Fremdsprachen Lehren und Lernen
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0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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Gnutzmann Küster SchrammSprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder:
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Werner Bleyhl
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Werner Bleyhl Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: Die Fehler des Fremdsprachenunterrichts und wie sie zu beheben sind Abstract. The proof of the pudding is in the eating. If that proverb is true, then, in this age of globalisation, the 'eating' test of foreign language teaching at school must be seen to be failing beyond the classroom. The reasons for the inefficiency are fundamental and threefold: (1) an inadequate anthropological concept that treats the leamer as if s/ he was a governable trivial machine, (2) an erroneous concept of language the complexity of which is not dealt with adequately and (3) subsequently a concept of teaching according to the input-output-model. Thus the cognitive and neurobiological necessity for the interior processing oflanguage and for an incubation period with an extended receptive phase is not taken into account. Instead, foreign language learning should be seen as a constructive, dynamic, nonlinear process of self-organization. lt requires the learner's rich experience of Ianguage used as a functional medium. This concept is in agreement with modern cognitive sciences from epistemology to cognitive neurobiology and explains the success of foreign language Iearning when subject-matter Iessons (e.g. geography, physics) are taught in the foreign Ianguage. 1. Einleitung Natürlichem genügt der Weltraum kaum; Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum (Goethe. Faust II.). Recent research has shown that input selection and further organization can only be successfully explained within a dynamic framework: different forms of input information are foregrounded with changing perceptual and cognitive/ linguistic biases at different ages (Peltzer-Karpf/ Zangl [erscheint]. Every time that we write or speak, we are faced with a myriad choices: not only choices in what we say but in how we say it (Biber [et al.] 1999). Der schulische Fremdsprachenunterricht findet sich an der Wende zum neuen Jahrhundert sehr in Frage gestellt. Die derzeitig sich beschleunigende, Sprachgrenzen überschreitende Europäisierung bzw. Globalisierung macht die Unzulänglichkeiten des schulischen Fremdsprachenlernens immer spürbarer. „Unsere Schüler lernen zu wenig Fremdsprachen, und in der jeweiligen Sprache können sie in der Breite zu wenig", urteilt Bliesener (1995: 8), ein ausgewiesener Kenner des Sachverhalts. Freudenstein (2000) betont, dass sich seit Vietors Appell von 1882 „trotz vieler Veränderungen[...] substantiell nur wenig, prinzipiell eigentlich gar nichts geändert" habe. "Wer die Schule verlässt, ist darum nur in ganz geringem Maße in der Lage, fremde SpralFILIIIL 29 (2000) 72 Werner Bleyhl chen zu verstehen und sich in ihnen verständlich auszudrücken. Wer es dennoch kann, verdankt dies [...] entweder einem längeren Auslandsaufenthalt oder einem sprachlich interessierten Elternhaus - und nicht dem schulischen Sprachunterricht, der dafür ja eigentlich zuständig wäre." Um unsere Schülerinnen und Schüler angemessen auf ihr Leben im Euroland des 21. Jahrhunderts vorbereiten zu können, fordert Freudenstein denn auch „die bestehende(n) Traditionen und gängige(n) Praktiken grundsätzlich in Frage zu stellen und nicht nur Althergebrachtes halbherzig zu modifizieren." Solche Fragen nach den Grundlegungen sollen im Folgenden gestellt und beantwortet werden. Der hier gewährte Raum erlaubt zumindest eine Skizze der Prinzipien des für die Zukunft erforderlichen Fremdsprachenlernens in der Schule. 2. Der Zweck der Fremdsprachendidaktik Die Fremdsprachendidaktik bzw. Sprachlehr-/ -lernforschung hat die Aufgabe, die Voraussetzungen für Fremdsprachenlernen zu klären urid, abgeleitet aus der Grundlagenforschung, Vorschläge für ein optimales Fremdsprachenlehren zu unterbreiten, dieses zu überprüfen und weiter zu optimieren. Bislang sind die engere Fremdsprachendidaktik bzw. Sprachlehr-/ -lernforschung zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen (genau so wenig wie der traditionelle Fremdsprachenunterricht). Sie konnten weder eindeutige oder relevante Forschungsergebnisse noch eine schlüssige Theorie vorlegen. Der Grund für dieses bisherige Defizit liegt darin, dass sich diese Disziplinen der Grundlagen des Sprachenlernens nicht hinreichend versichert haben. Diese Grundlagen sind bei der für den Menschen so zentralen Fähigkeit der Sprache natürlich vielschichtig, sind weit und tief. Sie werden von vielen wissenschaftlichen Disziplinen gleichermaßen zu fassen gesucht und liegen nicht nur in der Sprachwissenschaft. Relevante Bereiche liegen außerdem in der Spracherwerbsforschung, in den Kulturwissenschaften, in der Anthropologie, in den Kognitionswissenschaften, der Erkenntnistheorie, der Psychologie mit ihren verschiedenen Unterdisziplinen, aber auch in der Neurobiologie. Entscheidend ist nun, ob Forschungsergebnisse in den verschiedenen Disziplinen zur Aufhellung zentraler Fragen der Fremdsprachenlern- und -lehrforschung beitragen können, ob sie Übereinstimmung zeigen, ob sie mit den Beobachtungen des Fremdsprachenlernens kompatibel sind oder nicht. Sind sie kompatibel, läßt sich darauf eine Theorie gründen, die natürlich in sich ebenfalls logisch konsistent sein muß. Bei weiter übereinstimmenden Forschungsergebnissen und erfolgreichem darauf gegründetem Fremdsprachenlehren erhöht sich die Plausibilität oder wenn man will - "Viabilität" dieser Theorie. 