Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2000
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Gnutzmann Küster SchrammEuropäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeit und Grenzen
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2000
Claire-Marie Jeske
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_______ N_i_c_h_t_-_t_h_e_m_a_ti_· s_c_h_e_r_T_e_il ______ l Claire-Marie Jeske Europäische Mehrsprachigkeit- Möglichkeiten und Grenzen Abstract. As Europe consists of many different cultures, vocational mobility and communication between people presuppose tbat every citizen of the European Union is able to speak at least one language apart from his or her mother tongue. The use of a lingua franca for all kinds of communication beyond one's own speech borders advantages the people who speak it as their native language and leads to a decline of all other languages. This implies a loss of the cultural background and the knowledge connected to these languages and a loss of identity for their speakers. A peaceful and democratic society can only exist if cultural pluralism is accompanied by multilingualism of its people. This paper presents different models of dealing with a multicultural and multilingual society and intends to emphasize the importance of multilingualism of each ofits members, making suggestions how as many people as possible could be transformed into polyglots. „Die Epoche der Nationalkultur als einer ethisch reinen Kultur ist vorbei. Wir leben in einer Zeit der Nomadenkultur, geprägt durch den Internationalismus der Medienwelt und der Warenströme einerseits, durch die weltumspannende Völkerwanderung andererseits" (Ulrich Greiner: "Auswärtige Kulturpolitik: Goethe als Gruß-August? "Die Zeit 25, 1996). 1. Die europäische Gesellschaft multikulturell und multilingual? Die zunehmende Aufhebung des Ost-West Gegensatzes, die Etablierung des europäischen Binnenmarktes und die damit einhergehende Niederlassungsfreiheit innerhalb Europas sowie die weltweite soziale Verflechtung von Wirtschaft, Kultur und Politik, machen die Fähigkeit zur internationalen fremdsprachlichen Begegnung zunehmend zu einer unabdingbaren Voraussetzung für das menschliche Zusammenleben. Mehrsprachigkeit ist durch die europäische Integration zu einem bildungspolitisch zwingenden Ziel geworden: Die kulturelle Pluralität Europas braucht Artikulationsmöglichkeiten, die Multilingualität der europäischen Gesellschaft fordert auch eine Plurilingualität ihrer Mitglieder. Fremdsprachenkenntnisse werden zur Schlüsselqualifikation für die Sozialisierung in Europa, für berufliche Mobilität, interkulturelle Begegnung und Kommunikation mit den ausländischen Mitbürgern und europäischen Nachbarländern. Zudem machen die zunehmenden Wanderungsbewegungen von Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Asylbewerbern und Urlaubern Sprachenkontakt nicht nur möglich, sondern auch nötig. Auf einem solchen Hintergrund müssen die Bedingungen des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen neu überdacht werden. Hier ist zunächst die Sprachenpolitik gefragt, die Bestandteil der Innen- und Außenpolitik der europäischen Gesellschaften sein sollte. Vor FJL111L 29 (2000) 180 Claire-Marie Jeske allem aber sind an den Fremdsprachenunterricht, der auf das Zusammenleben in einer mehrsprachigen, multinationalen Gesellschaft vorbereiten muss und Bedingung für ihr Funktionieren ist, neue Anforderungen gestellt: Sein Aufgabenfeld erweitert sich über die Vermittlung eines Kommunikationsmediums sowie einer fremden Literatur und Kultur hinaus zu einer Institution, die den Erhalt kultureller Vielfalt fördern und damit den Völkerfrieden garantieren muss. Fremdsprachenunterricht ist zudem Voraussetzung für das Funktionieren der europäischen Institutionen selbst, er ist Prämisse für den Ideenaustausch und die Mobilität innerhalb der europäischen Union und fördert mit der sprachlichen Kontaktfähigkeit auch die Kontaktwilligkeit der Bürger. Da die Schule der „quantitativ wichtigste Anbieter von Fremdsprachenunterricht" (Christ 1991: 66) ist, wird hiermit ein genuiner Bereich schulischer Bildung angesprochen. 