eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 33/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
331 Gnutzmann Küster Schramm

Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte:

121
2004
Angelika Rieder
flul3310052
Angelika RIEDER * Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte: ausgewählte Fallstudienergebnisse Abstract. This article investigates incidental vocabulary acquisition through reading from a cognitiveconstructivist viewpoint, describing the process of (re)constructing unknown word meanings during text comprehension, and analysing in which cases this process is likely to lead to vocabulary acquisition. On the basis of a theoretical framework, results from empirical think-aloud case studies are presented, involving German speaking learners ofEnglish and varied reading tasks. As the study results suggest, the specification of lexical meaning during reading can be regarded as a constructive process which is characterized by shifts between the text meaning and the word meaning level and exhibits strategic learner behaviour. The chances for the unknown word tobe acquired seem tobe partly influenced by the individual entrance and termination thresholds of the process. 1. Einleitung Im ungesteuerten Spracherwerb werden neue Wörter typischerweise durch Konfrontation mit der Sprache in natürlichen Situationen gelernt. Auch für den gesteuerten Fremdsprachenerwerb wird allgemein vertreten, dass etwa beim Lesen fremdsprachiger Texte neuer Wortschatz erworben wird, indem die Bedeutung aus dem Kontext erschlossen wird (NAGYIHERMAN/ ANDERSON 1985; HUCKIN/ HAYNES/ COADY 1993, HULSTIJN 2001; NATION 2001). Diese Art des Vokabelerwerbs bezeichnet man in der Literatur gemeinhin als 'incidental vocabulary acquisition'. Der Begriff 'incidental', der hier mit „beiläufig" übersetzt wird, bezieht sich auf die Tatsache, dass dieser Prozess quasi als Nebenprodukt anderer kognitiver Prozesse abläuft, ohne dass die Lerneraktivität auf den Vokabelerwerb abzielt. HUCKIN/ COADY (1999: 182) sprechen in diesem Zusammenhang von „secondary leaming". Wie jedoch vielfach angemerkt wurde, wird bei dieser operationalisierten Begriffsdefinition die aktive Rolle der Lerner/ -innen vernachlässigt (vgl. GASS 1999). Denn dass der Prozess des Vokabelerwerbs beiläufig (d.h. neben dem Lesen) abläuft, bedeutet natürlich keineswegs, dass zur Erschließung und zum Erwerb der Wortbedeutung keine bewussten, strategischen Prozesse stattfinden. Die Bedeutung des bewussten Wahrnehmens und Verarbeitens der Informationen wird etwa auch von ELLIS (1994) oder JoE (1995) betont. Ziel des Beitrages ist es daher, ein umfassendes, kognitiv-kon- Korrespondenzadresse: Dr. Angelika RIEDER, Universitätslektorin, Universität Wien, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Unicampus AAKH/ Hof 8, Spitalgasse 2-4, A-1090 WIEN. E-mail: angelika.rieder@univie.ac.at Arbeitsbereiche: Fremdsprachenerwerb, Mentales Lexikon, Kognitive Linguistik. lFLIIL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 53 struktivistisches Modell des Prozesses des Wortbedeutungsaufbaus während des Lesens zu skizzieren und anhand ausgewählter Fallstudienergebnissen Merkmale des Prozesses, angewandte Lernerstrategien sowie Auswirkungen auf den Vokabelerwerb zu erläutern. 1 2. Theoretische Grundlagen 2.1 Stand der Forschung Die Erschließung der Bedeutung eines unbekannten Wortes, das in einem Text angetroffen wird, wird in der Forschungsliteratur als Inferenz (inferencing, vgl. CARTON 1971) bezeichnet. Der Prozess der Bedeutungsinferenz wird innerhalb der einschlägigen Forschung in einer Vielzahl von Studien mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen untersucht. Eine Kategorie von Studien geht dabei von der Hinweisperspektive aus und betrachtet etwa die Art der Verarbeitung und Integration der Bedeutungshinweise durch die Lerner/ -innen (vgl. HAASTRUP 1991) oder die Kategorien der verwendeten Hinweistypen (vgl. NEMSER 1998). Andere Studien wiederum skizzieren den Prozess aus der kognitiven Perspektive, indem sie z.B. ein gesamtheitliches kognitives Modell der Bedeutungsinferenz aufstellen (vgl. HucKIN/ BLOCH 1993) oder den Einfluss des individuellen kognitives Stils der Lerner/ -innen auf den Ablauf der Bedeutungserschließung untersuchen (vgl. ELSHOUT-MOHR/ V AN DAALEN-KAPTEIJNS 1987). In diesem Zusammenhang muss jedoch betont werden, dass die Inferenz der Wortbedeutung keineswegs mit dem Erwerb des Wortes gleichzusetzen ist. Wie einschlägige Forschungsergebnisse nahe legen, erfordern Bedeutungsinferenz und Vokabelerwerb grundlegend unterschiedliche kognitive Prozesse (vgl. PRESSLEYILEVIN/ MCDANIEL 1987). Der Erwerb einer neuen Wortbedeutung, die erfolgreich inferiert wurde, erfordert zusätzlich die Verbindung der neuen konzeptuellen Struktur mit vorhandenem Wissen, sowie die Speicherung der Wortform und die Verknüpfung von Wortform und Konzept (vgl. RIEDER 2002b). Leider ist es ein weit verbreitetes Manko vieler Studien, dass der unterschiedliche kognitive Status von Inferenz und Erwerb nicht berücksichtigt wird. Die in der Literatur vorgefundenen kognitiv orientierten Beschreibungen, in denen Bedeutungserschließung und Vokabelerwerb getrennt werden, unterscheiden meist zwischen der Wahrnehmung und der Integration von Informationen (vgl. STERNBERG 1987; PARIBAKHTIWESCHE 1999) und heben dadurch hervor, dass die erschlossenen Informationen erst einen Lerneffekt haben, wenn Lerner/ -innen diese Informationen weiter verarbeiten, indem sie versuchen, sie in ihre vorhandenen Wissensstrukturen zu integrieren. Was bei den angetroffenen Klassifizierungen jedoch fehlt, ist einerseits eine detaillierte Beschreibung der Strukturierungsprozesse, die im Rahmen der Wortbedeutungserschließung stattfinden, und andererseits eine Einbettung des beiläufigen Erwerbs von Lexemen in ein kognitives Modell des Textverstehensprozesses. Die hier vorgestellten Ergebnisse stellen einen Ausschnitt eines umfassenden Projektes dar, das Fallstudien zu verschiedenen Dimensionen des beiläufigen Vokabelerwerbs umfasste (vgl. RIEDER 2002a). lFLllllL 33 (2004) 54 Angelika Rieder 2.2 Wortbedeutungserschließung als Wissenskonstruktion Wertvolle Anregungen für eine Charakterisierung des Wortbedeutungsaufbaus während des Lesens sind bei konstruktivistischen Verstehenstheorien zu finden, die vertreten, dass der Verstehens- und Lernprozess ein aktiver und subjektiver Konstruktionsprozess von Seiten der Lerner/ -innen ist (vgl. WOLFF 1994). Erst im Rahmen eines kognitiv-konstruktivistischen Theorieansatzes wird es möglich, textuelle und lexikalische Verarbeitungsprozesse für ein profundes Verständnis des beiläufigen Vokabelerwerbs zu nutzen und aufeinander zu beziehen. In konstruktivistischen Ansätzen werden kognitive Strukturierungsprozesse wie z.B. die Bildung und Zuordnung neuer Wissensschemata oder die Reorganisation, Abstrahierung und Generalisierung von Wissensbeständen als Strategien gesehen, die Lerner/ innen zur eigenständigen (Re)konstruktion ihres Wissens einsetzen (vgl. NoRMAN 1982). Diese Prozesse sind