Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2001
301
Gnutzmann Küster SchrammKleine Lehre des imparfait
121
2001
Franz Josef Hausmann
flul3010215
Nicht-thematischer Teil 1 Franz Josef Hausmann• Kleine Lehre des imparfait Abstract. This paper gives a detailed account of the use of French imparf ait. lt is written from a hearer/ reader perspective. The approach emphasizes aspect. Nearly thirty typical contexts (called scenarios) are under examination. The underlying assumption is that all these scenarios are more or less related to the fundamental value of imparfait which is "passed permanence". As such imparfait is considered to be a sort of mimimum manifestation opposed to the maximum manifestation called event. French imparf ait offers a great variety of meanings on the basis of extreme morphological economy, such contributing to what we may call the "austerity" of the French language. 1. Unvollendete Sehweise im Deutschen und Englischen "Ich war gerade ( = zu einem bestimmten Zeitpunkt) beim Kartoffelschälen". Die Grammatiker sprechen angesichts solcher Konstruktionen von „Verlaufsform". Diese lässt den Vorgang zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne zeitliche Begrenzung erscheinen. Der Sprecher stellt den Vorgang nicht als von außen gesehenes kompaktes Ereignis dar "Gestern habe ich eine Stunde lang Kartoffeln geschält"), sondern er versetzt sich in den Vorgang hinein, dessen Anfang und Ende im Moment nicht von Interesse sind. Die Verlaufsform ist Folge der unvollendeten Sehweise, denn Vorgänge können vollendet "Ich habe die Tür zugemacht") oder unvollendet "Gerade war ich dabei, die Tür zuzumachen, ...") gesehen werden. Da letztere von einer Zeitpunktsetzung abhängig ist, könnte man sie auch Zeitpunktsehweise nennen. Das englische Progressivum auf -ing ist eine solche Zeitpunktsehweise ("The train was leaving the station when I arrived"). Das französische Vergangenheitstempus der unvollendeten Sehweise ist das Imparfait (Comme jefermais la porte, un chat a bondi sur moi). Der grammatische Terminus für „Sehweise" ist Aspekt. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Franz Josef HAUSMANN, Univ.-Prof., Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Angewandte Sprachwissenschaft, Glückstrasse 5, 91054 ERLANGEN. E-mail: fzhausma@linguistik.uni-erlangen.de Arbeitsbereiche: Linguistische Französistik, Wörterbuchforschung. lFL111L 30 (2001) 216 Franz Josef Hausmann 2. Vergangenheit, Permanenz und Innensicht Das lmparfait ist das Tempus des vergangenen Zustands oder Vorgangs, der gleichzeitig aus der Gegenwart des Sprechers und von innen heraus, zu einem bestimmten Zeitpunkt unvollendet, andauernd gesehen wird. Es ist lateinisches Erbe und als solches auch im Italienischen, Spanischen und Portugiesischen wirksam. Zustand ist die Dauer des Undynamischen, Vorgang ist die Dauer des Dynamischen. Unabgeschlossen ist die Dauer, wenn ihre rechte und linke Begrenzung (Ende und Anfang) nicht gesetzt werden. (Je demenageais = Ich war mitten im Umzug). Bei rechter Begrenzung muss ein anderes Tempus gewählt werden (J' ai danse jusqu' a quatre heures). Auch bei der Setzung des Anfangs muss ein anderes Tempus gewählt werden (J' ai eu peur a partir du moment ou il m' a dit ... = Von dem Moment an bekam ich Angst). Mit depuis ist das Imparfait kompatibel (Je dansais depuis minuit), weil diese Nennung des Anfangs keinen Einfluß nimmt auf die Tatsache des Verlaufs zu einem späteren Zeitpunkt (z.B. a deux heures du matin). Wenn das lmparfait etwas als bereits angefangen darstellt, so geht dem die Anfangssetzung mit Hilfe anderer Tempora oder infiniter Verbformen voraus oder wird ungenannt vorausgesetzt. Die unabgeschlossene Dauer (von Zustand oder Vorgang) braucht einen Terminus; wir wollen sie Permanenz nennen. Das Imparfait ist das Tempus der vergangenen Permanenz. Das Imparfait hat zwei Bezugspunkte gleichzeitig. Einerseits bleibt der Sprecher in der Gegenwart, aus der heraus er spricht. Andererseits versetzt er sich zurück in das vergangene Geschehen, in den Handlungsablauf hinein. Sprecher und Hörer sind gleichsam dabei. Dieses Dabei-Sein nennen die Grammatiker Innensicht. Wer drinnen ist, hat wie in einem Wald keinen Überblick über das Ganze. Innensicht ist nicht global sondern partiell (Je demenageais = Ich war mitten im Durcheinander). Diese partielle Sehweise zu einem bestimmten Zeitpunkt ist verglichen worden mit einer horizontalen Linie (Zustands-, Verlaufslinie), die von einer Zeitpunktsekante geschnitten wird (französ. aspect secant): Hier, a la meme heure,je demenageais. Mit diesem Satz wird mitgeteilt, was der Sprecher zu einem bestimmten Zeitpunkt tat. Soll mitgeteilt werden, dass der Umzug zum Abschluss kam, ist das Imparfait ungeeignet (Hier, j' ai demenage). Die Bindung an Zeitpunkte macht verständlich, warum das Imparfait in der modernen Schriftsprache (Presse, Literatur) einen so breiten Raum einnimmt. Es bietet sich an, sobald ein Zeitpunkt explizit genannt ist oder aus dem Kontext hervorgeht. 