2. Europa: Die Vielfalt in der Einheit Die europäische Union vertritt eine pluralistische Sprachenpolitik, die auf der Anerkennung der Gleichberechtigung der Amts- und Regionalsprachen aller Mitgliedstaaten beruht, um den Sprachfrieden zu sichern. Alle offiziellen Sprachen der Länder sind auch offizielle Sprachen der Gemeinschaft, die ihre Gesetze, Verordnungen und Presseerzeugnisse dementsprechend in elf Fassungen veröffentlicht. Dieses egalitäre System fordert die Mehrsprachigkeit jedes Bürgers der europäischen Union, um nicht ad absurdum geführt zu werden, indem der theoretischen Vielsprachigkeit de facto die Dominanz einer Sprache gegenübersteht. In den 1984 verabschiedeten "Schlussfolgerungen über den Fremdsprachenunterricht", die im Rahmen der EG-Zusammenarbeit im Bildungswesen entstanden, wird die Vermittlung praktischer Kenntnisse in zwei Fremdsprachen für eine möglichst große Schülerpopulation angestrebt, wobei „zumindest eine der unterrichteten Sprachen [... ] eine der Amtssprachen der Europäischen Gemeinschaft sein" (KMK 1994: 20) sollte. In einem weiteren Beschluss über die „Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern" wird zudem die Gleichsetzung der „Landessprachen der wichtigsten Herkunftsländer" mit den anderen in den Lehrplänen vorgesehenen Fremdsprachen als wünschenswert propagiert und auch die „Entwicklung der europäischen Dimension" wird zu einem großen Teil in den Bereich der Fremdsprachenförderung verlegt, soll sie doch „insbesondere durch Erlernen und Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten" (KMK 1994: 22) geschaffen werden. Es existiert also ein Bewusstsein für die Notwendigkeit qualifizierter und breiter Fremdsprachenkenntnisse, das aber durch die Organisation der Vielsprachigkeit noch in die Realität umgesetzt werden muss. 3. Englisch als lingua franca - Bedrohung oder Chance? Englisch hat sich durch die geographische Ausdehnung des britischen Empires in der Vergangenheit und die Dominanz der USA in der heutigen Welt zu der geographisch am weitesten verbreiteten und weltweit am häufigsten gelehrten Zweitbzw. Fremdsprache IFL111L 29 (2000) Europäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeiten und Grenzen 181 entwickelt. Auch im deutschen Bildungssystem nimmt es als Schulfremdsprache den ersten Platz ein, seit die Rivalität zwischen Englisch und Französisch von den Nationalsozialisten zugunsten des Englischen entschieden wurde und es sich auch nach 1945 trotz der Bemühungen der Besatzungsmächte um eine Politik der Diversifikation praktisch als Haupt- Schulfremdsprache durchgesetzt hat. Mit dem Düsseldorfer Abkommen von 1954 und dem Hamburger Abkommen von 1964, das für Real- und Hauptschulen eine Fremdsprache, "in der Regel Englisch", vorschreibt und die erste Fremdsprache auf dem Gymnasium ebenfalls auf „in der Regel Latein oder Englisch" beschränkt, wurde die Rolle des Englischen als dominierende Schulfremdsprache weiterhin bestärkt. Auch die Novellierung des Hamburger Abkommens, in der als erste Fremdsprache des Gymnasiums eine „lebende Fremdsprache oder Latein" vorgesehen ist, schafft zwar eine formale Parität zwischen den Sprachen, hatte aber keine wirkliche Veränderung zufolge, da das Fremdsprachenangebot an den Gymnasien de facto aufgrund der geforderten Einheitlichkeit des Schulwesens kaum erweitert werden konnte. Das Englische ist unleugbar die wichtigste Berufs-, Wissenschafts-, und Verkehrssprache der Welt. Auch in der Europäischen Union, in <; ler de jure alle Amtssprachen der Mitgliedsländer gleichwertigen Status besitzen, dominiert sie als Arbeits- und Bezugssprache bei Verhandlungen und bei der Erstellung von Dokumenten (Zapp 1989: 12). Wenn auch das Französische dem Englischen hinsichtlich der Anzahl seiner Lerner in Deutschland direkt folgt, so ist es doch alarmierend, dass Englisch in den deutsch-französischen Handelsbeziehungen die Führungsrolle übernimmt, ist doch Frankreich wichtigster Handelspartner und direkter Nachbar Deutschlands. Auch widerspricht dies dem deutschfranzösischen Vertrag von 1963, in dem sich die BRD zu einer bestmöglichen Förderung des Französischunterrichts in Deutschland verpflichtet hat. Bleibt schon das immerhin noch einigermaßen breit vertretene Französische weit hinter dem Englischen zurück, so ist der griechische und portugiesische Binnenhandel aufgrund sprachlicher Defizite erst recht behindert (Zapp 1989: 13). Deshalb muss immer wieder betont werden, dass die anglophone Welt nur eine von vielen ist und die Beschränkung auf diese den Zugang zu anderen Kulturen, Literaturen und Handelsräumen verhindert und zu einer geistigen Verarmung führt. Auch widerspricht die Dominanz des Englischen dem integrationspolitischen Konzept eines diversifizierten Fremdsprachenlernens und würde nicht zuletzt in einen zwar nicht intendierten Kulturimperialismus münden (Christ 1991: 132). Gleichzeitig sind die Anglophonen zunehmend der Gefahr ausgesetzt, sich dem Erlernen anderer Sprachen zu verschließen: man kommt ja mit der eigenen Sprache überall