essentielle Bestandteile der Wortbedeutungserschließung während des Lesens und können je nach Vorwissen der Lerner/ -innen bzw. je nach deren individuellen Verhaltensweisen zu unterschiedlichen Lernergebnissen führen. Entsprechend wird in den folgenden Ausführungen der Aufbau von Wortbedeutungswissen innerhalb des Textverständnisprozesses als aktive und strategische Konstruktion neuer Wissensstrukturen von Seiten der Lerner/ -innen verstanden, die spezifische Strukturierungs- und Integrationsprozesse beinhaltet. Dabei bewegen sich die Lerner/ -innen prinzipiell auf der Textbedeutungsebene und betreiben in der Regel kognitiven Aufwand zur Erschließung der Bedeutung eines unbekannten Wortes nur insoweit, als es für das Erreichen ihres Textverstehensziels notwendig ist (vgl. RIEDER 2002b). Die untergeordnete Rolle und der Mittel-Zweck Charakter der Wortbedeutungserschließung implizieren, dass viele unbekannte Wörter in einem Text nicht oder nur am Rande wahrgenommen werden, wenn sie für das Verständnis nicht wichtig erscheinen. Diese ökonomische Dosierung des Erschließungsaufwandes ist sowohl bei fremdsprachlichen als auch bei muttersprachlichen Leseprozessen anzutreffen (vgl. STEIN 1993). Bei der Wortbedeutungserschließung gehen Lerner/ -innen zunächst vom Beitrag des Wortes zur Textbedeutung aus und nehmen an, dass das verwendete Wort einen optimalen Bedeutungsbeitrag leistet. Diese Strategie kann mit dem Prinzip der optimalen Relevanz bei SPERBERIWILSON (1995) verglichen werden, das hier jedoch nicht auf der Diskursebene sondern auf der Wortebene angewendet wird, d.h. es wird nach der Wortbedeutung gesucht, die an dieser Stelle den maximalen kontextuellen Effekt erzielt. Ein weiteres Prinzip, das hier zum Tragen kommt ist das Prinzip des Kontrastes, von dem Lemer/ -innen beim Erst- und Zweitspracherwerb ausgehen (vgl. CLARK 1993), und das besagt, dass verschiedene Wortformen unterschiedliche Bedeutungen zuzuordnen sind. Komplementär dazu ist jedoch anzunehmen, dass Lerner/ -innen beim mehrmaligen Antreffen desselben unbekannten Wortes nach dem Prinzip der Konventionalität (vgl. CLARK 1993) davon ausgehen, dass die Bedeutung in den verschiedenen Auftretenskontexten weitgehend konsistent und mit ihrem bestehenden Bedeutungsschluss im Einklang ist. Müssen neue Bedeutungsaspekte integriert werden, so können die alten Konzepte entweder reorganisiert, oder aber gelöscht und durch gänzlich neue Strukturen ersetzt lFLIJlL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 55 werden. Nach welcher Methode Lerner/ -innen hier vorgehen, wird entscheidend von ihrem kognitiven Stil abhängen, d.h. davon, ob sie ihr Wortbedeutungsmodell nach analytischen oder holistischen Gesichtspunkten aufbauen (vgl. ELSH0UT-M0HRIDAA- LEN-KAPTEIJNS 1987). Analytisch strukturierte Modelle können als Bündel unterschiedlicher Komponenten angesehen werden, so dass neue Informationen leicht integrierbar sind. Dementsprechend werden analytisch orientierte Lerner/ -innen durchgehend mit demselben Modell arbeiten und ihre vorhandenen Wissensstrukturen bei widersprüchlichen Hinweisen gegebenenfalls reorganisieren. Bei holistischer Verarbeitungsweise wird im Gegensatz dazu das Konzept als unteilbares Ganzes gesehen. Bei Lerner/ -innen mit holistischem Lernstil bewirkt also das Antreffen nicht integrierbarer Information nicht die Reorganisation der aufgebauten Wissensstrukturen, sondern stets deren Löschung und Ersetzung. Neue Hinweise werden nicht in bestehende Konzepte integriert, sondern führen zum Aufstellen gänzlich neuer Bedeutungshypothesen. Was die Rolle des bestehenden L1- und L2-Lexikons für die Bedeutungserschließung betrifft, so ist zu vermuten, dass Lerner/ -innen stets bei den ihnen zur Verfügung stehenden erstsprachlichen Strukturen ansetzen und zunächst auf der Basis ihres bestehenden LI-Vokabulars nach passenden versprachlichten Bedeutungskonzepten suchen. Erst wenn die bestehenden LI-spezifischen Konzepte nicht passend erscheinen, wird eine Adaptierung bzw. Konstruktion eines neuen Konzeptes in Betracht gezogen (vgl. NEM- SER 1998: 113). Während bestehende LI-basierte Bedeutungen stets als Ausgangspunkte dienen, werden Lerner/ -innen im Gegensatz dazu lexikalisierte Konzepte ihres verfügbaren L2-Vokabulars ausgrenzen. Wäre die Bedeutung des unbekannten Wortes nämlich identisch mit einem bekannten lexikalisierten L2-Konzept, so würde es sich um ein absolutes Synonym handeln. Dies wäre jedoch ein Widerspruch zu den oben erwähnen Prinzipien des Kontrastes sowie der optimalen Relevanz. Die oben beschriebenen Prinzipien sind generelle Merkmale der Erschließung des textuellen Bedeutungsbeitrages eines Wortes beim Lesen, bei dem sich die Lerner/ -innen noch auf der Textbedeutungsebene befindet. Denn wie oben erwähnt findet ein Wortbedeutungsschluss in der Regel als Mittel zum Zweck statt, um die Textbedeutung zu vervollständigen. Damit jedoch Wortbedeutungswissen aufgebaut wird, muss zusätzlich zum Erschließungsprozess noch die Abstraktion dieses Wissens in einen Wortbedeutungsaspekt und die Integration in bestehende Wissensstrukturen erfolgen. Damit dieses Wortbedeutungswissen schließlich im mentalen Lexikon der Lerner/ -innen mit der Wortform verknüpft 'werden kann, ist die Konsolidierung der Wortform und der Verbindung von Form und Bedeutung im Gedächtnis notwendig. Aus dieser umfassenden kognitiv-konstruktivistischen Perspektive wird unmittelbar ersichtlich, dass der Weg von der Bedeutungsinferenz zum Vokabelerwerb keineswegs so geradlinig ist, wie viele Forschungsansätze vermuten lassen. Damit Lerner/ -innen überhaupt Energie aufwenden, um eine unbekannte Wortbedeutung zu erschließen, muss eine ausreichende Aufmerksamkeitslenkung auf dieses Wort gewährleistet sein. Der Grad der Aufmerksamkeit wird auch den Aufwand bestimmen, den Lerner/ -innen für die Bedeutungserschließung betreiben, d.h. ob sie den Inferenzprozess aus ökonomischen Gründung abbrechen oder alle verfügbaren Erschließungsressourcen ausnützen. Doch lFLlJllL 33 (2004) 56 Angelika Rieder selbst wenn während des Lesens ein Inferenzprozess stattfindet, werden die Bedingungen für den beiläufigen Vokabelerwerb nur dann günstig sein, wenn einerseits durch textuelle Hinweise und Lernerwissen ausreichende Erschließungsressourcen vorhanden sind, und wenn ein aktiver Schritt von der Textebene zur Wortebene erfolgt. 