eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 32/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
321 Gnutzmann Küster Schramm

Mündliche Produktion in der Fremdsprache - Zur Einführung

121
2003
Gert Henrici
Olaf Bärenfänger
Karin Aguado
Sabine Beyer
flul3210003
Mündliche Produktion in der Fremdsprache Gert Henrici, Olaf Bärenfänger, Karin Aguado, Sabine Beyer Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Seit etwa 20 bis 30 Jahren hat sich die Zweitsprachenerwerbsforschung international zu einer eigenständigen Disziplin mit spezifischen Erkenntnisinteressen und Gegenständen entwickelt. Die zentralen Fragen lauten: "Wie wird eine fremde Sprache erworben, welche Faktoren begünstigen bzw. behindern diesen Prozeß? " Belege für diese Entwicklung sind neben einer Vielzahl von Einzelaktivitäten die Bildung von Forschungszentren u.a. in den USA, Kanada, Australien oder den Niederlanden, die Zunahme einschlägiger Kongresse und Tagungen, nicht zuletzt das schnelle Anwachsen von Publikationen, empirischen Studien, Handbüchern, Einführungen und Zeitschriften (vgl. den Überblick in HENRICI! RIEMER 2003). Schwierig für die Entwicklung einer noch relativ jungen Disziplin ist die Abgrenzung zu bereits etablierten Disziplinen, die für sich in Anspruch nehmen, schon immer auch ähnliche Fragestellungen behandelt zu haben. Für die „allumfassende" (Angewandte) Linguistik mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen z.B. ist jedoch festzustellen, daß bei einer quantitativen Betrachtung ihrer Arbeiten Fragen und empirische Studien zum Fokus Zweitsprachenerwerb eher eine untergeordnete Rolle gespielt, sie bestenfalls Teilaspekte behandelt haben. Der Eigenständigkeitsanspruch der Zweitsprachenerwerbsforschung steht jedoch nicht im Widerspruch zu der interdisziplinären Ausrichtung der Disziplin und den sich daraus ergebenden Beziehungen zu relevanten Referenzwissenschaften (Kognitionswissenschaften, Psychologie, Biologie, Soziologie). Auch in Deutschland ist seit den siebziger Jahren ein zunehmendes Interesse an Fragen vorwiegend des natürlichen Zweit-/ Fremdsprachenerwerbs zu beobachten. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind umfassende empirische Projekte. Beispielhaft seien genannt: das Kieler Projekt zum Zweitsprachenerwerb von Kindern (WODE 1974), das Heidelberger Forschungsprojekt Pidgin-Deutsch (HEIDELBERGER FORSCHUNGS- PROJEKT „PIDGIN-DEUTSCH" (HPD) 1975), das Wuppertaler ZISA-Projekt zum Zweitsprachenerwerb von Arbeitsmigranten (CLAHSENIMEISELIPIENEMANN 1983) sowie das Projekt P-Moll zur Modalität von Lernervarietäten (DITTMAR! REICH 1993). Heftige Richtungskämpfe mit der neu etablierten 'Sprachlehrforschung' zu Theorie, Methodologie und Empirie prägten die achtziger Jahre (BAUSCH/ KÖNIGS 1986). Aktuell läßt sich feststellen, daß die Zahl zweit-/ fremdsprachenerwerbsspezifischer empirischer Studien weiter zunimmt, häufig in Form von Qualifikationsarbeiten, z.B. im Rahmen von Graduierten-Kollegs und Forschungsprojekten wie dem in diesem Band dargestellten Bielefelder DFG-Projekt. Forschungszentren wie die in den genannten Ländern haben sich bisher nicht gebildet. Gebündelte Einzelaktivitäten lassen sich jedoch an einigen FLm.. 32 (2003) 4 Gert Henrici, Olaf Bärenfänger, Karin Aguado, Sabine Beyer Standorten erkennen. Mit Ausnahme der Sprachlehrforschung in Bochum und Hamburg ist die Zweitsprachenerwerbsforschung institutionell in Deutschland nicht verankert. Bilanziert man die bisherigen Erträge der Zweit-/ Fremdsprachenerwerbsforschung nicht nur für Deutschland