eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 32/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2003
321 Gnutzmann Küster Schramm

Mündliche Produktion in der Fremdsprache

121
2003
Olaf Bärenfänger
flul3210050
Olaf Bärenfänger * Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment Abstract. There is general agreement that attention processes play a crucial role in oral speech production. For instance, if a speaker combines words creatively to ! arger units, or if he is monitoring his output regarding its syntactical correctness or pragmatic appropriateness, attention resources arr needed. As of yet, an attention based theory of oral L2 production is still a research desideratum. This paper therefore attempts to clarify the impact of attenticin on the oral production of L2 learners, especially in terms of monitoring and automaticity. A psycholinguistic experiment is proposed which manipulates the learners' attention in a 2x3 design by varying the focus of attention and the interactional setting. The resulting data may help to establish a better understanding of how pragmatic factors influence the performance of L2 learners. 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag zielt darauf, die nicht sehr zahlreichen empirischen Studien zur mündlichen Produktion in der Fremdsprache (im folgenden als mündliche L2-Produktion bezeichnet) um die ausführliche Beschreibung eines psycholinguistischen Experiments zu ergänzen. Dieses soll vor allem die Auswirkungen von Aufmerksamkeitsprozessen auf die mündliche Produktion von L2-Lemem**, und zwar speziell im Hinblick auf Automatisierungs- und Monitoringprozesse aufzeigen (zu den theoretischen Zusammenhängen siehe den Beitrag von AGUADO, i diesem Band [11-26]). Trotz der vielfältigen denkbaren Einflußfaktoren wird hier also der Versuch unternommen, die mündliche fremdsprachliche Produktion in erster Linie als Resultat einer zentralen Variable, der Aufmerksamkeit, zu konzeptualisieren. Der zunehmende Konsens in der Literatur über die grundlegende Rolle von Aufmerksamkeitsprozessen beimL2-Erwerb (vgl. z.B. die noticing-Hypothese von SCHMIDT 1990, 1993, 1994; siehe auch TOMLINNILLA 1994; ROBINSON 1995) und bei der L2-Produktion (vgl. z.B. TARONE 1983; TARONEIPARRISH 1988; DE BOT 1992; FOSTERISKEHAN 1996; BYGATE 1996; KORMOS 2000a) bestätigt die Berechtigung dieses Vorgehens. WONG (2001: 346) geht sogar so weit zu behaupten "that attention is a necessary construct for understanding virtually every aspect of SLA [ = second language acquisition; O.B.]". Korrespondenzadresse: Dr. Olaf BÄRENFÄNGER, FernUniversität Hagen, TestDaF-Institut, Elberfelder Str. 103, 58084 HAGEN. E-mail: olaf.baerenfaenger@testdaf.de Arbeitsbereiche: Testmethodik, Psycholinguistik des Fremdsprachenerwerbs, Discourse Studies. ** Bezeichnungen wie „Lerner", .,Lehrer", .,Forscher" usw. werden im vorliegenden Beitrag durchweg im generischen Sinne verwendet. Sie schließen das weibliche Äquivalent prinzipiell mit ein. lFLulL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 51 Die durch das Experiment gewonnenen und aufbereiteten Daten bilden einen wesentlichen Bestandteil des Bielefelder Korpus mündlicher Sprachdaten, das im Zuge der Arbeiten im DFG-Projekt „Zur Funktion der mündlichen L2-Produktion und zu den damit verbundenen kognitiven Prozessen für den Erwerb der fremdsprachlichen Sprechfertigkeit" aufgebaut wurde (Details über das Forschungsprojekt finden sich in der Darstellung von BÄRENFÄNGERIBEYER 2001 sowie auf der Homepage unter der Adresse http: / / www.uni-bielefeld.de/ lili/ projekte/ L2-pro). Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Transparenz erfolgt die Darstellung im nächsten Kapitel anhand eines Kriterienkatalogs, den BÄRENFÄNGER/ STEVENER (2001) für die Evaluation von Datenerhebungsverfahren in der Empirischen Fremdsprachenerwerbsforschung vorgeschlagen haben. Das darauffolgende Kapitel thematisiert die Datenaufbereitung. 2. Die Datenerhebung 2.1 Kurzbeschreibung Mit Hilfe eines zweifaktoriellen experimentellen Designs soll bei der mündlichen L2- Produktion der Zusammenhang zwischen der unabhängigen Variable Aufmerksamkeit und den abhängigen Variablen Monitoring sowie Gebrauch sprachlicher Automatismen erhellt werden. Der erste der beiden experimentellen Faktoren richtet den Aufmerksamkeitsfokus der Probanden entweder auf die Korrektheit einer L2-Produktion oder auf ihren Inhalt. Durch den zweiten Faktor wird die Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Interaktionspartner manipuliert. In jeder der sechs experimentellen Bedingungen gaben die Versuchspersonen zuerst einen Text wieder und beschrieben dann einen Cartoon. Im Anschluß an jede der Aufgaben fand eine kurze Retrospektion statt. Nach der Datenerhebung wurden die gewonnenen Audiodaten auf CD-ROM archiviert und mit Hilfe der Software Transcriber segmentiert und orthographisch transkribiert. 2.2 Versuchspersonen Das Experiment ist auf fortgeschrittene L2-Lemer mit der Zielsprache Deutsch zugeschnitten, die bereits populärwissenschaftliche Texte verstehen können; solche werden bei der Textreproduktion als Stimulusmaterial dargeboten. Als weitere Voraussetzung müssen die Versuchspersonen über hinreichende produktive Fähigkeiten in der Zielsprache verfügen. Konkret setzte sich die Probandengruppe aus 16 ausländischen Studienbewerbern zusammen, die von Herbst 2000 bis Sommer 2001 an der Universität Bielefeld den Sprachkurs zur Vorbereitung auf die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH) besuchten. Diese Probandenzahl erscheint angesichts des within-subject-Designs hinreichend groß, um auch statistisch aussagekräftige Ergebnisse erzielen zu können. Eine noch umfangreichere Probandengruppe wäre wegen des großen Organisationsaufwands und der zeitaufwendigen Transkriptionsarbeiten mit den vorhandenen Ressourcen nicht realisierbar gewesen. Das Durchschnittsalter der VersuchslFLlllL 32 (2003) 52 Olaf Bärenfänger personen lag bei ca. 25 Jahren (Standardabweichung 4.0), fünf von ihnen waren männlich und 11 weiblich. Hinsichtlich der Muttersprachen und der Nationalitätszugehörigkeit war die Probandengruppe vergleichsweise heterogen. Herkunftsländer sind die USA, Polen, Mazedonien, Ghana, Kroatien, die VR China, Malaysia, Marokko, Griechenland, Korea und Japan. 