3. Empirische Fallstudien 3.1 Fragestellung und Untersuchungsaufbau Die hier beschriebenen Studienergebnisse sind ausgewählte Resultate aus einer breit angelegten Fallstudienreihe, die zum Ziel hatte, verschiedene Dimensionen des Umgangs von Lerner/ -innen mit unbekannten Wörtern in fremdsprachigen Texten zu beleuchten (vgl. RIEDER 2002a). Einerseits wurden die kognitiven Prozesse während der Beschäftigung mit unbekannten Wörtern innerhalb des Leseprozesses untersucht, andererseits wurde auch analysiert, wie sich die Bedingungen und der Prozessverlauf auf den Grad des Erwerbs nach der Beschäftigung mit den Wörtern auswirkte. Im Hinblick auf die Überlegungen im theoretischen Teil dieses Aufsatzes lassen sich für die durchgeführten Studien drei relevante Fragestellungen herauslösen: D Gibt es spezifische Phasen, die den Ablauf des kognitiven Prozesses der Wortbedeutungserschließung während des Textlesens charakterisieren? D Lassen sich von der Lernerseite her spezifische Strategien beobachten, auf denen die Herangehensweise an unbekannte Wörter im Text basiert? D Wie wirkt sich der Erschließungsverlauf auf das Erwerbsergebnis aus? Die beschriebenen Untersuchungen waren in Form von Fallstudien nach der Methode des Lauten Denkens (LD) angelegt und wurden mit erwachsenen deutschsprachigen Englisch-Lerner/ -innen durchgeführt. Die Untersuchungsfragen wurden durch Bedingungsvariationen auf zwei Ebenen operationalisiert: D Variationen im Verarbeitungsziel (Textverständnis, Wortbedeutung) D Variationen in den textuellen Konstellationen (Wichtigkeit der Wörter für die Textbedeutung, Verfügbarkeit von Bedeutungshinweisen) Diese Variationen wurden in drei verschiedenen Teilstudien realisiert. Die einzelnen Versuche liefen dabei so ab, dass den Versuchspersonen Textpassagen vorgelegt wurden, in denen gewisse (durch Platzhalter ersetzte) Zielwörter in unterschiedlichen Textkonstellationen vorkamen und sie gebeten wurden, diese Texte laut zu lesen und dabei alles auszusprechen, was ihnen durch den Kopf ging. Bei einer Kategorie von Teilstudien wurden die Versuchspersonen ohne Hinweise auf das eigentliche Ziel der Untersuchung lediglich angewiesen, die Texte mit dem Leseziel Textverständnis zu lesen. Nach dem Ende des Lesens erhielten diese Lerner/ -innen einen unangekündigten Vokabeltest, in dem die Zielwörter aufgelistet waren und sie für jedes Wort angeben mussten, ob sie sich erinnern konnten, es in einem der Texte gelesen zu haben, und gebeten wurden, ihre FLILIL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 57 Bedeutungsvermutung anzugeben. In den komplementären Teilstudien waren die Zielwörter in den Texten markiert und die Lemer/ -innen erhielten als Ziel die explizite Anweisung, die Bedeutung dieser Wörter zu spezifizieren. Jede Anordnung wies zusätzlich noch spezifische Text- und Lemervariationen auf. Insgesamt nahmen an den verschiedenen Studienanordnungen 20 Versuchpersonen teil, wobei die Studien wie folgt aufgebaut waren 2 : □ Studie 1: 8 Personen, Einzel-LD, Teil 1: 5 Texte (Textverständnis), Vokabeltest, Teil 2: 5 Texte (Wortbedeutungsschluss) □ Studie 2: 3 Personen Einzel-LD, 8 Texte (Textverständnis), Vokabeltest, Rekurrenz einzelner Zielwörtern in verschiedenen Texten □ Studie 3: 3 Gruppen a 3 Personen Gruppen-LD, 11 Texte (Wortbedeutungsschluss). Die Fallstudienergebnisse komplementieren eindrucksvoll die im theoretischen Abschnitt angeführten Überlegungen und werden im Folgenden entsprechend der oben skizzierten Fragestellungen erläutert. 3.2 Phasen des Erschließungsprozesses Durch den Vergleich der Textverarbeitungsprozesse in den Fallstudien mit dem Leseziel Textverständnis ließen sich bestimmte Merkmale herausarbeiten, die den Prozess der beiläufigen Erschließung von Wortbedeutungen innerhalb des Leseprozesses in der Tat als einen aktiven, strategischen Konstruktionsprozess erscheinen lassen. Ein generelles Charakteristikum dieses Erschließungsprozesses, das in den Fallstudien gut zu beobachten war, ist der kontinuierliche Wechsel zwischen Textebene und Wortebene (vgl. Kapitel 2.2). Da das Hauptaugenmerk beim Lesen mit dem Ziel Textverständnis stets auf der Konstruktion der Textbedeutung lag, wechselten die Lemer/ -innen in diesem Fall zwar kurzfristig von der Textbedeutungszur Wortbedeutungsebene, um eine fehlende Wortbedeutung einzugrenzen, kehrten danach aber im Normalfall wieder auf die Textbedeutungsebene zurück. Zum Zweck der Eingrenzung der lexikalischen Bedeutungsstruktur selbst holten sie wiederum Informationen aus ihrem Textbedeutungsmodell, so dass auch hier zwischen Textbedeutungs- und Wortbedeutungsebene gewechselt wurde. Der Verlauf sowie unterschiedliche Charakteristika des Erschließungsprozesses werden im Folgenden anhand von LD-Protokollen zu Versuchstext 1 mit dem Zielwort disferectics ( = 'Rauchergegner') illustriert: 2 Im Rahmen dieses Aufsatzes ist leider keine erschöpfende Beschreibung des Studienautbaus möglich. Für einen umfassenden Überblick über Untersuchungsmethode, Untersuchungsdesign, Versuchspersonen und verwendete Materialen wird auf RIEDER (2002a) verwiesen. lFLm. 33 (2004) 58 Angelika Rieder Nowadays, as more and more people are conscious of the risks of smoking, the number of radical disferectics is increasing (Satz 1). In turn, the disferectics' negative attitude towards smoking influences smokers so that the overall cigarette consumption has gone down (Satz 2). (Text 1) Um die Interaktion der Leseverläufe ganzheitlich beschreiben zu können, wird der Ablauf einiger exemplarischer Verstehensprozesse graphisch dargestellt (siehe Abb. 1.1-1.5 [S. 59-60]). In diesen Darstellungen sind die Ebenen der Textbedeutungsverarbeitung und Wortbedeutungsverarbeitung jeweils voneinander getrennt, wobei unterschiedliche Textabschnitte (Satz 1 (Sl), Satz 2 (S2)) markiert sind. Der Prozessverlauf wird durch eine volle Linie, kurzfristige Wechsel ohne Fokuswechsel durch eine durchbrochene Linie, und Wechsel von einer Ebene zur anderen durch Pfeile gekennzeichnet. Der Auslöser für die Einleitung des Erschließungsprozesses war stets das Aufmerksamwerden der Lemer/ -innen auf das unbekannte Zielwort (siehe Hannas 3 Reaktion "disferectics -keine Ahnung, was das heißt" in Transkript 1): ... the number of radical disfer, disferectics is increasing. Ahm, disferectics keine Ahnung, was das heißt. Wahrscheinlich irgendwas mit Gegner, nehme ich an, wegen diesem radical ahm deswegen kann es eigentlich nicht, kann es eigentlich nicht können es eigentlich nicht die Opfer sein, die da irgendwie durch durch's Rauchen erkranken, oder so, weil die ja wohl nicht radikal sein werden. Ahm ja, ich lese mal weiter. In turn, the disferectics' negative attitude towards smoking influences smokers so that the overall cigarette consumption has gone down. Ahm, ok. Also scheint, dass ich recht hatte. Ahm, es scheinen auf jeden Fall die zu sein, die nicht rauchen. Die dem Rauchen gegenüber negativ eingestellt sind. (Transkript 1: Ranna, Text 1) 4 Die Vorgehensweise während des Prozesses hing von den Bedingungen sowie von den unterschiedlichen Lemerstrategien ab. Während in manchen Fällen die Lemer/ -innen gleich nach dem Antreffen des Wortes auf die Wortbedeutungsebene wechselten und einen Schluss abgaben (siehe Hanna, Transkript 1 bzw. Abb. 1.1; Abb. 1.4); lasen andere Lemer/ -innen die gesamte Passage durch, bevor sie sich mit der Wortbedeutung beschäftigten (Abb. 1.2 u. 1.3). Der weitere Erschließungsverlauf war im Falle von Versuchstext 1 in den meisten Fällen durch den Wechsel zur Textebene und ggf. den Wechsel zurück auf die Wortbedeutungsebene (Bestätigung der Bedeutungshypothese, Abb. 1.1) charakterisiert. Alternativ war auch die gezielte Abstraktion von kontextuellen Bedeutungshinweisen zu beobachten (siehe durchbrochene Linien Abb. 1.2 u. 1.3), wobei der Fokus hier auf der Wortbedeutungsebene blieb. Auch der Endpunkt variierte von Lemer/ -in zu Lemer/ -in. In den meisten Fällen wurde der Prozess auf der Wortebene so lange fortgesetzt, bis eine befriedigende Bedeutungshypothese erreicht und durch die kontextuelle Information bestätigt wurde (vgl. Abb. 1.1-1.3). Dies dauerte vor allem im Falle von Viola (Abb. 1.3) aufgrund des anfänglichen Fehlschlusses entsprechend lange. Im Falle von Armin (Abb. 1.4) hingegen erfolgte nach der vagen Bedeutungseingrenzung „etwas Medizinisches, Gefährliches" keine Spezifikation des Schlusses mehr. Die im zweiten Satz enthaltenen Bedeutungsinformationen wurden in diesem Fall nicht mehr in Die Namen der Versuchspersonen wurden zur Wahrung der Anonymität geändert. 