hinsichtlich Theorie-, Methodologie- und Empirieentwicklung, kommt man wohl zu einer positiven Einschätzung. Ihre hochgesteckten Ziele, ungesteuerte und gesteuerte Fremdsprachenerwerbsprozesse theoretisch-empirisch umfassend zu erklären, sind jedoch noch lange nicht erreicht. Ob sie jemals erreicht werden? Bisher gibt es Mosaiksteine, viele und immer neue Hypothesen, relativ wenig empirisch geprüfte Theorien. Über den langzeitigen Erwerb ist bisher wenig gesichertes Wissen vorhanden. Große Lücken gibt es in den Bereichen „Wirkungsforschung" und empirisch ausreichend kontrollierter „Aktions-/ Handlungsforschung". Folgende von der 'Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld' immer wieder diskutierten und für jede Art von empirischer Forschung relevanten Fragen bedürfen wohl begründeter stimmiger Antworten, die vielfach auch in impliziter Form nicht erkennbar sind, z.B.: • In welchem Verhältnis sollten qualitative und quantitative Forschungsansätze stehen? Mit welchen Zielsetzungen und Funktionen? Wie ist z.B. im Rahmen eines qualitativinterpretativen Ansatzes mit Quantifizierungen zu verfahren? Wann ergänzen sie sich, wann schließen sie sich aus? • Welche Gütekriterien muß ein qualitativer Ansatz erfüllen, wenn er auch hypothesenübergreifend arbeiten will? Kann er sich mit Kriterien wie 'Gegenstandsadäquatheit', 'Nachvollziehbarkeit', 'interne Validität', 'Wiederholbarkeit durch Strukturenvergleich', 'Ganzheitlichkeit', 'Kontextgebundenheit', 'Prozeßorientiertheit', 'Verallgemeinerbarkeit durch Mehrfallanalytik' zufriedengeben? • Ist eine modulare Untersuchung einzelner sprachlicher Ebenen (wie in der klassischen Lernersprachenforschung) angemessener als eine „holistisch-vernetzende" Herangehensweise? • Wie ist die Beziehung zwischen sog. Primär- und Sekundärdaten und der Umgang mit ihnen im Rahmen eines Mehrmethoden-Analyseansatzes zu bestimmen? Es geht dabei um die Wertigkeit von Daten, d.h. u.a. um deren angemessene Erhebung, möglichst detailgenaue Darstellung (Verschriftlichung) und Auswertung (Analyse, Interpretation). • Welche Unterschiede gibt es im Erklärungswert von Untersuchungsergebnissen, die auf der Basis von sogenannten natürlichen bzw. experimentell gewonnenen Daten beruhen? Dies betrifft die fundamentalen Fragen nach Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und Akzeptabilität von Forschung. • Welche Relationen bestehen genau zwischen den einzelnen Faktoren, die den Erwerb fördern bzw. behindern können? Dies betrifft u.a. auch die Relation von internen und externen Faktoren, generell von Kontextualisierungserfordernissen. • Wie ist das Verhältnis von Kognition, Affektion und Interaktion forschungsmethodologisch-methodisch und forschungspraktisch zu gewichten? Ist die in vielen Modellierungen zu findende Dominanz kognitiver Erklärungen des Fremdsprachenerwerbs zu rechtfertigen? Welche Rolle spielt die sozialkommunikative Perspektive? ]F[,llll, 32 (2003) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 • Wie ist das Verhältnis von Verstehens- und Produktionsprozessen beim Fremdsprachenerwerb sowohl in kognitiver als auch in interaktiver Hinsicht methodologischmethodisch zu erfassen und zu bewerten? • Ist es sinnvoll und stichhaltig begründbar, Spracherwerb entweder prozeß- oder produktorientiert zu untersuchen? • Welche Probleme ergeben sich bei der Vergleichbarkeit von Forschungen, die sich unterschiedlichen methodologisch-untersuchungsmethodischen Ansätzen verpflichtet fühlen? • Wie läßt sich der Begriff der „Selbstreferentialität" von Forschung weiter