3. Der traditionelle Fremdsprachenunterricht Das Bestreben des schulischen, des institutionellen Fremdsprachenlehrens war seit eh und je, die Komplexität des Lerngegenstands Sprache wie auch die Komplexität der Lernprozesse zu reduzieren und zwar mittels Systematisierung. Man bemühte sich, Fassbarkeit IFLuilL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 73 und Stabilität dadurch zu erreichen, dass man sich auf die Sprachform konzentrierte und diese systematisierte. Diese Formalisierung geschah - und geschieht über das Aufzeigen der Grammatik, der strukturellen „Regelhaftigkeit" der Sprache. Diese Regelhaftigkeit wird an einer Auswahl passend scheinender (also zunächst einfacher bzw. vereinfachter) Texte demonstriert. Man übt die mehr oder weniger lebensnah kaschierten sprachlichen Strukturen und geht davon aus, dass sie anschließend gekonnt werden. Die in diesen Texten vorkommenden Vokabeln müssen von den Schülern memoriert werden. Auch wenn ursprünglich mit der Absicht ans Werk gegangen wurde, die Sprache nur zu beschreiben, erzeugten solche formalisierenden Deskriptionen nicht nur sofort die Gefahr, in die Präskription umzukippen und eine präskriptive Wirkung zu entfalten, sie ließen in aller Regel vergessen, dass erst die Äußerungsabsicht, der Zweck einer wo auch immer benutzten Sprachform dieser eine Daseinsberechtigung gibt. Doch die für Lernen und Sprachgebrauch entscheidende psychische Dimension wurde faktisch als störend verbannt 1, womit der schulische Fremdsprachenunterricht mit seiner primären Fokussierung der Sprachform das Pferd am Schwanz aufzuzäumen versucht. Nicht nur, dass sich herausstellt, wie verschieden etwa die Strukturen allein für die vier ausgesuchten Varianten der Sprache conversation,fiction, newspaper language, academic prose sind. Sie über einen Leisten zu schlagen, macht das Schuhwerk nicht gehfähiger. Wie Hohn und Spott muss es all denen scheinen, die die oftmaligen Ermahnungen "A whole sentence, please! " deutscher Englischlehrer an einen antwortenden Schüler in den Ohren haben, wenn sie in der neuen Corpusgestützten Longman GrammarofSpaken and Written English (Biber [et al.] 1999: 10) lesen: "'sentence' is a notion that is not applicable to spoken language." Die Fokussierung des Formalen im Fremdsprachenunterricht wurde prinzipiell hingenommen, auch wenn seit der Reformpädagogik beinahe in jeder Generation Fragezeichen hinter dieses Vorgehen gesetzt wurden. Blieb die Kritik deswegen solange im wesentlichen folgenlos, solange Fremdsprachen für die Schule gelehrt und gelernt werden, solange die Kriterien des erfolgreichen Lernens einer Sprache schulsystem-intern erstellt werden? - Die prinzipielle Infragestellung dieser Formalisierung erfolgt erst heute, wo in einer Epoche des schnellen Verkehrs, der Europäisierung, der Globalisierung sich diese schul-internen Kriterien nicht bewähren, wo Sprachrezeption und -produktion in Echtzeit, auch mündlich, verlangt ist. Fremdsprache als« l'art pour l'ecole » genügt nicht mehr, Sprache wird heute plötzlich in ihrer eigentlichen Funktionalität verlangt, als Mittel um Beziehungen zwischen Menschen herzustellen und als Mittel der Verhaltenskootdinierung unter Menschen. Und plötzlich entdeckt man auch, dass ein sprachformorientierter traditioneller Fremdsprachenunterricht nicht ausreicht, dass das Zusammenspiel der para- und nonverbalen Ebenen der Kommunikation, die Einbeziehung des persönlichen, des situativen, des kultu- Interessant ist, dass nun 1999 die Unzufriedenheit mit der traditionellen Grammatik eine künftig wohl nicht zu übergehende Großgrammatik hervorgebracht hat: Biber [et al.], die diesen Mangel des traditionellen Ansatzes ausdrücklich zu beheben sucht. Sie will den Gebrauch, Sprache "in actual use", betont einbeziehen: "structure and use are not independent aspects of the English language; analysis of both is required to understand how English grammar really functions" (4). Vgl. auch Pennington (1999), die die traditionelle Grammatiken als "woefully inappropriate" für den Lerner bezeichnete, oder Bleyhl ( 1995a): "Nicht Grammatik, sondern Sprache". lFLllllL 29 (2000) 74 Werner Bleyhl rellen Wissens mindestens dieselbe Bedeutung hat, da von dort die mentalen Auswahlkriterien für die Sprachproduktion wirken. Immer deutlicher wird zudem, dass die sogenannten „Sprachregeln", "Sprachgesetze" Gesetze dritter Art sind, weder deskriptive wie die in der Naturwissenschaft beschriebenen, noch präskiptive wie gesellschaftliche, etwa Steuergesetze. Sprachregeln sind nichts als Konventionen einer Sprachkultur (Keller 1994), erklärbar nach Poppers Dreiweltentheorie als Phänomene der dritten Art als nicht intendierte, kumulative Konsequenzen menschlicher Handlungen. Befolgt werden sie von demjenigen, der auf Grund seiner Spracherfahrung dazu in der Lage ist und der zu dem „Club" der betreffenden Sprachbenutzer gehören bzw. in ihm mitsprechen will. 4. Zusammenfassung wichtiger Erkenntnisse über das Sprachenlernen, die für alle Arten des Spracherwerbs gelten 4.1 Sprache ist in ihrer Vielschichtigkeit, Variabilität und Mischung von Systematik und Willkürlichkeit die komplexeste Erfindung des Menschen. Wie man bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern sieht, ist diese Schwierigkeit aber zu meistern und zwar mit Hilfe des komplexesten Gebildes dieser Erde, dem menschlichen Gehirn. 2 4.2 Sprache existiert auf drei Ebenen: (i) der Ebene der physikalischen Existenz (Laut, Schriftzeichen), (ii) der Ebene der inneren Sprache als Mittel zur geistigen Erfassung von mentalen Inhalten und (iii) der Ebene der metasprachlichen Beschreibung. Sprache der Ebene (i), sinnlich wahrnehmbare Sprachzeichen, haben nur die Funktion, die innere Sprache (ii) beim sprachkompetenten Hörer/ Leser auszulösen und ihn dazu zu bringen, Sinnkonstruktionen vorzunehmen, die entlang den in der betreffenden Sprachkultur üblichen Konventionen verlaufen. (Auch unvollkommene Sprachzeichen erfüllen oftmals diesen Zweck.). - Das Wissen der Sprachebene (iii) kann als deklaratives Wissen um Sprache (Grammatik) auch abfragbar gelernt werden. Eine verkürzt ausgedrückt direkte Wirkung auf die innere Sprache (ii) wurde noch nicht nachgewiesen. 3 - Interessant ist, dass sich z.Zt. der sogenannte Grammatikunterricht im Fach Deutsch in einer gehörigen Krise und „Notlage" befindet (vgl. Bremerich-Vos 1999, Ingendahl 1999). Stichwort zur „Tragödie des Grammatikunterrichts": "Die(se) selbstgeschaffenen Probleme zu diskutieren ist der einzige Sinn und Zweck der Grammatik-Konstruktion" (Ingendahl 1999: 8). Auch der Begriff language awareness ist für Brusch (1999) "in der Schule fehl am Platze". Raich\e (1998), ein Experte unter Neurowissenschaftlem im Bereich der visuellen Darstellung von Gehirnaktivität, benützt ein eingängiges Bild: "The cerebral cortex appears like the sections of a symphony orchestra. No one section or individual is at all times necessary for the production of music. Likewise, in the brain, no one region (system) is necessary for consciousness under all circumstances. [...] Relationships determine performance and performance can be infinitely variable" (1998: 1900). 