eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 29/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2000
291 Gnutzmann Küster Schramm

Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten)

121
2000
Albert Raasch
flul2910146
Albert Raasch Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) Fragen interessierter Studierender ... und einige Antworten aus persönlicher Perspektive Abstract. Students have general needs and individual questions. How do universities find answers? Universities have their general and traditional structures and offer specific curricula to their students; counselling, indeed, plays an important role. How do students find their way through the training and course offerings in a world ofintemationalisation and globalisation? What orientation, what perspective, what "philosophy" could interest them, and could help them to transfer their insights to their future pupils? Multilinguism is one of the great targets we are meant to aim for in Europe, because it is the guarantee of European multiculturalism and hence of European essence; linguistics can help to reach this aim, linguistic politics may help to define objectives in foreign language teaching and leaming and to evaluate leaming and teaching processes. Language pol! cy and politics can be regarded as an essential component of language teacher studies. X: A: X: B(~): A: X: A: Wir sind ein paar Studierende im 2. Semester und würden gern einige Fragen mit Ihnen besprechen. Fragen zum Studium, vermute ich? Exakt. Sie studieren Romanistik? Ja, genauer: Französisch. Ich habe außerdem Englisch, andere Deutsch oder Geschichte. Wir studieren fast alle aufs Lehramt, soweit wir das schon wissen... und hoffen, dass die Schulen endlich wieder Lehrer einstellen. Wir sind also jetzt im 2. Semester, wissen jetzt, was ein Seminar und was eine Übung ist und was wir für die Zwischenprüfung im nächsten Jahr tun müssen. Unsere Fragen beziehen sich auf etwas anderes. Also ... Zunächst einmal: Wir studieren „Französisch", so haben wir es uns vorgenommen und so kennen wir es doch von der Schule her. C(~): Ja, und so haben wir es bei der Einschreibung auch angegeben. 1. Studienfach „Französisch" oder ... ? A: Und nun finden wir im Vorlesungsverzeichnis, was im kommenden Semester angeboten wird: Lektürekurs 18. Jahrhundert, Übung zur Grammatik II, Einführung in die Linguistik I, Vorlesung zur Landeskunde: Das Parteiensystem in Frankreich; Fachdidaktische Übungen zur Vorbereitung auf das Schulpraktikum. Das hat natürlich alles irgend wie mit „Französisch" zu tun, aber eben nur "irgend wie". Wie passt das alles zusammen oder ineinander oder so ... A = Student; B(I? ) = Studentin, C(~) = Studentin. JFLIIL 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 147 X: Keine leichte Frage. Ich will es trotzdem versuchen ... Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, dass wir es den Studierenden überlassen, den Zusammenhang zwischen diesen vielfältigen Angeboten zu entdecken. C: Absichtlich? X: Ja und nein. Das Entdecken ist wesentlicher Anspruch an einen Studierenden, das muss man von ihm verlangen können, dazu braucht er allerdings auch Anleitung, und das nennen wir Studienberatung. Studienberatung ist so etwas wie „Hilfe zur Selbsthilfe" und sollte von Ihnen wahrgenommen und gegebenenfalls eingefordert werden. Andererseits könnte man anführen, dass die Tradition der Fächer und der Universität überhaupt eine große Rolle spielt. Sie studieren hier in einem Romanistischen Institut, nicht in einem Institut für Französisch; der Lehrkörper umfasst z.B. Lehrstühle für Romanische Philologie, mit Schwerpunkten wie Literaturwissenschaft oder Linguistik oder Angewandte Linguistik; unter den Lehrenden gibt es Experten der Vermittlung der Sprache, aber „Sprache" ist dann auch schon wieder so breit und umfassend, dass es Spezialisierungen unter den Lehrenden gibt, z.B. auf „gesprochene Sprache" oder „Grammatik". Andere Lehrkräfte sind Fachleute der Didaktik oder der Landeskunde und Kulturwissenschaft. Woraufich hinaus will: Das Fach, das Sie studieren, ist so reich an Facetten, und jede Facette ist wiederum so vielfältig, dass es ganz natürlich zu einem hoch spezialisierten Lehrangebot von Experten kommt. C: Und wie soll man sich durch dieses Chaos hindurch finden? X: Schauen Sie etwas genauer hin, und Sie werden sehen, dass es sich keineswegs um ein Chaos handelt. Die einzelnen Veranstaltungen sind z.B. den Teildisziplinen zugeordnet, die schon genannt wurden: Literaturwissenschaft, Linguistik, Angewandte Linguistik, Sprachpraxis, Landeskunde, Kulturwissenschaft, Fachdidaktik. A: O.k., aber diese Einteilung bleibt doch ziemlich formal. Ich denke, wir haben recht damit, was ich vorhin schon sagte und was unser Eindruck im Studium ist: dass nämlich die Verknüpfung der einzelnen Lehrangebote den Studierenden überlassen bleibt. X: So fordern Sie mich natürlich heraus. Ich gehe gerne darauf ein, aber bitte Sie um etwas Geduld. Richten Sie sich darauf ein, dass ich Ihnen so etwas wie eine Vorlesung halte. 