2.3 Apparatur Für die Aufnahme der von den Probanden produzierten Äußerungen wurde der DAT- Recorder „Sony TCD-D 100" eingesetzt. Das digitale Aufnahmeformat erlaubt durch seine hohe Qualität neben konventionellen Diskursanalysen insbesondere präzise phonetische und prosodische Analysen. Außerdem lassen sich die digitalen Daten bequem und preiswert mit PCs aufbereiten, auf CDs archivieren und über das World Wide Web austauschen. Um einem Datenverlust in der Folge von technischen Fehlern vorzubeugen, erfolgte eine zusätzliche analoge Aufzeichnung mit dem Kassettenrecorder „Tandberg TCR 712". Darüber hinaus wurden die Sitzungen mit Hilfe einer VHS-Videokamera "Panasonic NV-M 50 EG" mitgeschnitten. Durch diese Maßnahme besteht die Option, für die Auswertung der Audiodaten auch Nonverbalia heranzuziehen (zur Bedeutung solcher interaktionaler Signale für die Kommunikation vgl. den Beitrag von DAUSEND- SCHÖN-GAY, in diesem Band [178-195]). 2.4 Material Als Stimulusmaterial für die Textreproduktion erhielten die Versuchspersonen in jeder experimentellen Bedingung einen ihrem sprachlichen Niveau entsprechenden expositorischen Fachtext. Die Titel lauten im einzelnen: "Gehirn-Jogging", "Jugend heute", "Städte im Wandel", "Die Sonne", "Chronobiologie: Die innere Uhr des Menschen", "Wie lernt und arbeitet man richtig? ", "Bildungsprobleme in der Dritten Welt" sowie „Die Sprache und der Sprachlerner". Um ein Mindestmaß an Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurde ausschließlich auf Texte aus früheren DSH-Prüfungen zurückgegriffen. Überdies gehört jeder Text demselben Genre an, weist einen vergleichbaren Schwierigkeitsgrad auf, ist ca. 300 Wörter lang und in sechs Abschnitte unterteilt. Den Probanden möglicherweise unbekannte Vokabeln wie „Verkalkung" sind in Fußnoten erläutert (siehe das Textbeispiel im Anhang, S. 67). Die für die Bildbeschreibungen eingesetzten Cartoons stammen sämtlich von dem amerikanischen Zeichner Gary LARSON (1988). Jede Zeichnung stellt mit schwarzem Humor eine Szene dar, die jeweils durch eine Bildunterschrift von einem Satz Länge ergänzt wird. Auf Grund der Kulturspezifik von Humor ist kaum damit zu rechnen, daß alle Versuchspersonen die Pointen der Cartoons erfassen. In Anbetracht dessen lautete die Anweisung nicht, den Witz wiederzugeben, sondern lediglich, die abgebildete Situation zu beschreiben. Ein Beispieltext und -cartoon sind im Anhang (S. 68) wiedergegeben. lFLd 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 53 Als Redeanlässe wurden sowohl ein Text als auch ein Cartoon gewählt, um für jede experimentelle Bedingung L2-Produktionen mit einem sprachlichen Input und solche ohne sprachlichen Input zu erhalten. Bei dem Einsatz von Cartoons ist eine unbewußte kognitive Voraktivierung des relevanten Wortschatzes (lexikalisches Priming) und der Grammatik (syntaktisches Priming) ausgeschlossen. Infolgedessen kann die Performanz der Probanden hier eindeutiger als bei den Textwiedergaben auf die produktiven Fähigkeiten eines Probanden zurückgeführt werden. Dem Verfahren kommt somit eine höhere interne Validität zu. 2.5 Design und Ablauf Es handelt sich um ein 2x3 Design, bei dem der erste Faktor den Aufmerksamkeitsfokus bei der Sprachproduktion betrifft und der zweite Faktor den Interaktionspartner. Der Aufmerksamkeitsfokus der Probanden wurde durch Instruktionen entweder auf die sprachliche Korrektheit ihrer mündlichen Produktionen gerichtet "Form") oder auf deren inhaltliche Vollständigkeit "Inhalt"). Die Instruktion durch den Versuchsleiter lautete im ersten Fall: "Achten Sie besonders darauf, [bei der Textreproduktion resp. der Cartoonbeschreibung] möglichst keine sprachlichen Fehler zu machen"; und im zweiten Fall: „Achten Sie besonders darauf, den Text möglichst ausführlich wiederzugeben / das Bild möglichst ausführlich zu beschreiben". Der zweite Faktor Interaktionspartner konnte drei Ausprägungen annehmen. Die Versuchspersonen wurden entweder einer Interaktion mit einem hochrangigen Muttersprachler ausgesetzt, einer Dozentin des Fachs Deutsch als Fremdsprache, einer Interaktion mit einem gleichrangigen Muttersprachler, einer muttersprachlichen Studentin des Fachs Deutsch als Fremdsprache; und schließlich einer Interaktion mit einem gleichrangigen Nicht-Muttersprachler, einem Kommilitonen aus ihrem Sprachkurs. Somit ergeben sich die folgenden sechs experimentellen Bedingungen mit jeweils charakteristischen Anforderungen an die Aufmerksamkeit der L2-Lerner: ~ Sozial höherrangiger Sozial gleichrangiger Gleichrangiger r Muttersprachler Muttersprachler Nicht-Muttersprachl. s (Dozentin) (Studentin) (Kommilitone) Form 1. Sitzung 2. Sitzung 3. Sitzung Inhalt 4. Sitzung 5. Sitzung 6. Sitzung Abb. 1: Experimentelle Bedingungen und Reihenfolge ihrer Durchführung Wie Abbildung 1 veranschaulicht, durchliefen alle Probanden alle experimentellen Bedingungen (within-subject-Design), und zwar in derselben Reihenfolge. In jeder Bedingung wurde dasselbe Stimulusmaterial präsentiert (nur in der 3. und 6. Sitzung gab es je zwei Texte und zwei Cartoons, damit die Versuchspersonen nicht denselben Text resp. JFJLIIL 32 (2003) 54 Olaf Bärenfänger denselben Cartoon verwenden mußten). Vor der eigentlichen Durchführung fanden drei Probesitzungen statt, in denen die Probanden mit den Aufgabenstellungen, den jeweiligen lnteraktionspartnem, den Aufnahmegeräten und der Untersuchungssituation im allgemeinen vertraut gemacht werden sollten. Durch die drei Probeläufe ist es nahezu auszuschließen, daß Unterschiede zwischen den experimentellen Bedingungen