3 Fabbro (1999), der den derzeitigen Stand der (empirischen) Forschung in Bezug auf klinisch untersuchte Aphasiepatienten darstellt und Sprachstörungen sowie die Neurolinguitik von Bilingualen beschreibt, betont: "Indeed, there is no data suggesting that the human brain organizese syntax according to rules. Therefore, the idea that syntax is govemed by a set of rules should rather be considered as a temporary approach [ ... ]" (1999: 8). lFLIIL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 75 4.3 Der Aufbau der inneren Sprache erfolgt gemäß eines „inneren Lehrplans", wie ihn die Prinzipien unseres gattungsspezischen Wahrnehmungs- und Kognitionsapparates bedingen. Er ist von außen nicht direkt steuerbar. "Explicit grammar instruction does not alter the route of acquisition" (VanPatten 1991/ 1992). Der Aufbau der Sprache im Lerner erfolgt nichtlinear und dynamisch gemäß dem grundsätzlichen Prinzip lebender Systeme, wonach nach Erreichen einer kritischen Masse ein qualitativer Umschlag durch angemessenere Differenzierung/ Modularisierung geschieht und somit gemäß den Arbeitsprinzipien des Gehirns. Er geschieht als Prozess der Selbstorganisation im Zusammenspiel mit der Reichhaltigkeit der individuellen mentalen Spracherfahrung in der Welt (vgl. Bedeutung des Vorwissens). 4.4 Aus den in der Realität immer in einer relativen Bandbreite von Erscheinungsformen physikalisch vorkommenden und damit sinnlich wahrnehmbaren Sprachzeichen muß sich ein Sprachlerner im Laufe einer Reihe seiner sinnlichen Erfahrungen mentale Prototypen, alias Idealtypen, erschließen und konstruieren. Diese Prototypen bilden die mentalen Landkarten des betreffenden Lerners. (Dabei handelt es sich um einen unbewußt verlaufenden Prozess.) Die Erfahrung schafft und prägt damit sein kognitives ArS"enal. (Wie Anlage und Umwelt, also persönliche Geschichte, zusammen spielen und das Subjekt in seiner Wahrnehmungsfähigkeit prägen, soll weiter unten nochmals angesprochen werden.) 4.5 Diese mentalen Prototypen (ob als Laut oder Begriff) bilden die Kategorien der Wahrnehmung. Ihnen ähnlich Scheinendes wird ihnen zugeordnet. Sie üben damit einen Magneteffekt aus. Mittels dieses Magneteffekts steuern sie die Wahrnehmung der „objektiv" gegebenen Realität durch das Subjekt, steuern sein Wirklichkeitsbild, wie es schon Trubetzkoj mit seinem Bild des 'phonologischen Siebs' beschrieb. D.h. ein süddeutscher Sprecher, der die ihm bei der Geburt gegebenen Unterscheidungsfähigkeit zwischen / s/ und / z/ verloren hat, weil jahrelang in dem von ihm erfahrenen sprachlichen Angebot kein / z/ vorkam oder zumindest relevant war, wird jedes / z/ zunächst als Allophon von / s/ wahrnehmen. Ein solcher Lerner wird beim „Nachsprechen" von / z/ ein / s/ produzieren. - (Die konstruktivistische These, dass jeder eben das wahrzunehmen in der Lage ist, wofür er Kategorien hat, findet hier eine Bestätigung. Erinnerungen an Kant dürfen ruhig wach werden.) 4.6 Das Lernprinzip ist das der„ selektiven Stabilisierung" (Changeux 1984): Diejenigen neuronalen Verbindungen, die mehrfach aktiviert werden, werden stabilisiert; die unbenützten werden abgebaut; die gemeinsam aktivierten bilden neuronale Ensembles (vgl. auch Multhaup 1995). Isolierung z.B. neuer sprachlicher Phänomene bewirkt somit keinen Aufbau von Ensembles, die Welt d.h. auch Vorwissen und Sprache zusammenführen. Sind aber solche Ensembles einmal gebildet, kann die Aktivierung auch nur weniger Einzelneuronen zur Aktivierung des ganzen Ensembles führen vorausgesetzt, für das Subjekt macht es Sinn. 4.7 Nach dem Absinken des Zäpfchens im Alter von sechs Monaten und der dadurch sich ergebenden physiologischen Möglichkeit der Sprachartikulation (List der Evolution) lFlLll! L 29 (2000) 76 Werner Bleyhl entwickelt der Säugling in seinem zweiten Schritt zur Sprache ein motorisches Programm für die in seiner Muttersprache vorkommenden Lautkombinationen. Die Erstellung des jeweiligen Programms, das Üben betrachtet schon der Säugling als seine intime, höchstpersönliche Angelegenheit und weigert sich, in Gegenwart seiner Mutter weiter zu üben (Papousek 1989). Erst wenn er sich sicher ist, tritt er mit seinen Lauten in den Dialog mit der Mutter ein. - Allerdings gibt es auch manche Laute (etwas-Laute), die zum Teil erst im Alter von zehn Jahren gemeistert werden. (Dies hört man selbst bei manchem lispelnden Fernsehreporter. Manche Sprecher schaffen die „Norm" überhaupt nie.) All dies beweist aber nicht, dass die Kinder nicht viel früher ein korrektes mentales Bild der Lautgestalt des Wortes haben. (Erinnert sei an die von Wolfgang Butzkamm [1989: 165] so plastisch geschilderte Szene mit seiner Nichte, die auf ihr „Piel" (Spiel) hinweist und sich sein neckisches Nachäffen mit „Piel" ärgerlich verbittet: "Nein, Piel", der Onkel sollte nicht „Piel" sagen, sondern „Spiel". Sie weiß, wie es richtig lautet.) Performanz ist nicht selbstverständliches Spiegelbild der inneren Sprache. 4.8 Was der Erwerb von Wortbedeutungen anlangt, so weiß man inzwischen auch hier Näheres (Aitchison 1987, Miller 1993). Ein neues Wort wird sofort als neu erkannt. Es wird als nächstes auch sofort einem semantischen Feld zugeordnet. Aber dann erfolgt die lange Periode der Ausdifferenzierung entlang der verschiedenen Dimensionen der Sprache. Es wird Erfahrung gesammelt darüber, was das Wort semantisch alles abdeckt, wie es sich morphologisch wandelt, in welchen syntaktischen Strukturen es erscheint, mit welchen Begleitern und natürlich auch in welchen pragmatischen Kontexten es auftaucht. All diese Explorationsarbeit erfordert Zeit und Vergleichsmaterial, d.h. Erfahrung mit Sprache. Und genau deswegen befindet sich ein Wort auch entsprechend lange im sogenannten rezeptiven Wortschatz. (Früher hieß es „passiver" Wortschatz.). 4 4.9 Wie semantische Felder durch die Eifahrung des Gebrauchs der Wörter entstehen, wurde sogar mit konnektionistischen - Simulationen mittels parallel arbeitender Netzwerk-Computer demonstriert (Ritter [et al.] 1991). 4.10 Die Syntax entwickelt sich im Erstspracherwerb wie im Zweitsprachenerwerb (vgl. Wade 1988) individuell unterschiedlich schnell; unterschiedlich natürlich wird auch der Wortschatz aufgebaut. Allen Lernenden gemeinsam ist aber, dass der Lerner für die Syntax erst eine „kritische Masse" an Wortschatz braucht. Das heißt: erst wenn das Kind aktiv mit einem Wortschatz von etwa 400 Einheiten umgehen kann (Marchman/ Bates 1994), fügt es die Wörter in syntaktische Strukturen. "Language consists of grammaticalised lexis, not lexicalised grammar" (Lewis 1993). 