstruktur aufweist, eindeutig keinen Theoriecharakter. 16 Zum anderen hat Kallenbachs Einschränkung des Konstrukts „Subjektive Theorie" auf bereits verbalisierte und interpretierte Kognitionsaggregate u.a. folgende Implikation: Wir können nicht mehr von der Subjektiven Theorie einer bestimmten Person x z.B. zum Fremdsprachenunterricht sprechen; vielmehr kann es in Abhängigkeit von der Zahl der Rekonstruktionsversuche und der Art des methodischen Zugangs eine Vielzahl mehr oder minder unterschiedlicher Subjektiver Theorien ein und derselben Person zu ein und demselben Gegenstand geben. Kallenbachs Festlegung führt damit zu einer Proliferation Subjektiver Theorien zu ein und demselben Gegenstand und widerspricht zugleich dem üblichen wissenschaftstheoretischen Verständnis von „Theorie". 17 3.3 Umsetzung der Zwei-Phasen-Konzeption der engen Variante des FST Wie bereits angedeutet, gibt es in der Fremdsprachenforschung bisher erst wenige Versuche, Subjektive Theorien im Sinne eines komplexen Aggregats mit einer (zumindest impliziten) Argumentationsstruktur auf der Basis der Dialog-Konsens- Methodik des FST zu rekonstruieren. Auf eine Umsetzung der Phase 2 des FST in Form einer explanativen Validierung der handlungsleitenden Funktion von Subjektiven Theorien wird in der Regel sogar gänzlich verzichtet. Bei Edmondson (1996) z.B. findet sich weder der Versuch einer kommunikativen noch einer explanativen Validierung der erhobenen Daten. Der Autor stellt vielmehr fest (1996: 456): "[...] for the purposes of the research project we are concerned with here, the issue of data validity seems to me relatively insignificanf The primary goal of the project is to arrive at a plausible descriptive account of learners' subjective theories. [... ] Let us therefore first take the data at its face value, and simply describe it" [Hervorhebungen R.G.]. Auch die vom FST - und zwar vor allem bei der Begründung der Notwendigkeit eines hermeneutische und empiristische Traditionen integrierenden Zwei-Phasen- Modells der Forschungsstruktur vorgebrachten Argumente hinsichtlich der jeweiligen Spezifik von Subjektiven Theorien/ Konstrukten/ Daten und „objektiven" Theo- 16 Ich sehe deshalb auch im Gegensatz zu Kallenbach (1996: 39), die sich wiederum auf Flick (1989: 109 ff) bezieht, keine „wesentliche Akzentverschiebung" in der Definition von Subjektiver Theorie bei Groeben [et al.] (1988: 19) gegenüber Groeben/ Scheele (1982: 16). 17 Sieht man von der geäußerten Kritik ab, dann ist es natürlich prinzipiell legitim, wenn Kai- Jenbach hinsichtlich der mentalen Repräsentation Subjektiver Theorien eine von Groeben [et al.] sowie auch anderen Vertretern des FST abweichende Position einnimmt. FLuL 27 (] 998) 48 Rüdiger Grotjahn rien/ Konstrukten/ Daten wird von Edmondson (1996) nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Der Autor räumt zwar u.a. ein, daß subjektive und objektive Daten auseinanderfallen können und sieht entsprechende Fälle auch als hoch interessant und fruchtbar an (vgl. 1996: 457), meint jedoch gleichzeitig (1996: 456): "Clearly, subjective data is not to be seen as replacing or invalidating carefully collected experimental data. A basic hypothesis underpinning the collection of data of both kinds must be that there has to be some parallelism or compatibility between subjective and so-called objective findings" [Hervorhebung R.G.]. Den meines Wissens bisher weitestgehenden Versuch einer Rekonstruktion von Subjektiven Theorien auf der Basis der Dialog-Konsens-Methodik hat Kallenbach (1996) unternommen - und zwar mit Hilfe von „halbstrukturierten-leitfadenorientierten Tiefeninterviews", Fragebögen sowie der Heidelberger Struktur-Lege-Technik von Scheele/ Groeben (1988). 