eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 30/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
301 Gnutzmann Küster Schramm

Klaus MÜLLER: Lernen im Dialog. Gestaltlinguistische Aspekte des Zweitsprachenerwerbs

121
2001
Dietmar Rösler
Klaus MÜLLER: Lernen im Dialog. Gestaltlinguistische Aspekte des Zweitsprachenerwerbs. Tübingen: Narr 2000 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 445), VIII + 286 Seiten [DM 78,-]
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270 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel kultursystembedingte eingeschränkte Kreativität sehen, die zwar vom Grad der Bi-Kulturalität des Übersetzers abhängt, die aber dennoch voraussehbar ist und damit im Grunde genommen ein Kompetenzproblem ist. Kreativität ist allerdings „ein graduierbarer Begriff' (28) und sicher müssen wir im vorliegenden Fall von einem höheren Maß an Kreativität ausgehen. Wenn wir potty chair und Winde/ wechseln assoziieren können, so deshalb, weil sie beide als Elemente der Szene „Körperausscheidungen" auftreten. Wir haben es hier noch mit relativ nah verwandten szenischen Elementen zu tun. Statt „Windelwechseln" hätten die Übersetzer aber auch auf „Fläschchengeben" kommen können ein Vorschlag der den Rahmen der Szene „Körperausscheidungen" sprengt. Wenn er dennoch zu den von potty chair ausgehenden Assoziationsvirtualitäten gehört, so ist dies damit zu erklären, dass „Fläschchengeben" ein Element der Szene (in Ks. Abb. 17 „MOP") "Ernährung" ist und dass beide Szenen über das Szenario „Kindererziehung" miteinander verbunden sind. Ermöglicht wird diese Verbindung durch die Form, in der unsere Erfahrungen in unserem Denken abgespeichert werden. K. beruft sich hier auf die Hypothesen des Gedächtnisforschers Roger Schank, wonach wir Erlebtes nicht als Gesamtszene, sondern in Form von „Memory Organisation Packets" (MOPs) zerlegt speichern. So können Szenen über gemeinsame Szenenelemente verbunden werden. Diese Hypothesen werden auch durch Lakoffs „chaining" bestätigt, bei dem semantische Kategorien durch gemeinsame Elemente metaphorischer Vorstellungen assoziativ verkettet werden. Für Assoziationen von weiter auseinander liegenden Szenen hält Schank die „Thematic Organisation Points" (TOPs)-These bereit. Sie besagt, dass Ereignisse aufgrund gleicher Strukturmuster miteinander verknüpft werden können: Romeo and Juliet werden so mit der West Side Story assoziiert; in beiden Fällen ist das Ziel die Vereinigung der Liebenden, die sich gegen den Widerstand der Umwelt durchsetzen müssen. Schanks Hypothesen lassen keinen Zweifel daran, dass unser assoziatives Denken in bestimmten strukturierten Bahnen verläuft. Auf diese Weise lassen sich z.B. verschiedene Sprichwörter assoziieren, die zu einer gewissen Situation passen: eine Legitimierung für die übersetzerische Wiedergabe eines Sprichwortes durch ein anderes! Dadurch, dass Kußmaul Schanks MOP-Theorie sehr geschickt mit der Prototypensemantik in Verbindung bringt, schafft er ein Evaluationskriterium zur Beurteilung der Angemessenheit von kreativen Übersetzungsvorschlägen. Je nach seinen individuellen Erfahrungen kann ein Übersetzer zwei Szenen kreativ über ein ihnen gemeinsames MOP assoziieren und somit eine ausgangssprachliche Szene durch eine andere zielsprachliche Szene wiedergeben. Wie weit darf jedoch dabei die übersetzerische Freiheit gehen? Die Grenzen setzt die Prototypensemantik. Entscheidend für die „Angemessenheit" der Übersetzung ist der prototypische Charakter