auf Lern- oder Trainingseffekte zurückzuführen sind. Einmalig erhielten die Versuchspersonen recht allgemein gehaltene Informationen über Art, Ziele und Ablauf der Untersuchung; auch ein strikt vertraulicher Umgang mit persönlichen Daten wurde ihnen zugesichert. In bezug auf ihren Ablaufwaren alle Sitzungen gleich strukturiert. Zu Beginn stand ein kurzes warming up, in dem die Probanden ihre zu erwartende Befangenheitspeziell im Umgang mit dem hochrangigen Muttersprachler verlieren sollten. Andererseits sollten jedoch auch die sozialen Rangverhältnisse klargestellt werden, etwa indem der Versuchsleiter den hochrangigen lnteraktionspartner (im Gegensatz zu den beiden anderen Interaktanten) mit akademischem Titel anredete. In der eigentlichen Experimentalphase erhielten die Probanden 15 Minuten Zeit, den ihnen vom Versuchsleiter vorgelegten Text zu lesen und sich stichwortartige Notizen zu machen; diese durften sie als Gedächtnisstütze auch während der Textreproduktion verwenden. Um Vorformulierungen zu vermeiden, wurden die Versuchspersonen allerdings gebeten, sich keine ganzen Sätze aufzuschreiben. Nach Ablauf der Vorbereitungszeit schaltete der Versuchsleiter die Aufnahmegeräte ein und forderte die Probanden auf, ihrem jeweiligen Interaktionspartner den Text wiederzugeben. Dabei wurde der Aufmerksamkeitsfokus per geeigneten Instruktionen entweder auf die Korrektheit oder die Ausführlichkeit der Produktion gelenkt. Der Interaktionspartner war angewiesen, sich mit Kommentaren, Fragen oder Hilfestellungen soweit als möglich zurückzuhalten. Für die Textreproduktion stand den Probanden beliebig viel Zeit zur Verfügung. Während deren Dauer verließ der Versuchsleiter den Raum, um nicht die Sprachproduktion durch seine Anwesenheit zu beeinflussen. Nach Beendigung initiierte der Interaktionspartner ein kurzes retrospektives Gespräch über den Text und über spezifische Probleme beim Lösen der Aufgabe. Waren die Interaktionspartner gleichrangige Nicht-Muttersprachler (in der 3. und 6. Sitzung), vergaßen sie allerdings gelegentlich, die Retrospektion durchzuführen. In einer zweiten Aufgabe bekamen die Versuchspersonen einen Cartoon präsentiert, den sie ihrem jeweiligen Interaktionspartner beschreiben sollten. Sie wurden darauf hingewiesen, daß der lnteraktionspartner die Zeichnung nicht kenne. Auch bei dieser Aufgabe wurde ihre Aufmerksamkeit in der bereits genannten Weise gelenkt. Wiederum hatten die Probanden für die Aufgabe nach Belieben Zeit. Der Cartoonbeschreibung folgte eine zweite kurze Retrospektion, In der abschließenden Phase erhielten die Versuchsteilnehmer eine Aufwandsentschädigung, und es wurde ein Termin für die nächste Experimentalsitzung vereinbart. Pro Einzelsitzung ist eine Dauer von ca. einer Stunde zu veranschlagen. Zur Erfassung von Moderatorvariablen, die bei der Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten von großem Nutzen sein können, füllten die Probanden vor Beginn des Experiments einen Lemerfragebogen aus. Dieser zielt in 28 Punkten auf demographische Variablen, die individuelle Lemerbiographie, motivationale Aspekte des Fremdspra- FLi.liL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 55 chenerwerbs sowie auf Selbsteinschätzungen bezüglich bereits erworbener Teilkompetenzen in der Fremdsprache (vgl. BÄRENFÄNGER 2002b). Fernerhin sind die Daten aus den beiden Retrospektionen in erster Linie zur internen Validierung der Experimentaldaten vorgesehen. 2.6 Gegenstand des Experiments Gegenstand des Experiments sind die Zusammenhänge zwischen Aufmerksamkeitsprozessen, wie sie bei der mündlichen L2-Produktion wirksam sind, und dem Monitoring des Outputs durch die Sprecher sowie ihr Gebrauch von sprachlichen Automatismen (theoretische Details hierzu sind dem Beitrag von AGUADO, in diesem Band [11-26], zu entnehmen). Im übrigen lassen sich die mit dem entwickelten Design erhobenen Daten auch in Zusammenhang mit anderen Fragestellungen bringen, beispielsweise ob sich die morphosyntaktische Korrektheit des mündlichen Outputs in Abhängigkeit der sechs experimentellen Bedingungen verändert oder, analog dazu, ob die Sprecher jeweils andersartige pragmatische Strategien verfolgen. 2.7 Operationalisierung Aufmerksamkeit: Hinsichtlich der unabhängigen Variable Aufmerksamkeit ergeben sich über die Manipulation der Interaktionssituation vor allem unterschiedliche Anforderungen an die Menge der für die L2-Produktion notwendigen Aufmerksamkeit. Beim hochrangigen, deutschsprachigen Muttersprachler muß ein Proband sowohl durch die pragmatische Angemessenheit seiner Äußerungen dem höheren Rang seines Interaktionspartners Rechnung tragen als auch berücksichtigen, daß dieser als Muttersprachler für Fehler vergleichsweise sensibel ist. Dieser Umstand ist zwar auch beim gleichrangigen Muttersprachler (Student) gegeben, allerdings beansprucht derselbe soziale Rang keine größeren Aufmerksamkeitsressourcen. Am wenigsten Aufmerksamkeit sollte schließlich die Interaktion mit einem anderen L2-Lerner (Kommilitone aus dem Sprachkurs) erfordern, der in bezug auf seinen sozialen Rang nicht exponiert ist und auch Fehler nicht in demselben Maße bemerken dürfte wie die beiden anderen Interaktionspartner. Insofern eine bewußte, d.h. aufmerksamkeitsintensive Sprachproduktion zu „kreativer" Sprache führt, dem Gegenpol von automatisierter Sprache (DEKEYSER 2001), sind in der ersten Interaktionssituation nur wenige sprachliche Automatismen zu erwarten, in der zweiten schon mehr und in der dritten am meisten. Dagegen sollte, bedingt durch sozial induzierte abnehmende Aufmerksamkeitsanforderungen, eine abfallende Monitortätigkeit auftreten. Durch die Richtung des Aufmerksamkeitsfokus werden den Versuchspersonen zwei Dimensionen ihrer Sprachproduktion bewußtgemacht, alternativ deren Korrektheit oder deren Inhalt. Diese Dichotomie folgt der Beobachtung von V ANPATTEN (1990, 1994, 1996), daß Sprachlerner am Anfang des Erwerbsprozesses