2. Linguistik und Französisch Ich argumentiere jetzt aus einer Teildisziplin heraus, der Linguistik; andere Kolleginnen und Kollegen könnten aus ihrer jeweiligen Position heraus sicherlich Entsprechendes antworten. Die Linguistik ist die wissenschaftliche Beschreibung der Sprache. Linguistik ist für mich eine der wichtigsten Grundlagen der Wissenschaft vom Lehren und Lernen der Sprache, also der Sprachlehr-/ -lernforschung. Natürlich hängen Lehren und Lernen engstens zusammen mit Fragestellungen der Psychologie, der Soziologie, der Erziehungswissenschaften. Diese Fragestellungen werden an anderen Lehrstühlen vertieft behandelt, während bei uns also die Linguistik im Zentrum steht. B: Darf ich Sie 'mal unterbrechen: Also, wir haben in der Schule Französisch gelernt, und nicht schlecht gelernt, und da war von Linguistik nie die Rede. Warum müssen wir das also auch noch im Studium machen, und dann sogar noch obligatorisch! X: Ich hatte Ihnen vorausgesagt, dass Sie jetzt etwas Geduld brauchen, wenn Sie Ihre Fragen ernst gemeint haben, und ich wollte Ihre Fragen gerne so ernst wie möglich nehmen und beantworten. Wenn wir also die Sprachbeschreibung ins Zentrum stellen, dann fragt sich sogleich: Was ist „Sprache" eigentlich, die da zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung wird. Und dabei stellt sich dann heraus, dass es höchst unterschiedliche Begriffe von Sprache gibt. Ich will nur lFLuL 29 (2000) 148 Albert Raasch einmal zwei oder drei Auffassungen nennen, als Beispiele für viele andere Interpretationen. Sprache (1): Sprache, das sind die Texte, die ich lesen kann, die entweder gedruckt in Büchern vorliegen oder die als Briefe geschrieben werden oder die auf Bahnhöfen, Flughäfen, in Geschäften und auf Straßen überall begegnen. In diesen Texten kann ich nun Gesetzmäßigkeiten erkennen, etwa über den Gebrauch des Artikels oder des Konjunktivs, über die Morphologie der Verben und Substantive und über die Veränderlichkeit der Partizipien. Ich vermute, dass Ihnen diese Auffassung von Sprache von der Schule her sehr vertraut ist. Nun nehmen wir an, dass „Texte" ja keineswegs nur in geschriebener bzw. gedruckter Form vorliegen, sondern auch in gesprochener Form: im Gespräch, im Radio, in Ankündigungen aufdem Bahnhofusw. Dies ist ein anderer Begriff von „Text", und wenn ich diese Texte linguistisch analysiere, entdecke ich ebenfalls eine Grammatik des Französischen, die aber anders aussieht: Die Morphologie ist anders, auch die Gesetzmäßigkeiten der Syntax sind anders. Je nachdem, welchen Begriff von „Sprache" und von „Texten" ich zugrunde lege, (Ja) oder (lb), komme ich selbstverständlich zu unterschiedlichen Ergebnissen, d.h. zu verschiedenen Grammatiken. C: Und welches Modell finden Sie besser? X: Es geht nicht um besser oder schlechter, sondern es geht um folgendes: Wenn die Schule es ernst meint, dass sie gesprochene Sprache lehren will und dass die mündliche Kommunikation und das heißt die persönliche Begegnung mit den Angehörigen der Zielsprachengemeinschaft angestrebt wird, dann liegt doch auf der Hand, welcher Typ von Grammatik dafür in Frage kommt und welcher nicht. Und ich füge hinzu: Wenn denn die Grammatik des Gesprochenen noch immer nicht die durchgängig gelernte und gelehrte ist, dann kann man nur auf einen Generationenwechsel hoffen. Insofern tragen Sie hier als Studierende eine große Verantwortung. B: Wollten Sie noch auf einen anderen Begriff von Sprache eingehen? Sie waren ja bei dem Typ 1 stehen geblieben. X: Haben Sie auch schon bemerkt, dass das Telefonieren in der Fremdsprache manchmal besondere Anforderungen stellt und stressig sein kann? Offenbar liegt es doch daran, dass ich den anderen nicht sehe, er mich ebenfalls nicht, dass wir also auf die Kommunikation durch Gestik oder Mimik verzichten müssen und ganz aufdie verbale Sprache angewiesen sind. In derface-to-face-Kommunikation habe ich diese anderen Ausdrucksmittel zur Verfügung und kann sie ergänzend oder korrigierend einsetzen. Ich will darauf hinaus, dass ein Gesprächstext also durch die Grammatik (1 b) nur ganz unvollkommen beschreibbar ist, und klar ist ja wohl, dass die Grammatik (1 a) völlig ungeeignet ist für diesen Zweck. Wir brauchen also eine Grammatik, die das Verbale, aber auch das Paraverbale (Intonation, Rhythmus der Äußerung, Lautstärke usw.) und das Extraverbale (Mimik, Gestik, Körperhaltung, Körperbewegung) mit erfasst. Viele Forschungsarbeiten haben bereits brauchbare Ergebnisse geliefert, aber diese reichen längst nicht. Unser Sprachunterricht braucht sehr viel mehr verlässliche linguistische Grundlagen, als dies bislang der Fall ist, damit wir endlich die Kompetenzen ausbilden, die wir in der heutigen Gesellschaft brauchen. A: Was meinen Sie mit „in der heutigen Gesellschaft brauchen"? 