4 In den Transkripten sind Passagen, die das laute Lesen von Textabschnitten wiedergeben, kursiv gedruckt. lFLUIL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 59 die Bedeutungsskizze integriert, und der Fokus blieb auf der Textebene. Anton (Abb. 1.5) wiederum bemerkte das Zielwort beim Lesen der beiden Sätze und merkte auch an, dass das Zielwort wichtig für das Textverständnis sei "der ganze Text hängt an diesem Wort disferectics"), gab aber am Ende des Leseprozesses nur eine vage Bedeutungseingrenzung ab, ohne diese weiter einzuengen. Diese Variationen zeigen deutlich, dass beim Ziel Textverständnis der Aufwand, der für die Wortbedeutungserschließung betrieben wird, dem Leseziel untergeordnet ist und je nach dem individuellen Verständnisanspruch der Lemer/ -innen (bzw. dem Interesse an der unbekannten Wortbedeutung) variiert. Wortbed. Textbed. Wortbed. Textbed. Wortbed. Textbed. S2 S1 f'LulL 33 (2004) S2 S1 S2 S1 ? Gegner? ! Nichtraucher! Abb. 1.1: Erschließungsprozess Text 1 - Hanna ? ? Ablehner ? ! Ablehner ! ,---e 1 1111 Abb. 1.2: Erschließungsprozess Text 1 - Maria radikale ! radikale (Lachen) Krankheit Krankheit ? Menschen Nichtraucher Nichtraucher! Abb. 1.3: Erschließungsprozess Text 1 - Viola ; --e 111 11 60 Wortbed. Textbed. Wortbed. Textbed. 82 81 82 81 ? etwas Medizinisches, Gefährliches? Abb. 1.4: Erschließungsprozess Text 1 - Annin ? .-----, ' ' : 1 ? r----, dass jemand etwas verweigert? Abb. 1.5: Erschließungsprozess Text 1 - Anton Angelika Rieder Der Prozessverlauf selbst kann demnach in zwei Phasen eingeteilt werden. In der Eingangsphase entscheiden die Lerner/ -innenje nach Grad der Aufmerksamkeitslenkung, ob sie sich auch tatsächlich mit einem unbekannten Wort beschäftigen. Findet ein Erschließungsprozess statt, so wird in der Hauptphase des Prozesses der Erschließungsablauf von den unterschiedlichen Konstellationen und Lernerstrategien bestimmt und so lange fortgesetzt, bis die Bedingungen für das Erreichen der Ausgangsschwelle erfüllt sind. Wird die Ausgangsschwelle überschritten, so hören die Lerner/ -innen auf, die Bedeutungsstruktur weiter einzuengen und beschäftigen sich nicht länger mit dem Wort; Bedingungen für die Schwellenüberschreitung sind entweder die Ausschöpfung aller verfügbaren Erschließungsressourcen (bei maximalem Erschließungsaufwand) oder der Prozessabbruch aus ökonomischen Gründen (bei minimalem Aufwand). Generell muss betont werden, dass der Prozess des Wortbedeutungsaufbaus innerhalb des Textverstehens hier nicht als einheitlicher Prozess, sondern als ein Netz aneinander gereihter Strategien gesehen wird. Die Abfolge dieser Strategien variiert dabei je nach der textuellen, lernerinternen und situativen Erschließungskonstellation. Als strategischer Prozess verläuft die Wortbedeutungserschließung also nicht gesetzmäßig, sondern sowohl der Verlauf als auch das Ergebnis dieses Prozesses werden durch das Zusammenwirken der spezifischen Text-, Lerner- und Situationsfaktoren bestimmt. Einige der IFLl.llL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 61 typischen Strategien und Prinzipien, die diesen Prozess charakterisieren, werden im folgenden Kapitel beschrieben. 3.3 Charakteristische Prinzipien und Lernerstrategien Wie die Fallstudienergebnisse nahe legen, sind die beobachteten Prinzipien und Strategien der Lerner/ -innen beim Erschließungsprozess auf zwei Ebenen anzusiedeln: einerseits kommen auf der Ebene der Textbedeutung Strategien zum Tragen und andererseits bestimmt auf der Ebene der Wortbedeutung strategisches Lernerverhalten den Prozessverlauf. Grundannahmen auf der Textbedeutungsebene betreffen dabei allgemeine Richtlinien bei der Erstellung des mentalen Modells der Textbedeutung, die sich auf die Herangehensweise an unbekannte Wortbedeutungen auswirken. Bei den Fallstudien mit dem Leseziel Textverständnis fiel generell auf, dass die Versuchspersonen dazu neigten, die Erschließung unbekannter Wortbedeutung dem Textverständnisziel unterzuordnen. So wurde in diesem Fall z.B. die Wortbedeutung des Zielwortes disferectics in den meisten Fällen eher skizziert als spezifiziert; oft wurden auch nur Bereiche bzw. mehrere Alternativkonzepte abgegrenzt (Nichtraucher, Rauchergegner, die Radikalen, die dagegen sind, etc.) oder die Schlüsse auf der Ebene der vagen Vermutung abgebrochen. Dies illustriert das Prinzip der ökonomischen Aufwandsdosierung (siehe Kap. 2.2), das beim Erschließungsprozess ausschlaggebend für Erreichen der Ausgangsschwelle (und damit das Ende der Hauptphase) sein kann. In den Fallstudien mit dem Ziel Wortbedeutungserschließung hingegen wurden die Bedeutungshypothesen zu disferectics im Gegensatz dazu durchgehend so weit spezifiziert, dass bei der endgültigen Bedeutungswahl konzeptuelle Feinheiten (z.B. der Unterschied zwischen non-smoker und anti-smoker) ausdiskutiert wurden: Ja; anti-smokers wär fast besser, weil non-smokers sind ja eigentlich schon Nichtraucher (aha), und vielleicht die, die dagegen sind, dass das anti das besser ausdrückt. (Transkript 2: Simon, Gruppe 3-3, Textl) Diese Beobachtungen unterstreichen, dass es in der natürlichen Lesesituation auch bei einer ausführlichen Beschäftigung mit einem unbekannten Wort in der Regel nicht das Anliegen der Lerner/ -innen ist, die Wortbedeutung auf der Denotationsebene so weit wie möglich zu verfeinern. Vielmehr wird hier die Wortbedeutungserschließung dem Textverständnisziel untergeordnet bleiben, es sei denn die Lerner/ -innen haben persönliches Interesse an diesem Wort. Diese typische ökonomische Dosierungsstrategie war am stärksten bei Zielwörtern zu beobachten, die für das Textverständnisziel als nicht wichtig eingeschätzt wurden und von den Lerner/ -innen in vielen Fällen zwar als unbekannt registriert, aber oft übergangen wurden. In diesem Fall wurde nach der Eingangsphase (d.h. dem Registrieren des unbekannten Wortes) die Schwelle zur Einleitung der Hauptphase der Bedeutungserschließung gar nicht überschritten. Betrachtet man nun die Strategien, die auf der Wortbedeutungsebene zum Tragen kommen, so konnten in den Fallstudien die in Kapitel 2.2 skizzierten strategischen lFLll! lL 33 (2004) 62 Angelika Rieder Grundannahmen über die Beschaffenheit des unbekannten denotativen Konzeptes beobachtet werden, wenn die Hauptphase des Erschließungsprozesses