zurecht... Fremdsprachenunterricht kann aber nicht einseitig konzipiert werden, wenn der Sprachfrieden sein übergeordnetes Ziel darstellen soll. Die wenig wünschenswerte Dominanz des Englischen im deutschen Bildungssystem hat sich einerseits durch die „falsche" Vorstellung vieler Eltern und Schüler, das Englische als Schlüssel zu allen Nationen außerhalb Deutschlands zu sehen, perpetuiert. Zum anderen wird das Kommunikationsmodell „jeweilige Nationalsprache+ Englisch" aber auch aus der Ratlosigkeit im Umgang mit der Mehrsprachigkeit favorisiert (Zapp 1989: 13). So ist es Aufgabe der Sprachenpolitik und des Fremdsprachenunterrichts, den Sprachlernern die politisch und auch individuell-beruflich eminente Rolle möglichst vielfältiger Fremdsprachenkenntnisse vor Augen zu führen und Konzepte zur Förderung der MehrlFILllL 29 (2000) 182 Claire-Marie Jeske sprachigkeit zu entwickeln und experimentierend durchzuführen. Der Primat der Schulfremdsprache Englisch muss hierzu in Frage gestellt und eine alternative Fremdsprachenfolge in den weiterführenden Schulen überdacht werden. Da es weltweit gesehen zur Zeit keine realistische Alternative zur internationalen Verkehrssprache Englisch gibt (Neuner 1996: 17), muss zumindest eine sinnvolle Nutzung des Englischen als lingua franca angestrebt werden, die zur Kontaktaufnahme in begrenzten Domänen und sozusagen als letzter „Rettungsanker" eingesetzt wird, nicht aber die absolute Monopolstellung im zwischensprachlichen Kontakt übernimmt. So sollten die besondere Rolle des Englischen berücksichtigt und die Vorteile seiner breiten Dispersion genutzt, ein sprachlicher und darin implizierter kultureller Monopolismus und Imperialismus aber verhindert werden. 4. Das „deutsche Sonderproblem": Latein Nachdem mit der Humboldtschen Reform im 19. Jahrhundert die alten Sprachen zum Fundament des humanistischen Bildungskonzepts avancierten, ist das Prestige des Lateinischen in Deutschland als „Muttersprache des Abendlandes [und] sämtlicher Wissenschaften" (Christ 1980: 67) weitgehend unangefochten. Seit dem Düsseldoiferund dem Hamburger Abkommen ist es im Lehrplan der Gymnasien in der Eingangsstufe als Alternative zu einer modernen Fremdsprache fest verankert und stellt bis heute die Voraussetzung für bestimmte Studiengänge dar. Dadurch ist das Latinum zu einer Art additiven Sonderberechtigung über das Abitur hinaus geworden, die zu einer Diskriminierung der modernen Fremdsprachen führt, die in Konkurrenz zum Lateinunterricht als Alternativen zur Wahl gestellt werden und diese Berechtigung eben nicht gewährleisten. Der Bildungsauftrag von modernen und alten Fremdsprachen divergiert jedoch so stark, dass deren curricular festgelegte Austauschbarkeit sachlich nicht zu rechtfertigen ist (Christ 1980: 179 ff): So ist das Ziel des Erlernens einer modernen Fremdsprache die Befähigung zur Partizipation an realen Kommunikationsprozessen; das Lernen einer alten Sprache führt hingegen nicht zur Annahme eines anderen Ausdrucksmediums, sondern hauptsächlich zum Erlangen von Lesekompetenz. Der Erwerb moderner Fremdsprachenkenntnisse impliziert zudem eine Einstellungsänderung des Individuums, das sich mit der neuen Sprache einen neuen Kulturraum erschließt und den eigenen Sprachbesitz und kulturellen Hintergrund in Relation zu anderen Kulturen sieht. Während der Unterricht in einer modernen Fremdsprache also einen identitätsstiftenden und mit Hinblick auf den ermöglichten internationalen Austausch ebenso politischen Beitrag leistet, ist der Lateinunterricht in erster Linie historisch orientiert und steht nicht in direkter Verbindung zur aktuellen Erfahrungswelt des Lerners. Dies soll nicht bedeuten, dass nicht auch hier Fähigkeiten wie Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit über die Kompetenz im Umgang mit altsprachlichen Texten hinaus vermittelt werden, der altsprachliche Unterricht tangiert aber den Lerner nicht so direkt wie der neusprachliche, der ihm den Zugang zu einer aktuell existierenden fremden Zivilisation eröffnet und so einen Beitrag für das Leben in der europäischen Gesellschaft leistet. Da die alten Sprachen Einblick in viele diachrone Aspekte der Sprache, wie Sprachenverwandtschaft, Sprachentwicklung und Wortveränderung, gewähren, kann das Erlernen einer alten Sprache fruchtbar für den Umgang mit einer modernen Fremdsprache sein. Die lFLllL 29 (2000) Europäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeiten und Grenzen 183 aufgeführten Argumente lassen jedoch evident werden, dass aufgrund der Verschiedenheit der Bildungsaufträge von alten und modernen Fremdsprachen und