3. Die Semantik (Aktionsart) der Verben Ihrer Semantik nach sind Zustandsverben, Handlungsverben und Ereignisverben zu unterscheiden. Zustandsverben wie savoir, avoir peur, etre riche, se douter de qch., s' abstenir de (fumer), eviter de (repondre), dependre de qch., se nommer (Jean), loger (a l' hotel) erkennt man daran, dass sie sich nicht mit der Verlaufsperiphrase etre en train de (faire) verbinden, weil der Zustand keinen Verlauf hat. Die Verbindung von Zustandsverb und Imparfait ist banal. lFJLwL 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 217 Verben wie danser, marcher, travailler, evoluer bezeichnen Handlungen oder Vorgänge, die keinem natürlichen Abschluss zustreben. Ihre Bedeutung ist dynamisch, ihre Dauer von Natur aus unabgeschlossen. Handlungsverben sind, wie die Zustandsverben, Permanenzverben. Die Verbindung von Permanenzlexem und Permanenzmorphem Imparfait ist banal. Den Permanenzverben gegenüber stehen Verben, deren Aktionsart auf Zustandsveränderung hinstrebt Solche sog. verbes transitionnels sind etwa naftre, mourir, entrer, sortir, arriver,partir,fermer, ouvrir, cammencer, terminer,finir, se marier. Sie beinhalten die Bewegung auf ein Ziel (deshalb auch telische, perfektive oder terminative Verben), d.h. den neuen, anderen Zustand, dessen Eintreten ihre Aktion beendet. Den Übergang von einem Zustand zu einem anderen neuen Zustand, das Eintreten, den Beginn eines neuen Zustands, nennen wir Ereignis. Verben wie naftre, tuer oder intervenir sind Ereignisverben. Sie verbinden sich auf natürliche Weise mit Ereignistempora, d.h. solchen, die Abgeschlossenheit der Zustandsveränderung ausdrücken: / l l' a tuee, Il la tua. Allerdings darf man sich die Aktionsart nicht starr vorstellen. Unter dem Druck von Tempusmorphem und Kontext ist die Bedeutung des Verbs verformbar. Mit Passe simple bedeutet savoir „erfahren"; im entsprechenden Kotext bedeutet se taire nicht „schweigen" sondern „verstummen". Auch Ereignisverben lassen sich vom Imparfait, wenn der Kontext es zulässt, ins Permanente zerdehnen: Il ouvrait la porte (; " die Tür war noch nicht ganz offen), lorsque ... Eine gewisse begrenzte Aspektfreiheit erlaubt dem Sprecher, das Konzept „Tür öffnen" als Ereignis oder als Permanenz zu formulieren. 4. Das Imparfait als minimale Manifestation Der Oberbegriff zu Permanenz und Ereignis sei Manifestation. Zustand und Verlauf (Situationen) sind gegenüber dem Ereignis minimale Manifestationen, Ereignisse sind maximale Manifestationen. Anders gesagt: Ereignisse sind mächtiger als Situationen. Das erklärt, warum das Imparfait allein keine Zeitsetzungen vornehmen kann es ist nicht autonom sondern von einer Zeitsetzung (einem zeitlichen Orientierungspunkt, französ. repere temporel) abhängt. Das Imparfait steht im Dienste von Setzungen (im Passe simple, Passe compose, im Präsens, usw. oder mit anderen Mitteln), die es zeitlich oder logisch umgibt und zu denen es in einer charakteristischen Beziehung steht, die vom Hörer/ Leser dem Kontext entsprechend interpretiert wird. Auch wenn es durch die Permanenz hindurch, die es bedeutet, offensichtlich abgeschlossene Ereignisse bezeichnet, bleibt der Abhängigkeitscharakter bestehen. Die Ereignisse, die es bezeichnet, werden damit in irgend einer Weise als Unterereignisse gewertet. Das Imparfait ist das Tempus des vergangenen Nicht-Ereignisses und des vergangenen Unter-Ereignisses. FlLILIL 30 (2001) 218 Franz Josef Hausmann 5. Forschungssituation und Szenarienbeschreibung Die aspektuelle Erklärung des Imparfait als eines Permanenztempus ist die älteste und verbreitetste. Es gibt zu ihr keine Alternative. Gelegentliche Polemiken gegen sie beruhen auf Missverständnissen. So darf man dem Imparfait z.B. nicht einfach das Merkmal der Dauer (statt Permanenz) zuschreiben, sonst wundert man sich über den Satz La guerre dura cent ans und darüber, dass das Verb durer sogar meist mit Ereignistempora verknüpft wird, weil es darum geht, einen Zeitraum zu bestimmen (dura dix ans, dura de ... g ... ). Andererseits ist die Polemik gegen die Aspektlehre (wie auch jeder weitere nicht unmittelbar an die Aspektlehre geknüpfte Versuch der Erklärung des Imparfait) verständlich, weil unter den zahlreichen Gebrauchsweisen des Imparfait viele nicht auf Anhieb als aspektuell erklärbar erscheinen. Hier eben liegt die Herausforderung: alle bekannten Verwendungen des Imparfait aus der aspektuellen Grundbedeutung „vergangene Permanenz" abzuleiten. Dazu ist es nötig, die verschiedenen Szenarien vorzuführen, in denen sich die Bedeutung des Imparfait entfaltet. Szenario heißt hier die Einheit von Verb, Ko-Text und Kontext (samt Weltwissen), vor allem aber die ko-textuelle oder kontextuelle Einheit von Imparfaitverb und zeitsetzendem Element (repere temporel). Das zeitsetzende Element, von dem das Imparfait abhängig ist, kann man auch seine Basis nennen. Syntaktisch gesehen kann das Imparfait der Basis voraufgehen: Je lisais. On sonne, oder der Basis folgen: « Jen' ai pas peur ». Il mentait. Die im folgenden vorgenommene Trennung und Typologisierung der Szenarien ist künstlich und Folge linguistischer Konstruktion. In der Wirklichkeit der Sprache gehen die Szenarien ineinander über. Manchmal überlagern sie sich auch, d.h. ein und derselbe Kontext gehorcht den Kriterien mehrerer Szenarien. Dennoch muss die Szenarienbeschreibung sein. Es gibt keine andere didaktische Möglichkeit, dem Fremdsprachler das Gesamt des Imparfait-Gebrauchs in seiner kognitiven Einheit wirksam vorzustellen. Der Muttersprachenerwerb geht nicht anders vor sich als durch die progressive Assimilation von Szenarien, d.h. relevanten Kontexten. An der Sichtung der Kontexte führt schon in der Lexikologie, erst recht aber in der Morphologie, wenn die Morpheme semantisiert werden sollen, kein Weg vorbei. Abstrakte Definitionen des Imparfait vom Typ „Nicht-Aktualität", "Simultaneität", "Hintergrund", „Topikalisierung", "Anaphorik", "Durativität", "Imperfektivität", sind alle richtig; keine führt aber zur angemessenen Interpretation aller Verwendungsweisen und schon gar nicht zum angemessenen Einsatz in der Textproduktion. 