18 Allerdings haben die verwendeten Instrumente bei Kallenbach z.T. einen anderen Stellenwert als im FST. In bezug auf die Struktur-Lege-Technik z.B. heißt es bei ihr (1996: 90): „Die Struktur-Lege-Technik erfüllt eine doppelte Funktion: Während der Erstellung der Strukturbilder bietet sie Anlaß, bestimmte Aspekte erneut zu thematisieren in der visuellen Darstellung und in der mündlichen Diskussion. Die fertigen Strukturbilder werden später den in den Interviews entwickelten Argumentationslinien gegenübergestellt und können insofern Aufschluß geben über die Konsistenz der subjektiven Theorien. Dadurch haben die Strukturbilder gegenüber den Interviews eine eindeutig untergeordnete Stellung: Sie dienen im Sinne der kommunikativen Validierung der Verstehenssicherung." Wie in Abschnitt 2.2 ausgeführt, sind im FST Struktur-Lege-Verfahren ein methodisches Mittel, um Subjektive Theorien im Rahmen eines dialog-hermeneutischen Vorgehens zu rekonstruieren und darzustellen. Nach Groeben (1992) ist die Erhebung der Inhalte von der Ermittlung der Struktur zu trennen. Die Erhebung der inhaltlichen Konzepte einer Subjektiven Theorie erfolgt zumeist über Interviews, die Ermittlung der Struktur über Struktur-Lege-Verfahren. Nach Dann (1992b) und anderen Autoren bildet die Strukturrekonstruktion mit Hilfe von Struktur-Lege- Verfahren den eigentlichen Kern der Methodik, da hierüber der Dialog-Konsens zwischen Forscher und Untersuchungspartner hergestellt wird. Kommen der Untersuchungspartner und der Forscher überein, daß die Rekonstruktion die Subjektive Theorie adäquat wiedergibt, ist die 1. Phase der Zwei-Phasen-Konzeption abgeschlossen (vgl. Abschnitt 2.2). Bei Kallenbach wird dagegen das Interview nicht in erster Linie als Mittel zur Erhebung des Inhaltsaspekts der jeweiligen Subjektiven Theorie gesehen, sondern bildet den Kern des Verfahrens. Den Strukturbildern wird lediglich eine Hilfsfunk- 18 Mit einer ähnlichen Methodik arbeitet auch Caspari in ihrem Habilitationsprojekt zum beruflichen Selbstverständnis von Fremdsprachenlehrern/ -innen (vgl. die Projektskizze in Caspari 1997). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 49 tion bei der Validierung der Interviewdaten zugewiesen. Ich halte diese Umgewichtung für methodisch nicht hinreichend begründet und auch für problematisch. 19 Weiterhin wertet Kallenbach die Interviewdaten zusätzlich zu den Einzelfallanalysen auch auf der Gruppenebene in Form einer vergleichenden „Zusammenschau" aus. Damit geht sie zwar über die Ebene des einzelnen Individuums hinaus; sie nimmt jedoch keine systematische Aggregierung der erhobenen Subjektiven Theorien vor. Zudem betont die Autorin an mehreren Stellen, daß ihr gruppenorientiertes Vorgehen nicht auf eine Verallgemeinerung der Inhalte der Subjektiven Theorien abziele (vgl. z.B. 1996: 14). Auch auf eine Überprüfung der potentiell handlungsleitenden Funktion der erhobenen Subjektiven Theorien wird explizit verzichtet. Als Begründung führt Kallenbach (1996: 91) u.a. an: „Die subjektiven Theorien in meiner Studie werden nicht als potentiell handlungsleitende Kognitionen erhoben, sondern als gedankliche Konstrukte, bei denen es gerade darum geht, verschiedene Handlungsfelder und Erfahrungen, Einstellungen und Überzeugungen in einen Handlungszusammenhang zu bringen." Kallenbachs Arbeit ist damit eindeutig idiographischer Natur, wobei diese Aussage nicht negativ zu interpretieren ist. Die Autorin selbst charakterisiert die Zielsetzung ihrer Arbeit genauer als phänomenographisch im Sinne von Marton (1981). Allgemein gilt in bezug auf die Umsetzung der Zwei-Phasen-Konzeption des FST in der Fremdsprachenforschung, daß bisher sowohl auf eine systematische Aggregierung als auch auf eine Überprüfung der potentiell handlungsleitenden Funktion Subjektiver Theorien und damit zugleich auch auf eine nomothetische Zielsetzung verzichtet wird. Ein entsprechendes Vorgehenist m.E. auch prinzipiell legitim, z.B. wenn die Forschung in einem bestimmten Bereich relativ am Anfang steht. Nichtsdestoweniger sollte in der Fremdsprachenforschung in Zukunft auch nomothetisch orientierte Forschung zu Subjektiven Theorien auf der Basis der engen Variante des Konstrukts „Subjektive Theorie" durchgeführt werden trotz des beträchtlichen zusätzlichen Aufwandes. Forschungsmethodologisch innovative Arbeiten wie Mischo/ Groeben (1995) können hier wichtige Anregungen liefern. 