bei der Verarbeitung von Input ihre Aufmerksamkeit entweder auf dessen Form oder dessen Inhalt lenken. Als Hypothese ergibt sich bei einer Übertragung dieses Befunds auf die Gegebenheiten der lFJLllllL 32 (2003) 56 Olaf Bärenfänger mündlichen L2-Produktion, daß die Probanden qua Monitoring die Einhaltung der jeweiligen Vorgaben überprüfen sollten. Mit anderen Worten: Sie sollten verifizieren, ob sie tatsächlich so wenig sprachliche Fehler wie möglich gemacht resp. ob sie den Inhalt des Textes oder Cartoons vollständig wiedergegeben haben. Es ist beispielsweise zu erwarten, daß intensives Monitoring im Bereich der (Morpho-) Syntax auftritt, wenn der Aufmerksamkeitsfokus auf Korrektheit gerichtet ist. Da die Aufmerksamkeitsressourcen eines Sprechers generell begrenzt sind (SCHMIDT 1990, 1993, 1994), sollten zur Kompensation für die intensive Aufmerksamkeit in einem Bereich der Sprachproduktion in anderen Bereichen Automatismen eingesetzt werden, beispielsweise gefüllte Pausen als pragmatische Automatismen zur Gewinnung von Planungszeit im Falle einer Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Korrektheit. Automatismen: Die abhängige Variable Gebrauch von Automatismen wird in der Psychologie allgemein beschrieben als schnelle und invariante Ausführung einer Reihe zusammenhängender Aufgaben (tasks), so daß zur gleichen Zeit kognitive Ressourcen für weitere Aufgaben zur Verfügung stehen. Demzufolge weisen automatisierte Prozesse eine hohe Ausführungsgeschwindigkeit sowie eine geringe Fehlerrate auf; sie werden relativ mühelos ausgeführt; es werden nur in geringem Maße kognitive Ressourcen (Aufmerksamkeit) verbraucht; der automatisierte Prozeß entzieht sich weitgehend der bewußten Kontrolle; und es lassen sich unterschiedliche Grade der Automatisiertheit ausmachen (vgl. z.B. SCHMIDT 1992; DEKEYSER 2001). Diesen allgemeinen Eigenschaften müßten im speziellen Fall der automatisierten L2-Produktion unter anderem eine hohe Sprech- und Artikulationsgeschwindigkeit, wenige Pausen (d.h. eine hohe phonation / time-ratio), längere zusammenhängende sprachliche Einheiten (d.h. eine hohe mean length of runs), die Abwesenheit von Dehnungen, zahlreiche Verschleifungen und schnelle Anschlüsse sowie die häufige Rekurrenz bestimmter sprachlicher ltems entsprechen (BÄRENFÄNGER 2002a). Monitoring. Als Monitoring wird derjenige kognitive Prozeß bezeichnet, der auf den einzelnen Ebenen der Sprachproduktion (etwa in der Terminologie von LEVELT 1989: conceptualizer, formulator und articulator) die jeweiligen (Zwischen-) Produkte auf Inadäquatheiten hin überprüft. Der Monitor ist imstande, sowohl phonetische, morphosyntaktische, syntaktische, lexikalische oder pragmatische Fehler zu identifizieren. Anders als sprachliche Automatismen kann das Wirken von Monitoringprozessen nur beobachtet werden, sofern der Monitor einen echten oder vermeintlichen Fehler korrigiert. Die sonstige Monitortätigkeit manifestiert sich nicht im sprachlichen Output. Demgemäß sind vor allem Selbstreparaturen, aber auch Pausen, Abbrüche, Fehlstarts und Verzögerungsphänomene Indikatoren für Monitoring (vgl. z.B. KORMOS 1999: 303). KoRMOS (2000b: 146) weist ergänzend auf die besondere Bedeutung zeitlicher Charakteristika für ein vertieftes Verständnis von Korrekturphänomenen hin. 2.8 Maße Die in Abschnitt 2.7 vorgeschlagenen Indikatoren für Monitoring und sprachliche Automatismen können unter anderem die in Tabelle 1 aufgeführten Ausprägungen lFLlllL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 57 annehmen. Es handelt sich freilich sowohl bei den Indikatoren als auch bei den Maßen um ergänzungsfähige Vorschläge. Weiterführende Details zu den Indikatoren und Maßen sind dem Beitrag von STEVENER (in diesem Band [27-49) zu entnehmen. Automatisierung Monitoring Sprechgeschwindigkeit [ = speech rate] Silben pro Minute Artikulationsgeschwindigkeit [= articulation rate] phonation/ time-ratio mean length of runs Rekurrenz linguistischer Items Verschleifungen schnelle Anschlüsse Abwesenheit von Dehnungen Selbstreparaturen Pausen Abbrüche Fehlstarts Silben pro Minute Prozentwert durchschnittliche Silbenzahl der sprachlichen Einheiten zwischen zwei Pausen > 280 ms Häufigkeit, Qualität und Zeitpunkt Häufigkeit und Qualität Häufigkeit und Qualität Häufigkeit und Qualität Häufigkeit, Qualität und Zeitpunkt Häufigkeit, Qualität, Zeitpunkt und Dauer Häufigkeit, Qualität und Zeitpunkt Häufigkeit, Qualität und Zeitpunkt Tab. 1: Indikatoren für die abhängigen Variablen und ihre Maße 2.9 Gütekriterien Um Aussagen über die Leistungsfähigkeit und das Erkenntnispotential des vorgestellten Verfahrens treffen zu können, scheinen die aus der klassischen Testtheorie überlieferten Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität gut geeignet (BÄRENFÄNGER, im Druck). Da das Experiment in der beschriebenen Form bislang erst einmal durchgeführt wurde, ist dies derzeit jedoch nicht auf empirischer Vergleichsbasis möglich. Die folgenden Überlegungen sind daher überwiegend theoretischer oder verfahrenstechnischer Natur. Objektivität. Ein hinreichendes Maß an Durchführungsobjektivität ist dann gegeben, wenn die erzielten Ergebnisse unabhängig vom Untersuchenden sind (vgl. z.B. LIENERT/ RAATZ 1994: 7). Aus zweierlei Gründen ist mit höchstens geringen Versuchsleitereffekten zu rechnen. Erstens kam es ohnehin kaum zu Interaktionen zwischen den Versuchsleitern und den Probanden. Im Detail beschränkten sie sich auf eine kurze Begrüßung, ein briefing über Art und Zielsetzungen der Untersuchung, die Ausgabe des Stimulusmatelf1Lw.. 32 (2003) 58 Olaf Bärenfänger rials und die diesbezügliche Instruktion, die Danksagung am Ende der Sitzung sowie die Vereinbarung eines neuen Termins. Zweitens waren die jeweiligen Interaktionen in den meisten Fällen stark standardisiert. Folglich ist die Durchführungsobjektivität des Experiments kaum als problematisch einzuschätzen. Reliabilität: Das Gütekriterium der