6. Stativierung und Gewohnheit Das Stativierungsszenario überführt Vorgangsverben/ Ereignisverben wie tomber und emerger in Zustandsverben: Un rayon de so/ eil tombait par lafenetre, Son cou emergeait de sa pelerine, da der Kontext eine andere Interpretation als die zuständliche verhindert. Man beachte, dass das Merkmal der Plötzlichkeit mit dem Zustand sehr wohl vereinbar lFLIIL 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 219 ist: Soudain,j' etais riche, Je comprenais soudain que ... (= Plötzlich war mir klar, dass ich ...). Gewohnheit manifestiert sich als Permanenz, als entwicklungslose Abfolge immer gleicher Ereignisse, vorausgesetzt, die Wiederholung ist unabgeschlossen: Autrefois, je sortais / souvent / quelquefois / regulierement / trois Jois par semaine. Eine fest umrissene Zahl von Wiederholungen ist keine Permanenz: ll m' a menti trois Jois/ plusieurs Jois/ a plusieurs reprises / tous ! es jours sauf un / longtemps. 7. Die Verlaufsszenarien Beim Verlaufsszenario versetzt sich der Sprecher in das Ereignis hinein und erlebt es noch einmal mit. Dazu muss es absolut oder relativ datiert sein. Es ist dann, auch mündlich, völlig natürlich (J' arrivais = Ich kam gerade an). Überraschend ist das häufige Imparfait des Anfang setzenden Verbs commencer, das man als allmähliches, unmerkliches Einsetzen erklären muss (Ne commem; ; ait-il pas a se repeter un peu ? =Finger nicht langsam an, irgendwie immer wieder dasselbe zu sagen? ). Entsprechend selten steht neben commenr; ; ait das Adverb lentement, da das Imparfait bereits 'lentement' bedeutet. Das expliziteste der Verlaufsszenarien ist das sog. Inzidenzschema. Handlungs- oder Ereignisverben werden zur Permanenz zerdehnt, in die ein Ereignis hineinplatzt: Je sortais de ma baignoire. Tout a coup une explosion. Es ist allerdings nicht ratsam, dem Inzidenzakt (als Sekante) eine Geschehensbasis im Imparfait gegenüberzustellen, denn in Wahrheit ist ja das Inzidenzgeschehen das autonome Ereignis (Basis), auf das hin das Imparfait gewählt wurde. Die Inzidenz lässt sich auch als partielle Simultaneität interpretieren, namentlich wenn sie durch die Konjunktionen comme, tandis que,pendant que, au moment ou, a l'instant ou markiert ist: comme ils sortaient, voila qu' on lui presenta ... Neben der partiellen Simultaneität steht die kontinuierliche, die mit identischen Tempora ausgedrückt wird: Comme je raccrochais le recepteur, mon valet de chambre introduisait Jean Queyris (Mauriac). Dieses eigentliche Simultaneitätsszenario (z.B. auch mit amesure que) ist vom Inzidenzszenario geschieden. Man beachte, dass das Imparfait durch Ereignistempora ersetzt werden muss, wenn Begrenzung formuliert ist: Et tout le temps qu' il fut dans sa chambre, eile ne cessa de le suivre des yeux. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Simultaneitätsszenario, wenn es, wie in der Literatur, ohne weitere Gleichzeitigkeitssignale eingesetzt wird. Das einzige Signal für Simultaneität ist dann das Imparfaitmorphem: « Vous devriezfaire une sieste ». Et eile me designait un grand matelas pneumatique. (Modiano). Das Imparfait bedeutet die Gleichzeitigkeit von Sagen und Zeigen "und dabei zeigte sie auf ..."). Der Anfang des Zeigens ist somit bereits durch die wörtliche Rede gesetzt. Das Erinnerungsszenario (mit genauer Zeitangabe) inszeniert die Rückversetzung in ein vergangenes Geschehen, das noch einmal in der Phantasie miterlebt wird: lt y a un an, jour pour jour, a la meme heure, je me mariais / je quittais ma femme (= sehe ich mich noch, wie ich gerade ...). Das ist etwas ganz anderes als die Antwort auf die Frage: lFLllL 30 (2001) 220 Franz Josef Hausmann Wann hast Du geheiratet? Bist Du verheiratet? , die mit Passe compose gegeben würde: Je me suis marie il y a un an. Statt dieser trockenen Information verweilt das Permanenztempus gefühlsbetont bei dem erlebten Augenblick. Auch und gerade mündlich zerdehnt dieses Szenario jedes Ereignisverb zur Permanenz. Die Wirkung wird mit „Zeitlupe" und „Fokussierung" beschrieben. Das Erinnerungsszenario ist ein Schlüsselszenario, von dem sich mancherlei Brücken schlagen lassen zu anderen unten beschriebenen Szenarien. Das Gedenkszenario überträgt das Tempus der persönlichen Erinnerung auf die Textsorte des Gedenktextes, d.h. der öffentlichen kollektiven Erinnerung: Il y a trente ans, de Gaulle devenait president de la Republique (Le Monde 21.12.1988, Überschrift). Ebenso als Gedenkanzeige: Il y a vingt ans, N. nous quittait (Le Monde 27.8.2000). Muller (1966: 265) spricht vom Imparfait des anniversaires (« devenu a peu pres inevitable dans les titres [des journaux] » ), Vigneron (1999: 38) nicht zu Unrecht vom Imparf ait commemoratif. Im Falle des il y a-Szenarios ist übrigens das Passe simple selten und Salins (1996: 142) behauptet sogar die Unvereinbarkeit von il y a und Passe simple, weil il y a zum Hie et Nunc des Sprechers gehört, von dem das Passe simple strikt getrennt ist. In der Tat kommt naquit in Zeitungsüberschriften vor allem in undatierten Kontexten vor (Quand l'Europe naquit. / Comment la vie naquit des catastrophes naturelles) und der typische Kontext von mourut ist die