vor allem aufgrund der zunehmenden Wichtigkeit der Fremdsprachenkompetenz in unserer Lebensumwelt der Unterricht einer modernen Fremdsprache nicht durch den einer alten substituiert werden kann. Problematisch ist zudem, dass der Lateinunterricht die Monopolstellung des Englischen in den Gymnasien stärkt, da er vor allem die für besonders begabt gehaltenen Schüler vom Erwerb einer zweiten modernen Fremdsprache oftmals abhält. Auch für die Schüler, die in der 9. und 11. Jahrgangsstufe noch weitere Fremdsprachen hinzuwählen, ist der Lateinunterricht ab der 5. Klasse als Alternative zum modernen Fremdsprachenunterricht kontraproduktiv, da er die Lernzeit okkupiert, die für einen aktiven Spracherwerb besonders günstig ist (Christ 1991: 134). Die Position des Lateinischen im deutschen Schulwesen hat zudem Konsequenzen für die Förderung des Deutschen im Ausland und die bilateralen Beziehungen zu Partnerländern, die verständlicherweise nicht bereit sind, die deutsche Sprache in ihrem Land zu fördern, wenn in Deutschland der Lateinunterricht die „Elite" davon abhält, ihre Sprache zu lernen. 5. Der Ausweg aus der „Sackgasse der babylonischen Sprachenverwirrung" (Christ 1991: 40) Als Lösung für das „Kommunikationsproblem" der Europäischen Union werden verschiedene Modelle vorgeschlagen (vgl. Bausch 1989: 35 f): 1. Das Leitsprachenmodell, das die historisch gewachsene lingua franca Englisch als offizielle Leitsprache vorschlägt. Hier werden vor allem ökonomische Argumente wirksam, da die Kostensowie Lernanstrengungen aufgrund der weiten Dispersion des Englischen relativ gering gehalten werden können. Die Etablierung einer einzigen alle einenden Fremdsprache widerspricht jedoch der anthropologisch angelegten Fähigkeit des Menschen zur Mehrsprachigkeit und bedeutet eine Reduzierung des menschlichen Sprachvermögens (Bausch 1989: 36). 2. Das Modell der gesteuerten Diversifikation, in dem alle Sprachen als gleichwertig anerkannt werden. Hier wird eine Regionalisierung der zu erlernenden Fremdsprachen vorgeschlagen, bei der entsprechend der Nachbarländer in Süddeutschland Französisch und Tschechisch, in Brandenburg Polnisch, in Schleswig-Holstein Dänisch und in NRW .Niederländischdominieren würde. Dieses Modell ist jedoch in finanzieller und schulorganisatorischer Hinsicht kaum realisierbar. 3. Das Modell der rezeptiven Mehrsprachigkeit schlägt vor, Hör- und Leseverstehen in mehreren Fremdsprachen auszubilden, wodurch die Verständigungsmöglichkeiten potenziert würden. Hier würden sich bei der internationalen Kommunikation beide Partner in ihrer jeweiligen Muttersprache artikulieren. Das Modell läuft also auf einen zweisprachigen Ablauf des Kommunikationsprozesses hinaus, der nicht ganz unproblematisch ist und auch erst erlernt werden muss. Auch scheitert es an der einfachen Tatsache, dass der Lerner einer Fremdsprache auch an der aktiven Sprachproduktion teilnehmen will. FLllL 29 (2000) 184 Claire-Marie Jeske 4. Das Interlingua- oder Plansprachenmodell, das die Übernahme eines künstlich konstruierten Kommunikationssystems als offizielle Verkehrssprache aller europäischen Sprachgemeinschaften fordert. Dieses Modell schlägt das im 19. Jahrhundert entwickelte Esperanto als Sprache der internationalen Kommunikation mit dem Argument seiner leichten Erlernbarkeit vor. Genauso wie beim 5. Lateinmodell ist jedoch hier eine Identifikation mit der fremden Sprache nicht möglich, da eine Verbindung von Weltwissen und Sprachkönnen beim Erlernen einer künstlichen bzw. "toten" Sprache nicht (mehr) gegeben ist. ► Bewertung der Modelle und Vorstellung eines Alternativkonzepts: Die Modelle 1, 4, und 5 sind Leitsprachenmodelle und widersprechen somit dem Prinzip der Mehrsprachigkeit eines egalitären Europas. Zwar ist die Einführung einer Leitsprache der ökonomischste Weg, da großräumige einsprachige bzw. über eine Leitsprache funktionierende Märkte immer einen Kostenvorteil bieten, jedoch geht mit der Etablierung einer solchen die sprachliche und damit auch die kulturelle Vielfalt Europas verloren: Die Einführung einer Leitsprache führt zu einem Funktionsverlust aller anderen Sprachen, deren Kommunikationsradius sich einschränken würde, was eine Reduktion des mit der Sprache verbundenen Weltwissens implizieren und durch die sprachliche Selbstaufgabe vieler Individuen auch zu einem Verlust persönlicher und kultureller Identität führen würde. Die Etablierung des Englischen als offizielle Leitsprache der Europäischen Union führt zudem zu einer Art Zweiklassengesellschaft, separiert sie doch die Bürger in englische Muttersprachler, die problemlos mit