präzisieren? (vgl. ausführlich zu diesen Problemen u.a. ARBEITSGRUPPEFREMDSPRACHENERWERB BIELEFELD 1996, AGUADO 2000, AGUADO/ RJEMER 2001). Bei einer auch international geltenden Einschätzung der Zweitsprachenerwerbsforschungslandschaft sehen wir immer noch Dominanzen von ausschließlich quantitativ ausgerichteten Studien oder, auf Deutschland bezogen, vorwiegend Studien mit qualitativer Ausrichtung. Mehrperspektivisch methodologisch-methodische Vorgehensweisen, d.h. Verknüpfungen von quantitativer und qualitativer Methodologie, sind relativ selten repräsentiert. Besonders auffällig ist die geringe Zahl von Studien, bei denen der Faktor Interaktion im Fokus des Erkenntnisinteresses steht. Bei einer differenzierten Betrachtung überwiegen Input-Nerstehensstudien, Produktstudien und Querschnittuntersuchungen unterschiedlicher Ausrichtung {entweder qualitative Fallstudien oder Quasi-Experimente und- Experimente). Entsprechend weniger vertreten sind Prozeß- und Diskursstudien sowie empirische Untersuchungen zur schriftlichen und besonders zur mündlichen fremdsprachlichen Produktion; insgesamt eine bescheidene Anzahl von Längsschnittuntersuchungen. Immer noch werden Verstehensprozesse getrennt von Produktionsprozessen untersucht. Für Deutschland gilt, daß in der sich auf dem Wege befindenden Zweitsprachen-/ Fremdsprachenerwerbsforschung seit den Kasseler Studien aus den achtziger Jahren (vgl. z.B. DECHERTIMÖHLE/ RAUPACH 1984) ein gewisser Stillstand in der empirischen Produktionsforschung festzustellen ist, sieht man ab von fremdsprachendidaktischen Arbeiten zum Sprechen und Schreiben, die kaum bzw. unzureichend empirisch fundiert sind. Hierfür könnte eine ganze Reihe von Gründen verantwortlich sein, denn bei der Untersuchung der mündlichen Produktion von Fremdsprachenlernern sehen sich Forscher mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten konfrontiert. So handelt es sich bei der mündlichen L2-Produktion aus wissenschaftstheoretischer Sicht um ein äußerst komplexes Phänomen, an dessen Entstehung bekanntlich zahlreiche individuelle Faktoren (z.B. Alter, Geschlecht, tageszeitabhängiges Leistungsvermögen, Affekte, Sprachstand, zuvor gelernte Fremdsprachen, Intelligenz, Übung, Grad der Anpassung an die Zielkultur, Persönlichkeit, Kommunikationspräferenzen), soziale Faktoren (z.B. Nationalität, Religionszugehörigkeit, Rollenverhalten, sozialer Status, Mentalität) und pragmatische Faktoren (z.B. Art des Interaktionspartners, Gesprächsgegenstand, Intentionen) beteiligt sind. Angesichts der beträchtlichen Menge an potentiell wirksamen Variablen erweist es sich als schwierig, einzelne Wirkungsmomente hinsichtlich der Größe ihres Einflusses auf die L2-Produktion zu bestimmen. Auch lassen sich die vielen ]F[,1ll! L 32 (2003) 6 Gert Henrici, Olaf Bärenfänger, Karin Aguado, Sabine Beyer Variablen nur schwer gleichzeitig im Rahmen von Experimenten kontrollieren. Erkenntnisse wie diese haben in Zusammenhang mit dem L2-Erwerb zur Formulierung der "Einzelgängerhypothese" (RIEMER 1999) geführt, die sicherlich auch im Bereich von L2- Produktionsprozessen Gültigkeit beanspruchen kann. Jede Sprachproduktion stellt demnach einen hochgradig individuellen Akt dar, der auf Grund der unterschiedlichen außersprachlichen Voraussetzungen nie mit dem eines anderen Sprechers identisch ist. Dessen ungeachtet ist es natürlich auch geboten, von individuellen Faktoren zu abstrahieren und nach allgemeinen kognitiven Gesetzmäßigkeiten zu suchen, auf die die unterschiedlichen Produktionen zurückgehen. Eher praktische Probleme resultieren