4. Forschungsmethodologische Perspektiven Nachdem ich relativ ausführlich auf die Verwendung des Konstrukts „Subjektive Theorie" und die Umsetzung des Zwei-Phasen-Modells der Forschungsstruktur in 19 Vgl. die Argumente von Groeben (1992) für eine „Inhalts-Struktur-Trennung als konstantes Dialog-Konsens-Prinzip". Die geäußerte Kritik bedeutet jedoch nicht, daß man sich m.E. bei der letztendlichen Dateninterpretation ausschließlich auf die rekonstruierten Subjektiven Theorien beschränken sollte. Gerade im Fall von Untersuchungspartnern, die relativ große Probleme beim Umgang mit abstrakten Strukturen zeigen, ist ein extensiver Rückgriff auf im Interview bzw. Dialog geäußerte Informationen angezeigt. FLuL 27 (1998) 50 Rüdiger Grotjahn der Fremdsprachenforschung eingegangen bin, möchte ich im Hinblick auf die zukünftige Beschäftigung mit dem FST noch kurz auf folgende Themen eingehen: (1) Menschenbildannahmen; (2) lntrospektive Zugänglichkeit von Subjektiven Theorien; (3) Subjektive Theorien und soziale Repräsentationen. Einige Aspekte habe ich bereits in den vorangehenden Abschnitten angesprochen. 4.1 Menschenbildannahmen Es wird in jüngerer Zeit immer häufiger gefordert, z.B. vön Grotjahn (1998) in bezug auf die Fremdsprachenforschung, das einer bestimmten Forschungsrichtung zugrunde liegende Menschenbild in seinen anthropologischen Kernannahmen zu explizieren. So hat es sowohl konzeptuelle als auch untersuchungsmethodische Auswirkungen, ob Fremdsprachenlerner oder auch Fremdsprachenlehrer z.B. neoneobehavioristisch als primär reaktive informationsverarbeitende Systeme oder aber als reflexive und intentionale (soziale) Aktanten gesehen werden (vgl. Grotjahn 1997b sowie z.B. Breen 1996; Schwerdtfeger 1996). Kaum eine andere psychologische Forschungsrichtung hat ihre (positiven) Menschenbildannahmen so weit ausgearbeitet und so explizit formuliert wie das FST (vgl. dazu Abschnitt 2.1 oben). Das FST kann deshalb der Fremdsprachenforschung auch bei der dringend erforderlichen Explikation der anthropologischen Kernannahmen wertvolle Anregungen liefern. Folgt man dem FST, dann sind Lerner und Lehrer zunächst einmal als reflexive, (potentiell) rationale und kommunikationsfähige Aktanten zu betrachten, die selbst am besten über ihre Kognitionsinhalte (unter Einschluß von Intentionen und Gründen) Auskunft geben können. Erst wenn sich diese Annahme als empirisch nicht angemessen erweist, wie z.B. im Fall von hoch automatisierten Prozessen oder auch im Fall von Verhalten 20, das weder auf eine bewußte Intention noch auf ein unbewußtes Motiv zurückgeht, sollten Erklärungsmodelle gesucht werden, die allein auf der Beobachtungsebene ansetzen (vgl. Groeben 1986: 347 ff; Groeben [et al.] 1988: 35 ff sowie auch Barthels 1992). Bezogen auf die Fremdsprachenforschung bedeutet dies u.a., daß bei einer Modellierung des Lehrers und Lerners als informationsverarbeitende Systeme im Sinne der Computer-Metapher des Informationsverarbeitungsparadigmas der Kognitionspsychologie jeweils kritisch zu fragen ist, ob nicht die Menschenbildannahmen des FST und die hiermit verbundene Methodik eine adäquatere Zugangsmöglichkeit eröffnet (vgl. auch Christmann/ Groeben 1996 sowie Grotjahn 1997b). 21 20 „Verhalten" ist hier zu verstehen als Teil der Trias „Handeln, Tun, Verhalten" im Sinne von Groeben (1986). 21 Dies gilt m.E. in besonderem Maßeinbezug auf aktuelle Versuche, Teilbereiche des Fremdsprachenlernens auf der Basis konnektionistischer Ansätze im Sinne impliziten Lernens zu modellieren (vgl. z.B. Broeder/ Plunkett 1994). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 51 4.2 Introspektive Zugänglichkeit von Subjektiven Theorien Eine Diskussion der introspektiven Zugänglichkeit von Subjektiven Theorien im Bereich des Lehrens und Lernens von Sprachen hat bisher erst in Ansätzen stattgefunden. Es gibt zwar eine Reihe von Arbeiten zu introspektiven Methoden (vgl. Cohen 1998; Frerch/ Kasper 1987; Green 1998). Allerdings wird unter Bezug auf Ericsson/ Simon (1987; 1984/ 1993) und neuerdings auch auf Pressley/ Afflerbach (1995) zumeist das Laute Denken als Datenerhebungsmethode favorisiert - und zwar ein Lautes Denken, das an eine Problemlösungsaufgabe gebunden ist und gleichzeitig zu dieser oder nur wenig verzögert stattfindet. Die für das FST charakteristischen retrospektiven Interviews oder auch retrospektiven Selbstberichte finden dagegen mit einem oft beträchtlichen zeitlichen Abstand zu den interessierenden Handlungen statt oder haben sogar überhaupt keinen unmittelbaren Handlungsbezug. Folgt man den auf dem Informationsverarbeitungsparadigma basierenden Argumenten von Ericsson und Simon, dann ist dieses Vorgehen u.a. wegen der Möglichkeit der nachträglichen Rechtfertigung von Handlungen eher problematisch (vgl. hierzu auch Grotjahn 1987; 1991). Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß mit dem Lauten Denken im Sinne des Informationsverarbeitungsansatzes von Ericsson/ Simon und den Selbstberichten im Rahmen des FST (partiell) unterschiedliche Zielsetzungen verbunden sind. Ziel des Lauten Denkens ist zumeist, Aufschluß über die mit dem Lösen einer Aufgabe verbundenen aufgabenspezifischen kognitiven Prozesse zu erhalten. Die Methodik des FST zielt dagegen auf die Rekonstruktion weit komplexerer und zugleich auch deutlich abstrakterer mentaler Strukturen, ohne daß diese in (unmittelbarem) Bezug zu einer bestimmten Handlung stehen müssen (vgl. auch die Aussagen zu mentalen Modellen im Sinne von Alisch 1996 in Abschnitt 2.1). Für diese Zielsetzung hat das FST eine innovative Methodik entwickelt. Im Rahmen einer breiteren Diskussion der Frage der introspektiven Zugänglichkeit von Subjektiven Theorien im Bereich des Lehrens und Lernens von Sprachen ist es m.E. unabdingbar, sich auch explizit mit Konzepten wie Wissensprozeduralisierung, Automatisierung, aktuelle und strukturelle Implizitheit von Wissen und Lernen (im Sinne von Scheele/ Groeben im vorliegenden Heft), Aufmerksamkeit und Bewußtsein (unter Einschluß von "awareness" im Sinne von Schmidt 1995), Intentionalität, Erwerb vs. Lernen (im Sinne von Krashen) auseinanderzusetzen. Je nachdem, welche Position man in bezug auf diese Konzepte einnimmt, wird man das Ausmaß an introspektiver Zugänglichkeit unterschiedlich einschätzen (vgl. auch die Diskussion in Grotjahn 1996). 4.3 Subjektive Theorien und soziale Repräsentationen Es ist m.E. zu diskutieren, ob das Konzept „Subjektive Theorie" im Sinne eines individuellen Kognitionsaggregats nicht zu kurz greift. Das Lehren und Lernen von Fremdsprachen ist nicht nur individuelles Handeln, sondern zugleich auch soziales FLuL 27 (] 998) 52 Rüdiger Grotjahn Handeln in Institutionen und Kulturen mit einer jeweils spezifischen Geschichte. 22 Soziale Systeme sind jedoch mehr als die Summe der Eigenschaften der einzelnen Elemente: Sie haben zusätzlich emergente Eigenschaften, die sich erst aus dem Zusammenwirken der Einzelelemente ergeben. So ist z.B. bei der Untersuchung eines Subjektiven Konzepts wie „Lernerautonomie" u.a. zu berücksichtigen, welche gruppenspezifischen Vorstellungen von Autonomie und persönlicher Freiheit z.B. im jeweiligen Lehrerkollegium oder auch in der Gesamtgesellschaft dominieren. Die sozialpsychologische Theorie der sozialen Repräsentationen (vgl. z.B. Flick 1995b und Moscovici 1995) setzt genau hier an: Ihr Forschungsgegenstand ist wie im FST komplexes und strukturiertes Alltagswissen. Der Bezugspunkt ist jedoch die soziale Gruppe und der Schwerpunkt der Forschung liegt bei der sozialen Verteilung des Wissens und nicht wie im FST bei der internen Struktur individuellen subjektiven Wissens (vgl. Flick 1995a: 77). Geht man mit von Cranach (1995) von einem mehrstufigen Modell sozialer Systeme aus, dann können Subjektive Theorien „als soziale Repräsentationen auf individueller Stufe" (1995: 48) aufgefaßt werden. Die Theorie der sozialen Repräsentationen liefert damit ein interessantes Rahmenmodell für künftige, stärker sozialpsychologisch orientierte Forschung zu Subjektiven Theorien beim Lehren und Lernen von Sprachen. 