des assoziierten szenischen Elements in der jeweiligen Kultur. Eine Übersetzung ist in dem Maße „angemessen", wie die von ihr zielsprachlich verbalisierten Elemente aus dem „Kernbereich" (und nicht aus dem Randbereich) einer Szene stammen. "Die Auswahl aus dem Kernbereich garantiert die Angemessenheit der Übersetzung" (163). Sie bürgt für die von ReissNermeer geforderte „Wirkungsgleichheit" bei gleichbleibender Funktion. Fazit: Die Relevanz derartiger Forschung für die Übersetzungswissenschaft ist erheblich. Sie legitimiert kreative Assoziationen des bi-kulturellen Übersetzers, der so seine Kreativität gegen den möglichen Vorwurf des „Verrats" "Traduttore - Traditore") 'verteidigen' kann. Durch die Aufforderung zur Schulung des „lateralen Denkens" weist Kussmaul auch in der Übersetzungsdidaktik neue Wege. Es ist sein Verdienst, die verschiedenen, sich gegenseitig bestätigenden Forschungsstränge zusammengeführt zu haben und so die Kreativität des Übersetzers zu legitimieren. Er gibt der für diese Wissenschaft so vielfach geforderten Interdisziplinarität eine neue Dimension, die völlig in den Dienst der neuen Forderung nach „intersubjektiver Nachvollziehbarkeit" des übersetzerischen Handelns gestellt werden kann. Klaus MÜLLER: Lernen im Dialog. Gestaltlinguistische Aspekte des Zweitspracherwerbs. Tübingen: Narr 2000 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 445), VIII+ 286 Seiten [DM 78,-] „Tja" so könnte man meine Reaktion auf dieses Buch in verschriftlichter gesprochener Sprache zusammenfassen. Auf der einen Seite werden viele Themen angesprochen und in einer Weise behandelt, die für die Diskussion des Zweitspracherwerbs von Bedeutung sind; auf der anderen Seite wird man das lFlLllL 30 (2001) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 271 Gefühl nicht los, dass dieses Buch eigentlich aus zwei Büchern besteht, die sich nicht immer so ergänzen, wie der Verfasser es sich wahrscheinlich vorgestellt hat. Zum einen hat man es mit einer Einführung in die Gestaltlinguistik zu tun; zum anderen versucht dieses Buch, Daten aus einem empirischen Projekt zur Erforschung des Zweitspracherwerbs aus den 80er Jahren neu zu interpretieren und für die Erklärung des Erwerbsprozesses nutzbar zu machen. Der Verfasser möchte im Gegensatz zur weitgehend analytisch-nativistischen Spracherwerbsforschung den Dialog für die Erklärung des Zweitspracherwerbs produktiv machen; innerhalb der drei großen Paradigma der Spracherwerbsforschung ist er sicher im interaktionistischen Bereich anzusiedeln; ihre besondere Bedeutung erhält die Arbeit aber dadurch, dass sie gestaltlinguistische und gestaltpsychologische Kategorien an das Datenmaterial heranträgt und dieses durch sie interpretiert. Bei den Daten handelt es sich um Longitudinaldaten von 10 türkischen, italienischen und deutschen Kindern im Alter von 6 bis 10 Jahren, die im DFG-Projekt 'Gastarbeiterkommunikation' in Saarbrücken in den Jahren 1982-1988 gesammelt wurden und z.T. bereits in Publikationen dieses Projektes interpretiert worden sind. Das Buch beginnt mit einer etwas undifferenzierten Positionierung. Zunächst wird eine Unterscheidung von Erst- und Zweitsprache gegeben - "als Zweitsprache (oder: L2) wird diejenige Sprache bezeichnet, die nach dem Erwerb der Muttersprache erworben wird" (12), die auch jedes institutionelle Fremdsprachenlernen als Zweitsprache akzeptieren müsste. Hier sind vorhandene, weitaus differenziertere Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Zweit- und Fremdsprache