4.11 Hörverstehen geht dem Leseverstehen voraus (Marx/ Jungmann [2000]). Wenn kein Hörverstehen erreicht ist, d.h. keine Stabilität valider Prototypen, wird auch kein lang- 4 Für die ersten fünfzig Wörter weiß man (Kuh! [et al.J 1992), dass es im Durchschnitt fünf bis sieben Monate dauert, ehe das Kind ein Wort, das es versteht, auch selbst produktiv gebraucht. FILll! L 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 77 fristiges Leseverstehen erreicht. Durch scheinbar einigermaßen ordentliche Schreib- und Leseübungen in der Schule kann vielmehr künftiges Analphabetentum in der betreffenden Sprache kaschiert werden. 5 4.12 Die Erkenntnis von diesen unterschiedlichen Aspekten der Sprache (Sprache (i), Sprache (ii), Sprache (iii)) erklärt, weshalb Sprachrezeption und Sprachproduktion nicht in einem Verhältnis 1: 1 stehen können. Ehe Sprachproduktion stattfinden kann, muß der Sprachlerner erst den internen (neuronal organisatorischen) Aufbau von Sprache in seinem Gehirn vorgenommen haben (Notwendigkeit der 'Inkubationszeit', einer 'kritischen Masse' an Spracherfahrung). 4.13 Aus der Einsicht in diese biologisch und kognitiv erforderliche - Voraussetzung ergibt sich auch, weshalb in allen Spracherwerbsarten die Rezeptionsfähigkeit der Produktionsfähigkeit zeitlich vorausgeht. Das Herausfiltern der einzelnen Sprachphänomene aus der sinnlichen Erfahrung, das kognitive In-Beziehung-Setzen mit der Welt bzw. dem Gemeinten, der Aufbau (vgl. Wendt 1998) der inneren Sprache und dann die Ausbildung eines motorischen Programms für die Sprachproduktion brauchen Zeit. 6 4.14 So erklärt sich auch, weshalb die Sprachrezeptionsfähigkeit größer ist als die Sprachproduktionsfähigkeit. Ein Problem des Sprachlerners ist, dass sich Welt und Sprache nicht in einem eindeutigen Entsprechungs-Verhältnis befinden; jede Sprachgemeinschaft kennt andere 'Regeln'; dasselbe Sprachphänomen kann je nach Situation und Kontext Verschiedenes repräsentieren; im sprachlichen Bereich kann Gleiches Ungleiches bzw. Ungleiches Gleiches bedeuten, z.B. als Homophon: no und know, oder Homograph: bow 1 und bow 2, oder z.B. at the theatre im Theater at the station auf dem Bahnhof at the petrol station an der Tankstelle. Was heißt nun at? Was station? Mr Jones is a bachelor, a gentleman, a Welshman dabei ist er immer dieselbe Person. Mit diesen Problemen muß der Lerner erst fertig werden. Dieser an Lernern des Deutschen als Zweitsprache gewonnene Befund läßt sich auch an unseren Fremdsprachenschülern erkennen. Er setzt ein deutliches Fragezeichen hinter die allgemein verbreitete naive Annahme, die Schrift erleichtere den Spracherwerb, weil sie die volatilen Laute fixiere. Dahinter steht die unbewusste, aber nicht gerechtfertigte Ansicht (vgl. Bleyhl 1999b), Schrift und Lautsprache stünden mehr oder weniger in einem 1: 1 Verhältnis. Aber nicht nur die Codes der gesprochenen und geschriebenen Sprache sind verschieden, auch Lexik und Grammatik unterscheiden sich, was von der traditionellen Grammatik nicht hinreichend beachtet wird (vgl. Biber [et al.] 1999). All dies schließt nicht aus, dass man in einer bestimmten Fremdsprache wie Latein oder auch Italienisch ein Leseverstehen erreichen kann, ohne dass Hörverstehen oder die Schreibfertigkeit erreicht wird. Die gegenwärtig zu beobachtende Entwicklung einer schriftlichen e.mail-Sprache zeigt ebenfalls die. Nicht-Identität und zugleich Verschränkung der verschiedenen Code$. Vorsicht ist also geboten vor einer didaktisch gut gemeinten, faktisch aber oft kontraproduktiv wirkenden, weil falsche Sicherheit vorgaukelnden Gleichsetzung der verschiedenen Codes .. 6 Die Bilingualismusforschung (Cummins 1999) zeigt auf, dass bei Heranwachsenden im Schulalter erst nach ca. fünf Jahren unter guten Bedingungen ein Sprachverhalten erreicht wird, das dem von Muttersprachlern vergleichbar ist. lFlL1.IIL 29 ('2000) 78 Werner Bleyhl 4.15 Auch der Erwerb der Schreibfertigkeit, der Rechtschreibung ist ein nichtlineares Geschehen. Die Komplexität der Phonem-Graphem-Relationen mit ihren vielen sich widersprechenden „Regeln" sind ohnehin erst nachträglich, d.h. nachdem der Lerner mit einer gewissen Anzahl von Beispielen vertraut geworden ist, zu meistem (vgl. Brinkmann 1997, Bleyhl 1999b). Schrift hat ja nicht die Aufgabe, die Sprache phonographisch abzubilden, sondern den Text für den Leser zu strukturieren. 4.16 "Language acquisition and reorganisation in reponse to dominant hemisphere damage in children are clearly more efficient during a critical period ending at about 10 years" (Chugani 1999: 32). Das 'window of opportunity', dort wo Sprachenlernen besonders effizient ist, schließt sich sicherlich nicht, wenn das zehnte Lebensjahr vorbei ist, Sprachenlernen wird später nur nicht einfacher. Auch wenn der menschlichen auch der pädagogischen - Machbarkeit damit von der Biologie Grenzen aufgezeigt werden, so lohnt es sich mit Bacon um so mehr, die Gesetze der Natur zu kennen, wenn man sie beherrschen will. 5. Zwei Kernfragen zu dem Problem, ob mechanisches und lineares Sprachenlernen überhaupt möglich sind 5.1 Die Wirkung der Umwelt? Die pädagogische Ur-Frage ist die Fragestellung danach, was der Mensch lernen muß bzw. was ihm an Wissen angeboren ist. Es ist der Streit zwischen Anlage und Umwelt, nature and nurture. Im Bereich Spracherwerb war das der Disput zwischen einerseits der behaviouristischen Position des Sprachenlernens als einer Gewohnheitsbildung mittels Reiz, Reaktions- und Verstärkungslernen (Pawlow hatte von „Bekräftigung" gesprochen) und andererseits der nativistischen (und rationalistischen) Position Chomskys oder Pinkers (1994), die Sprache (in Form einer Universalgrammatik) als angeboren sehen. Die Erfahrung einer Sprache, eines Inputs hat nach Chomsky allein die Funktion eines „Triggers", der das fertige Programm sozusagen nur noch abruft. Für rein behaviouristisches Denken wäre alles Wissen des Menschen ! ehrbar, für rein nativistisches bräuchte man gar kein „Lehren", allenfalls wären gewisse biologische Zwänge (constraints) hinderlich. Im ersten Fall wäre alles Lernen das Ergebnis eines Lehrens, im zweiten Fall findet Lernen auch ohne Lehre statt. Die Frage der Aneignung einer Fremdsprache scheint nun fraglos eine Angelegenheit des Lehrens. Fremdsprachenlernen wird gemeinhin verstanden als ein steuerbarer Prozess. Dabei erweist sich die Komponente des Vorwissens etwa früher erworbener Sprache(n) mal als hilfreich, mal als störend. Sie ist an jedem Einzelphänomen zu überprüfen. Bei der Einschätzung der Rolle des Bewusstseins unterscheiden sich die Behaviouristen von den Kognitivisten. Denn letztere meinen, nicht durch Konditionieren, Üben und Korrigieren allein, sondern durch