sachliche Information: / l / eile mourut a l' age de x ans. Auch das Gedenkszenario antwortet nicht auf die Frage „Wann? " oder „ob überhaupt", es antwortet auf gar keine Frage. Es will nicht informieren, sondern erinnern. Der Aspekt des Verlaufs kommt hier nicht zur Entfaltung, was sich in der Skripturalität des Szenarios niederschlägt. Aber der Aspekt hat seine Spuren hinterlassen in Form des Bedeutungsvollen, eventuell Dramatischen, das dem Gedenkereignis innewohnt. Zweifellos kann man das Sagen, Erzählen von Etwas als Ereignis formulieren (Je me suis dit : .... oder Vous avez dit : ...) und manchmal muss man es sogar: Vous avez dit oui oder bei linearer Abfolge des Typs: Zuerst sagte er dies, dann folgendes, schließlich jenes. Aber auffällig oft steht das Verbum dicendi im Imparfait und dies seit dem Lateinischen: Je lui en parlais encore ce matinl Nathalie racontait (l' autre Jour) que ... / Vous savez que M. Dupont a telephone ? - Oui, Regine le disait I Je pensais ce matin a notre ancien voisin. Il nous a quand meme beaucoup aides. Die Erklärung für dieses disait- Szenario liegt in der Permanenz des Sagens und Erzählens. Wer ein Redeeinleitungsverb benutzt, überschaut im Moment der Tempuswahl nicht global das gesamte Zitat mit Ende und Begrenzung nach rechts und er will auch nicht den Anfang des Sprechakts markieren, sondern er versetzt sich erst einmal zurück in den Moment des Sagens und entwickelt dann das Gesagte. Der Effekt ist der von „Nathalie war neulich am Erzählen, dass ...", was freilich im Deutschen nicht üblich ist, was aber plausibel machen kann, dass es hier um Erinnerung geht, um Evokation von Vergangenem und nicht um lineare Ereignisabfolge als Antwort auf eine gezielte Frage. Ähnlich sagt man im Englischen: Your brother was telling me yesterday ... (Biber 2000: 1120 f) . Das disait-Szenario hat etliche Unterszenarien, die hier nicht behandelt werden können, z.B. Vous disiez que ... (= Sie sagten soeben, dass ... [mit weicher Anrede]) oder lFJLlJ]]L 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 221 Tu disais? (= Was sagtest Du noch gerade (bevor wir unterbrochen wurden)? Oder auch Que ne le disiez-vous ? . Sie sind alle aspektuell transparent. Das lateinische Imperfectum de conatu überlebt im Italienischen als rimasto imperfetto und im Französischen als Presque-Parfait: Je mourais de rire (= Ich hätte mich fast totgelacht). Der Beinahe-Effekt ist leicht aus der Unvollendetheit des Verlaufsaspekts zu rekonstruieren: "Ich war am Sterben vor lachen''; In gleicher Weise müssen die periphrastischen Szenarien Allait-il rencontrer Alain? und Je venais de le rencontrer als Zustand interpretiert werden: War er beim Auf-das- Treffen-Zugehen? Und: Ich war beim Vom-Treffen-Kommen. Folglich sind die Ereignistempora ausgeschlossen. 8. Die Inhaltsszenarien Ein Stativierungsszenario besonderer Art ist die Wiedergabe der Vorgänge auf einem stehenden Bild (Foto, Gemälde): N. vit une photo: Un des policiers assenait un coup de matraque sur la tete d' un Arabe ( = war gerade dabei ...). Das Foto lässt das Ereignis zum Zustand erstarren. Die Handlung wird mitten im Verlauf erfasst. Die Aufnahme erfüllt die Rolle der Sekante. Auch für die Erzählung von Traumgeschehen ist das Imparfait seit dem Altfranzösischen das bevorzugte Mittel: Cette nuit, j' ai reve que j' etais le dompteur J ekill et son lion Hyde. Je rentrais dans la cage aux fauves dans la peau du dompteur et j' en sortais dans celle du lion (R. Devos). Der Effekt des Traumszenarios ist anders als im Fotoszenario. Die einmaligen Ereignisse des Traums erhalten durch das Tempus der minimalen Manifestation eine Art eingeschränkter Gültigkeit und über die Permanenz etwas statisch Visuelles, dabei konturenlos Entgrenztes. Vom Traum ist nur ein Schritt zum Tagtraum, zur Halluzination. Ein moderner Erzähler, der an zahlreichen Stellen seines Romans scheinbar unmotiviert zu Imparfait- Serien von Ereignisverben übergeht, tut dies in Befolgung der zweimal an herausgehobener Stelle angebrachten Einschätzung: Le monde est une hallucination passagere (P. Deville, Lefeu d' artifice, 1992, 9 und 150). Der Inhalt eines Textdokuments wird, wenn in der Vergangenheit, im Imparfait wiedergegeben: J' avais ret; u une lettre du comte. Il me remerciait de la joie que lui avait donnee ... Bei der Inhaltswiedergabe fallen der Akt der Niederschrift/ Anfertigung und der Akt der Wahrnehmung auseinander. Wahrgenommen wird nicht das Ereignis, sondern das dokumentarisch fixierte Resultat dieses Ereignisses, also etwas Zuständliches. Ein Fall von versetzter mediatisierter Wahrnehmung liegt auch dann vor, wenn in einem hochliterarischen Szenario der auktoriale Erzähler einen Beobachter in Szene setzt und Ereignisse erzählt, die sich unter dessen Augen abspielen. In diesem Falle signalisiert das Imparfait (traversaient,franchissaient, atteignaient,frappait, se penchait), dass das Geschehen durch die Brille und das Bewusstsein des Beobachters erzählt wird, dass gleichsam nicht das Ereignis sondern die Wahrnehmung des Ereignisses erzählt wird. Derlei findet sich oft bei Simenon, in besonders expliziter Form zu Beginn von L'Homme FJLIIL 30 (2001) 222 Franz Josef Hausmann de Londres. Das Imparfait als minimale Manifestation nimmt dem Ereignis einen Teil seiner Unmittelbarkeit. Das Imparfait als Permanenztempus erhöht den visuellen Effekt. Man hat deshalb auch von Kameraszenario gesprochen (Sthioul in