nicht gerade ausführlich rezipiert worden. Der Verfasser baut danach einen Gegensatz von Lernen im Dialog ( = Erwerb) und Lernen im Unterricht auf, den er erfreulicherweise dann selbst als sich in vielen Fällen nicht klar durchhalten lassend charakterisiert (vgl. 13). Ihm geht es darum zu beschreiben, wie der Deutscherwerb von türkischen und italienischen Kindern, "deren Erstspracherwerb zumindest bis zum 5. Lebensjahr ohne Einfluss der Zweitsprache Deutsch abgelaufen ist" (13), zu beschreiben. Bei diesen Lernenden ist „nicht ausschließlich mit schulisch beeinflusstem Erlernen des Deutschen zu rechnen, insbesondere deshalb nicht, weil die betreffenden Kinder keine besondere fremdsprachendidaktische Förderung genießen, sondern den 'normalen' Deutschunterricht in gemischt nationalen Klassen besuchen" (13). Bei dieser Ausgangslage drängt sich mir die Beobachtung auf, dass die Analyse von Sprachmaterial von Kindern, die erst ab dem 5. Lebensjahr Deutsch lernen und in die deutsche Schule gehen, doch eigentlich hochinteressantes Material für die Analyse der Interaktionen von natürlichem Erwerb und institutionellem Lernen hervorbringen könnte. Statt dessen schlägt sich der Verfasser aber auf die 'sichere Seite' der Spracherwerbforschung: "In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit Grundlagenforschung an einem Gegenstand, der dann von anderen[...] weiter für die Praxis des Fremdsprachenunterrichts aufbereitet werden muss" (13 f). Hier landet der Verfasser bei einer antiquierten Unterscheidung von Grundlagenwissenschaft und Didaktik, die man doch, wenn man ansonsten ein ganzheitliches Konzept verfolgt, so nicht haben müsste. Nach dieser etwas enttäuschenden Eingrenzung der Arbeit nimmt das Buch Fahrt auf. Es beginnt mit einem Überblick über lerntheoretische Aspekte, bei dem interaktionistische Ansätze im Vordergrund stehen und bei dem zumindest das Unterkapitel Spracherwerb als Gestaltlernen (30-34) dem Leser über die aus jeder Einführung in den Spracherwerb bekannten Theorien hinaus etwas Neues bietet. Der gestaltlinguistische Ansatz müsse das Augenmerk auf in der Gestaltpsychologie längst bekannte Gesetze und Prinzipien richten, wie z.B. die Prinzipien der Nähe, der Ähnlichkeit, der guten Fortsetzung und der Geschlossenheit. Auch müsse Gestaltlinguistik immer kommunikativ und dialogisch sein, wobei auch den affektiven Dimensionen der Soziabilität Beachtung geschenkt werden müsse (vgl. 34). Auf diese Ausführungen folgen zwölf ziemlich überflüssige Seiten, auf denen zum xten Mal ein Kurzüberblick über die üblichen großen Hypothesen des Zweitspracherwerbs gegeben wird, bevor danach die affektivmotivationalen Komponenten etwas ausführlicher beschrieben werden. Kapitel 2 diskutiert verschiedene Aspekte der Gruppenkommunikation, wobei zumindest ab und an auf die Spracherwerbssituation eingegangen wird. Kapitel 3, 'Linguistik des Dialogs' überschrieben, gibt zuerst etwas knapp einen Überblick zur Forschungslage zum Zweitspracherwerb (wenn man sich im Jahre 2000 noch mit dem Heidelberger Projekt auseinandersetzt und dabei das Fehlen von Langzeit- FLllL 30 (2001) 272 Neuerscheinungen • Eingegangene Bücher studien beklagt, warum findet dann z.B. das Berliner P-Moll-Projekt keine Erwähnung? ); danach folgen 23 Seiten zur linguistischen Dialoganalyse, die auch einer linguistischen Einführung zu entnehmen sind. Es folgt ein 4. Kapitel zur Kognitionspsychologie der Gestaltwahrnehmung, in der wiederum einige interessante Themen für das Fremdsprachenlernen