Reliabilität oder Zuverlässigkeit „bezieht sich auf die Genauigkeit, mit der Testergebnisse eine Eigenschaft erfassen, unabhängig davon, ob der Test wirklich die Eigenschaft mißt, die gemessen werden sollte" (GROTJAHN 2000: 310). Demgemäß muß, um eine Vorstellung über die Reliabilität des vorgestellten Experiments zu erhalten, nach möglichen Fehlerquellen gefahndet werden. Durch die Gleichartigkeit des Stimulusmaterials und der Instruktionen, gleiche Vorbereitungszeiten für das Lesen der Texte, den uniformen Ablauf, den insgesamt hohen Grad an experimenteller Kontrolle und den Einsatz präziser Geräte sollte ein Großteil denkbarer Störfaktoren von vornherein auf ein Mindestmaß reduziert werden. Eine weitere Fehlerquelle stellen potentiell aus dem Design resultierende Reihenfolgeeffekte dar. Eine Ausbalancierung der experimentellen Bedingungen und des Materials über sechs Probandengruppen hätte indessen einen nicht mehr handhabbaren Organisationsaufwand bedeutet; außerdem wären die Experimentalgruppen sehr klein gewesen (zwei bis drei Probanden). Ferner können nicht kontrollierbare materialbedingte Effekte die Reliabilität der Untersuchung beeinträchtigen, z.B. weil sich ein Proband besonders gut mit einem Thema auskennt oder weil er Teile des Textes nicht versteht. Alles in allem scheint sich jedoch die Gesamtreliabilität auf einem auch für Experimente akzeptablen Niveau zu bewegen. Validität: Bei dem Gütekriterium der Validität werden in der einschlägigen Literatur unterschiedliche Facetten geltend gemacht. Unter interner Validität läßt sich mit SCHNELL! HILLIESSER (1995: 144) das Ausmaß verstehen, "in dem ein Untersuchungsverfahren tatsächlich dasjenige mißt, was es zu messen vorgibt" (siehe auch BORTZ 1999: 9). Die interne Validität ist umso höher, je mehr Alternativerklärungen für einen beobachteten Meßwert ausgeschlossen werden können. Hierfür kommen im Rahmen des dargestellten Experiments zum einen Meßfehler jedweder Art in Betracht. Da es sich jedoch um ein recht zuverlässiges Verfahren handelt, sollte die interne Validität kaum davon beeinträchtigt sein. Zum anderen drängen sich als weitere Alternativerklärungen grundsätzlich alle in der Einleitung genannten Variablen der L2-Produktion auf, die nicht mit der unabhängigen Variable oder den abhängigen Variablen identisch sind. Durch die heterogene Probandengruppe sollten sich diesbezügliche Effekte im Mittel jedoch weitgehend aufheben. Des weiteren können Performanzunterschiede durch die systematische und umfängliche Erhebung von Moderatorvariablen mit dem Lernerfragebogen und darauf aufbauende statistische Prozeduren auf einzelne solcher Faktoren zurückgeführt werden. Kulturell bedingte Störgrößen manifestierten sich vor allem in Zusammenhang mit der Beschreibung der Cartoons, die mehrere Probanden nicht humorvoll fanden oder sogar überhaupt nicht verstanden. Da aber die Instruktion darin bestand, lediglich die bildlich dargestellte Situation zu beschreiben und nicht etwa die Pointe wiederzugeben, sollten so geartete Einflüsse keine allzu große Rolle spielen. Auch der kulturspezifische Umgang mit sozialen Hierarchien kann für eine bestimmte mündliche L2-Performanz verantwortlich sein. Motivationsschwankungen der Versuchspersonen zwischen den einzelnen IFLIIL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 59 Sitzungen sollten durch ein Honorar aufgefangen werden sowie durch den öfter angebrachten Hinweis, die Teilnahme am Experiment helfe bei der Vorbereitung auf die DSH (die als Stimulusmaterial verwendeten Texte stammten aus früheren Prüfungen). Der Aspekt der externen Validität bezieht sich auf die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse (BORTZ 1999: 9). Trotz der Durchführung des Experiments im Labor wurde angestrebt, eine Balance zwischen experimenteller Kontrolle und einer nicht allzu großen Künstlichkeit zu halten. Dieser Umstand sowie vor allem die Heterogenität der Probandengruppe deuten auf eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse hin. Freilich wäre es zu wünschen, wenn die gewonnenen Ergebnisse durch weitere Untersuchungen zusätzlich validiert würden (Übereinstimmungsvalidität rnit anderen Erhebungen). Um die Konstruktvalidität des vorliegenden Experiments beurteilen zu können, muß in erster Linie Rechenschaft darüber abgelegt werden, "inwieweit die beobachteten Testergebnisse gültige Indikatoren von zugrunde liegenden theoretischen Konstrukten sind" (GROTJAHN 2000: 315). Anders gesagt: Es stellt sich vor allem die Frage nach der angemessenen Operationalisierung der Forschungsfrage. Für das beschriebene Experiment ist in Abschnitt 2. 7 ausgeführt worden, welche Indikatoren für die theoretischen Gegenstände Monitoring und Automatismen Einsatz finden. Ebenso wurde das Verhältnis dieser beiden Faktoren zu Aufmerksarnkeitsprozessen bestimmt und erklärt, in welcher Weise letztere manipuliert wurden. Sollten die basalen Aufmerksamkeits-, Automatisierungs- und Monitortheorien unzutreffend sein, so wäre die Konstruktvalidität des Experiments nur als gering zu bewerten. Da also nach Kräften Störfaktoren ausgeschaltet wurden und sich die Operationalisierung der Forschungsfrage auf umfängliche theoretische und empirische Vorarbeiten aus der Kognitionspsychologie und der Fremdsprachenerwerbsforschung stützen kann (vgl. den Forschungsüberblick von AGUADO in diesem Band [11-26], sollten keine zu großen Zweifel an der Gesamtvalidität des Experiments aufkommen. 