Moeschler 1998). Im Szenario der indirekten Rede kann das abhängige Verb bei Gleichzeitigkeit weder im Passe simple noch im Passe compose stehen: Elle m' a dit qu' eile etait maladelqu' eile s' excusaitlqu' eile sortait du bain / *qu' eile s' excusa / qu' eile s' est excusee = die Entschuldigung hat stattgefunden. Die zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit ist von Gosselin (1996: 86) so formuliert worden: Der Sprecher kann einen zu seiner Wahrnehmung simultanen Prozess nicht global (d.h. mit Anfangs- und Endbegrenzung) sehen. Wenn, wie oben, das Sagen und die Entschuldigung identisch sind, dann darf für die Entschuldigung kein zweites Ereignis gesetzt werden. Anders wenn die Entschuldigung bereits stattgefunden hat: dann sind zwei Ereignisse möglich, das Sagen und das Tun. In den Bereich der indirekten Rede gehört wohl auch das kuriose Szenario der Spielvereinbarung unter Kindern, das auch für das Spanische und Italienische nachgewiesen ist: On va jouer au papa et a la maman, hein ! Moi, j' etais le papa et toi tu etais la maman. Diese Ausdrucksweise wird verständlich, wenn man sie als abgeleitete Kurzform folgender Langform mit dem Vereinbarungsverb dire auffasst: "... Mai, on disait que j'etais le papa ...". Für eine literarische Auswertung vgl. Christian Bobin (La/ olle allure, 1995: 80 [ed. Folio, p. 102]): « Ce metier m'amuse autant que de jouer a la dinette on disait que tu etais la diente et que j 'etais la vendeuse. Le mariage aussi ressemble a la dinette: On disait que tu etais le mari et que j'etais l'epouse ». Die Vereinbarung fiktiv in die Vergangenheit zu verlegen, obwohl sie gerade erst getroffen wird, bleibt zwar erklärungsbedürftig, erinnert aber an das Imparfait nach si: Onfait comme si on disait ... Wegen der Nähe zur indirekten Rede ist der Gebrauch des Imparfait in der erlebten Rede wenig verwunderlich: Elle s' excusait. Elle avait du monde = Je m' excuse. J' ai du monde = Elle m' a dit qu' eile s' excusait, qu' elle avait du monde. Wiederum geht es nicht darum, das Ereignis der Entschuldigung wiederzugeben, sondern den Inhalt einer Äußerung. In das Szenario der erlebten Rede gehört auch das berühmte lmparfait hypocoristique (/ l avait des pupuces, le chienchien! = Ach Gott, hat das Hundchen Flöhe? ). Die Vergangenheitsform wird plausibel, wenn man annimmt, dass der Sprecher/ die Sprecherin nur wiederholt, was der Betroffene (das Kind/ der Hund) sich selbst bereits sagte oder empfand (aber nicht aussprechen kann): Ich leide unter Flöhen. Il avait des pupuces heißt dann: Du sagtes Dir: Ich habe Flöhe = Du hattest Flöhe = Du hast Flöhe (Le Goffic 1995: 145). 9. Die Kommentarszenarien Im Szenario der logischen Simultaneität (Le chancelier Kohl, en sacrifiant le Mark, cedait ce qu'il avait de mieux) koinzidieren die beiden Vorgänge (Opferung der Mark und Hergeben des Kostbarsten) nicht nur, sie sind identisch. Aber sie sind unter zweierlei Sehweisen gesehen. Die erste Sehweise präsentiert das allen bekannte Ereignis, die JFLIIL 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 223 zweite analysiert dieses Ereignis, kommentiert es, zeigt es in einem nicht allen bekannten Licht. Die logische Simultaneität macht die Wahl des Imparfait möglich, denn der Anfang braucht bei ceder nicht gesetzt zu werden, da er vom Gerondif bereits gesetzt ist. Der Unterschied zum ebenfalls möglichen Passe compose liegt im relativ entspannten, erzählenden Charakter des Imparfait, während das Passe compose, um mit Weinrich (1994) zu sprechen, besprechenden Charakter hätte, d.h. den eines sehr engagierten, die eigene Person berührenden Kommentars. (Dass Weinrichs „besprochene Welt" in der französischen Fassung schlichtweg mit commentaire, statt commentaire engage, übersetzt wurde, war ein schwerer Fehler). Michaela Krell (2000) hat das in der Zeitung nicht seltene analytische Szenario untersucht und herausgefunden, dass es neben dem gerondif- Szenario eine Fülle weiterer Unter-Szenarien gibt, in denen abstrakte Ereignisverben im Imparfait stehen können. Dabei wird die logische Simultaneität hergestellt durch Konnektoren wie ainsi, donc, du coup, durch präpositionale Anaphern wie avec ce + N, dans ce + N oder auch ohne jede syntaktische Markierung, rein durch die anaphorische Abfolge der Sätze: Sa these ... .fut publiee en 1986 .... Elle revelait un erudit qui ... Das Kommentarszenario ohne weitere syntaktische Markierung findet sich häufig in der Literatur, z.B. dann, wenn eine wörtliche Rede anschließend vom Autor oder vom Sprecher erzählend analysiert wird: ll faisait allusion a ... / Je ne mentais qu' a demi / Elle le prenait a temoin. Nur kurz erwähnen wollen wir das kausale Kommentarszenario (mit puisque, kausalem comme usw.). Die Beschränkung auf das In-Augenschein-Nehmen des Ereignisses ist ebenso charakteristisch für das prospektive Szenario: Ensuite, il afallu acheter une valise pour Pierre qui partait le lendemain pour le college (= ... für Pierre, dessen Abreise ins Internat für den anderen Tag angesetzt war). Stünde in diesem Satz das Ereignisverb partir mit einem Ereignistempus, z.B. qui est parti le lendemain ... , so würde die Abfolge zweier Ereignisse erzählt und wir wären am Ende des Satzes bereits bei der Erzählung des Abfahrtstages angekommen. Das ist aber nicht die Absicht des Erzählers, der für den Tag des Kofferkaufs noch andere Ereignisse zu erzählen hat und die Vorausschau auf den Abreisetag nur