ihrer Nationalsprache an der internationalen Kommunikation teilnehmen können und nicht anglophone native speaker, die sämtliche Lernanstrengungen und Kommunikationsleistungen alleine übernehmen und sich mit potentiellen Kommunikationshemmungen und der Inferiorität im Sprachkontakt abfinden müssen. Der Keim für einen Sprachenstreit ist damit angelegt. Die Einführung des Englischen als offizielle Leitsprache Europas hätte jedoch auch negative Konsequenzen für die Sprache selbst, so würde das Englische ·zunehmend eine Tendenz zur Pidginisierung erfahren, da sich der Sprachgebrauch in der internationalen Kommunikation, bei der der korrigierende Eingriff des Muttersprachlers fehlt, unkontrolliert entwickelt und die Kommunikationspartner gleichsam als „zentrifugale Kräfte" (Christ 1980: 60) wirken, die die Ausgangssprache verändern und mehrere Sprachen daraus machen. Das Modell des Lateinischen als Verhandlungs- und Umgangssprache Europas wird außer auf kulturästhetischer Ebene auch mit dem Argument vertreten, das vereinte Europa brauche ein „sprachliches Band" und so sei Latein zweckmäßiger als Englisch, weil es nicht zur Vorherrschaft eines bestimmten Kulturkreises führe und als Esperanto, das als „Sprache aus der Retorte" mit dem historisch gewachsenen Latein nicht zu vergleichen sei (vgl. Vossen 1992: 193). Die Vertreter dieses Modells versichern, dass die „Muttersprache Europas" jeder modernen Thematik gewachsen sei, wobei sie sich hierbei auf den consilium verbis latinis novandis berufen, einen Zusammenschluss von Beamten des Vatikans und anderen Gelehrten, der sich damit beschäftigt, den aktuellen Wortbestand aller Sprachen in das Lateinische umzusetzen und somit die Schallplatte in eine discus sonans verwandelt (was macht er mit der FLIIL 29 (2000) Europäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeiten und Grenzen 185 CD, der CD-Rom oder der Diskette? ! ), den Striptease in die devestitio und die Dauerwellen in capilli undulati ... Diese Wortneubildungen bzw. neuen Wortzusammensetzungen scheinen mir nicht weniger gekünstelt als die des Esperanto und die bei Einführung des Lateinischen als Leitsprache mit Sicherheit entstehende - Diskussion um das adäquateste Wort für jede neue Erfindung der Modeme wäre bestimmt nicht weniger zeit- und kostenaufwendig als in ein mehrsprachiges Europa zu investieren. Auch die Bestrebungen Weebers, Latein als Gegengewicht zum Fernsehwahn und des daraus resultierenden Konzentrationsmangels und der Reizüberflutung unserer Zeit, ja sogar als „Korrektiv gegenüber den [... ]Entmündigungstendenzen [der Medien]" (Weeber 1998: 145) einsetzen zu wollen, scheinen mir so anachronistisch und weit hergeholt, dass ich sie als Argumente weder für die Einführung des Lateinischen als langue vehiculaire noch für die notwendige Unterrichtung dieses Faches zu Beginn der Sekundarstufe I gelten lassen kann. Ebenso unzweckmäßig ist die Einführung der Kunstsprache Esperanto. Abgesehen davon, dass ihr die Nähe zu einer Bezugskultur noch mehr fehlt als dem Lateinischen und somit die Interdependenz von Sprache, sozialer Identität und Kultur und die Funktion von Sprache als Bewahrerin von Identität und Kultur ihrer Sprachgemeinschaften übersehen wird, ist auch das Esperanto nicht ganz frei von sprachlich-imperialistischen Tendenzen, da es ausschließlich aus europäischen und hierunter vornehmlich aus den romanischen Sprachen entwickelt wurde. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die Einführung einer Leitsprache sei es Englisch, Latein oder Esperanto als offizielle Sprache Europas abzulehnen. Da jedoch die Modelle 2 und 3 hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit und des anthropologischen Bedürfnisses des Menschen zur Sprachproduktion ebenfalls als problematisch anzusehen sind, möchte ich ein sechstes Modell als die mir am plausibelsten erscheinende Alternative vorstellen: 6. Das Modell der umgekehrten Spachenfolge (vgl. Bausch 1992: 22): Dieses Modell nimmt Englisch als Eingangsfremdsprache aus dem Lehrplan, setzt es aber als obligatorische zweite Schulfremdsprache voraus. Hiermit ist die besondere Rolle des Englischen als historisch gewachsene lingua franca respektiert und ihre Position als Weltsprache gefestigt. Die erste Fremdsprache kann sich der Lerner beliebig aussuchen, wobei das Fremdsprachenspektrum einerjeden weiterführenden Schule so flexibel und variabel wie möglich gestaltet sein sollte. Dies hat den Vorteil, dass weniger begabte oder motivierte Schüler sich die Eingangsfremdsprache nach ihren Bedürfnissen und Interessen auswählen können. Auch die lernpsychologisch