eingeleitet wurde. So wird z.B. die Grundannahme der optimalen Relevanz durch die in Transkript 2 beschriebene Verfeinerung der Bedeutungshypothese von disferectics von non-smoker zu anti-smoker deutlich. Auch die Tatsache, dass vorhandene LI-Konzepte bevorzugt als Ausgangspunkt beim Aufbau neuer L2-Konzepte Verwendung fanden, war beim Umgang mit dem Zielwort disferectics zu beobachten, das speziell so konstruiert war, dass in der Erstsprache kein exakt passendes Wort verfügbar war. In diesem Fall waren die Lemer/ -innen vielfach verwirrt, weil sie keine passende LI-Entsprechung für das Zielwort finden konnten, und die anschließend abgegebenen Bedeutungsvorschläge variierten entsprechend (Antiraucher, Nichtraucher, Rauchergegner bzw. Paraphrasen). Trafen Lerner/ -innen ein unbekanntes Wort mehrmals an, so gingen sie wie erwartet gemäß der Annahme der Konventionalität davon aus, dass die Bedeutung bei jedem Auftreten des Wortes einheitlich ist. Diese Annahme wurde vor allem in den Versuchstexten deutlich, die so konstruiert waren, dass dasselbe Zielwort mehrmals mit jeweils variierenden Bedeutungen vorkam (so z.B. in Versuchstext 6 mit dem Zielwort pront (= bola), das in diesem Text bei Männern mit positiven Konnotationen, bei Frauen mit negativen Konnotationen dargestellt wird): Differences between male andfemale behaviour: In working concems, a man would ratherfeel pront enough to askfor a pay increase than a woman, even if she deserves it. In private concems, warnen frequently wait formen to make the first move, as they do not want to appear pront. (Text 6) Bei diesen Texten suchten die Lerner/ -innen typischerweise nach dem Prinzip der optimalen Relevanz zunächst die passendste Bedeutung für jedes Auftreten und versuchten dann, die aus den kontextuellen Hinweisen abstrahierten Bedeutungskomponenten zu einem einheitlichen Konzept zusammenzufügen: S: Aber selbstsicher passt oben nur, unten nicht. [ ... ] S: Das Problem ist, direkt, das passt unten perfekt, aber. .. D: Ja, oben passt es nicht, das stimmt schon. S: ... direkt fühlen ist oben wieder blöd. D: Was passt auf beides self-assured? (Transkript 3: Gruppe 3-2, Text 6) Im Einklang mit den in Kapitel 2.2 beschriebenen kognitiven Stilen sprangen die Lerner/ innen wie im obigen Fall je nach der Art des Bedeutungsaufbaus von einem Bedeutungsvorschlag zum nächsten (holistischer Aufbau) oder versuchten einzelne Bedeutungskomponenten zusammenzufügen (analytischer Aufbau). Zusätzlich zu diesen strategischen Grundannahmen wurden während der Hauptphase des Erschließungsprozesses semantische Erschließungsstrategien beobachtet, die in zwei Strategietypen eingeteilt werden können. Die eine Kategorie von Strategien bestimmt, wie die Lerner/ -innen an die innerhalb des Textes angetroffenen Bedeutungshinweise herangehen, während die andere Strategiegruppe Prinzipien der semantischen Bedeutungseinengung betrifft. lFLu.iL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 63 Im Bezug auf die Herangehensweise an die Bedeutungshinweise konnten zwei komplementäre Vorgehensweisen bei der Hinweisintegration unterschieden werden. Einerseits gab es Versuchspersonen, die nach dem Prinzip der lokalen Hinweisintegration vorgingen und beim ersten Antreffen eines unbekannten Wortes sofort auf der Basis des lokalen Kontextes einen ersten Konzeptentwurf aufstellten (vgl. Abb. 1.1 [S. 59]). Andere Versuchspersonen wiederum integrierten die Hinweise erst auf globaler Ebene, d.h. sie lasen zuerst den gesamten Text bzw. registrierten beim ersten Antreffen zwar unbekannte Wörter, fuhren dann aber mit dem Lesen fort, um nach dem raschen Überfliegen der kompletten Passage zu diesen Wörtern zurückzukehren (vgl. Abb. 1.2 [S. 59]). Dementsprechend hatten sie quasi eine Skizze ihres mentalen Textbedeutungsmodells bzw. einen Überblick über die Textsituation und konnten so die Gesamtheit der Hinweise in ihren Denotationsschluss integrieren. Diese unterschiedlichen Strategien führten insbesondere in den Versuchstexten, in denen wichtige Bedeutungshinweise erst nach dem ersten Auftreten des Wortes in den Text integriert waren, zu abweichenden Bedeutungsschlüssen. Des Weiteren wurde beobachtet, dass Lerner/ -innen kontextuelle Hinweise bezüglich ihres semantischen Einengungspotentials für die unbekannte Denotation gewichteten. Im Extremfall wurden sogar gewisse Hinweise von den Lerner/ -innen als semantisch so prominent eingestuft, dass sie andere Hinweise vorerst völlig überlagerten (vgl. den Schluss 'Krankheiten' für disferectics, siehe Abb. 1.3 [S. 59] wie die retrospektiven Interviews bestätigten, hatten hier offenbar die Hinweise risks of smoking und increase im ersten Satz diesen Schluss ausgelöst). Betrachtet man den Prozess der Bedeutungserschließung auf der Wortebene, so wurden vier Strategiekomponenten beobachtet, die aus der Perspektive der semantischen Konzeptspezifikation eine Rolle zu spielen scheinen. Generell scheinen Lerner/ -innen bei der semantischen Anreicherung des Konzeptes von der allgemeineren zur spezifischeren Bedeutungsebene vorzugehen, wobei sie diese semantische Einengung mittels verschiedener Unterstrategien erreichen. So ist z.B. bei Ranna die hyponymische Anreicherung der Bedeutung zu beobachten, die ihren Bedeutungsschluss zu disferectics von Gegner zu die dem Rauchen gegenüber negativ eingestellt sind einengt (siehe Transkript 1 [S. 58]). Im Laufe der Bedeutungseinengung kann es allerdings je nach individueller Gewichtung der Aussagekraft der Hinweise und je nach Verarbeitungsziel zu einer semantischen Überbzw. Unterspezifikation des Konzeptes kommen, wie auch oben anhand des Zielwortes disferectics illustriert wurde. Das Phänomen der kontextuellen Überspezifikation war dabei ausschließlich beim Leseziel Wortbedeutungserschließung zu beobachten, während Unterspezifikation vornehmlich beim Leseziel Textverständnis auftrat. Standen mehrere Alternativkonzepte zur Wahl, so blieben nur vereinzelte Versuchspersonen auf der Ebene alternativer Bedeutungshypothesen stehen. Der Großteil versuchte im Einklang mit der oben beschriebenen Grundannahme der Einheitlichkeit der Wortbedeutung, die Konzepte zu einer einheitlichen Bedeutungshypothese zusammenzufügen. Gelang dies nicht, so folgte oft der Abbruch des Bedeutungsschlusses. Insgesamt betrachtet stellt der Prozessverlauf also eine Vernetzung von Strategien dar, die dazu dienen, in der jeweiligen Situation möglichst effizient mit den verfügbaren IFJLlJI][, 33 (2004) 64 Angelika Rieder Ressourcen zu dem Ziel zu kommen, das von den Lerner/ -innen in der Einstiegsphase abgesteckt wurde. Dieses übergeordnete Ziel, das entweder die Kontinuität der Textbedeutung oder die möglichst vollständige Erschließung der Wortbedeutung umfasst, bestimmte im Endeffekt, wie weit der Erschließungsprozess fortgesetzt wurde. Insgesamt machen diese Ausführungen deutlich, dass der Prozess der Bedeutungserschließung keineswegs als unbewusstes Nebenprodukt abläuft sondern einen aktiven, strategischen Prozess darstellt, in dem Wortbedeutungswissen konstruiert wird. Inwieweit dieses Wissen auch in Vokabellernen mündet, d.h. inwieweit die Lemer/ -innen dieses Wissen auch auf die Wortbedeutungsebene abstrahieren, ist Thema des folgenden Kapitels. 