23 5. Ausblick Eine zentrale Prämisse des FST ist, daß die Erforschung von Subjektiven Theorien zu Ergebnissen mit hoher potentieller Relevanz für die Praxis führt. Als Begründung für die potentielle Relevanz des FST im Bereich des Lernens von Sprachen führen Scheele/ Groeben (im vorliegenden Heft) u.a. an, daß Fremdsprachenunterricht „einen prototypischen Fall für reflexives, bewußtes Lernen'' darstelle. Diese Bewertung ist sicherlich im Hinblick auf bestimmte Fremdsprachenvermittlungs- 22 Vgl. die analoge Kritik am Verständnis von Subjektiver Theorie als individuelles Kognitionsaggregat bei Kallenbach (1996) u.a. im Kontext ihrer Diskussion von. "cultural models" ( 1996: 24) im Sinne von Holland/ Quinn (1987). Vgl. auch die Arbeit von Hu (1996), in der der Zugang zu den „subjektiven Lenikonzepten im Fremdsprachenunterricht" über das Konstrukt „Kulturelles Symbol" erfolgt. Vgl. ferner die Diskussion von Fremdsprachenunterricht als sozialer Institution bei Kinginger (1997). 23 Dann (1992a) argumentiert, daß im Fall von Subjektiven Theorien der Ausgangspunkt zwar individuelle Theorien seien, daß jedoch "[...] generalizations across several persons are possible through aggregative procedures, which may lead to overindividual social representations" (1992a: 162). Wegen ihrer emergenten Eigenschaften und der sozialen Verteilung des Wissens lassen sich m.E. soziale Repräsentationen jedoch nur sehr eingeschränkt über eine Aggregierung individueller Subjektiver Theorien (re)konstruieren. Die meines Wissens erste fremdsprachenspezifische Arbeit, in der explizit vom Konzept der sozialen Repräsentation ausgegangen wird, ist Berger ( 1997). FLuL 27 (1998) Subjektive Theorien in der Fremdsprachenforschung ... 53 methoden, wie z.B. den natural approach, zu differenzieren. 24 Nichtsdestoweniger gilt, daß reflexives; bewußtes Lernen und ein auf Reflexion und Bewußtmachung abzielendes Lehren in den meisten Fremdsprachenvermittlungskonzepten eine wichtige Rolle spielt und daß deshalb das FST auch im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen einen wichtigen Beitrag sowohl zur theoretischen Modellierung als auch zur Verbesserung der Praxis leisten kann (vgl. hierzu auch Grotjahn 1991, 1996). Ich selbst sehe einen zentralen Anwendungsbereich des FST in der Lehrerausbildung. Geht man von dem Modell des "reflective practioner" aus, dann ist die Reflexion unter Einschluß der Reflexion auch der eigenen Subjektiven Theorien ein zentrales Merkmal des professionellen Lehrers. Schon Littlewood (1991) weist darauf hin, daß Innovation im Fremdsprachenunterricht eine Veränderung der zumeist sehr stabilen und tief verwurzelten Subjektiven Theorien der Fremdsprachenlehrer voraussetzt. 25 Eine Modifikation inadäquater Subjektiver Theorien wird damit zu einer zentralen Aufgabe von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen (vgl. auch Ehlers/ Legutke 1998: 20~22 und Duxa 1999). Die Lehreraus- und -fortbildung darf jedoch nicht bei dem Versuch einer Modifikation inadäquater Subjektiver Theorien stehen bleiben. Da der Weg vom Wissen zum Handeln nicht selten sehr weit ist (vgl. Wahl 1991), ist zusätzlich ein geeignetes Handlungstraining durchzuführen. Am FST ausgerichtete fremdsprachenlehrerspezifische Konzeptionen der Aus- und Fortbildung existieren allerdings bisher erst in Ansätzen. Auch hier ist weitere Forschung angesagt. Bibliographische Angaben ABRAHAM, Roberta G./ V ANN, Roberta J. (1987): "Strategies of two language learners: A case study". 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