Aufzeigen und Bewußtmachen von „Regeln" könne der Lernprozess im Lerner noch besser gesteuert werden. Für beide besteht das Problem darin, dass sich nirgendwo mittel- oder langfristig ein Verhältnis 1: 1 zwischen Lehren und Lernen einstellt. Nirgendwo läßt sich gerade beim Erwerb von Sprache ausmachen, was in einer lFlLlllilL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 79 linearen Kette der Kausalität das Lernen dieser Sprache, diesem komplexesten Werkzeug menschlicher Erfindungsgabe, bewirkt. Immer wieder muß die Umwelt (alias Steuerung) ihre Grenzen, ja mittelfristig die Ineffektivität ihrer Anstrengungen und ihre Machtlosigkeit gegenüber der Natur hinnehmen. Es kommt zugleich der Konflikt 'Instruktion versus Konstruktion' (vgl. Wolff 1994) ins Spiel. Wie nun die Forschung zum Zweit- und Fremdsprachenerwerb, zusammen mit der zum Erstspracherwerb aus dem Disput Umwelt versus Anlage herausführen kann, soll im Folgenden kurz skizziert werden. Denn soviel ist jedem Fremdsprachenlehrer mit noch so kurzer Berufserfahrung klar, ohne die möglichst reichhaltige praktische - Erfahrung von Sprache in der Welt, wie sie ein Experte (etwa ein Lehrer) benützt, kann eine (Fremd-)Sprache nicht gelernt werden. Ein bloßes „Triggern" auch nicht mittels der Vorgabe von 'Regeln' wurde noch nie beobachtet. Es besteht aber auch kein Verhältnis 1: 1 zwischen Lehren und Lernen. Eine Näherung an eine Lösung der Frage ob Umwelt oder Anlage kann also nur dort gefunden werden, wo man über das Zusammenwirken des von der Natur gestellten biologischen kognitiven Apparats mit den Reizen, den Angeboten aus der Umwelt, z.B. während des Lehrens, und den sich daraus ergebenden Entwicklungen größere Klarheit erhält. Im Bereich der Lautwahrnehmung ist inzwischen lückenlos aufgezeigt, wie sich die mentale Landkarte der Wahrnehmung im Zusammenspiel von Anlage und Erfahrung entwickelt: Bei der Geburt vermag der Mensch alle Phoneme natürlicher Sprachen zu unterscheiden. (Auf Laute der Muttersprache reagiert der Fötus schon in der 38. Woche.) Bis zum Alter von sechs Monaten entwickelt der Säugling die „mentale Phonemkarte" der ihn umgebenden Sprache, seiner Muttersprache, mit entsprechend reduzierter Kategorienzahl. Diese Kategorien üben dann den Magneteffekt für „ähnliche" Laute aus. Das heißt: die Spracherfahrung des Kindes formt seine Wahrnehmungskategorien. (Übrigens überakzentuieren Mütter wie auch erfahrene Fremdsprachenlehrer im Dialog mit ihren noch nicht sprechenden Kindern bzw. Anfängern die Qualitäten etwa der Vokale, damit sie für die Kinder leichter wahrnehmbar sind. Man beachte auch hier das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt.) - Bei einer später zu erlernenden Fremdsprache müssen „neue" Kategorien wieder erworben werden. 7 7 Die Wissenschaftsjournalistin Spinney (] 999) schildert einige Ergebnisse ihrer Recherchen über den Stand der augenblicklichen Forschungslage zum (Fremd-)Sprachenlemen u.a. folgendermaßen: "At a meeting of the Society for Cognitive Neuroscience in Washington DC this April, McClelland described how in just three 20-minute sessions, 16 native Japanese speakers were trained to distinguish 'road' from 'load', and 'rock' from 'lock'. They did this by using a computer to manipulate the first parts of the words to make the contrast between 'r' and 'l' as distinctive as possible, and the listeners tapped different computer keys according to which sound they thought they heard. The better they got, the Iess distinctive the sounds became, until eventually they were distinguishing sounds from the equivalent of slurred speech" (Spinney 1999: 41). Spinney faßt ihren Streifzug bei den Neurolinguisten zusammen: "It's a promising finding, because it suggests that the phonetic maps, and hence the fate of your language skills, are not fixed in the sense that neurons are pruned and lost forever. Instead it looks as if connections can be regrown, and new language maps Ieamt, given the right leaming methods. Most of the research suggests that the best way to Ieam a language is to listen to foreign sounds in your cot, to master the grammar by the time you can tie your shoelaces, and then to relax and leam the vocab at your leasure." FLl! L 29 (2000) 80 Werner Bleyhl Natürlich ist jedes Reden über die Komplexität des Lernens oder der Kommunikation eine Reduktion, und so sei hier ein Schema des hermeneutischen Erkenntnis-Lebenskreisels gewagt. Es ist zugleich das dynamische Handlungsmodell des Spracherwerbs als eines (nichtlinearen) bio-psycho-sozialen Prozesses, wie er im einzelnen Lerner abläuft. Es ist das Schema des Zusammenspiels von biologisch vorgegebener Anlage, psychischer d.h. mentaler Aktivität des Individuums und sozialer Interaktion. Roth (1997: 241) konnte übrigens als kognitiver Neurobiologe die neuroanatomische Lokalisierung der kognitiven Aktivitäten vornehmen. Er konnte auch angeben, welche Momente davon dem Bewusstsein gar nicht zugänglich sind. Umwelt (soziale Interaktion mittels Sprache) Verhalten / ~ / Wahrnehmen ~ Aufmerksamkeit t Erfahrunf? Bewertung +- / Anlage Kategorien Gedächtnis Abb. 1: Lernerinternes Zusammenspiel von Anlage und sozialer Interaktion (Umwelt) mit dem für den Spracherwerb relevanten internen Interaktionsgeschehen des mentalen Selbstorganisationsprozesses·(Schematische Skizze) Das Verständnis dieses Sachverhaltes wird deswegen erschwert, weil der Mensch simultan verschiedenen „Systemen" angehört: Einmal ist er neurobiologisch ein „kognitiv geschlossenes" System, andererseits ist er als Lebewesen historisch und nicht nur sprachlich auf soziale Interaktionssysteme angewiesen. Diese simultane multiple Zugehörigkeit führt laufend zu scheinbaren - Widersprüchlichkeiten (vgl. Bleyhl 2000a). Nur ein Beispiel für die Grenzen der Instruktion sei hier nochmals aufgenommen (vgl. Bleyhl 2000b). Der Fall jenes Realschülers (Bleyhl 1984), der über fünf Jahre Instruktion im Englischunterricht überstanden hatte mit der offensichtlich anfangs ad hoc selbst entwickelten Hypothese, "are bedeute war", zeigt, dass 1. der Lerner selbst aus seinem Input, aus seiner Umwelt das herausfiltert, das auswählt, (a) wozu er in der Lage ist, bzw. (b) was ihm sinnvoll erscheint, wobei er es ist, der beurteilt, was 'Sinn' macht. Der Fall zeigt 2., dass Instruktion, sprich Umwelt, auch an für den Lehrer nicht vorhersagbaren Stellen Grenzen hat und ohne die mental angemessene Aktivität des Lerners keineswegs das Intendierte bewirkt. Der Fall zeigt 3. aber ger1: 1de ans.einer Lösung, d.h. der plötzlichen fükenntnis des