3.4 Prozessverlauf vs. Vokabelerwerb Abschließend soll nun der Zusammenhang zwischen dem Verlauf der Bedeutungserschließung und dem Erwerb der Zielwörter anhand ausgewählter Fallstudienergebnisse beleuchtet werden. Im Zusammenhang mit der hier vorliegenden Studie ist jedoch prinzipiell zu berücksichtigen, dass bei den herrschenden Versuchsbedingungen nicht von einem substantiellen Erwerbseffekt ausgegangen werden konnte, da die Zielwörter in der Regel nur einbis zweimal angetroffen wurden. Unter den Untersuchungsbedingungen ist eher mit einem Anfangsstadium des Erwerbs im Sinne des ersten Einprägens der Wortform und Absteckens der Bedeutung zu rechnen; der diesbezügliche Wissensstand der Versuchspersonen wurde in den Teilstudien mit dem Leseziel Textverständnis direkt nach dem Lesen mittels unangekündigter Vokabeltests überprüft. Beim Vergleich der Vokabeltestergebnisse der Lerner/ -innen mit den Verläufen der Bedeutungserschließung während des Lesens fielen zunächst zwei Dinge auf: Dass kein lexikalisches Wissen erworben wurde lag in vielen Fällen erwartungsgemäß daran, dass für die Zielwörter beim Lesen kein Erschließungsversuch unternommen wurde; andererseits konnten sich die Lerner/ -innen aber auch in einigen Fällen nicht an Zielwörter bzw. Bedeutungen erinnern, die sie sehr wohl während des Lesens erschlossen hatten. Diese beiden Kategorien werden nun anhand ausgewählter Beispiele gesondert analysiert. Im ersten Fall wurde während des Lesens für die Zielwörter die Eingangsschwelle der Bedeutungserschließung nicht überschritten, wodurch auch kein Bedeutungswissen aufgebaut wurde. Manche der Zielwörter wurden von den Versuchspersonen beim Lesen zwar als unbekannt wahrgenommen, es wurde ihnen jedoch weiter keine Beachtung geschenkt, in einigen Fällen wurden sie sogar völlig überlesen. Der Grund schien hier wie schon erwähnt zu sein, dass den Lerner/ -innen die Erschließung der Wortbedeutung offensichtlich zur Erreichung ihres Textverständnisziels nicht wichtig erschien. Die strategische Unterordnung des Erschließungsaufwandes unter das Textverständnisziel führte in der Folge dazu, dass keine Hauptphase des Erschließungsprozesses eingeleitet wurde. Erstaunlicherweise war dieses Phänomen mitunter jedoch auch bei Zielwörtern zu beobachten, die als recht zentral für das Textverständnis eingeschätzt wurden. Wie etwa Armins Leseverlauf bei Text 6 (dessen Zielwort pront (= bald) eine für den Text recht zentrale Eigenschaft von Männern und Frauen bezeichnet) zeigt, überging er das Zielwort lFILllllL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 65 im Gegensatz zu allen anderen Versuchspersonen völlig, obwohl es ihm unbekannt sein musste, und ging nur auf die Textbedeutungsebene ein. Offensichtlich war der Text auch ohne Bezugnahme auf das unbekannte Zielwort für seine Ansprüche ausreichend verständlich. Beim anschließenden Test wusste er zwar noch, dass er das Wort gelesen hatte, konnte aber erwartungsgemäß weder den Text noch irgendeine Bedeutung angeben (siehe Tab. 1). pront (= hold) Annin: Dif.ferences between male andfemale behaviour: In working concerns, a man would rather feel pront enough to ask for a pay increase than a woman, even if she deserves it. Ja, ob das noch so gilt, ich mein, mit zunehmendem Selbstbewusstsein der Frauen natürlich berechtigt. In private concerns, women frequently wait f or men to make the first move, as they do not want to appear pront. Tja, also auch, auch ob, ob das noch so gilt? Ist ja die klassische Vorstellung, aber möglicherweise immer noch. Ja, ansonsten diesmal keine seltsamen Fremdwörter drin. Okay Tab. 1: Zielwort ohne Erschließungsprozess Form: ✓ Bed.: - Diese Beobachtungen legen nahe, dass die Wichtigkeit eines Wortes für die Textbedeutung zwar ausschlaggebend für die Einleitung der Hauptphase der Wortbedeutungserschließung ist, dass dieses Kriterium jedoch relativ zum individuellen Verständnisanspruch der Lemer/ -innen, bzw. ihrem Leseziel zu sehen ist. Neben diesem Faktor schien in den Fallstudien auch individuelles Lemerinteresse an einer bestimmten Wortbedeutung bzw. am generellen Erwerb neuer Wörter entscheidenden Einfluss darauf zu haben, ob für ein unbekanntes Wort, das in einem Text angetroffen wurde, eine Haupt-Erschließungsphase stattfand, und ob das erschlossene Bedeutungswissen auf die Wortebene abstrahiert wurde. Ein gutes Beispiel hierfür war z.B. die Versuchsperson Cora, die sich beim Lesen mit jedem einzelnen Zielwort beschäftigte und spezifische Bedeutungshypothesen abgab (obwohl in ihrem Fall als Leseziel ausschließlich Textverständnis angegeben wurde) und beim unangekündigten Vokabeltest für alle Zielwörter bis auf eine Ausnahme Bedeutungen angeben konnte. Wie sie beim nachträglichen Interview angab, war ihr Verhalten durch ihr generelles Interesse an der Erweiterung ihres Wortschatzes motiviert. Wie diese Beobachtungen nahe legen, sind zwei Faktoren ausschlaggebend dafür, dass überhaupt ein Bedeutungsschluss stattfindet und somit Vokabelerwerb ermöglicht wird: einerseits, als wie zentral ein Zielwort von den Lemer/ -innen für das Erreichen ihres Textverständnisziels eingeschätzt wird, und andererseits individuelles Lemerinteresse an einem Wort. Findet ein Bedeutungsschluss statt, so ist dadurch natürlich noch keineswegs gesichert, dass auch Bedeutungswissen aufgebaut werden kann. Ob und wie weit dies möglich ist, wird entscheidend von den verfügbaren textuellen Bedeutungshinweisen und dem Hintergrund- und Sprachwissen der Lemer/ -innen abhängen. lFlLulL 33 (2004) 66 Angelika Rieder Wie schon im theoretischen Teil angemerkt wurde, ist aber auch dann, wenn während des Leseprozesses der Bedeutungsbeitrag eines unbekannten Wortes erfolgreich erschlossen wird, nicht automatisch mit einem Erwerbseffekt zu rechnen. Dies wird durch die Ergebnisse der Vokabeltests unterstrichen, bei denen sich die Lerner/ -innen in erstaunlich vielen Fällen nicht mehr an Bedeutungen erinnern konnten, die sie während des Lesens erschlossen hatten bzw. sich in manchen Fällen nicht einmal daran mehr erinnerten die Zielwörter gelesen zu haben, obwohl sie sich beim Lesen mit ihnen beschäftigt hatten. In diesen Fällen wurde zwar eine Hauptphase des Erschließungsprozesses eingeleitet, es kam jedoch offensichtlich zu keiner Abstrahierung der erschlossenen Bedeutung auf die Wortebene bzw. auch zu keiner Einprägung der Wortform. Vor allem die Fälle, in denen nach dem Lesen auch keine Erinnerung mehr an die Wortform bestand, zeigen deutlich, dass die Versuchspersonen in diesen Fällen lediglich einen kurzen Schluss über den Bedeutungsbeitrag des Wortes zur Textbedeutung machten und sich ansonsten stets auf der Textbedeutungsebene bewegten (siehe Tab. 2). refty (=pushy) phalacrosis (= " Glatzenbildung ") Kontext: ... Would you please stop being so refty and leave me in peace for a moment? ... Susi: " ... so refty, ah, wahrscheinlich so drängelnd, oder irgend so was