3. Linguistik und Sprachenpolitik X: Lassen Sie mich, bevor ich auf diese Frage eingehe, noch den Faden weiterspinnen, den ich mit „Begriff von Sprache" bezeichnet habe. Ich möchte es an Beispielen deutlich machen: Ein „departement" ist nicht gleich „Provinz" oder „Kreis" oder „Bundesland", und für „region" fällt mir gar keine angemessene Übersetzung ein. Die Realitäten in den beiden Ländern sind halt verschieden, ihre Entstehung hat verschiedene historische, lFL1l! IL 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 149 soziale, geographische, kulturelle Hintergründe. "Paris" hat in den Ohren französischer Verwaltungsbeamter oder Professoren einen bestimmten Klang, wenn es nämlich in den Gegensatz zu „province" gebracht wird. "Europa" und „Euro" klingen ebenfalls unterschiedlich, je nach Beruf, sozialer Stellung, Lebenserfahrung usw. Linguistisch gesprochen: Denotationen werden, wie das Beispiel „departement" lehrt, auch im Schulunterricht angemessen behandelt, aber die Konnotationen sind noch viel interessanter, wenn man sich den Einstellungen und damit auch den Triebfedern für die Verhaltensweisen der Frankophonen nähern will. Jeder weiß, dass es schwierig ist, unterschiedliche Kulturen in den Diskurs miteinander zu bringen. Für mich ist, wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen, essentiell, dass Sprachunterricht und Sprachbeschreibung dazu beitragen, den europäischen Diskurs, den Diskurs zwischen verschiedenen Kulturen zu fördern oder gar erst zu ermöglichen. Die Befassung mit der Linguistik und auf diesem Wege die Förderung eines gesellschaftsorientierten Sprachunterrichts sind in meinem Verständnis geprägt von der Orientierung auf das Zusammenwachsen Europas und auf die Herausforderungen einer internationalisierten Welt. Spracheninteressierte haben am meisten Engagement für die Förderung der internationalen Kommunikation, man muss ihnen aber diese sprachenpolitische Aufgabe nahebringen und dann eine Verknüpfung zwischen diesem Engagement und der Befassung mit den angemessenen linguistischen Modellen herstellen. Innerhalb der Linguistik sind für mich vorrangig die Teildisziplinen, die diese Orientierung auf den grenzüberschreitenden Diskurs ermöglichen, und das sind die Semantik dazu hatte ich Ihnen Beispiele genannt- und die Pragmatik, die ich mit dem Beispiel der Vermittlung von interkulturellen Aspekten der Kommunikation ansprach, und zwar den Aspekten, deren Kenntnis oder Unkenntnis die Kommunikation zum Gelingen bzw. zum Scheitern bringen. A: Wenn die Sprachenpolitik einen so hohen Stellenwert in Ihrem Konzept des Französischstudiums hat, warum gibt es dann praktisch keinen Veranstaltungstyp mit diesem Namen? X: Ich denke, wir sind auf gutem Wege dorthin. Sprachenpolitik sollte in der Tat ein angemessenes Modul in der Ausbildung zukünftiger Sprachenlehrerinnen und -lehrer werden; sie sollte nicht nur Anhängsel bleiben, aber es ist doch schon viel erreicht, wenn sprachenpolitische Bewusstseinsbildung überall mit angesprochen wird. C: Ich muss noch einmal nachfragen: Was verstehen Sie unter „Sprachenpolitik" eigentlich? Sie nannten „Europa" und „Internationalisierung". Könnten Sie das nicht konkretisieren? X: "Sprachenpolitik" ist eine systematische Beschäftigung mit den Grundlagen politischen und sozialen Handelns. Ihre Entscheidung für Französisch als Studienfach ist ebenso eine politische Entscheidung wie die Abwahl einer Fremdsprache in der 10. Klasse des Gymnasiums. Von sprachenpcilitischer Dimension ist die Entscheidung, dass in der Grundschule eine Fremdsprache obligatorisch eingeführt wird. Sprachenpolitik ist im Spiel, wenn Latein der Wahl einer lebenden Fremdsprache entgegensteht oder wenn die Zahl der Wochenstunden für Fremdsprachen herabgesetzt wird zugunsten etwa der Naturwissenschaften oder der Informatik, denn dadurch wird automatisch die Rolle des Englischen vergrößert; ein evidentes Beispiel sprachenpolitischen Handelns ist die privilegierte Einführung der Nachbarsprache in Grenzregionen. Sprachenpolitik ist im Hintergrund, wenn in Grenzregionen die Partnersprachen nicht einseitig, sondern partnerschaftlich grenzüberschreitend in gleicher Weise gefördert werden. Sprachenpolitik kann Entscheidungshilfen beibringen, wenn es um den Status von Migrantensprachen oder Minderheitensprachen geht oder wenn die Frage diskutiert wird, ob in Brüssel neben den selbstverständlichen lFILllllL 29 (2000) 150 Albert Raasch Verhandlungssprachen Englisch und Französisch auch Deutsch beibehalten/ eingeführt werden soll; wer Erfahrungen in Verhandlungen in diesen europäischen oder internationalen Gremien hat, wird bestätigen, wie vorteilhaft es sein kann, die Muttersprache gebrauchen zu dürfen, und was es bedeutet, wenn deren Gebrauch durch die europäischen Regelungen nicht zugelassen ist. 4. Europa, Linguistik, Interkulturalität und Didaktik Und um auf unsere linguistische Thematik zurückzukommen: Ist der Sprachunterricht ernsthaft auf das Ziel der Kommunikation ausgerichtet, dann wird man der Frage nicht ausweichen können: Sollen die Kinder nach Verlassen der Schule die internationalen Kontakte (z.B. durch Besuche, Partnerschaften, Auslandsreisen) pflegen und daraufhin ihre Sprachen in der Schule lernen? Oder gibt es ein Interesse, den Jugendlichen schon während der Schulzeit diese Kontakte zu ermöglichen? Wenn letzteres der Fall ist- und wer wollte daran ernsthaft zweifeln-, müssten dann diese Jugendlichen nicht (auch) die Sprache lernen, die ihre Alterskameraden in dem anderen Land sprechen? Und dass die Jugendsprache durchaus andere Gesetzmäßigkeiten aufweist als die von uns üblicherweise gelelirte sogenannte Standardsprache, ist