IFL! itl, 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 81 Schülers, dass are eben nicht war bedeutet, wie Anwendung von Sprache in der Welt, handlungsorientiert, Kriterien zur Überprüfung der persönlichen Hypothesen schafft, die genau das leisten, was Sprache leisten soll, nämlich soziales Verhalten zu koordinieren und wo angebracht unangemessenes Verhalten zu falsifizieren. Die Dinge der Welt sind nicht eindeutig. Der Mensch gibt ihnen die Bedeutung. Die Beliebtheit der Fernsehsendung « Literarischer Quartett» zeigt, dass die individuell unterschiedliche Wahrnehmung etwa desselben Romans durch verschiedene Subjekte (bzw. desselben Subjekts zu jeweils einer anderen Zeit), die alle einen relativ vergleichbaren Hintergrund haben, sogar recht unterhaltsam sein kann. Zugleich ist diese Unterschiedlichkeit der Einschätzung auch ein Fingerzeig auf die Vieldeutigkeit von Texten überhaupt. Es sei nur ein Zitat von Roland Barthes angeführt, für den ein literarisches Werk grundsätzlich die Disposition der Offenheit hat. "Das Werk besitzt gleichzeitig mehrere Bedeutungen, und zwar aufgrund seiner Struktur, nicht infolge eines Unvermögens derer, die es lesen" (1967: 62). Derselbe Input muß eben nicht zu demselben Output führen. Die lineare Logik und Kausalität gilt offensichtlich nicht für die nichtlineare, simultan mehrdimensionale kognitive Arbeitsweise des Menschen beim Umgang mit komplexen Phänomenen. Was nun für eine Großform an Input, etwa bei der Lektüre eines Romans gilt, gilt erstaunlicherweise auch für eine der minimalsten biologischen Aktivitäten im Organismus, einem Impuls in einer Nervenzelle des Gehirns. Der gleiche Input an derselben Nervenzelle muß nicht dieselbe, ja kann sogar die gegenteilige Wirkung haben. 5.2 Neuro-physiologische Beobachtungen beim Erst- und Zweit-/ Fremdsprachenlernen in verschiedenen Altersstufen als Indiz für die Dynamik der Sprachlernprozesse Neue bildgebende Verfahren erlauben seit kurzem (Neville/ Bavelier 1998) Angaben über die örtlichen Aktivitäten im Gehirn auch bei Sprachverwendung. Ohne dass sich aus diesen Erkenntnissen direkt zwingende Konsequenzen für das Lehren von Fremdsprachen aufdrängen, ergeben sich hier doch interessante Punkte. • Sprachzentren im Gehirn bestehen nicht aus genau begrenzten, homogenen Arealen, sondern eher aus kleinen, verstreuten, punktuellen Zentren, die für spezifische Komponenten von Sprache zuständig sind. • Die Funktion dieser Sprachzentren ist mehr auf sprachspezifische Aspekte wie Phonologie, Syntax, Semantik ausgerichtet als auf Fertigkeiten wie Hören, Wiederholen, Lesen oder Schreiben. (Auch hier scheint eine Bestätigung dafür vorzuliegen, dass vor der Ausbildung der sprachmotorischen Fertigkeiten das interne Sprachsystem auszubilden ist.) • Die Lexik ist anatomisch ebenfalls in verschiedenen „Subsystemen" organisiert und zwar nach Wortarten und innerhalb etwa der Nomina wiederum nach Werkzeug, Nahrungsmittel, Körperteilen etc. • Die Zusammenarbeit der verschiedenen sprachlichen Submodule ist hochkomplex. So bestimmt z.B. das syntaktische Modul, während die syntaktische Struktur umgesetzt wird, mit Hilfe des Kurzzeitgedächtnisses die zeitliche Abfolge der lexikalischen Einheiten. lFLl! L 29 (2000) 82 Werner Bleyhl • Wurde die Zweitsprache nach dem 7. Lebensjahr erworben, überlappen die Areale der Zweitsprache die der Erstsprache nur zum Teil oder überhaupt nicht. - Bei früher Zweitsprachigkeit zeigen die bisher vorliegenden Studien anatomische Überlappung der beiden Sprachen. • Da bei der Geburt erfolgte Schädigungen der rechten Hemisphäre Defizite im Wortschatz nur im Alter von 10 bis 17 Monaten erkennen lassen, schließen Neville/ Bavelier auf "ongoing shifts in the roles of different brain regions in language acquisition across development" (1998: 256). • Diese Betonung der Dynamik des Gehirns wird noch pointierter formuliert: "Large continual shifts in the configuration of language-relevant neural systems have been described in ERP (event-related brain potential) studies of normal infants and children during the course of language acquisition. Some of these dynamic changes are linked to language capabilities and are independent of chronological age, whereas others appear to be more determined by age. Moreover, the time course of the changes and the degree of experience-dependent change displayed are different for different aspects of language" (ibid.). Auch die Neurobiologie kann also den dynamischen Charakter des Spracherwerbs aufzeigen. Es sollen hieraus keine schnellen Schlussfolgerungen gezogen werden. Für den Verfasser belassen sie einem Denken, das Spracherscheinungen stabil als einzelne Elemente mechanisch und linear lernen lassen will, wenig Plausibilität. Mit Linearität ist Sprache in ihrer Komplexität nicht beizukommen. 6. Die drei grundsätzlichen Geburtsfehler des traditionellen Fremdsprachenunterrichts Angesichts der Beobachtungen und der Ergebnisse älterer und neuerer für das Fremdsprachenlernen relevanter Forschungen zeigt sich, dass der traditionelle Fremdsprachenunterricht an drei fundamentalen Fehlern leidet. 6.1 Er nimmt eine unangemessene Reduktion der Komplexität des Menschen vor, begeht somit anthropologisch einen Fehler, der ihn zu einem unangemessenen Menschenbild führt, indem er den Menschen behandelt, als sei er eine steuerbare, eine „triviale Maschine" (vgl. die Diskussion µm den „autonomen Lerner", vgl. auch Allwright 1984: "Why don't learners learn what teachers teach? " oder Bleyhl 1997). 6.2 Der traditionelle Fremdsprachenunterricht nimmt gleichfalls eine unangemessene Reduktion der Komplexität von Sprache vor, die ihn zu einer unangemessenen Konzeption von Sprache führt. Er weigerte sich bislang, die Komplexität in der realen Vielgestaltigkeit existierender Sprache und die fuzziness jedes ihrer Elemente anzuerkennen und versuchte statt dessen, die sprachliche Erscheinung, ihre physikalische Oberfläche als ihr psychologisches Sein zu behandeln. lFL1.lllL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 83 6.3 Diese beiden Fehleinschätzungen führen zu der kognitionspsychologisch wie didaktisch-methodisch unfruchtbaren Annahme, dass lineares Vorgehen, dass Stück-für- Stück-Lernen von Sprache angebracht sei. Der traditionelle Fremdsprachenunterricht versucht deswegen, methodisch das Input-Output-Prinzip umzusetzen. Er bemüht sich, Rezeption und Produktion in einem Verhältnis von 1: 1 zu halten, eine Bedingung, unter der nie und nimmer eine Sprache gelernt werden kann. Kontraproduktiv erschwert ein Unterricht so dem Lerner, die neuen Spracherscheinungen mental angemessen zu verarbeiten, in sich das System der neuen Sprache gemäß den evolutionär bewährten Arbeitsprinzipien des Gehirns zu konstruieren. Diese drei Grundfehler führen zu der gängigen mechanistischen und linearen Lernkonzeption mit entsprechendem Unterricht, unter dessen Ineffektivität und somit Quelle der Frustration Lehrer wie Schüler zu leiden haben. 