unternimmt, um den Kofferkauf zu motivieren. Folglich verweigert der Erzähler das Ereignistempus und wählt das Permanenztempus. Damit gibt er dem Ereignis der Abfahrt etwas unabgeschlossen Zuständliches, das den Kofferkauf zeitlich umschließt. Die bevorstehende Abfahrt ist (als Gedanke, Projekt) vor dem Kofferkauf mental präsent, während und nach. Diese Ko-Präsenz wird vom Leser unweigerlich als Erklärung für den Kofferkauf interpretiert. Er versteht, dass ihm hier ein Ereignis erzählt (der Kofferkauf) und das Motiv dazu geliefert wird. Dieses beinhaltet zwar ein anderes Ereignis (Abreise ins Internat), das wird aber hier nur evoziert, nicht zum Eintreten gebracht. Zwar wird in diesem Szenario kein Verlauf aktualisiert, doch wirkt sich die Permanenz streckend aus, so dass das Ereignis in die mentale Vorbereitungszeit hineinreicht. Die Ko-Präsenz des Projekts oder des Termins, die man lange vorher im Auge hat, ist auch dafür verantwortlich, dass das Imparfait mit Zukunftsadverbien verbunden werden kann: "Mist! Nächsten Sonntag hatten wir doch schon einen Termin in Reims" = Zut ! Dimanche prochain, il y avait un petit marathon sympa a Reims. Da das Imparfait das Ereignis nicht lFLlllllL 30 (2001) 224 Franz Josef Hausmann zum Eintreten bringt, gibt es auch keinen Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft in diesem futurischen Szenario. Dem prospektiven gegenüber steht das retrospektive Szenario, das ein Höflichkeitsszenario ist: "Der Metzger wendet sich an eine Kundin": - Et cette dame, qu' est-ce qu' elle voulait? / (Der Nachbar steht vor der Tür: )-Je venais vous demander si vous ne pourriez pas baisser un peu le son. Die Wahl der Vergangenheitsform, die man als sprachliche Universalie betrachten kann, ist nicht unlogisch, denn Wille, Wunsch und Annäherung reichen mehr oder weniger weit in die Vergangenheit zurück und sind zum Jetztzeitpunkt nicht abgeschlossen, sondern weiterhin gültig. Der Metzger gibt laut Berthonneau/ Kleiber (1994: 74ff) zu erkennen, dass er die Kundin schon während ihres Wartens in der Schlange bedauernd wahrgenommen hat, womit er sich für das Warten entschuldigt, und der Nachbar vor der Tür lässt durchblicken, dass er sich schon vor dem Zusammentreffen psychologisch auf das Zusammentreffen vorbereitet hat (vgl. Touratier 1996: 139). Gleichzeitig vermeidet das Imparfait die performative Direktheit, Aufdringlichkeit, Aggressivität durch zeitliche Rückverlagerung (im ersten Beispiel zusätzlich durch Ausweichen in die 3. Person). Im Dialog muss sich der Sprecher vor illokutiver Falschinterpretation schützen. Wenn jemand außer Atem so gerade noch den Aufzug erreicht, dann sagt man nicht: Vous etes presse, was als Vorwurf ausgelegt werden könnte (Vous etes bien presse wäre noch ungehöriger), sondern man sagt mitfühlend: Vous etiez presse (eventuell mit ironischem Unterton). In-Augenschein-Nahme in Reinform findet sich in der irrealen Hypothese, als Gegenwartshypothese (Si je gagnais plus, jene serais pas ici) oder als Vergangenheitshypothese (S'il avait plu,je serais parti). Es braucht deshalb eigentlich nicht zu verwundern, dass sowohl in den beiden wenn-Komponenten (Bedingungsteil) wie in den beiden Dann-Komponenten (Folgeteil) das Imparfait gewählt werden kann bzw. gar muss. Dabei ergibt sich eine zwar nicht vollständige, aber doch weitreichende Austauschbarkeit mit dem Conditionnel bzw. dem Conditionnel passe, die auch im Italienischen, Spanischen und vor allem im Portugiesischen (im einzelnen unterschiedlich) produktiv ist und die auch im Deutschen nicht ganz fehlt. Seit dem 6. Jahrhundert wird im Französischen die aktuelle Bedingung als schon eingetreten dargestellt „um dem Hörer die daraus folgenden Konsequenzen besser klar machen zu können" (E. Lerch). Aus heutiger Sicht fügt sich der Nicht-Aktualisierungseffekt der Permanenz nahtlos in das hypothetische Schema. (Das Verbot des Conditionnel an dieser Stelle ist allerdings als Fossil zu werten). Auch für die Dann-Komponente der Gegenwartshypothese steht (seltener) das Imparfait zur Verfügung: S'il avait de l' argent, il achetait une Mercedes 560 SEL (Riegel [et al.] 1999: 309). Hier, aber vor allem in der Vergangenheitshypothese unterstreicht das Imparfait die Unweigerlichkeit der Folge (ejfet de causalite plus stricte bei Riegel): S'il s' etait represente, il etait reelu sans probleme (Nouvel Observateur, Zitat)/ 1l pleuvait,je partais dans le midi. Allerdings ist diese Folge irreal, eine nur ins Auge gefasste Eventualität (imminence contrecarree): Un pas de plus et je tombais / Sans toi,je tirais / Sans l' agrement ministeriel, nous mettions la cle sous la porte (Le Monde 1.9.00, S. 9). Auch im Deutschen ist dieses Verfahren nicht unmöglich: "Ein Schritt weiter, und du warst ein lFLllL 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 225 toter Mann/ und ich schoss dich nieder". Schließlich erscheint das lmparfait in der Wenn-Komponente der Vergangenheitshypothese in einer asyndetischen Konstruktion (/ l pleuvait,je partais), die zur asyndetischen Conditionnel passe-Hypothese parallel ist: / l aurait plu, je serais parti (vgl. auch deutsch: "So ich schoss, war er tot"). ln-Augenschein-Nahme ohne Setzung des Ereignisses ist auch die Leistung des Imparfait im Kontrastszenario: L' annee derniere,je demenageais pour 1000 F, maintenant cela me coute le double. Hier geht es nicht um die informative Mitteilung, dass für eine bestimmte Summe umgezogen