kein Geheimnis. Gibt es denn hinreichende Beschreibungen dieser Varietäten? Werden sie in der Ausbildung angeboten? Verfügen die Fremdsprachenlehrer über diese Kompetenz? Wie gesagt: Die Sprachenpolitik kann Überlegungen solcher Art initiieren und Entscheidungshilfen anbieten, aber die Entscheidung als solche ist dann den Lehrern, den Curricula-Verantwortlichen und auch Ihnen als den Studierenden überlassen. Sie müssen sich diesen Entscheidungen stellen. Die Wissenschaft kann Ihnen Hilfen geben, wenn Sie sie suchen; Sie müssen sie nur suchen wollen. Die Entscheidung zwischen den oben genannten linguistischen Modellen und die Antwort auf die Frage, welchen Status Sie den jeweiligen Grammatiken, die aus diesen Modellen resultieren, zuerkennen, ist Ihre Sache; die Hochschule kann Ihnen entsprechende Hilfen anbieten und eines muss sie ganz bestimmt tun: Sie muss bei Ihnen die Bewusstseinsbildung über diese Zusammenhänge wecken, diesem gesellschaftspolitischen Auftrag kann eine Universität sich nicht entziehen. A: Gesellschaftspolitisch...? X: Europa ist in dem vorgenannten Sinne eine „Gesellschaft". Geprägt durch Vielsprachigkeit, Multikulturalität, markante soziale Unterschiede, Arbeitslosigkeit, Herausforderungen der Globalisierung, Wettbewerbsprobleme im internationalen Kontext. Reicht das nicht, um sich zu fragen: Woraufhin soll ich hier an der Universität studieren? Da diese Probleme in vielfacher Weise mit sprachlichen Kompetenzen im weitesten Sinne wir sprachen ja gerade darüber verflochten sind, können Sie sicherlich schon abschätzen, welche Tragweite Ihre Entscheidungen haben, wie Sie Ihren zukünftigen Beruf auffassen, wie Sie Ihr Studium gestalten, welche Akzente Sie setzen könnten. · C: Wollten Sie nicht noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: Verknüpfung von Studienangeboten miteinander? X: Habe ich das denn noch nicht klar gemacht? Bin ich nicht eingegangen auf Linguistik und Wissenschaft der Interkulturalität? Verzahnung von Linguistik und Sprachpraxis in Schule und Hochschulausbildung? Linguistik und Didaktik? B: Sie haben aber die Literaturwissenschaft ausgeklammert. A: Lassen Sie mich einmal versuchen, eine Antwort zu geben. Ich denke, dass man das Gesagte lFLUJL 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 151 übertragen könnte, etwas so: Die Linguistik liefert Hilfen für die Analyse von Texten, im Verbund zum Beispiel mit der Geschichtswissenschaft oder der Soziologie, auch der Psychologie. Ansätze der interkulturellen Kommunikationswissenschaft sind für die Literaturwissenschaft ebenso nützlich wie umgekehrt die Literaturwissenschaft zur wissenschaftlichen Beschreibung von Kulturen und Kulturkontakten hilfreich sein kann. X: Wobei Sie die Dimension der Zeit nicht übersehen dürfen: der historische Aspekt, also die Erkenntnis über vorgängige Kulturen kann, ebenso wie die Befassung mit historischen Dimensionen der Sprache in der Sprachwissenschaft, Einsichten liefern, die für die Gegenwart und auch für die zukünftige Entwicklung große aufschlussreiche Bedeutung haben können und die schlicht auch zum kulturellen Horizont dazu gehören und damit auch als Voraussetzungen für interkulturelles Verstehen betrachtet werden müssen, ganz abgesehen von der Funktion, die „verdichtete" Abbildungen von kommunikativen Prozessen in gesellschaftlichen Zusammenhängen haben, um Zugänge zu eigenem Handeln und Verhalten zu geben. A: Das Stichwort „Handeln" möchte ich aufgreifen, und auch noch einmal auf die „Bewusstseinsbildung" zurückkommen, von der Sie sprachen... X: Ja, darf ich Ihnen ins Wort fallen: Waren Ihnen diese sprachenpolitischen Überlegungen vorher nicht geläufig? Wie schätzen Sie denn überhaupt die Bewusstseinsbildung über die erwähnten sprachenpolitischen Fragen ein? Ich möchte dann natürlich noch mehr wissen: Führt die eventuelle Bewusstseinsbildung, oder wie man auch sagt, die awareness, bei Ihnen oder in Ihrem Umfeld auch zum Handeln, zum Tätigwerden für Sprachen und für Sprachenlernen und für angemessene Gestaltung des Sprachenlehrens? B: Wie soll man denn als Studentin im 2. Semester überhaupt... C: Also, ich brauche noch ein paar mehr konkrete Beispiele, damit ich mir unter all dem etwas vorstellen kann. A: Vielleicht einmal konkreter: Wie und wo zeigt sich sprachenpolitisches Engagement in der Umsetzung? Vielleicht im europäischen Kontext, aber auch bei uns hier im Lande, ganz konkret. X: Da habe ich eine Idee. Ich habe für meine Vorlesung übermorgen einige Folien vorbereitet, darunter einiges zu diesem Thema. Ich zeige Ihnen diese Stichwörter einmal; in der Vorlesung werde ich dann auf Einzelheiten eingehen, denn hier in unserem Gespräch kann ich dies nicht alles im einzelnen ausführen. Dann haben Sie schon einmal ein Vorausblick und können auch besser einschätzen, welche Bedeutung diese Thematik für Sie persönlich hat. Es sind zwar nur Stichwörter, aber sie sind wohl doch „selbsterklärend". 