7. Folgerung: Die zweifache Aufgabe des Lehrers: feed forward und feedback Sprache ist linear lehrbar schon weil Sprache linear in der Zeit zu fließen scheint. Sprache ist wegen ihrer Komplexität und dazu ihrer Verwobenheit mit der vielfältigen Kultur aber nicht linear lernbar. Auf allen Ebenen, ob der der Laute, der Lexik etc., gewinnen die einzelnen Spracherscheinungen ihre Funktion immer erst im Kontrast zu den anderen Spracherscheinungen auf derselben Ebene und im Zusammenspiel mit den Spracherscheinungen auf den anderen Ebenen. Da außerdem Sprache kein Regelprodukt der Logik ist, sondern ein evolutionär entstandenes und keineswegs starres Sprachspiel einer vielfach differenzierten Kulturgemeinschaft, zeichnet sie sich durch höchste Unvorhersehbarkeiten und durch Komplexität aus. Sprachenlernen ist so kein Mauerbau, bei dem Stein auf Stein gesetzt wird. Spracherwerb heißt immer Abgleichen mit dem Situationsverständnis, früherem Sprachwissen und sonstigem Weltwissen. Spracherwerb ist ein dynamischer, nichtlinearer hermeneutischer Prozess, ein konstruktiver Prozess des Zusammenspiels von Erwartung und Erfahrung. Der erste entscheidende Schritt beim Aufbau einer Fremdsprachenkompetenz ist das Verstehen. Wir verstehen immer mehr, als wir selbst sprachlich produzieren können. Schließlich müssen die neuen Spracherscheinungen (Laute, Wörter, Strukturen) erst wahrgenommen, intern mit Bekanntem abgeglichen und intern organisiert werden, ehe sie einer sicheren Produktion zur Verfügung stehen. Eine Globalbezeichnung für ein dem Lernen gerecht werdendes Vorgehen beim Lehren lautet„ Verstehensmethode". Die Aufgabe des Lehrenden besteht nun darin, die Schüler zur geistigen Aktivität herauszufordern und ihnen viel und reichhaltige verstehbare - Sprache als Modellarsenal anzubieten (feed forward). Dabei sollte die angebotene Sprache für den Lerner deutlich wahrnehmbar sein, weshalb an die Angewohnheit erinnert sei, dass Mütter aller Kulturen im Dialog mit ihren Kleinkindern die relevanten Vokale (und Silben? ) leicht überartikulieren. (Biopsychologen wie Papousek (1989) sprechen von „angeborener Didaktik".) IFLIIL 29 (2000) 84 Werner Bleyhl Das immer zugleich inhaltliche wie sprachliche Verstehen, d.h. ihre Unterstellungen von Sinn, gestalten und überprüfen Lerner und Lehrer gegenseitig mit ihrem Verhalten in der Interaktion (Stichworte: Handlungsorientierung, Klassenzimmeraktivitäten wie TOTAL PHYSICAL RESPONSE, Themenbzw. Inhaltsorientierung, Hörgeschichten und story telling, Angebote an Reimen 8 und Liedern, sowie Lektüren mit Hörkassetten zum Selbstlernen bis hin zum bilingualen Sachfachunterricht). Wie im Erst- und natürlichen Zweitspracherwerb wird den Lernenden ihre individuelle Unterschiedlichkeit, etwa beim Beginn der Sprachproduktion, zugebilligt. Nach dem Prinzip, wie sich liebende Eltern im Erstspracherwerb verhalten, gibt der Lehrer dem Lerner Rückmeldung (feedback) über die Angemessenheit seines Sprachverhaltens etwa mittels sprachlich angemessener Wiederholung oder Umschreibung. Die Risikobereitschaft des Lerners darf nicht erdrosselt, sie sollte herausgefordert werden. Sprachliche „Fehler" dürfen in der Explorationsphase nicht sanktioniert werden (vgl. Bleyhl 1984). Wie beim Erstspracherwerb steht der inhaltliche Aspekt im Vordergrund. Die Qualitätskriterien für ein lernergemäßes Fremdsprachenlehren sind damit: • Sprache wird prinzipiell funktional verwendet, d.h. Sprache wird situativ, nicht in Einzelaspekten (wie Wörtern) atomisiert, sondern immer im Kontext verwendet. (Dass zu einer eventuellen Klärung Einzelmomente fokussiert werden müssen, ist selbstverständlich.) • Für den Lerner sollte die Sprache deutlich wahrnehmbar und möglichst vorbildlich, d.h. dem Sprachspiel der fremdsprachlichen Kultur möglichst angemessen, erfahrbar werden. Der Experte ist das Vorbild im sprachlichen Verhalten. • Den Schülern wird viel Sprache angeboten. Das Verstehen übersteigt die eigenen Sprachproduktion immer um ein Vielfaches. Die Schüler werden zu eigenen Explorationen im Bereich der Fremdsprache ermutigt. • Das Verstehen der Sprache wird am (nicht zuletzt körperlichen) Verhalten der Schüler überprüft. D.h. Schüler wie Lehrer erhalten gegenseitig Rückmeldung darüber (lnteraktionsschleifen Lehrer - Schüler), ob angemessen verstanden wurde. Der Unterricht ist handlungsorientiert und ganzheitlich. • Die Schüler werden zugleich kognitiv wie emotional angesprochen, weil sie selbst als agierende Personen betroffen sind. Der Unterricht ist themen- und erlebnisorientiert. Da es im schulischen Rahmen sehr schwer ist, in administrativ vertretbarer Weise den individuell unterschiedlichen Entwicklungen der Schüler gerecht zu werden, sollte bei fremdsprachlichen Anfängern (z.B. während der gesamten Grundschulzeit bzw. mindestens im ersten Jahr der Sekundarstufe 1) Leistungsbeurteilung nur im Bereich des Rezeptiven vorgenommen werden. Die Rolle der gebundenen Sprache in Gedichten mit ihrer Bedeutung für den Erwerb der Morphologie und Grammatik wurde in der Fremdsprachendidaktik sträflich vernachlässigt. FLlllL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 85 8. Fazit Der angehende Junglehrer hat nun an der Schwelle zum 21. Jahrhundert folgende Alternative: Entweder er hält es mit dem mechanistischen Menschenbild des 19. Jahrhunderts und glaubt an die Steuerbarkeit des Menschen und daran, dass man durch Reden über Sprache das Lernen dieser Sprache bei einem anderen bewirken könne. Er wird dann beobachten, dass man auch selbst nach neun Jahren Unterricht in der Fremdsprache nur „ein bißchen schwanger" geworden ist. Zwar sind diese Scheinschwangerschaften im Laborbereich Schule fortpflanzungsfähig; in der Welt bewähren sie sich nicht, wie gegenwärtig bei der angehenden Europäisierung und Globalisierung mit dem damit einhergehenden Fremdsprachenkönnen immer deutlicher wird. Es muss zu denken geben, dass dort, wo es besonders auf die Gebrauchsfähigkeit von Sprach-(und zugleich Sozial-)kompetenz ankommt, in international tätigen Organisationen und Betrieben, die auch noch mit dem Handicap des älteren Lerners fertig werden müssen, inzwischen faktisch nur