2.10 Durchführbarkeit Das vorgestellte Experiment ist nur rnit vergleichsweise hohem personellen, finanziellen und apparativen Aufwand zu realisieren. Für die Durchführung jeder experimentellen Sitzung muß ca. 1 Stunde veranschlagt werden, wobei je ein Versuchsleiter und der jeweilige Interaktionspartner anwesend sein müssen. Bei sechs experimentellen Bedingungen und drei Probeläufen errechnet sich bei 16 Versuchspersonen ein Gesamtaufwand von 144 Stunden. Für die Aufnahme wird ein DAT-Recorder benötigt; außerdem empfiehlt sich der Einsatz einer Videokamera und eines analogen Aufnahmegerätes. Den Probanden wurde eine finanzielle Aufwandsentschädigung in Höhe von DM 10,00 pro Stunde gezahlt, insgesamt also DM 1440,00. Für das Ausfüllen des Lemerfragebogens erhielten sie zusätzlich je DM 5,00, insgesamt also weitere DM 80,00. IFJL1JJL 32 (2003) 60 Olaf Bärenfänger 3. Datenaufbereitung 3.1 Schneiden und Archivieren der Daten Als erster Schritt der Datenaufbereitung wurden die digitalen Audio-Aufnahmen über eine leistungsfähige Soundkarte mit optischem Eingang in den PC eingelesen und im WAVE-Format abgespeichert. Mit diesem Datentyp sind die Audiodateien mit einer großen Zahl unterschiedlicher Auswertungssysteme kompatibel (GIBBONIMOORE/ WINSKI 1997: 171). Da das Einlesen in Echtzeit erfolgt, handelt es sich dabei um einen zeitaufwendigen Arbeitsschritt. Illllllerhin liegen (zusallllllen mit den Daten der drei Probeläufe) ca. 20 Stunden Audiomaterial vor. In einem zweiten Schritt wurden die Audiodateien, die jede die Daten einer experimentellen Sitzung enthalten, mit Hilfe der Software Soundforge in kleinere Dateien geschnitten, und zwar so, daß für jeden Probanden und jede relevante Teilaufgabe eine eigene Tondatei vorliegt. Diese Daten wurden in einem dritten Arbeitsgang auf CD-ROM archiviert. Weil die Vorarbeiten mit der Hilfe von PCs und Standardsoftware geleistet wurden, sind hier keine gravierenden Objektivitäts- oder Reliabilitätsprobleme zu erwarten. 3.2 Segmentierung der Audiodateien Die erkenntnisleitende Fragestellung des Experiments sieht unter anderem die Berechnung temporaler Variablen vor, für die eine Abgrenzung von phonierten und nichtphonierten Einheiten unerläßlich ist (für einen Überblick über die gängigen temporalen Variablen vgl. z.B. RAUPACH 1980). Entsprechend müssen die im vorangegangenen Arbeitsschritt geschnittenen Audiodateien manuell segmentiert werden. Der wesentliche Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, daß sich die Segmentierung als einzigem Kriterium an einem objektiv vorhandenen Merkmal ausrichtet und also verg~ichsweise transparent ist. Auf diese Weise kann die Fehlerwahrscheinlichkeit verringert und somit eine hohe Auswertungsreliabilität sichergestellt werden. Allerdings ist in dieser Hinsicht zu bemerken, daß trotz der klaren Sequenzierungsregeln gelegentliche Unschärfen auftreten. Insbesondere bei Daten mit starken Hintergrundgeräuschen oder schlechter Aufnahmeaussteuerung kann die präzise Segmentierung schwierig sein. Auch ist es etwa bei Hauchlauten im Anlaut oder Affrikaten im Auslaut schwer zu entscheiden, wann eine Äußerung beginnt oder endet. BARRY/ FOURCIN (1992) weisen darauf hin, daß diesbezüglich selbst bei Experten nicht mehr als 90% Übereinstillllllung zu erwarten ist. Da die Aufnahmen jedoch allgemein in hoher Qualität vorliegen und die geschilderten phonetischen Besonderheiten auch nicht besonders häufig auftreten, sind die entsprechenden Reliabilitätsprobleme eher zu vernachlässigen. Interrater-reliability wird durch die Überprüfung der einmal vorgenollllllenen Segmentierungen durch zwei weitere Transkribenten angestrebt. Bei der Segmentierung gilt eine sprachliche Einheit, ein sogenannter run, illllller dann als phoniert, wenn sie sich zwischen zwei Pausen von mehr als 280 Millisekunden Dauer befindet. Der Grund für die Wahl dieses Pausenwerts liegt darin, daß er länger ist als die IFLi.llL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 61 Stopphase bei der Artikulation geminierter Plosive innerhalb desselben run. Die Pausenzeit wurde in Anlehnung an TOWELL/ HAWKINS/ BAZERGUI (1996) gewählt und liegt ungefähr im Mittelfeld anderer Studien, die jeweils aus guten Gründen mit Werten von 200 Millisekunden (z.B. BUTTERWORTH 1980) über 250 Millisekunden (z.B. GOLDMAN-EISLER 1968) bis 300 Millisekunden (z.B. RAUPACH 1980) arbeiten. Im Zuge der Segmentierung wurden die erzeugten Segmente entweder der Versuchsperson oder ihrem jeweiligen Interaktionspartner zugeordnet. War die Zuordnung nicht eindeutig zu treffen, wurde die Kategorie "no speaker" angegeben; solche Segmente fallen später bei den Auswertungen heraus. Typische Fälle für die no-speaker-Einteilung sind beispielsweise turn-taking-Pausen, die sich mit Fug und Recht beiden Sprechern zuordnen lassen; manchmal ergibt sich auch aus akustischen Gründen (Hintergrundgeräusche, geringe Lautstärke etc.) die Notwendigkeit einer solchen Klassifizierung. Bei überlappenden Äußerungen wurde für die Segmentierung der Beitrag des Probanden zugrunde gelegt; in solchen Fällen enthielt allerdings ein Kommentar Informationen dazu, wann der Interaktionspartner zu sprechen anfing resp. zu sprechen aufhörte. Obschon diese Praxis die Lesbarkeit der Transkripte sicherlich erschwert, wurde sie gewählt, um einerseits die eigentlich interessierenden Äußerungen der Versuchspersonen in voller Länge vorliegen zu haben, andererseits aber auch die interaktive Dimension der L2-Produktion abbilden zu können. (Die verwendete Software erlaubt keine Partiturschreibweise und· folglich auch keine Segmentierung der Äußerungen beider Interaktanten in separaten layers.) Wie die vorangegangenen Ausführungen implizieren, erhalten gefüllte Pausen (z.B. ähm, äh usw.) durch die binäre Unterscheidung in „phoniert" vs. "nicht-phoniert" denselben Status wie gewöhnliche phonierte Sprechereignisse. Dieser Weg wurde beschritten, um nicht schon in der Datenaufbereitungsphase theorielastige Entscheidungen darüber treffen zu müssen, wie gefüllte Pausen zu definieren sind. Außerdem bleiben die Segmentierer so weitgehend von Abgrenzungsproblemen verschont. Später können die gefüllten Pausen immer noch ermittelt und gegebenenfalls von den Auswertungen ausgeschlossen werden. Sowohl die soeben beschriebene Segmentierung als auch die anschließende Transkription der Audiodaten erfolgte mit Hilfe der Software Transcriber (das Programm