in die Richtung, also auf jeden Fall scheint er sich irgendwie da ein bissle unter Druck zu fühlen" Kontext: .... when he removed his hat, she, who preferred "ageless" men, eyed his increasing phalacrosis and grimaced... Viola: ".. .increasing phalacrosis keine Ahnung hat vielleicht was mit den Haaren zu tun also entweder die fallen ihr fallen ihm aus, was sie dann als Zeichen seines doch fortschreitenden Alters deutet..." Tab. 2: Zielwörter ohne nachträgliche Erinnerung an die Wortform Form: - Bed.: - Form: - Bed.: - Dieser exklusive Textbedeutungsfokus wird in den Verbalisierungen durch das sofortige Paraphrasieren des Bedeutungsbeitrages auf der Textbedeutungsebene deutlich (siehe Tab. 2 Susi: "auf jeden Fall scheint er sich irgendwie da ein bissle unter Druck zu fühlen"; Viola: "was sie dann als Zeichen seines doch fortschreitenden Alters deutet" ). Hier wurde zwar eine kurze Hauptphase eingeleitet, aber die Ausgangsschwelle des Erschließungsprozesses wurde offenbar durch die ökonomische Aufwandsdosierung so niedrig angesetzt, dass der Erschließungsprozess ohne Fokus auf die Wortform beendet wurde. Auch in den Fällen, in denen sich die Lerner/ -innen bei den Vokabeltests zwar an die Wortform erinnern konnten, aber keinerlei Angaben über die Bedeutung machen konnten, schien diese fehlende Verknüpfung von Wortform und Bedeutungskonzept durch IFLl.lL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 67 den mangelnden Fokus auf die Wortbedeutungsebene während des Lesens bedingt zu sein. Dies trat meistens in den Fällen auf, in denen Zielwörter nicht zentral für das Verständnis der Texte waren. Vereinzelt konnten sich Versuchspersonen aber auch nicht an die erschlossenen Bedeutungen relativ zentraler Zielwörter erinnern, wie im Folgenden anhand des Wortes disferectics in Versuchstext 1 illustriert wird (siehe Tab. 3). disferectics (= "Rauchergegner") Maria: ...the number of radical disferectics, ich würd Ablehner einfach sagen, aber das kenn ich das Wort net, dann könnt ich net weitermachen. Aber heutzutage, das steht fest (lacht) sind sich immer mehr und mehr des Risikos des Rauchen bewusst. Mehr gehtnet. disferectics Anton: Ähm, tja also, der ganze Text hängt an diesem Wort (= "Rauchergegner") disferectics [...] vielleicht heißt das irgendwie in dem Sinne, dass jemand etwas verweigert, disferectics, dass immer mehr Leute aufhören, aber das ist eine Vermutung. Tab. 3: Zielwörter ohne nachträgliche Erinnerung an die Wortbedeutung Form: ✓ Bed.: - Form: ✓ Bed.: - Wie die exemplarische Verbalisierung zeigt, erfolgte in diesen Fällen typischerweise nur ein vager Schluss über den Bedeutungsbereich (siehe Tab. 3 Maria: "ich würd Ablehner einfach sagen", Anton: "vielleicht heißt das irgendwie in dem Sinne, dass jemand etwas verweigert"), der jedoch nicht weiter spezifiziert wurde, sondern auf dieser unsicheren Vermutungsebene abgebrochen wurde, da das Hauptaugenmerk ja auf der Textverständnisebene lag. Offensichtlich war hier das Textverständnisziel recht grob angesetzt und die ökonomische Aufwandsbeschränkung dadurch ebenfalls sehr minimalistisch, was dazu führte, dass zwar die Wortform im Gedächtnis blieb aber keine Bedeutungshypothese mit dem Zielwort verknüpft wurde. Ein weiterer Faktor, der in den Fallstudien zu beobachten war, ist die Ausweitung der Hauptphase des Erschließungsprozesses beim wiederholten Antreffen eines Wortes in einem anderen Text. 5 Hier wurden die Lerner/ -innen durch den Erinnerungseffekt auf das Wort aufmerksam, setzen bei der schon bestehenden Bedeutungshypothese an und überprüften, inwieweit diese auch im neuen Kontext zutreffend war. Diejenigen Versuchspersonen, die keinen Erinnerungseffekt aufwiesen, beschäftigten sich beim zweiten Antreffen hingegen weniger ausführlich mit dem Zielwort (siehe Tab. 4 [S. 68]). 5 Der Faktor der Rekurrenz von Zielwörtern wurde in Teilstudie 2 untersucht, in der einige Zielwörter in mehreren Texten vorkamen. JFLUJJJL 33 (2004) 68 Angelika Rieder Hanna Text 1: disferectics keine Ahnung, was das heißt. Wahrscheinlich irgendwas mit Gegner, nehme ich an [...] Ahm, es scheinen auf jeden Fall die zu sein, die nicht rauchen. Die dem Rauchen gegenüber negativ eingestellt sind. Text 4: A disferectic, he disliked her smoking; Ahh - Ok. Das hatten wir vorhin schon mal.... Ähm ja disferectic das hab ich ja vorhin schon - 5 dann gesagt, dass das wahrscheinlich ein Gegner des Rauchens ist, oder eine Gegnerin - und das scheint auch hier wieder der Fall zu sein: he disliked her smoking. Viola Text 1: disferectics ist das irgendeine Krankheit- [...] the number of radical disferectics - oder nee, keine Krankheit. In turn the disferectics' negative attitude towards smokinginfluences smo was? ! Sind das disferectics' Menschen? - 3 - Ja, Menschen. [...] The number of radical disferectics also vielleicht sind das - 4 ähh radikale Nichtraucher. Text 4: A disferectic, he disliked her smoking- (lacht) - 3 disferectic weiß ich jetzt nicht, aber - 4 also er, er mag halt nicht, dass sie raucht... Tab. 4: Ausweitung der Hauptphase des Erschließungsprozesses bei Erinnerungseffekt Während Ranna beim zweiten Antreffen von disferectics durch den Erinnerungseffekt ganz bewusst auf das Wort Bezug nahm, registrierte Viola das Zielwort zwar als unbekannt, kümmerte sich aber nicht weiter um dessen Bedeutung. Ihren retrospektiven Angaben zufolge konnte sie sich nicht daran erinnern, dass das Wort schon einmal vorgekommen war und unterließ bei diesem Text eine detailliertere Bedeutungserschließung, weil ihr das Zielwort im aktuellen Kontext nicht essentiell wichtig für das Textverständnis erschien. Dieses Beispiel zeigt, dass die Rekurrenz eines Wortes den Vokabelerwerb nicht nur durch die vielfältigeren Bedeutungshinweise und die wiederholte Einprägung des Wortes fördert, sondern durch den Erinnerungseffekt auch zu einem ausführlicheren Erschließungsprozess führen kann. Insgesamt unterstreichen diese Ergebnisse, dass die Chancen für den beiläufigen Erwerb eines unbekannten Wortes in einem fremdsprachigen Text zum Teil von den individuellen Eingangs- und Ausgangsschwellen der Bedeutungserschließung abhängen, die durch Faktoren wie den Textverständnisanspruch bzw. das Leseziel, das Lernerinteresse oder die Auftretenshäufigkeit der Wörter beeinflusst werden. Positive Voraussetzungen für den Vokabelerwerb sind gegeben, wenn die Eingangsschwelle überschritten wird und die Ausgangsschwelle erst bei ausgeschöpften Erschließungsressourcen angesetzt wird. Dies ist dann der Fall, wenn von Seiten der Lerner/ -innen Interesse an einem Wort besteht (dies kann z.B. durch persönlichen Bezug zur Thematik, durch generelle Sprachlernmotivation oder durch das wiederholte Antreffen des Wortes geweckt werden) bzw. wenn das Wort als wichtig für die Textbedeutung eingeschätzt wird. Werden Wörter als unwesentlich zur Erschließung der Textbedeutung angesehen bzw. ist der Textverständnisanspruch gering, so wird entweder gar keine Hauptphase der Bedeutungserschließung eingeleitet oder die Ausgangsschwelle ist aus ökonomischen Gründen so niedrig