noch muttersprachliche Fremdsprachenlehrer unterrichten. Oder der angehende Junglehrer hält es mit dem selbst in verschiedenen Kulturen beheimatet gewesenen Ludwig Wittgenstein und erkennt, dass man Sprache nor durch die Erfahrung von Sprachgebrauch lernt. Die bittere Ironie ist, dass die bisherige Lehrstrategie des Vereinfachens der Sprache auf die formalen Aspekte sich als Erschwerung des Lernens herausstellt, dass das Gehirn mit Komplexität und dem Knacken des Codes besser alleine zurecht kommt, wenn es ein angemessen reichhaltiges Angebot erhält - und ihm während einer Verstehensphase für die Sprachphänomene, eine „Inkubationszeit" eingeräumt wird. Den unterschiedlichen Lernertypen kann hiermit in einem institutionellen Fremdsprachenunterricht am ehesten Gerechtigkeit widerfahren, weil ihnen damit hinreichend Explorationsmöglichkeiten zugestanden wird. Die hier skizzierte Position zum Fremdsprachenlernen ist keineswegs ein Potpourri postmoderner Beliebigkeit. Es ist vielmehr eine Position, die erkenntnis- und lerntheoretisch in der Fortsetzung des hermeneutischen Zirkels steht, den Schleiermacher als dem Kreisel von Divinatorischem und Explorativem oder Dilthey als den Kreisel von Erwartung und Erfahrung faßte. Wie sehr dabei die Diltheysche Konzeption der selbstorganisatorischen Systemtheorie eines Niklas Luhmann entspricht, hat Alois Hahn (1999) aufgezeigt. 9 Im Methodischen steht die hier dargelegte Konzeption mit der Betonung der notwendigen „Inkubationszeit" bzw. der unabdingbaren Vergewisserung des Verstehens in der Fortführung der Tradition so erfolgreicher Fremdsprachenlehrer wie Harold Palmer (1925), F.L. Billows (1961), Hans-Joachim Lechler (1972) und Harris Winitz (1981, 1996). Lückenlos schließt diese Position an die der neuesten Gehirnforschung an, die „den Menschen als Produkt eines kontinuierlichen, sich selbst organisierenden Prozesses sieht, der die biologische und kulturelle Evolution einschließt". Der so zitierte Gehirnforscher Singer (1999) betont weiter: "Je mehr wir über die Bedingungen unserer Herkunft und über die Dynamik komplexer Systeme in Erfahrung brachten, umso unausweichlicher wurde die 9 Übrigens kann auch Johann Friedrich Herbarts Konzept der Bildsamkeit durchaus auch als eine pädagogische Theorie der „Selbstorganisation" organismischer Aktivität gelesen werden, wie Anhalt ( 1999) gezeigt hat. FLllllL 29 (2000) 86 Werner Bleyhl Erkenntnis, dass sich unser Sosein nicht gelenkter oder festgelegter Entwicklung verdankt, sondern Ergebnis selbstorganisierender Prozesse ist, an denen wir als Mitspieler aktiv teilnehmen." Was Singer für die evolutionäre Entwicklung des Menschen insgesamt ausführt, gilt Wort für Wort auch für die Evolution, die Entwicklung einer Sprache im Menschen: "unsere künftige Entwicklung (ist) zwar beeinflussbar, aber weder plannoch voraussagbar. Denn evolutionäre Prozesse organisieren sich selbst. Ihr Verlauf resultiert aus der Gesamtheit der Interaktionen aller das System konstituierenden Elementen. Jede Änderung, und sei sie auch noch so klein, beeinflusst die Entwicklung des Gesamtsystems. Weil sich komplexe, evolutionäre Systeme ohnehin nicht linear entwickeln, sind langfristige Entwicklungstendenzen weder voraussagbar noch steuerbar. Erst im Nachhinein können wahrscheinliche Ursachen für eine bestimmte Entwicklungsrichtung identifiziert werden". Singer spricht auch davon, wie das Genom, das selbst wie ein Netzwerk wirke, und die Umwelt zusammenwirken. Wie diese Umwelt erhebliche Modifikationen an genetisch vorgegeben Vernetzungen von Nervenzellen bewirken kann, so konnte die Prägung der Wahrnehmung durch die Erfahrung an der Wahrnehmung der Phoneme (Kuhl 1992, 1998) präzise gezeigt werden. 9. Coda Als charakteristischer Zug der ganzen Biosphäre wird zunehmend deutlicher erkannt, dass alles Leben keineswegs von unendlicher Robustheit ist. Wir können nicht davon ausgehen, dass große Wirkungen auch große Ursachen haben und umgekehrt. Das Leben ist eben von erstaunlichen Nichtlinearitäten durchwoben. Dynamik, Selbstorganisation und Nichtlinearität sind die Charakteristika des Lebens - und auch der Entwicklung des Sprachenlernens. Sind Vorstellungen einmal etabliert, betrachtet der Mensch die Welt mit diesen Kategorien und Schemata und hat es sehr ungern, wenn er entdecken soll oder sollte, dass diese Kategorien und Schemata nicht so leistungsfähig sind, wie er annahm. Erst wenn er schmerzlich am eigenen Leiden erkennen muß, dass ihm die alten Vorstellungen wenig helfen, wenn er ihre Falsifikation (alias eine „Perturbation") erleiden muß, wird er vielleicht bereit, sich umzusehen, sich grundsätzlichere Fragen zu stellen und erfolgreichere Lösungsvorschläge und stimmigere Erklärungsversuche seiner Probleme zu bedenken. Angebote, die das Fremdsprachenlernen als einen nichtlinearen Prozess der Selbstorganisation beschreiben, liegen seit Jahren (Bleyhl 1988, 1989, 1993, 1995b, 1997, 1998, Karpf 1990, Peltzer- Karpf/ Zangl 1998) vor. Erfreulicherweise ist zu sehen, dass die Zahl derer, die die Schwächen des linearen, mechanistischen traditionellen Fremdsprachenunterrichts erkennen, wächst. Sie stehen durchweg der Praxis nahe. Genau wie die Aneignung einer neuen Sprache geschieht ein Paradigmenwechsel in einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Fremdsprachendidaktik nicht über Nacht. Auch hier bedarf das andere Denken, die neue Kategorisierung einer „Inkubationszeit", eines Wachsens im Verborgenen, einer internen allmählichen Vorstellungsadaptation. Auch hier ist vor der Geburt eine Embryonalentwicklung notwendig, wie bei der Muttersprache oder der Fremdsprache. lFLuL 29 (2000) Sprachenlernen, ein konstruktiver, nichtlinearer Selbstorganisationsprozess oder: ... 87 Am Verhalten, das aus der Einsicht kommt, dass erst mittels Erlebens funktionaler Sprache das Hörverstehen und damit das Grobgerüst eines neuen Kategoriensystems, einer neuen mentalen Landkarte ausgebildet werden muß und dass aus dieser Einsicht methodisch Konsequenzen gezogen werden, daran kann man heute schon den Fremdsprachenlehrer von morgen vom gestrigen unterscheiden. Literatur AITCHISON, Jean (1987/ 1994): Words in the Mind. An introduction to the mental lexicon. Oxford: Blackwell. ALLWRIGHT, Richard L. (1984): "Why don't learners learn what teachers teach? " In: SINGLET0N, D. M. LITTLE, D.G. (eds.): Language Learning in Formal and Informal Contexts. Dublin: IRAL, 3-18. ANHALT, Elmar (1999): Bildsamkeit und Selbstorganisation. Weinheim: Beltz. 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