5. Das Europäische Jahr der Sprachen Folie 1 (Das Jahr 2001 = Europäisches Jahr der Sprachen) Ziel: die breite Öffentlichkeit für die Bedeutung der Sprachen sensibilisieren: • Bedeutung der Fremdsprachenkompetenz für den Einzelnen (z.B. berufliche Mobilität) • Bedeutung für die Gesellschaft: Sprachbedarf (Wirtschaft, Industrie, Handwerk) • Kulturelle Bedeutung: Begegnung der Kulturen, Bewahrung der Multikulturalität • Sprachenlernen als Weg zur Entfaltung der Persönlichkeit • Öffnung zu den Sprachen der Migranten, der Minderheiten • Friedenssicherung: Überwindung der Sprachlosigkeit, Begegnung mit dem Fremden Folie 2 (Geplante/ denkbare Aktivitäten, um dieses Ziel des Europäischen Sprachenjahres zu erreichen): • Sprachenfeste für das breite Publikum • Begegnungen, Partnerschaften lFlLIIL 29 (2000) 152 Albert Raasch • Preisausschreiben und Wettbewerbe (über die Medien) • Informationsveranstaltungen für Eltern, Jugendliche, Erwachsene • Bürgertelefone (Informieren über Sprachlernangebote, über Schulprobleme u.a.) • Sprachliche Vielfalt in das Straßenbild, in die Geschäfte, in die Medien bringen • Sprachlichen Reichtum bei Kindern in den Schulen/ im Kindergarten entdecken lassen • Fremdsprachen im Betrieb durch Jugendliche/ Studierende entdecken lassen (Praktika) Folie3 (Wer könnte diese Aktivitäten initiieren/ durchführen? ) • Universitäten, Hochschulen, Schulen • AStA, Schülervertretungen • Elternschaften • Kammern • Kommunalverwaltungen • Bildungsinstitutionen (Volkshochschulen, Fortbildungsinstitutionen) • Verbände (Fachverband Modeme Fremdsprachen) Folie 4 (An wen kann man sich wenden, um Ideen zu bekommen/ Kooperationen zu initiieren? ) • BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) "Bildung für Europa" • KMK (Kultusministerkonferenz) • Erfurter Kreis (Thüringer Kultusministerium Erfurt) • Conseil de l'Europe, Section Langues Vivantes, Strasbourg • Commission Europeenne (SOKRATES/ LINGUA, LEONARDO, COMENIUS u.a.) • FMF (Fachverband Modeme Fremdsprachen) B: Meinen Sie wirklich, dass auch Studierende schon mitmachen sollten? X: Also: Wenn Sie sich dafür entschieden haben, Sprachen beruflich zu lehren, dann müssten Sie doch eigentlich ein elementares Interesse daran haben, dass die Öffentlichkeit die Bedeutung der Sprachen richtig einschätzt, dass die Stundenzahlen in den Schulen nicht immer weiter zurückgehen, dass die Kammern und die Betriebe und die Verwaltungen die Sprachkompetenzen von Bewerbern angemessen einschätzen, dass in den Schulen endlich vernünftige Bedingungen für das Sprachenlernen (z.B. durch Einrichtung von Sprachlehrräumen) geschaffen werden usw. Man kann doch nur fragen: Wieso braucht es noch solche Anstöße von außen, um sogar die Betroffenen davon zu überzeugen, dass die Mitwirkung bei Aktivitäten der geschilderten Art unerlässlich ist? Verbände wie der FMF können Ihnen helfen, gangbare Wege zu finden; probieren Sie aber auch einmal, die Studierenden der Fachrichtung oder der Universität zu mobilisieren. Versuchen Sie, auch grenzüberschreitende, internationale Aktivitäten auf den Weg zu bringen. Und im übrigen denken Sie daran, Nachhaltigkeit anzustreben: es geht nicht nur um das Jahr 2001 ! C: Wir waren ja von der Linguistik ausgegangen. Mich würde interessieren, ob man die europäischen Programme und Institutionen auch in einem Zusammenhang mit linguistischen Fachfragen oder Studienanteilen sehen kann oder ob politische Instanzen und universitäre Studien nicht doch ganz weit voneinander entfernt agieren. IF][,11][., 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 153 6. Europäische Sprachenpolitik und Linguistik X: Dies ist ein Thema, das man am besten mit Hilfe der Hypertextdarstellung dynamisch präsentieren könnte; hier auf dem Blatt Papier gelingt dies nur unzureichend, es gibt aber einen Einblick in die Möglichkeiten der vernetzten und „verlinkten" Gestaltung. Ich werde dieses Blatt, falls Sie noch Zeit haben, sogleich kommentieren. Europa bleibt vielsprachig und multikulturell, oder es wird kein Europa mehr geben. Diese These lässt sich historisch-politisch bestätigen: Die Bewahrung der Identität ist offenbar in einer Zeit zunehmender Internationalisierung und Globalisierung ein herausragendes Kriterium für politische Strukturen und Konzepte. Je mehr von Europa gesprochen wird, umso mehr sind die Menschen nur dann bereit, sich mit der großen und (bislang noch) unpersönlichen Großkonzeption zu identifizieren, wenn sie gleichzeitig die Möglichkeit haben, sich in kleinem, "eigenem" Rahmen wiederzufinden. In jüngster Vergangenheit scheint diese Tatsache immer wieder und in verschiedensten Regionen auf. Dem scheint entgegenzustehen, was sich aus der sozialen Situation in Europa ergibt, und sie steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konjunktur: Wer beruflich international tätig sein will und die durch die europäischen Verträge (Maastricht/ Amsterdam) garantierte Mobilität nutzen will, scheint gut daran zu tun, aufjeden Fall Englisch als lingua franca zu lernen; andere Sprachen treten dem gegenüber in den Hintergrund. Das Risiko dieser Uniformisierung und der Verlust von Identitäten zwingen nicht nur zur sprachenpolitischen Reflexion, sondern auch zu neuen didaktischen Konzepten, und diese wiederum müssen den Studierenden vertraut sein, damit der Sprachunterricht seiner Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft nachkommen kann. A: Ich bin ja gespannt, ob denn nun auch der Bogen zur Linguistik zurückgeschlagen werden kann. X: Worauf Sie sich verlassen können, denn Sie haben ja schon bemerkt: Für mich ist die sprachenpolitische Überlegung am Anfang, und das heißt nicht: der Nutzen, sondern die Verantwortung. Lassen Sie mich diese Bezüge nun anhand des Schaubildes (vgl. S. 154) konkretisieren. FIL111L 29 (2000) 154 Europarat Portfolio ~ Referenzr~_: ~ Un Niveau Seuil Wirtschaftliche/ soziale Situation Funktionale Sprachbeschreibung Pragmatisch-semantische Sprachbeschreibung Langues modimes Netzwerke Albert Raasch ~ SOKRATES ~LEONARDO COMENIUS Sprachliche Vielfalt ist die Grundlage für kulturelle Vielfalt; eine Kultur, die sich nicht mehr sprachlich ausdrücken kann, hat keinen Bestand. Sprachliche Vielfalt heißt in der Formulierung der Europäischen Kommission: Jeder europäische Bürger soll zwei EU-Sprachen neben seiner Muttersprache lernen. Dieses Ziel ist mit den herkömmlichen Instrumenten nicht erreichbar, es zwingt zu innovativen Überlegungen, von denen ich einige aufzählen will: • Der Erwerben der Sprachen muss früher beginnen; Frühbeginn in der Grundschule ab Klasse 3 ist mittlerweile in der Bundesrepublik akzeptiert und zumeist auch schon Praxis. Der nächste Schritt wird gerade getan: In Baden-Württemberg und dem Saarland wird die frühbeginnende Fremdsprache ab Klasse 1 flächendeckend eingeführt. Der nächste Schritt wird sein, dass der Frühbeginn, wie in vielen Fällen schon praktiziert, im bilingualen Kindergarten eingeführt wird. Dies bedingt: neue didaktische Konzepte für eine durchgängige Begegnung mit der Fremdsprache, vom Kindergarten über die Grundschule zur weiterführenden Schule und auch noch darüber hinaus in die Erwachsenenbildung. Die weiterführende Schule kann nicht ignorieren, dass die Kinder nicht mehr mit Null- Kenntnissen in die Klasse 5 kommen; also muss die Didaktik und müssen die Lehrwerke umgelFILll.L 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 155 schrieben werden. Kinder lernen eine Sprache anders als Jugendliche, und sie möchten auch etwas anderes lernen. Dies bedeutet: die sprachlichen Inhalte dieser kindgemäßen Varietäten müssen beschrieben und didaktisch reflektiert werden. Dies kann nicht ohne Auswirkung auf die Ausbildung zukünftiger Gymnasiallehrer bleiben. • Das Englische als linguafranca ist ein ausgesprochen nützliches Instrument. Es wäre kurzsichtig und nicht durchführbar, den Drang zum Englischen zu übersehen. Nur: Eine lingua franca, wenn denn das Englische wirklich in dieser Funktion gemeint ist (und also nicht das Englische als kulturell gefüllte, anspruchsvolle Sprache), dann reichen dafür 4 oder maximal 5 Jahre; man braucht dafür nicht 7 oder 9 Jahre (oder bei Frühbeginn gar noch mehr Jahre) wie sie in den Curricula noch vorgesehen sind. Das Englische als klar determiniertes Modul anbieten, dadurch mehr Platz für andere Sprachen (Ziel: Mehrsprachigkeit in Europa) schaffen: Dies wiederum bedingt, dass die Abfolge der Sprachen neu überdacht werden muss, also der „Sprachenhaushalt" des einzelnen Schülers. Die Linguistik kommt dann in diesen Zusammenhang wieder herein, denn der Erfolg der mehrsprachigen Erziehung hängt davon ab, wie weit die Sprachfächer Ausblicke auf die jeweils anderen Sprachen geben, denn was man in der einen Sprache lernt, ist oft schon ein Vorauslernen im Hinblick auf andere zu lernende Sprachen. Dieses Mitlernen kann man nun nicht den Kindern überlassen; die Lehrkräfte brauchen die Kompetenz, solche links herzustellen, und das hat natürlich Folgen: die Mehrsprachigkeit wird zu einer Forderung an die Ausbildung der Lehrer/ -innen werden. Die „Verlinkung" wird sich nicht auf Bezüge zum Englischen beschränken dürfen, sondern: wer Französisch unterrichtet, muss versuchen, Ausblick auf das Spanische und das Italienische zu geben, also die Familienähnlichkeit auszunutzen, um die Mehrsprachigkeit zu fördern. • Mehrsprachigkeit hat ihre Grenzen, je nach den Möglichkeiten der Lernenden. Bekannt ist das Konzept der „rezeptiven Mehrsprachigkeit", die vorsieht, dass man nicht die üblichen vier Fertigkeiten, sondern nur das Rezipieren (Hören und Lesen) lernt, denn dann könnte jeder in seiner Muttersprache sprechen und würde von dem anderen verstanden. Einen solchen Unterricht zu geben, setzt voraus, dass die Lehrkraft eine einschlägige Kompetenz in der Sprachrezeption besitzt und darauf eine Didaktik aufbauen kann. Hier ist dann die Möglichkeit gegeben, auch den sogenannten „kleinen", d.h. weniger verbreiteten und weniger unterrichteten Sprachen "langues modimes") die Chance zu geben, die ihnen in einer partnerschaftlich strukturierten europäischen Gemeinschaft zukommt. • Eine Fremdsprache wird in der Schule i.a. nur dann benutzt, wenn diese Fremdsprache auf dem Stundenplan steht. Warum eigentlich? Gibt es nicht genügend Möglichkeiten, das Französische auch einmal im Kunstunterricht, in der Sozialkunde, im Musikunterricht zum Klingen zu bringen? Dies wiederum setzt Sprachkenntnisse bei diesen Lehrkräften voraus... Was müssten sie können? Fachsprache? Aussprache? Wieder sind linguistische Fragen darin versteckt. • Jemand von Ihnen