positiv zu bewertende Klischeevorstellung: „Als zweites lerne ich eine leichtere Sprache", wirdwenn auch der Schwierigkeitsgrad einer Sprache objektiv nicht messbar istfür viele Schüler sicherlich eine motivierende Rolle spielen. Zudem ist die englische Sprache in allen Bereichen des Alltagslebens und in der gesamten Medienwelt so stark vertreten man bedenke allein die jugendlichen Subkulturen, die nur allzu oft aus dem anglophonen Sprachraum entspringen und alle Arten von englischsprachiger Popmusik-, dass sie die Schüler ohnehin schon „lernwirksam umgibt" (Piepho 1989: 42) und sie motiviert sind, diese auch in der lempsychologisch gesehen schwierigeren Phase der Präpubertät zu erlernen. Umgekehrt istjedoch die Motivation zum Erlernen einer weiteren Fremdsprache viel geringer, wenn ein Schüler die seiner Vorstellung nach „alle Türen öffnende" lingua franca schon gelernt hat. FLIIL 29 (2000) 186 Claire-Marie Jeske Eine Diversifizierung der Fremdsprachen allein auf der Basis der 2. oder 3. Fremdsprache ist zudem unzweckmäßig, da sie eine viel geringere Schülerpopulation erreicht. So verlegt dieses Modell auch den Lateinunterricht in die gymnasiale Oberstufe, um die modernen Fremdsprachen aus der Vormundschaft der alten Sprachen zu emanzipieren. Für diese zeitliche Verschiebung des Lateinunterrichts spricht außerdem, dass die beim Umgang mit lateinischen Texten geforderten analytischen Fähigkeiten und das logische und kombinatorische Denken beim älteren Lerner weiter ausgebildet sind und dass auch seine Motivation für das Lernen einer alten Sprache aus seinem geschichtlichen, germanistischen oder allgemein linguistischen Interesse entspringen kann, während sie beim jungen Lerner in der Regel nicht intrinsisch, sondern von „bildungsbewussten" Eltern gesteuert ist. Auch können ältere Schüler aus der Vermittlung literarischer Tradition und europäischer Gelehrsamkeit über den Lateinunterricht größeren Nutzen ziehen und ihre Lateinkenntnisse wären ihnen bei Beginn des Studiums, das diese eventuell voraussetzt, noch gegenwärtiger. Als Alternative für diejenigen, die das Lateinische als Erschließungssprache anderer romanischer Sprachen für wichtig erachten, wäre das Angebot eines Einführungskurses Latein in der Sekundarstufe I im Wahlbereich denkbar, solange es eben nicht als Substitut einer modernen Fremdsprache angeboten wird (Christ 1980: 185). Abgelehnt wird dieses Alternativkonzept vielfach wegen seiner dezidierten Verweisung des Englischen aus der Eingangsklasse zur Sekundarstufe I, sowie auch aus finanzpolitischen und verwaltungstechnischen Erwägungen: diversifizierter Fremdsprachenunterricht ist teuer und stundenplantechnisch schwieriger zu verwirklichen. Die Sprachenvielfalt Europas darf jedoch nicht aus pragmatisch-utilitaristischen Überlegungen beschränkt werden; Sprache darf nicht bloß als austauschbares Kommunikationsmedium, sondern muss in Zusammenhang mit der historischen und kulturellen Identität ihrer jeweiligen Sprachgemeinschaft gesehen werden, um ein konfliktfreies Europa zu gewährleisten. Gegen einen diversifizierten Fremdsprachenunterricht wird zudem oft das Argument einer gemeinsamen Grundbildung für alle geltend gemacht, das jedoch unwirksam wird, wenn man von der Überlegung ausgeht, dass alle eben nicht Gleiches, weil dies in einer so vielfältigen Welt unzweckmäßig ist, wohl aber Gleichwertiges lernen (Christ 1980: 84). 6. Ein Plädoyer für die Mehrsprachigkeit- Möglichkeiten der Organisation einer sprachenteiligen Gesellschaft Aufgrund der zunehmenden Globalisierung der gesamten Ökumene und der internationalen Prägung unserer realen Lebensumwelt müssen die Eröffnung des Zugangs zu fremden Kulturen und zur Möglichkeit der Partizipation am weltweiten Dialog, sowie die Vorbereitung auf interkulturelles Handeln und die Entwicklung einer interkulturellen Sensibilität Hauptziele eines zukunftsorientierten Fremdsprachenunterrichts sein. Die Ausbildung möglichst vieler Mehrsprachiger ist Bedingung für eine egalitäre Sprachenpolitik und damit für den Sprachfrieden, der nur auf der sprachlichen und kulturellen Heterogenität und dem "Respekt vor kultureller, nationaler, ethnischerund individueller Identität" (Christ 1991: 39) basieren kann. So muss Mehrsprachigkeit für alle Bevölkerungsschichten erreichbar sein und zum elementaren Regelbestandteil eines jeden Bildungsganges gemacht werden. lFL111L 29 (2000) Europäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeiten und Grenzen 187 Christ hebt hierzu hervor, dass Mehrsprachigkeit erst mit dem Erwerb einer zweiten Fremdsprache beginnt: Zwar erweitern