aus dem flüchtigen Charakter mündlicher Äußerungen. Um gesprochene Sprache angemessen untersuchen zu können, müssen die auf Audio- oder Videobändern konservierten Originaläußerungen transkribiert werden ein mühseliger sowie zeit- und personalaufwendiger Vorgang. Als unmittelbare Folge davon lassen sich nur strikt begrenzte Mengen mündlicher Äußerungen zum Gegenstand diesbezüglicher Untersuchungen machen. Erschwerend kommt hinzu, daß Transkriptionen zwangsläufig eine (gelegentlich auch fehlerhafte) Interpretation und damit immer zugleich eine Reduktion des ursprünglich Gesagten darstellen (vgl. HENRICI 2001: 37). Entsprechend kann man Transkriptionen nicht den Vorwurf ersparen, sie ermangelten der für wissenschaftliche Untersuchungen unabdinglichen Objektivität. Zur Kompensation dieser Schwäche müssen die Transkripte von mehreren anderen Transkribenten überarbeitet werden, was wiederum den zu betreibenden Aufwand erheblich erhöht. Für die Untersuchung mündlicher Äußerungen typische Schwierigkeiten ergeben sich schließlich auch bei der Analyse der Transkripte. Da für die gesprochene Sprache anders als für die Schriftsprache keine normative Grammatik vorliegt, erscheint es nur begrenzt sinnvoll, Äußerungen gemäß ihrer Korrektheit zu beurteilen (eine Ausnahme bildet hier die Morphosyntax, für die es auch in der gesprochenen Sprache relativ verbindliche Regeln gibt). Analog dazu stellt sich hinsichtlich der Kategorien Flüssigkeit (jluency), Komplexität oder pragmatische Angemessenheit die Frage nach den Kriterien: Auf welcher Grundlage fällt die Entscheidung, ob eine Äußerung flüssig, komplex resp. angemessen ist? Ist Komplexität überhaupt eine Eigenschaft, die bei der mündlichen Produktion angestrebt wird? Und decken sich die Kriterien für Flüssigkeit, Komplexität und Angemessenheit mit dem Sprachgefühl linguistisch ungeschulter Muttersprachler? Bei der großen Zahl an Problemen und offenen Fragen verwundert es nicht, daß sich vergleichsweise wenige Arbeiten empirisch mit Aspekten der mündlichen L2-Produktion beschäftigen (siehe dazu den Forschungsüberblick von STEVENER in diesem Band [27-49] und CROOKES 1991). Dabei wäre dies in jedem Falle wünschenswert, denn erst ein in die Tiefe reichendes Verständnis erlaubt eine gegenstandsangemessene Beurteilung der mündlichen Performanz von Fremdsprachenlernern. Auf dieser Grundlage könnte z.B. geklärt werden, welche Rolle der eigene Output beim Fremdsprachenerwerb spielt, oder mit anderen Worten: inwieweit die Performanz auf die sich entfaltende Kompetenz zurückwirkt (SWAIN 1985; siehe auch AGUADO in diesem Band [11-26]). In der Praxis könnte eine umfassende empirisch abgesicherte Theorie der mündlichen L2-Produktion als Grundlage für die Entwicklung von Mitteln zur Einschätzung von mündlichen Lei- FLl.llL 32 (2003) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 stungen und Lernfortschritten dienen sowie ggf. zur Diagnose von Kompetenzdefiziten. Dies würde schließlich auch die maßgeschneiderte Entwicklung von fremdsprachenerwerbsspezifischen Steuerungs- und Interventionstechniken erlauben. Das Bielefelder Forschungsprojekt zur „Mündlichen Produktion in der Fremdsprache Deutsch"; das in diesem Band zusammen mit den Ergebnissen eines zum Projekt veranstalteten international-interdisziplinär besetzten Expertenkolloquiums umfassend dargestellt wird, ist bestrebt, die mündliche fremdsprachen(erwerbs)spezifische Produktionsforschung ein Stück voranzubringen, auch wenn am Ende festzustellen ist, daß empirische Forschung nur mühsam und in kleinen Schritten