sagte, dass er auch Geschichte studiert. Haben Sie schon ein Lehrangebot für bilinguale Lehrkräfte wahrgenommen? Dann sollten Sie es bald tun. Wer Geschichte und Französisch studiert und gut kann, ist damit noch kein bilingualer Lehrer, das ist eine gesonderte Kompetenz, mit einem erheblichen Anteil an linguistischen Elementen. Zentral dabei ist die Beherrschung der Konnotationen kultureller Schlüsselwörter, die Aufschluss über die Möglichkeiten interkulturellen Verstehens geben. • Letztlich läuft alles auf einen Begriff hinaus, der eine Orientierung für den Unterricht in einer Klasse ebenso wie für die Organisation einer multilingualen, multikulturellen Gesellschaft bilden kann und für den es im Deutschen kein „richtiges" Wort gibt: European citizenship, Citoyennete europeenne, also die Qualität, in einer Gemeinschaft als ein sich für das Gemeinwohl verantwortlich fühlender, denkender und handelnder Partner zu wirken. Eine der wichtigsten Kompetenzen ist die Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen auszuhandeln, um im gemeinsamen Bemühen zu einer Lösung eines Konfliktes zu kommen. Es wird einleuchten, dass man hierfür nicht nur psychische und soziale Kräfte mobilisieren muss, sondern auch linguistische Fertigkeiten braucht. Strategien des VerhanlFL1LIL 29 (2000) 156 Albert Raasch delns und Redemittel für das Aushandeln zu vermitteln, setzt die Beschreibung solcher Redemittel und Strategien voraus, und dies ist vielleicht das überzeugendste, weil auch umfassendste Beispiel für die Rolle angewandter Linguistik als Vorbereitung des Lehrens und des Lernens. Die neuen Europäischen Sprachenzertifikate z.B., die für acht europäische Sprachen existieren, haben in ihrem mündlichen Teil eine solche Anforderung in ein Testformat gebracht. Zwei Kandidaten erhalten unterschiedliche Informationen für ein Simulationsspiel: beide wollen am Wochenende zusammen ausgehen, der eine ins Kino, der andere ins Theater. "Einigt Euch." In der Bewertung der Leistung ist genau das linguistische Arsenal der Sprachstrategien im Mittelpunkt, das zum erfolgreichen Diskurs beiträgt. 7. Europäische Sprachförderprogramme und Studium A: Ich hatte Sie ja ganz zu Anfang um ein Gespräch gebeten, auch im Namen der anderen, und wir hatten wohl alle nicht geahnt, dass sich diese Nachhilfe so lange hinziehen würde. Ich möchte aber abschließend doch noch etwas fragen, was mir im Zusammenhang mit all dem eingefallen ist. Ich kenne ERASMUS als ein europäisches Programm; mir aber sagt weder Portfolio noch Referenzrahmen etwas. Und vielleicht könnten Sie noch ein Wort über andere Programme anschließen, von denen wir noch gar nichts gehört haben. X: Ich gehe gerne darauf ein, denn diese Programme sind für mich Musterbeispiele linguistischer Politik oder politischer Linguistik, wie Sie wollen. Wenn sich jemand z.B. nach dem Abitur um eine Praktikumsstelle oder einen Job bewirbt und gefragt wird, was er in den Fremdsprachen kann, so wird er vielleicht antworten, dass er im Französischen eine „2" im Abiturzeugnis erhalten habe. Und wenn der Personalchef damit nichts anfangen kann, zumal wenn es sich um eine Bewerbung in einer ausländischen Firma handelt? Dann ist es für den Bewerber nicht leicht, seine Sprachkenntnisse angemessen zu beschreiben. Die Zahl der Vokabeln oder seine Kenntnis des Subjonctif könnte er vielleicht noch schildern, aber, wie wir gesehen haben, gerade dies interessiert heute weniger denn je. Wie man Sprachkenntnisse beschreibt, welche Teilfertigkeiten also dazu gehören (z.B. also die Fähigkeit zum konfliktuellen Diskurs), das wird im Referenzrahmen ausgebreitet, und dann werden dort Abstufungen vorgeschlagen, also Niveaustufen in diesen Fertigkeiten, auf die man sich beziehen kann, wenn man seine Fertigkeiten beschreiben will. Und damit der Einzelne damit nicht belastet wird, sollen europaweit diese vertikalen und horizontalen Kriterien bekannt gemacht werden, so dass man zwar die Prüfungen und die Noten überall so beibehält, wie sie jeweils existieren, aber alle können sich durch Einordnung in den Referenzrahmen positionieren und damit die Evaluation der Leistungen ganz erheblich erleichtern. Alles was in diesem Referenzrahmen steht, sind Beschreibungen von Sprache nach dem angedeuteten Muster, und der Hintergrund für das Unternehmen ist die Sprachenpolitik in Europa; das ist sicherlich überzeugend. Nicht viel anders ist es mit dem Portfolio. Sprachenlernen macht der Schüler, nicht der Lehrer. Aber weiß der Schüler, wie er lernt? Weiß er es so weit, dass er sein Lernen kontrollieren und selbst optimieren kann? Diese language learning awareness zu erwerben, ist eine entscheidende Voraussetzung für das systematische Sprachenlernen, lFlL1l! L 29 (2000) Mehrsprachigkeit - und was wir in Europa dafür tun (könnten) 157 trägt also zur Förderung der Mehrsprachigkeit bei. Portfolio ist so etwas wie ein Tagebuch, in das man erbrachte Leistungen und Schwierigkeiten beim Lernen ebenso einträgt wie bestandene Prüfungen oder Reflexionen über das, was man gerne lernen würde, oder über das, was man nun immer noch nicht kann. Ein Extrakt dieses Tagebuchs, das sehr stark auf Selbsteinschätzung beruht, führt