sich der kulturelle Besitz und die Identifikationsmöglichkeiten und Urteilsschematismen des Individuums schon mit dem Erwerb der ersten Fremdsprache und seine Ego- und Ethnozentrik werden durch das Kennenlernen neuer kultureller Werte und Normen abgebaut, jedoch besteht die Gefahr, dass für ihn die eine erlernte Fremdsprache das Phänomen Fremdsprache schlechthin repräsentiert. Der Sprecher nur einer Fremdsprache beeinflusst zudem den Sprachenhaushalt im Sinne einer hegemonialen Politik, indem er die Sprache mit dem höchsten Verkehrswert lernen wird, um sie in möglichst vielen Bereichen anwenden zu können, wodurch er folglich zur weiteren Amplifikation ihres Verkehrswertes beiträgt. Erst mit der zweiten Fremdsprache ist also das „Tor zur[ ... ] Mehrsprachigkeit" (Christ 1991: 144) geöffnet. Der Mehrsprachige weiß um die Relativität des Sprachbesitzes, ist auf Sprachenausgleich bedacht und somit kooperationsbereiter in der Kommunikation mit Anderssprachigen, wodurch er zur Erhaltung des Sprachfriedens beiträgt. Nur er kann dazu beitragen, dass Sprachenteiligkeit nach dem Prinzip der Arbeitsteilung auch auf dem Gebiet der Sprachbeziehungen erreicht wird: Hierzu muss jeder Sprachkundige lernen, als Sprachmittler, Informant und Sprachlehrer tätig zu werden, indem er seine Sprachenkenntnisse dem Gegenüber helfend anbietet. Tilbert Stegmann schlägt in diesem Sinn ein Modell kommunizierender Gruppen vor, in dem jedes Mitglied einer sozialen Gruppesei es in der Arbeitswelt oder der privaten Welt dem anderen seine Fremdsprachenkenntnisse helfend zur Verfügung stellt, so dass die sprachenteilige Gesellschaft als „Netz freiwilliger Helfer" organisiert würde (Christ 1996: 191). So hätte die Gesamtheit der Bürger eine vielfältige Fremdsprachenkompetenz, wobei komplexere Kommunikationssituationen natürlich weiterhin von Sprachspezialisten übernommen werden müssten. Auch sollten anderssprachige Mitbürger ermutigt werden, bei der interkulturellen Kommunikation Hilfe zu leisten. Dies impliziert natürlich, dass den Betreffenden neben der Möglichkeit zum Erlernen der Gastsprache die Möglichkeit gegeben werden muss, ihre Herkunftssprache zu pflegen, was sich zudem positiv auf das Zusammenleben der Bürger innerhalb der Gesellschaft auswirken und die Ghettoisierung verschiedener Sprachgruppen vermindern würde. Die neuen Minderheiten könnten zudem zur Integration der nichteuropäischen Sprachen in das europäische Sprachnetz beitragen, wodurch auch die Realität multikulturell zusammengesetzter Klassenverbände als positives Moment betrachtet werden würde. Die Herkunftssprachen der ausländischen Schüler sollten dazu in den offiziellen Fremdsprachenkanon der Schulen einbezogen und den deutschen Schülern sollte die Möglichkeit gegeben werden, am muttersprachlichen Ergänzungsunterricht teilzunehmen, wie dies an einigen Grundschulen in NRW schon Realität ist (KMK 1994: 61). Einen Impuls zur Neuorientierung des Fremdsprachenunterrichts bieten auch die Europaschulen, die ursprünglich für Kinder der Beschäftigten der EG-Behörden eingerichtet wurden. Hier werden die Schüler in ihrer jeweiligen Muttersprache unterrichtet und müssen drei Fremdsprachen aus dem Kanon der offiziellen EU-Sprachen lernen, wodurch sie die Studienberechtigung in allen Ländern der Europäischen Union erwerben. zu-kritisieren ist der starke Europa-Zentrismus dieser Schulen, den man aber durch den Einbezug außereuropäischer Fremdsprachen in den Lehrplan überwinden könnte. Das Fremdsprachenangebot j~der Stadt müsste zudem offiziell dargestellt werden, damit IFLIIL 29 (2000) 188 Claire-Marie Jeske sich Eltern und Schüler über ihre Fremdsprachenlernmöglichkeiten informieren können. Auch sollten zur Umsetzung eines diversifizierten Fremdsprachenunterrichts Überlegungen hinsichtlich der Organisation eines Verbundssystems fremdsprachenvermittelnder Institutionen angestellt werden (Christ 1991: 119), um das Angebot über das in der Schule offerierte Fremdsprachenspektrum hinaus zu erweitern und die Schule teilweise zu entlasten. Zusätzlich zur Erweiterung des Fremdsprachenkanons, der sich am realen Fremdsprachen- und Kommunikationsbedarf ausrichten muss, müssen auch die Unterrichtsziele und -inhalte des Fremdsprachenunterrichts neu überdacht werden: So könnte Landeskunde kontrastiv unterrichtet werden, um kulturelle Vergleiche zu ermöglichen und das Verständnis für das Fremde zu fördern und auf eventuelle interkulturelle Probleme aufmerksam zu machen. Die kulturspezifische Dimension einer Sprache muss besonders hervorgehoben werden, der Fremdsprachenunterricht muss interkulturelle