wurde, das wird vorausgesetzt-; sondern es geht um die Nutzung dieses Faktums als Argument in einer zweiteiligen Argumentation. Der Paradoxcharakter schweißt diese Argumentationssequenz zusammen, ebenso wie die Kontrastierung von Vergangenheit und Gegenwart. In diesem stark gebundenen Szenario steht der Imparfait-Teil ganz im Dienste der Argumentation, während der Präsensteil zusätzlich die Argumentation im Hier und Heute des Sprechers verankert. Dazu wäre das Imparfait nicht fähig, so wenig übrigens, dass der Satz mehrdeutig ist. Ob der Sprecher im Jahr zuvor überhaupt umgezogen ist oder aber diese Summe für den Fall des Umzugs nur gezahlt hätte, lässt sich ohne weiteren Kontext nicht entscheiden. (Manche Sprecher lehnen allerdings die faktuelle Interpretation von demenageais ab. Sie erkennen nur den Irrealis an). Welche Rolle spielt der Aspekt in diesem Szenario? Man wird nicht sagen, dass man hier einen Verlauf spürt, hingegen spielt die Unabgeschlossenheit und Unbegrenztheit des Imparfait-Aspekts eine Rolle. Sie verhindert die Ereignishaftigkeit des Vorgangs, der, weil er auf seine minimale Manifestation reduziert ist, sich um so besser in die Textstruktur der Argumentation integrieren lässt. 10. · Das datierte Ereignisszenario Es gibt Szenarien, in denen das Imparfait ein Ereignis zu setzen, d.h. um seiner selbst willen zu berichten scheint, z.B. in folgendem Ausschnitt einer mündlichen Erzählung: Le 6 aout j' ai passse l' agregation, le 8 aout je me mariais. Auch wenn das Faktum der Hochzeit ausschließlich über mariais vermittelt wird, bedeutet das nicht, dass die Hochzeit um der Hochzeit willen erwähnt wird. Das wäre der Fall mit dem Passe compose. In unserem Beispiel ist sie Teil einer Struktur (j' ai passe je me mariais), welche in erster Linie auf der sensationellen zeitlichen Nähe der beiden Ereignisse insistiert. Will man den Effekt des Imparfait im Deutschen wiedergeben, muss man etwa sagen: " ... stand ich schon vor dem Traualtar! Können Sie sich das vorstellen? ". Das Imparfait versieht also das Ereignis zusätzlich mit einem Kommentar zur Stellung des Ereignisses in einer Ereignisstruktur. Nicht unähnlich dem Kontrastszenario steht das Imparfait im Dienste der logischen Einheit der Sequenz, im Dienste des Zusammenhangs mit dem Passe compose-Geschehen. Aus dem Gegensatz von Ereignisverb und Zeitpunktangabe einerseits und Permanenztempus andererseits ergibt sich eine gefühlspointierte Dramatisierung, deren Wirkung im umgekehrten Verhältnis zum morphologischen Aufwand (-ait [E]) steht. FLuL 30 (2001) 226 Franz Josef Hausmann Unser Szenarienbeispiel ist nicht zufällig postdatiert (wenn auch nur implizit), denn die Postdatierung trägt das Ihrige zur Verklammerung der Sequenz bei. Explizit postdatiert erscheint das Ereignisszenario (das man auch Ereignisstrukturszenario nennen könnte) häufig in Literatur und Presse mit Signalen des Typs: le lendemain oder x secondes I minutes / heures IJours ... plus tard. Dieses beziehungsstiftende Imparfait 'imparfait de rupture' zu nennen, was sich eingebürgert hat, ist ein Widersinn. Zwar tritt insofern ein Bruch ein, als das Imparfait mit der Linearität der Erzählweise bricht, dies aber im Dienste seiner Integration in eine Textsequenz, die damit erst als Einheit konstituiert wird. Die Bezeichnung 'imparfait de clöture' ist schon eher berechtigt, insofern der Imparfait-Satz eine Sequenz abschließt, die mindestens aus dem vorausgehenden Ereignistempus und dem Imparfait besteht und der Abschluss höchst wirksam, in Form einer Orgelfermate ('point d 'orgue', cf. Imbs 1960: 93 und Touratier 1996: 119) erfolgt. Logischerweise gibt es dann auch ein Szenario der Textsequenzeröffnung ('imparfait d'ouverture'), denn da das Imparfait als Permanenz weder links noch rechts Grenzen setzt, stiftet es Beziehungen nach vorne wie nach hinten. So beginnen die meisten von Maupassants Erzählungen im Imparfait: Midifinissait de sonner (=Langsamklang das Mittagsgeläut aus) (Le papa de Simon). Ein solches Imparfait verlangt kataphorisch nach Sättigung durch Ereignistempora: La porte de l' ecole s' ouvrit, et ! es gamins se precipiterent ... (ibid.). Die Leistung des Imparfait liegt deshalb darin, dass es Zustand, Verlauf oder Ereignis aus der Linearität der Ereigniskette herausnimmt und an ein mit anderen Mitteln ausgedrücktes Ereignis logisch/ semantisch anbindet (so auch Touratier 1996: 127ff). Besonders deutlich wurde das bei der Concorde-Katastrophe vom Juli 2000. Nach einem Monat Untersuchung ist die Ursache herausgefunden: ein Metallteil auf der Piste die Reifen platzen - Tanks werden durchschlagen, usw. Jetzt kann das Unfall-Szenario als geschlossene Texteinheit so erzählt werden, dass der Absturz unausweichlich erscheint. Wird in der Vergangenheit erzählt, so endet das Szenario in den Medien mit dem Satz: 30 secondes plus tard, le Concorde s' ecrasait. In diesem Satz (und in diesem Szenario) wird die Unausweichlichkeit mit dem Imparfait-Morphem ausgedrückt. Dieses ist vorbereitet, wie Molendijk (1990) sagt. Das Passe simple hätte diese Nuance nicht. Permanenzbedeutung (Zustand, Verlauf, Innensicht) des Imparfait hat mit diesem Verb und in diesem Kontext den Effekt der logischen Verknüpfung der unweigerlichen Folge. Deshalb ist die Ausdrucksweise der Medien vollkommen natürlich und angemessen. Sie ist expressiv, aber normal. Wenn eine derart starke logische Folge-Beziehung besteht, wäre das Passe simple