zu dem Sprachenpass, den man dann bei Bewerbungen vorweisen kann und der aufschlussreicher ist als die „2" im Abiturzeugnis. Voraussetzung ist, .dass man lernt, wie man seine sprachlichen Leistungen bewerten und beschreiben kann, und da ist dann wiederum die Linguistik gefordert. Beide Projekte, die z. Zt. (2000) noch in der Diskussion und in der Erprobung sind, werden im Jahr 2001 in großen Veranstaltungen vorgestellt werden, und sie werden für Ihr weiteres Studium und für Ihre unterrichtliche Tätigkeit Grundlagen liefern. Portfolio und Referenzrahmen sind Ergebnisse intensiver Arbeiten des Europarates; die Europäische Kommission hat ebenfalls wichtige Programme aufgelegt (darunter ERASMUS, das Ihnen aus dem universitären Bereich am ehesten bekannt ist), ferner SOKRATES und LEONARDO, die speziell der Sprachförderung dienen, SOKRATES im Rahmen der Allgemeinbildung und LEONARDO für die berufliche Bildung. Beide Programme haben ihre erste Programmphase hinter sich (vordem hießen diese Programme LINGUA) und sind mit dem 1.1.2000 in die Programmphase II eingetreten. Zur Zeit (März 2000) liegen erste Entwürfe für die Leitlinien des SOKRATES-Programms vor; ich habe diesen Text gerade zur Hand, darin heißt es: "Ziel dieser Aktion ist insbesondere: • in den Bürgern das Bewusstsein für die sprachliche Vielfalt der Union und für den Nutzen eines lebensbegleitenden Sprachenlernens zu wecken und sie dazu zu motivieren, aus eigenem Antrieb Fremdsprachen zu erlernen • die Mittel für den Erwerb von Fremdsprachen in Europa leichter zugänglich zu machen und die Unterstützung für die Lernenden zu fördern; • die Verbreitung von Informationen über innovative Ansätze und bewährte Verfahren für den europäischen Fremdsprachenunterricht unter den Zielgruppen sicherzustellen." 8. Sprachenpolitik am Beispiel „Grenzen in Europa" C: Wenn denn die Sprachenpolitik ein so hohen Stellenwert hat, warum ist denn das nicht ich komme auf meine Frage von vorhin zurück in den Vorlesungsverzeichnissen ausgewiesen? X: Ich denke, dass dies ein Übergangsstadium ist; die Sprachenpolitik ist unumgänglich geworden, und sie findet sich in vielen Lehrveranstaltungen schon jetzt, implizit und indirekt. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Bundesrepublik aus diesem europäischen Trend nicht auf Dauer heraushalten kann. Vielleicht ist es ja an Ihnen, diese Entwicklung zu beschleunigen, also gewissermaßen Sprachenpolitik für Sprachenpolitik zu machen, also Meta-Sprachenpolitik. Es ist ein ermutigendes Zeichen, denke ich, dass unser Gespräch hier in dieser Zeitschrift veröffentlicht wird. Diese Tatsache belegt, dass es viele Verbündete gibt. lFLIIL 29 (2000) 158 Albert Raasch Lassen Sie mich abschließend einen Hinweis auf ein Projekt geben, das „hoch aufgehängt" im Fremdsprachenzentrum des Europarats in Graz angesiedelt ist, das seit 1997 läuft und bis zumindest 2002 weiterlaufen wird und dessen Titel lautet: "Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen".2 Grenzregionen, das ist z.B. Saar-Lor-Lux; das sind die Euregionen an der niederländisch-deutschen Grenze, das sind die Regionen von Frankfurt/ Oder und Siubice oder die deutsch-dänische Kooperationszone. Dieses Projekt kann noch einmal deutlich machen, welche Auffassung von Sprache europaweit heute immer stärker in das Blickfeld rückt: "Entlang den zahlreichen Grenzen zwischen den europäischen Ländern treffen Sprachen und/ oder Kulturen aufeinander. Diese Kontakte sind mehr oder weniger entwickelt, je nach den historischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, und sie werden in jeweils unterschiedlicher Weise als Chancen, aber auch als Belastungen oder gar als Risiken aufgefasst. In zahlreichen Fällen wird deutlich, wie durch geduldiges, beharrliches Bemühen durch Sprachen, Sprachkenntnisse und Sprachvermittlung Brücken über die Grenzen gebaut werden können; in anderen Fällen hat man offensichtlich noch einen weiten und vielleicht schwierigen Weg vor sich. Diese besondere Situation von Sprachen und Kulturen an Grenzen gibt Anlass, eine spezifische Didaktik zu entwickeln; Beispiele erfolgreicher Bemühungen in dieser Richtung können Mut machen, diese Bemühungen fortzusetzen und auch anderen, bisher zurückhaltenden Regionen Anregungen für solche Entwicklungen zu geben." A: Eine allerletzte Frage: Wo kann man darüber etwas nachlesen? X: Wenn ich Ihre Frage nun beantworten soll, dann treten wir allerdings aus der Anonymität der Fiktion heraus; sei's drum: Sie finden Näheres im Internet. Adresse: http: / / www.phil.uni-sb.de/ fr/ romanistik/ raasch/ Zur Erläuterung: Der Autor ist Wissenschaftlicher Leiter der Nationalen Koordinierungsstelle NATALI, zuständig für Teilprogramme von SOKRATES und LEONARDO für die Bundesrepublik, im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Koordinator des Projekts „Fremdsprachendidaktik für Grenzregionen"; in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarates, Graz, wird das Projekt getragen vom Goethe-Institut, München, Kulturkontakt Austria, Wien, und derTalenacademie Nederland, Maastricht. Leiter des Projekts „Französisch" der „Europäischen Sprachenzertifikate". FLuL 29 (2000)