ist im World Wide Web kostenlos über die Seite "Linguistic Annotation" unter der Adresse http: / / morph.ldc.upenn.edu/ annotation erhältlich). Da Transcriber das Audiosignal im Oszillogramm darstellt, lassen sich der Zeitpunkt und die Dauer eines Sprechereignisses wesentlich exakter ermitteln als mit den sonst in der Konversationsanalyse gängigen Programmen. Besonders für die Bestimmung temporaler Variablen stellen Messungen mit niedriger Fehlertoleranz im Millisekundenbereich eine notwendige Voraussetzung dar. Die mit Transcriber angefertigten Transkripte liegen im XML-Format vor und können über das World Wide Web veröffentlicht werden. Außerdem läßt das Datenformat auch Auswertungen mit anderen Programmen zu, etwa mit der phonetischen Analysesoftware Praat oder der Statistiksoftware SPSS. Schließlich lassen sich die erzeugten Transkripte auch bequem in Tabellenkalkulationsprogramme wie Excel einlesen. IFJLl.lL 32 (2003) 62 Olaf Bärenfänger 3.3 Orthographische Transkription Insoweit Transkriptionen immer schon Interpretationen der originalen Äußerungen darstellen, sind sie zwangsläufig mit einem hohen Maß an Subjektivität verbunden und bilden daher vermutlich den fehleranfälligsten Teil der Auswertungen. Um gleichwohl möglichst objektive und reliable Transkripte bei gleichzeitig vertretbarem Arbeitsaufwand zu gewährleisten, überprüfen und korrigieren zwei weitere Projektmitarbeiter die Ersttranskripte (interrater-reliability). Bei der Erstellung des Ersttranskripts erfordert eine Minute Audio-Daten (einschließlich der Segmentierung) eine Bearbeitungszeit von ca. 90 Minuten. Die beiden Kontrollgänge benötigen je ca. 30 Minuten. Da sich die in der Konversationsanalyse üblichen Verfahren insbesondere zur Erfassung temporaler Phänomene als nicht ausreichend erwiesen, wurde auf der Basis vorhandener Konventionen (GÜLICH 1986, DAUSENDSCHÖN-GAY [et al.] 1986 und DAUSEND- SCHÖN-GAY 1987, ARBEITSGRUPPE FREMDSPRACHENERWERB BIELEFELD 1989, YU 1993, APFELBAUM 1995) ein modifiziertes Verfahren entwickelt. Die angewendeten Transkriptionskonventionen sollten möglichst einfach, intuitiv nachvollziehbar und leicht lesbar sein. Für die von der erkenntnisleitenden Fragestellung vorgegebenen Auswertungen erschien eine orthographische Transkription unter Berücksichtigung einiger prosodischer Phänomene hinreichend (siehe hierzu EHLICH/ REHBEIN 1976). Für die Transkription der Lerner-Äußerungen finden grundsätzlich nur Kleinbuchstaben des deutschen Standardalphabets Verwendung. Metasprachliche Kommentare der Transkribenten werden in eckigen Klammern notiert. Im Detail wurden die folgenden Phänomene erfaßt: Nicht klar identifizierbare (? ... ? ) Alle uneindeutigen Passagen werden so notiert Passagen Ungefüllte Pausen Wiederholungen Wiederholungen mit leichten Abwandlungen Schnelle Anschlüsse Verschleifungen Dehnungen [pause] Phasen ohne Artikulation [W] Identische Wiederholungen von Wortteilen, Wörtern oder ganzer Syntagmen innerhalb eines run und des davorliegenden run [W'] Teilidentische Wiederholungen von Wortteilen, Wörtern oder ganzer Syntagmen innerhalb eines run und des davorliegenden run & Auffällig schnelle Artikulation des zweiten Wortes nach dem ersten, wobei der Bestand an Phonemen unberührt bleibt, z.B. ,und&ehm' Elidierung mindestens eines Phonems innerhalb eines Wortes (z.B. ,geh=n') oder zwischen zwei Wörtern (z.B. ,sag= ich') infolge schneller Artikulation Auffällig lang andauernde Artikulation eines Phonems, z.B. ,u: nd' lFILl.llL 32 (2003) Mündliche Produktion in der Fremdsprache: Ein Experiment 63 Abbrüche Betonungen Ein Wort oder Syntagma innerhalb eines run wird nicht zu Ende artikuliert, z.B. ,ich gehe/ ich will heute ins Kino gehen' Auffällige Betonungen, z.B. ,sagte er' Tab. 2: Charakteristika mündlicher Sprachproduktionen und ihre Notation in den Transkriptionen Wie Tabelle 2 zu entnehmen ist, werden vorrangig solche sprachlichen Phänomene transkribiert, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sind. Dies sind im Falle der abhängigen Variable Monitoring Pausen, Dehnungen, Abbrüche und Selbstreparaturen (Wiederholungen mit Variation) und im Falle der abhängigen Variable Automatismen schnelle Anschlüsse und Verschleifungen. Temporale Variablen wie Sprech-und Artikulationsgeschwindigkeit,phonation/ time ratio und mean length of runs werden mit Hilfe der Pausenzeiten und der Dauer der Segmente berechnet. Tonhöhenverläufe finden keine Berücksichtigung. Grund hierfür ist die Beobachtung, daß bei einer Verwendung von Transcriber zu viele Fehler auftreten, da den Transkribenten Informationen wie die PO-Kurve oder ein Spektrogramm fehlen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, Tonhöhenverläufe zuverlässig durch eine zusätzliche Analyse mit Spezialsoftware wie beispielsweise Praat zu erstellen. 3.4 Übertragung der Transkripte in Excel Die mit Hilfe von Transcriber erzeugten Transkripte sind für die vorgesehenen Auswertungen nur beschränkt geeignet, denn sie werden am Bildschirm wie auf einer endlosen Papierrolle angezeigt dies führt zu großer Unübersichtlichkeit. Außerdem ist die Berechnung temporaler Variablen nicht möglich. Diese schwerwiegenden Nachteile lassen sich durch ein Einlesen der Transkripte in ein Tabellenkalkulationsprogramm wie Excel leicht und elegant kompensieren. Excel erlaubt einerseits die übersichtliche Darstellung der Transkripte in Tabellenform, andererseits aber auch eine variable Kategorisierung der Daten nach beliebig vielen Kriterien. Überdies ist es mit der Sortierfunktion möglich, die Daten anders als nach ihrer chronologischen Reihenfolge zu ordnen, etwa gemäß der Länge produzierter Äußerungen oder der Artikulationsgeschwindigkeit der Äußerungen. Weitere Vorteile von Excel bestehen in der automatischen Berechnung temporaler Variablen und der Option, die Ergebnisse in Form von Tabellen und Grafiken darzustellen. Anhang I am Ende des vorliegenden Bandes enthält zur Illustration