vorankommt. Aber auch das ist lohnenswert, zumal wenn mit empirischer Forschung immer theoretischer und methodologisch-methodischer Erkenntriisfortschritt verbunden ist. Dieser betrifft beispielsweise die Kombinatorik von (quasi-) natürlichen und experimentell gewonnenen Daten, von Produkt- und Prozeßstudien, von qualitativen und quantitativen Daten und Meßinstrumenten sowie von Querschnitt- und Längsschnittverfahren. Zum Einstieg liefert Karin AGUAD0 (Bielefeld) einen allgemeinen Überblick über den aktuellen Forschungsstand bezüglich der kognitiven Konstituenten der mündlichen L2- Produktion, i.e. Aufmerksamkeit, Monitoring und Automatisierung. Nach einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen sprachlichen, interaktiven und psychologischen Funktionen, die der mündlichen Sprachproduktion zukommen und die ihren zentralen Stellenwert für den Fremdsprachenerwerb belegen, werden die wichtigsten Erkenntnisse aus.kognitiortspsychologischer und spracherwerbsspezifischer Sicht dargestellt und im Hinblick auf den Erwerbsprozess diskutiert. Der Beitrag von Jan STEVENER (Khon Kaen) fokussiert methodisch•methodologische Aspekte der empirischen Untersuchung der kognitiven Prozesse Aufmerksamkeit, Automatisierung und Monitoring als zentrale Variablen des L2-Produktionsprozesses. Dabei geht es um Fragen der Gegenstandsdefinition, des Forschungsdesigns, der Operationalisierung und der Auswertung. Die angemessene Berücksichtung dieser Aspekte ist insbesondere im Hinblick auf die Einschätzung und die Vergleichbarkeit empirischer Studien unverzichtbar. Abschließend plädiert Stevener daher für die Schaffung eines theoretischen Rahmens, der überprüfbare Annahmen über die Wechselwirkungen der untersuchten kognitiven Prozesse und ihre Rolle im L2-Erwerb gestattet. Ziel des Beitrags von Olaf BÄRENFÄNGER (Hagen) ist die detaillierte Beschreibung des im Rahmen des DFG-Projekts „Mündliche L2-Produktion" entwickelten psycholinguistischen Experiments, mittels dessen die Auswirkungen von Aufmerksamkeitsprozessen auf die mündliche Produktion in der Fremdsprache untersucht wurden, wobei Monitoringprozesse sowie der Gebrauch sprachlicher Automatismen von besonderer Relevanz sind. Es erfolgt eine ausführliche Darstellung der Datenerhebung (Versuchspersonen, Apparatur, Material, Design und Ablauf, Gegenstand, Operationalisierung, Maße, Gütekriterien,·Durchführbarkeit) sowie der Datenaufbereitung (Archivieren, Segmentierung der Audiodateien, Transkription, Übertragung in Excel). Sabine BEYER (Bielefeld) stellt den longitudinalen Aspekt des vom Projekt entwickelten Untersuchungsdesigns vor. Das von ihr beschriebene Interview zur Elizitierung Mündlicher Sprachdaten (/ EMS) wurde im Laufe des Untersuchungszeitraums dreimal lFLllL 32 (2003) 8 Gert Henrici, OlafBärenfä,nger, Karin Aguado, Sabine Beyer durchgeführt. Der Beitrag zeigt anhand einer Fallstudie auf, wie die so gewonnenen Sprachdaten hinsichtlich der Fragestellungen des Projekts ausgewertet werden können. Im Zentrum der Analyse stehen dabei temporale Variablen und Selbstreparaturen. Erste Ergebnisse legen nahe, daß die Entwicklung von Sprechkompetenz ein höchst individueller Prozess ist, der unter anderem vom Aufmerksamkeitsfokus der Lernenden abhängt. Der Beitrag von Kees DE BOT (Groningen) erweitert das Sprachproduktionsmodell von LEVELT (1989) um die für multilinguale Sprachproduktion kennzeichnenden Aspekte. Dabei erörtert de Bot besonders den Einfluß von Mehrsprachigkeit auf die Planung von Äußerungen sowie die Rolle des Monitors bei der Sprachwahl. Innerhalb