Kompetenz im Sinne von Empathie fördern und so die volle Breite der fremden Lebenswirklichkeiten mit einschließen. Da eine sprachenteilige Gesellschaft einen lebenslangen Lernprozess des Individuums erfordert, muss der Unterricht in der ersten Fremdsprache auch Fremdsprachenlernstrategien vermitteln und die Schule muss sich ihrer Rolle als Initiatorin eines lebenslangen Fremdsprachenlernprozesses bewusst werden, was bedeutet, dass sie zum Fremdsprachenlernen motivieren muss und keine Aversionen schaffen darf. Hierzu muss auch das schulische Bewertungssystem für den fremdsprachlichen Unterricht neu überdacht werden; Fremdsprachenunterricht darf keinesfalls Selektionsmedium sein, Leistungsbewertung darf nicht vom Fremdsprachenlernen abhalten, gleichzeitig sollten aber Leistungen nachweisbarer gemacht werden, was angesichts eines diversifizierten Fremdsprachenangebots und einer Vergleichbarkeit der Fremdsprachenkenntnisse im internationalen Kontext vonnöten ist. Die Kultusministerkonferenz schlägt hierzu eine Strukturierung des Fremdsprachenunterrichts in Lehrgänge vor, die in sich geschlossene Einheiten bilden und unterschiedliche, aber klar definierte Lernziele haben (KMK 1994: 63), wobei am Ende der schulischen Ausbildung das individuelle Fremdsprachenprofil eines jeden Schülers dokumentiert werden soll (KMK 1994: 76). Das Erreichen einer near nativeness ist angesichts eines Mehrsprachigkeitsprofils illusorisch, daher müssen für die verschiedenen Sprachen realistischere Ziele im Sinne eines gestuften Kontinuums von maximaler bis hin zu minimalistischer Sprachkompetenz gesteckt werden, wobei auch Kurzkurse mit Teillernzielen angeboten werden sollten, so dass der Lerner „unterschiedlich ausgebaute Interimssprachen" (Bausch 1989: 38) besitzt, in denen er seine Kompetenz individuell erweitern kann. Auch sollte der Unterricht in modernen Fremdsprachen an Gymnasien bis zur Hochschulreife hin und das Erlernen einer zweiten Fremdsprache in Real-, Haupt- und Gesamtschulen obligatorisch werden. Zudem ist an einen vorgezogenen Beginn der 2. und 3. Fremdsprache zu denken, der auch mit dem Beginn des Fremdsprachenlernens in der Grundschule korrelieren könnte, um schon möglichst früh eine positive Disposition zum Fremdsprachenlernen und ein Bewusstsein von der multikulturellen Welt und der Bedeutung der Sprache zu schaffen. Ist das Modell der rezeptiven Mehrsprachigkeit in seiner reinen Form meiner Meinung nach abzulehnen, sollte die Schulung rezeptiver Fähigkeiten aber in den Fremdsprachenunterricht mit einbezogen werden, so könnte man z.B. in den fortgeschrittenen FranzölF! LunL 29 (2000) Europäische Mehrsprachigkeit - Möglichkeiten und Grenzen 189 sischunterricht auch spanische, italienische und portugiesische Texte einbringen und so den Schülern die breite Anwendbarkeit ihrer Fremdsprachenkenntnisse und ihre eigenen Möglichkeiten, diese über das in der Schule Gelehrte hinaus zu erweitern, deutlich machen. Anwendungs- und Handlungsorientierung müssen einen der Mittelpunkte des Fremdsprachenunterrichts bilden, so sollte fremdsprachlicher Sachunterricht wie er in den Bilingualen Bildungsgängen, deren weitere Verbreitung ohnehin wünschenswert ist, durchgeführt wird, vermehrt auch an anderen Schulen stattfinden: Wissenschaft lebt vom internationalen Austausch und Forschung wird nicht nur im eigenen Land betrieben dieser Tatsachen sollten die Schüler sich schon möglichst früh bewusst werden. Außerdem müssen möglichst vielfältige sprachliche Erfahrungen im Umgang mit Muttersprachlern der Zielsprache ermöglicht werden. Hierzu müssen sämtliche Begegnungsprograrnme erweitert, die aktive Nachbarschaft mit den Grenzländern gepflegt und die außerschulische sprachliche Betätigung gefördert werden, indem kulturelle Einrichtungen innerhalb Deutschlands und fremdsprachige Medienangebote frequentiert und in den Fremdsprachenunterricht mit einbezogen - oder zumindest dort publik gemacht werden. Dies alles sind Anregungen, die zunächst probeweise durchgeführt und eventuell entsprechend modifiziert werden müssten. Die Beispiele von Belgien, Luxemburg und der Schweiz zeigen jedoch, dass Mehrsprachigkeit unter den Bürgern einer Gemeinschaft möglich ist, es fehlt also nur an Initiativen, diese auch im gesamt-europäischen Rahmen umzusetzen. Literatur BAUSCH, Karl-Richard/ CHRIST, Herbert/ KRUMM, Hans-Jürgen (31995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Francke. BAUSCH, Karl-Richard (1992): "Sprachenpolitisches Plädoyer für eine begründete Differenzierung von Mehrsprachigkeitsprofilen". 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