unangemessen und das Passe compose als reine Information, ebenfalls unangemessen, denn über den Absturz als solchen ist der Leser seit vier Wochen unterrichtet. Die Nutzung des logisch verknüpfenden Imparfait im code parle steht ebenfalls außer Frage. Es eignet also dem hier beschriebenen Imparfait-Gebrauch keinerlei Ausnahmecharakter. Neben der häufigen Postdatierung steht die seltenere Prädatierung. So lautet am 6.9.2000 eine Schlagzeile von Le Monde (S. 6) folgendermaßen: Des le 8 juin, Jean- Pierre Chevenement mettait en garde Lionel Jospin. Diese aus einer geheimen Note gespeiste Mitteilung betrachtet Le Monde als sensationell, weil sie den späteren Rücktritt des Ministers zu einem überraschend frühen Zeitpunkt als eingeleitet erscheinen lässt. Es lPLlllL 30 (2001) Kleine Lehre des imparfait 227 geht also auch hier nicht um die reine Mitteilung des Faktums, sondern um den Stellenwert des Faktums in einer Ereignisstruktur, deren Basis (der Rücktritt des Ministers) dem Leser bekannt ist. 11. Das Detail (oder Serien-)szenario Der textkonstitutive, textverschweißende Charakter des Imparfait, der im postdatierten Ereignisszenario offenkundig wurde, findet sich noch ausgeprägter im Detailszenario. Es geht darum, eine Serie sukzessiver Ereignisse innerhalb einer geschlossenen, nicht offenen, Sequenz als Teilereignisse (Phasen, Etappen) eines Großereignisses zu markieren, dessen Resultat bereits bekannt ist. Typische Beispiele sind: Eine dramatische Rettungsaktion wird zuerst als erfolgreich vorgestellt, dann mit 14 lmparfaits in ihren einzelnen Phasen erzählt (Klum 1961). Die einzelnen Züge einer Schachpartie werden mit 15 Verbformen nachgezeichnet, die alle im Imparfait stehen (Le Monde 1993). Die einzelnen Phasen einer militärischen Aktion oder der Textsequenz „Hitlers Ende" werden vom Historiker mit einer Serie von lmparfaits erzählt (J.-P. Azema in Le Monde 1995). In einer biographischen Notiz (Nekrologie oder aus anderem Anlass) werden einzelne Lebensabschnitte im lmparfait erzählt. Maupassant erzählt, wie ein Hund eine Übungspuppe zerreißt. Nach se mit a dechirer folgen die einzelnen Etappen in acht Imparfaits (nach Figge 1998, der von einem "detaillierenden temporalen Konzeptgebilde" spricht). Der Vorteil dieses Verfahrens ist neben der Textsequenzkonstitution als einer strukturierenden Leistung die Leistung der Verlebendigung, weil das Imparfait jede Phase, wie durch eine Kamera visualisiert, gleichsam in Großaufnahme, heraushebt und den Erzähler als „dabei gewesen" authentifiziert (Sthioul in: Moeschler 1998: 216). 12. Das narrative Szenario Wer den Roman Nous trois von J. Echenoz (1992) aufmerksam liest, wird für die Verteilung vom Imparfait und Passe simple auf Ereignisverben zum Ausdruck von Ereignissen über weite Strecken folgende Gesetzmäßigkeit entdecken: keines der Passes simples ist von einem Zeitadverb begleitet, die auffälligen Imparfaits hingegen alle ( ensuite, ensuite, ensuite, puis ). Offensichtlich geht es dem Autor darum, seinen Protagonisten jedesmal in seiner Bewegung zu zeigen, im Verlauf, und doch gleichzeitig die Handlung vorwärts zu bringen. Daneben hat er noch das Prinzip des geringstmöglichen Aufwandes bei größtmöglicher Variation: Drückt das Morphem bereits den Fortgang der Handlung aus (Passe simple), bedarf es keiner adverbialen Zeitpunktsetzungen. Bedient er sich adverbialer Zeitpunktsetzungen, so kann er dank des Kontexts das Tempus der minimalen Manifestation (oder Eventualität) setzen, das Imparfait. Das Ereignishafte an lFLIIL 30 (2001) 228 Franz Josef Hausmann der Sache ist durch Adverb und Kontext bereits hinreichend ausgedrückt. 1 Offensichtlich möchte der Autor nicht alle Ereignisse gleich gewichten und in banaler Linearität der Passes simples-Abfolge hintereinander stellen. Überdies profitiert er dabei von der Anschaulichkeit und dem Zeitlupeneffekt des Imparfait. Die Auffälligkeit des Verfahrens rührt daher, dass es in der Sprechsprache ausgeschlossen ist. Es ist ein Verfahren der literarischen narratio wie das Passe simple als ganzes. Im Unterschied zum Passe simple ist den Grammatiken das hier beschriebene narrative Imparfait allerdings nicht oder wenig bekannt, weshalb es um so auffälliger ist. 13. Schluss Das französische Imparfait zieht aus der äußersten morphologischen Sparsamkeit die größtmögliche Palette an semantischen, pragmatischen und textkonstitutiven Effekten. Alle diese Effekte aus der Grundbedeutung „vergangene Permanenz" abzuleiten, geht gelegentlich nur unter Knirschen. Offensichtlich sind unter den Gebrauchsweisen auch historische Fossile, die sich nur aus schwer rekonstruierbaren längst vergangenen Strukturen einfach erklären ließen. Dennoch hoffen wir gezeigt zu haben, dass der aspektuelle Ansatz erhellend ist. Die Beschreibung wird allerdings nicht wenig dadurch kompliziert, dass manche Szenarien stark skriptural markiert sind, andere oral, viele neutral. Angesichts der vielen Subtilitäten des Imparfait-Einsatzes, namentlich aus der Sicht des Germanophonen, wollte die vorliegende Gesamtbeschreibung rezeptionsorientiert sein. Es ging darum, dem deutschen Leser französischer Texte und Hörer französischer Aussagen einen Schlüssel zur Dechiffrierung in die Hand zu geben. Produktionsorientierte Beschreibungen, an denen erheblich weniger Mangel herr-,~ht, würden selektiver vorgehen und andere Schwerpunkte setzen müssen. 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