des multilingual processing models prüft ein sogenannter language node den Output hinsichtlich der gewählten Sprache und bereitet die Produktion durch die Selektion der entsprechenden Sprache vor. Schließlich erörtert de Bot die Frage, ob ein sprachspezifischer Zugriff auf das Lexikon besteht. Jüngste Erkenntnisse über die Verankerung sprachspezifischer Informationen auf der Ebene der Konzeptualisierung werfen ein neues Licht auf bisherige Modelle des bilingualen Lexikons. Die Rolle des Monitors für den Spracherwerb wird von Ulrich SCHADE (Wachtberg) genauer beleuchtet. Über das Modell von Levelt hinaus, in dem das Monitoring den Sprachrezeptionskomponenten zugeordnet ist, beschreibt Schade einen produktionsinternen Monitor, der weitgehend automatisiert abläuft und darum schnell in die laufende Produktion eingreifen kann. Eine Analyse des Fehlers findet dabei nicht statt. Schade nimmt an, daß diese Art des Monitorings hemmend auf die zweitsprachliche Produktion wirken kann, während der Rezeptionsmonitor durch die Analyse des Fehlers im Sinne eines Lernens durch Handeln zum Spracherwerb beiträgt. Eine solche Funktion kann der Produktionsmönitor nur ausüben, wenn durch die Aufwendung von Aufmerksamkeit die Rezeptionskomponenten hinzugezogen werden. Das Selbstreparaturverhalten von Fremdsprachenlernern und die damit verbundenen Aufmerksamkeitsprozesse erläutert Judit KORMOS (Budapest) am Beispiel der qualitativen Analyse der in einem Rollenspiel erhobenen Sprachproduktionsdaten zweier ungarischer Lerner des Englischen und der daraufbezogenen Retrospektionen. Die Analyse der Daten zeigt erhebliche Unterschiede im Reparaturverhalten der beiden Sprecher, die Kormos dem unterschiedlichen Automatisiertheitsgrad auf den verschiedenen Stufen des Spracherwerbs zuschreibt. Je weniger Aufmerksamkeit für die Planung und Kontrolle grammatischer Strukturen benötigt wird, desto mehr Aufmerksamkeit kann auf komplexere Aspekte der Sprachproduktion wie lexikalische oder pragmatische Angemessenheit gerichtet werden. In ihrer Studie vergleicht Ulrike GUT (Bielefeld) die Sprachproduktion von Lernern des Deutschen als Fremdsprache mit der von deutschen Muttersprachlern hinsichtlich prosodischer Merkmale. Unterschiede in der temporalen und metrischen Organisation von Silben führt sie auf den·Einfluß der Muttersprache zurück. Dieser Effekt zeichnet sich allerdings bei weniger fortgeschrittenen Lernern am deutlichsten ab. Abschließend diskutiert Gut, was die Ergebnisse für ein bilinguales Sprachproduktionsmodell bedeuten. Anhand einiger Daten aus dem Bielefelder Korpus erörtert Manfred RAUPACH (Kassel) die Relevanz psycholinguistischer Variablen für die Untersuchung mündlicher L2- Jl1LlllL 32 (2003) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 Produktion. Neben temporalen und sprachlichen Variablen nennt er auch eine Reihe anderer Faktoren, die auf die Sprachproduktion von Fremdsprachenlernern einwirken und deren Auswirkungen nur schwer einzuschätzen sind. Raupachs beispielhafte Analyse ausgewählter Daten zweier Sprecher macht denn auch deutlich, daß es einer sorgfältigen qualitativen Analyse der Daten bedarf, um das Zusammenspiel dieser Variablen angemessen interpretieren zu können. Die Ausführungen zeigen jedoch auch, daß gerade ein solches Vorgehen lohnende Erkenntnisse im Hinblick auf die Entwicklung eines Sprachproduktions- und -erwerbsmodells mit multilingualer Ausrichtung bringen kann. Horst MÜLLER (Bielefeld) befaßt sich in seinem Beitrag mit den neurobiologischen Aspekten der Sprachverarbeitung und des