zwei Beispieltranskripte derselben Versuchsperson aus der Cartoonbeschreibung in den experimentellen Bedingungen 1 und 3. JF[,11.ltlL 32 (2003) 64 Olaf Bärenfänger 4. Ausblick Im vorliegenden Beitrag wurden eingehend die Charakteristika, die Durchführung und die Datenaufbereitung eines an der Universität Bielefeld durchgeführten psycholinguistischen Experiments beschrieben. Mit diesem sollte es in erster Linie möglich sein, die Auswirkungen der zentralen Variable Aufmerksamkeit auf die mündliche L2-Produktion zu ergründen, und zwar speziell in bezug auf Monitoringprozesse und den Gebrauch sprachlicher Automatismen. Die gewonnenen Ergebnisse bilden die empirische Grundlage für die angestrebte Entwicklung einer aufmerksamkeitsbasierten Theorie der mündlichen L2-Produktion, die zugleich erhebliche Fortschritte für ein tieferes Verständnis von Fremdsprachenerwerbsprozessen verspricht. Eine aufmerksarnkeitsbasierte Theorie der mündlichen L2-Produktion kann auf eine umfangreiche Menge an Primärdaten, wie sie aus der Textreproduktion und der Cartoonbeschreibung hervorgegangen sind, aber auch auf Sekundärdaten aus den Retrospektionen und dem Lernerfragebogen zurückgreifen. Auf Grund der großen und vielfältigen Datenmenge, der experimentellen Kontrolle der Untersuchungssituation, der heterogenen Probandengruppe und der sorgfältigen Datenaufbereitung bilden die vorhandenen Primär- und Sekundärdaten eine sichere Basis für Erkenntnisse über die mündliche Produktion von Fremdsprachenlernen. Über die eigentliche, im Sinne des experimentellen Paradigmas eng gefaßte Fragestellung der Untersuchung hinausgehend lassen sich die gewonnenen Daten beispielsweise auch im Hinblick daraufhin auswerten, wie sich die unterschiedlichen Aufmerksamkeitsbedingungen auf Parameter wie Flüssigkeit, Korrektheit und Komplexität des mündlichen Outputs oder pragmatische Strategien auswirken. Die vielseitigen Analyseoptionen stellen sicherlich ebenso einen Vorteil des Experiments dar wie das Datenformat, das Auswertungen auch mit sehr unterschiedlichen Analysesystemen erlaubt. Zudem können die Daten leicht über das World Wide Web ausgetauscht werden. Angesichts des erheblichen Aufwands zur Gewinnung von Daten wie den vorgestellten bleibt zu hoffen, daß in Zukunft viele an Fragen des Fremdsprachenerwerbs Interessierte regen Gebrauch von dem Bielefelder Korpus mündlicher Sprachdaten machen. Literatur APFELBAUM, Birgit (1995): "Formes de reflexion linguistique dans ! es tandems franco-allemands: le cas des sequences declenchees par le partenaire natif'. In: VERONIQUE, Daniel/ VION, Robert (eds.): Des savoirjaire communicationnels. Aix-en-Provence: Publications de l'Universite de Provence, 165-179. ARBEITSGRUPPE FREMDSPRACHENERWERB BIELEFELD (1989): "Aneinandervorbeireden im Fremdsprachenunterricht". In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 18, 159-176. BÄRENFÄNGER, Olaf (2002a): "Automatisierung der mündlichen L2-Produktion: Methodische Überlegungen". In: BÖRNER, Wolfgang/ VOGEL, Klaus (Hrsg.): Grammatik und Fremdsprachenunterricht. Kognitive, psycholinguistische und erwerbstheoretische Perspektiven. Tübingen: Narr, 119-140. 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Beispieltext (Experimentelle Bedingung 1) Bitte lesen Sie den folgenden Text sorgfältig, aber zügig durch. Sie haben dafür 15 Minuten Zeit. Geben Sie anschließend Ihrem Partner den Text wieder. Gehirn-Jogging Den Körper trainieren viele Menschen. Aber wer trainiert auch sein Gehirn? "Das Gehirn muss genauso trainiert werden wie der Körper", sagt Professor Siegfried Lehrl von der Universität Erlangen-Nürnberg. Denn wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass wir die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns um 10 bis 15% steigern können, wenn wir einige Wochen lang täglich zehn Minuten unser Gehirn trainieren. Besonders wichtig ist dieses Gehirn-Jogging für Menschen, die sich im Alltag geistig nur wenig anstrengen. Ein Beispiel sind Krankenhauspatienten: Bereits nach wenigen Tagen beginnt ihr Intelligenzquotient zu sinken. Nach drei Wochen Krankenhausaufenthalt kann er bereits 20% niedriger als gewöhnlich sein. Auch im Alter lässt die Intelligenz oft nach. Dies geschieht nicht nur aus körperlichen Gründen, wie z.B. durch zunehmende Verkalkung1, sondern auch deshalb, weil das Gehirn zu wenig beansprucht oder geübt wird. Deshalb hat Professor Lehr! zusammen mit Bernd Fischer, dem Leiter einer Rehabilitationsklinik, ein Programm für Gehirn-Jogging entwickelt. Seit einigen Jahren nun bieten Krankenhäuser und Altenheime auf der Basis dieses Programms Übungen zum Training des Gehirns an mit großem Erfolg: So erreichte eine siebzigjährige Testperson mit Gehirn-Training das höchste geistige Niveau ihres gesamten Lebens. Inzwischen hat sich auch gezeigt, dass dieses Programm für alle Menschen nützlich ist. Professor Lehr! selbst absolviert 2 Übungen aus diesem Programm, wenn er sich geistig müde fühlt oder wenn er einen schwierigen Text schreiben muss. Denn das Lösen der Aufgaben bringt das Gehirn in Bewegung; es wird dadurch zugleich besser durchblutet und mit Sauerstoff versorgt. Die Aufgaben des Programms zielen vor allem darauf ab, die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und die sogenannte Gegenwartsdauer zu erhöhen. Mit „Gegenwartsdauer" bezeichnet man den Zeitraum, in dem neue Informationen im sogenannten Kurzzeitgedächtnis präsent3 sind. Er umfasst normalerweise bis zu fünf Sekunden. Wenn nun durch Gehirn-Jogging dieser Zeitraum erreicht oder sogar noch ausgeweitet wird, können wir mehr Informationen länger behalten und schneller verarbeiten. Verkalkung: Alterungsprozeß des Gehirns Übungen absolvieren: Übungen ausführen präsent sein: vorhanden sein lFILUJL 32 (2003) 68 Olaf Bärenfänger B. Beispielcartoon (Experimentelle Bedingung 1) "Dein Bruder wollte ja auch noch kommen vielleicht lieber noch einmal rütteln". lFlLl.! L 32 (2003)