diskutiert werden (Rolle des Gedächtnisses, Verständlichkeitsforschung), bei dem aber ein Bezug zum Zweitspracherwerbsprozess, um den es doch eigentlich gehen sollte, kaum noch zu erkennen ist. Ähnliches muss über Kapitel 5 gesagt werden, 'Aspekte der Gestaltlinguistik' überschrieben. Hier werden Gestaltsyntax und Gestaltsemantik vorgestellt und eine interessante Interpretation der Prototypensemantik als Gestaltsemantik versucht. Ausführlich wird die Gestaltung der Sprechzeit diskutiert, aber, das muss leider gesagt werden, das Thema des Buchs, der Zweitspracherwerb, gerät in diesem Kapitel 5 noch stärker als in Kapitel 4 in den Hintergrund. Eigentlich sind die Kapitel 4 und 5 zusammen mit einigen Teilen aus den ersten drei Kapiteln ein Buch zur Gestaltlinguistik, das separat hätte publiziert werden sollen, dann hätte man sich in dem nun folgenden Kapitel 6 auch ausführlicher um die Daten und um die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Sprachlernen kümmern können. Kapitel 6 nähert sich dann dem Gestaltlernen im Dialog. Der Verfasser versucht, den Erwerbsverlauf in der Form einer retrospektiven Interpretation zu analysieren. Nach einem kurzen Überblick über das Saarbrücker Projekt 'Gastarbeiterkommunikation' und seine Ergebnisse kommt das, was für jeden, der sich mit Zweit- und Fremdsprachenerwerb beschäftigt, das Interessante an diesem Buch ausmacht, der Blick auf Dialogauszüge unter ganzheitlichen Gesichtspunkten. An insgesamt 34 Beispielausschnitten werden dabei Teile von gestalthaftem Lernen im Dialog gezeigt, zum einen geht es um das Lernen im Spiel, wobei an Beispielen des Rhythmus, mit Bezügen zur oral poetry, gezeigt wird, wie Kinder mit Spielen und Versen lernen. Danach werden in zwei größeren Unterkapiteln, 'Rückmeldungsdidaktik' und 'Indikatoren ganzheitlichen Lernens' überschrieben, unterschiedliche Aspekte des Lernens angesprochen und unterschiedlich weitgehend analysiert. Diskutiert werden Fremd- und Selbstkorrekturen, didaktische Schleifen, semantische Klärungen, imitieren und zitieren, und besonders häufig Aspekte des Idiomatischen, sehr ausführlich am Beispiel von Modalpartikeln, deren Bedeutungen „am ehesten als übersummativ wirkende Gestaltkonstrukte erklärt werden können" (199). Die Diskussion dieser Beispiele im 6. und im folgenden Kapitel zeigt, wie interessant und aufschlussreich der gestaltlinguistische Blick auf Spracherwerbsdaten sein kann; ich hätte mir mehr von so einem Buch über das Lernen im Dialog, wie es sich im 6. Kapitel zeigt, gewünscht und dabei gern auf den parallel dazu durchgeführten Versuch, auch noch in Psychologie und Linguistik einzuführen, verzichtet. Giessen Dietmar Rösler Eingegangene Bücher ALTMANN, Werner/ VENCES, Ursula (Hrsg.): America Latina en la enseiianza de/ espaiiol. ,; Encuentro o encontronazo? Berlin: ed. tranvia, Ver! . Frey 2000 (Theorie und Praxis des modernen Spanischunterrichts; Bd. 2), 217 Seiten. FISHMAN, Joshua A. (ed.): Can threatened languages be saved? Reversing Language Shift, Revisited: A 21 st Century Perspective. Clevedon [etc.]: Multilingual Matters 2000 (Multilingual Matters; 116), xvi + 502 Seiten. KLEIN, Eberhard: Sprachdidaktik Englisch. Arbeitsbuch. Ismaning: Hueber 2001 (Forum Sprache), 271 Seiten. SZCZODROWSKI, Marian: Steuerung fremdsprachlicher Kommunikation. Gdansk: Uniwersytet 2001, 241 Seiten. WESKAMP, Ralf: Fachdidaktik. Grundlagen und Konzepte. Berlin: Cornelsen 2001 (studium kompakt Anglistik &Amerikanistik), 240 Seiten. lFlLlllL 30 (2001)