Spracherwerbs. Neben neuesten Technologien und Verfahren zur Untersuchung der Sprachverarbeitung im Gehirn werden aktuelle empirische Ergebnisse der Kognitiven Neurowissenschaft und der Experimentellen Neurolinguistik hinsichtlich der Untersuchung neurophysiologischer Vorgänge beim Spracherwerb dargestellt. Jüngste neurobiologische Befunde bestätigen langjährige Erfahrungen mit Sprachlernern (z.B. in bezug auf den Erwerb von Konkreta vs. Abstrakta) und liefern empirisch fundierte Anregungen für die didaktische Praxis. Auch die insbesondere für die Sprachlehr- und -lernforschung wichtige Frage nach einer hirnphysiologisch begründeten „kritischen Phase" für den Spracherwerb wird intensiv untersucht. Aufgrund der sich abzeichnenden vielversprechenden Perspektiven plädiert Müller für eine verstärkte Kooperation zwischen den Kognitiven Neurowissenschaften und der Angewandten Linguistik. Aus einer konversationsanalytischen Perspektive stellt Ulrich DAUSENDSCHÖN-GAY (Bielefeld) Interaktion als die Bedingung für das Vorkommen jeder Art von Sprachproduktion dar. Sprachproduktion wird nicht als isolierter Äußerungsakt eines einzelnen Sprechers aufgefaßt, sondern als ein Herstellungsprozeß in dem höchst komplexen Handlungszusammenhang einer sozialen Interaktion. Dabei setzt die Produktion nicht nur eine hohe Verstehenskompetenz für vorangegangene Kommunikationsereignisse voraus, sie erfordert auch die Orientierung am Partner. Erforderlich ist in diesem Zusammenhang eine Interaktionsgrammatik, die die Beschreibung von Verfahren der interaktiven, dynamischen Anpassung an lokale und situative Gegebenheiten enthält und die Komponenten Formulierungsarbeit, Strukturierungsaktivitäten, Image und soziale Beziehung umfaßt. Zusammenfassend fordert Dausendschön-Gay die Verbindung von wesentlichen Grundannahmen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und von sozio-kognitiven Ansätzen zu situierter Kognition mit dem Ziel, ein angemessenes theoretisches Konzept für die Modellierung von Lernprozessen in sozialer Interaktion zu entwickeln. Willis J. EDMONDSON (Hamburg) thematisiert das Verhältnis von Sprachproduktion und Spracherwerb. Von besonderem Interesse ist für ihn dabei die Frage, wie sprachliches Wissen in den verschiedenen Phasen des Erwerbs gespeichert wird. Nach einer kritischen Betrachtung der Funktionen, die dem Output in der einschlägigen Literatur zugeschrieben werden, erfolgt die Skizzierung einer kognitiven Theorie des Zweitsprachenerwerbs. Der Diskussion der Rolle von chunks folgt die Erörterung der Frage nach der Rolle der Wahmehmung des eigenen Outputs für den Spracherwerb und die Frage nach der erwerbsfördernden Funktion der produktiven Verwendung der L2. IFLwL 32 (2003) 10 Gert Henrici, Olaf Bärenfänger, Karin Aguado, Sabine Beyer Literatur AGUADO, Karin (Hrsg.): Zur Methodologie in der empirischen Fremdsprachenforschung. Baltmannsweiler: Schneider. AGUADO, Karin/ RIEMER, Claudia (Hrsg.) (2001): Wege und Ziele. Zur Theorie, Empirie und Praxis des Deutschen als Fremdsprache (und anderer Fremdsprachen). Festschrift für Gert Henrici zum 60. Geburtstag. Baltmannsweiler: Schneider. AGUADO, Karin/ RIEMER, Claudia (2001): "Triangulation: Chancen und Grenzen mehrmethodischer empirischer Forschung". In: AGUADOIRIEMER (Hrsg.) (2001), 245-257. ARBEITSGRUPPE FREMDSPRACHENERWERB BIELEFELD (1996): "Fremdsprachenerwerbsspezifische Forschung. Aber wie? Theoretische und methodologische Überlegungen". In: Deutsch als Fremdsprache 33.3-4, 144-155 und 200-210. 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