angesetzt, dass keine Bedeutungsstruktur mit der Wortform verknüpft wird. lFLUllL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 69 4. Zusammenfassung In der Forschung herrscht allgemein Einigkeit über die Tatsache, dass Lerner/ -innen beim Lesen fremdsprachiger Texte erfolgreich neue Lexeme erwerben. Was jedoch eine Beschreibung dieses beiläufigen Erwerbsprozesses betrifft, so gibt es hier kaum befriedigende Forschungsansätze. Versucht man, den kognitiven Prozess des Aufbaus unbekannter Wortbedeutungen beim Lesen zu erfassen, so wird klar, dass dies ein komplexer, strategischer Konstruktionsprozess ist, der von verschiedensten textuellen, lernerspezifischen und situativen Faktoren beeinflusst wird. Ziel dieses Artikels war es, einige zentrale Facetten dieses Prozesses zu beschreiben und Auswirkungen auf den beiläufigen Vokabelerwerb zu skizzieren. Wie die theoretischen und empirischen Betrachtungen nahe legen, können im Prozess der Wortbedeutungserschließung innerhalb des Leseprozesses eine Eingangsphase und eine Hauptphase unterschieden werden. In der Eingangsphase bestimmt der Grad der Aufmerksamkeitslenkung, ob ein/ e Lerner/ -in die Eingangsschwelle überschreitet und sich mit einem Wort beschäftigt. Die Hauptphase des Prozesses ist durch die Aneinanderreihung spezifischer Lernerstrategien charakterisiert, die je nach den textuellen Konstellationen variieren. Das Ende der Hauptphase ist schließlich durch dass Erreichen der Ausgangsschwelle bestimmt, die entweder überschritten wird, wenn alle Ressourcen zur Bedeutungserschließung ausgeschöpft sind oder wenn der Prozess aus ökonomischen Gründen beendet wird. Die Lernerstrategien, die während des Erschließungsprozesses zum Tragen kommen, können in zwei Strategietypen eingeteilt werden, die in drei verschiedenen Bereichen operieren. Die eine Kategorie von Strategien ist auf der Ebene der Textbedeutung anzusiedeln und bestimmt, wie die Lerner/ -innen an die innerhalb des Textes angetroffenen Bedeutungshinweise herangehen. Die andere Strategiegruppe betrifft die Wortbedeutungsebene und umfasst Prinzipien der semantischen Einengung denotativer Konzepte sowie Prinzipien der Modifikation bestehender Bedeutungshypothesen bei wiederholtem Antreffen eines Wortes. Auch die strategischen Grundannahmen der Lerner/ -innen beim Erschließungsprozess entspringen sowohl der Ebene der Textbedeutung als auch der Ebene der Wortbedeutung. Grundannahmen auf der Textbedeutungsebene betreffen dabei allgemeine Richtlinien bei der Erstellung des mentalen Modells der Textbedeutung, die sich auf die Herangehensweise an unbekannte Wortbedeutungen auswirken. Auf der Wortebene kommen hingegen Grundannahmen über die Beschaffenheit des unbekannten Bedeutungskonzeptes zum Tragen. Betrachtet man schließlich den Einfluss des Prozesses der Wortbedeutungserschließung auf den Vokabelerwerb, so scheinen die individuellen Eingangs- und Ausgangsschwellen des Prozesses zum Teil den Grad zu bestimmen, zu dem Wortform und Wortbedeutung nach dem Lesen im Gedächtnis der Lerner/ -innen verankert und verknüpft bleiben. Wird die Eingangsschwelle nicht überschritten, so findet keinerlei Bedeutungsaufbau statt. Wird die Hauptphase eingeleitet und ist die Ausgangsschwelle nach ökonomischen Gesichtspunkten niedrig angesetzt, so ist damit zu rechnen, dass hier zwar ein lFILllL 33 (2004) 70 Angelika Rieder Bedeutungsschluss auf der Textbedeutungsebene, aber keine Abstrahierung auf die Wortbedeutungsebene stattfindet. Gute Voraussetzungen für den Vokabelerwerb sind also nur dann gegeben, wenn die Ausgangsschwelle erst bei der Ausschöpfung der verfügbaren Erschließungsressourcen erreicht wird. Komplementäre Einflussfaktoren für den erfolgreichen Wortbedeutungsaufbau, die eine ebenso große Rolle spielen aber hier leider nicht näher ausgeführt werden können, stellen in diesem Sinne natürlich die textuellen Hinweiskonstellationen und adäquates Hintergrund- und Sprachwissen der Lemer/ -innen dar. Aus dieser Perspektive wird die Qualität des Bedeutungsschlusses (d.h. der Grad zu dem eine Spezifikation der Wortbedeutung möglich ist) von Seiten des Textes durch die Vielfalt, Explizitheit und Einheitlichkeit der Bedeutungshinweise beeinflusst; damit diese Hinweise zur Bedeutungserschließung genutzt werden können, müssen sie jedoch zuerst von Seiten der Lerner/ innen mittels Sprach- und Hintergrundwissen interpretiert, komplementiert und zugeordnet werden, sodass hier eher von einem textuellen Erschließungspotential als von bestehenden textuellen Hinweisen auszugehen ist. 6 Insgesamt ergeben sich demnach die Bedingungen für den beiläufigen Erwerb eines bestimmten Wortes aus der Verfügbarkeit und Ausnützbarkeit der benötigten Ressourcen zur erfolgreichen Wortbedeutungserschließung und aus der Notwendigkeit bzw. dem Interesse an der Beschäftigung mit diesem Wort. Die Ressourcen setzen sich aus den textuellen Informationen und aus dem Sprach- und Hintergrundwissen der Lemer/ -innen zusammen, während die Notwendigkeit des Bedeutungsschlusses von textuellen Faktoren (z.B. der Rolle des Wortes für die Textbedeutung), lemerspezifischen Faktoren (z.B. dem Textverständnisanspruch) und situativen Faktoren (z.B. dem Leseziel) bestimmt wird. Das Lernerinteresse schließlich kann durch persönliche Motivation oder aber z.B. auch durch textuelle Faktoren wie das mehrmalige Antreffen eines Wortes geweckt werden. Abschließend muss noch einmal angemerkt werden, dass der beiläufige Erwerb neuer Lexeme ein gradueller und schrittweiser Prozess ist. In den vorliegenden Untersuchungen wurde quasi das Anfangsstadium dieses Prozesses untersucht. Um von einem umfassenderen Erwerb eines Lexems sprechen zu können, sind im Sinne der Elaboration des denotativen Konzeptes, der Einprägung der Wortform und der Integration des lexikalischen Wissens wiederholte Verarbeitungsprozesse und somit ein mehrmaliges Antreffen des Wortes in verschiedenen Kontexten erforderlich. Diese Aspekte der Verfeinerung und Konsolidierung lexikalischen Wissens zu untersuchen, könnte das Anliegen weiterführender Studien sein. Literatur CARTON, Aaron (1971): "Inferencing: a process in using and learning language". In: PIMSLEUR, Paul/ QUINN, Terence (eds.): The psychology of second language learning. Cambridge: Cambridge University Press, 45-58. Für eine ausführliche Behandlung dieser Einflussfaktoren siehe RlEDER (2002a,b ). IFJLIIL 33 (2004) Der Aufbau von Wortbedeutungswissen beim Lesen fremdsprachiger Texte ... 71 CLARK. Eve (1993): The lexicon in acquisition. Cambridge: Cambridge University Press. ELLIS, Nick (1994 ): "Vocabulary acquisition: the implicit ins and outs of explicit cognitive mechanisms". In: ELLIS, Nick (ed.): Implicit and explicit learning of languages. London etc.: Academic Press, 211-282. ELSHOUT-MOHR, Marianne/ DAALEN-KAPTEIJNS, Maartje M. van (1987): "Cognitive processes in learning word meanings". In: MCKEOWN, Margaret M./ CURTIS, Mary. E. (eds.): The nature of vocabulary acquisition. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum, 53-72. GASS, Susan (1999): "Discussion: incidental vocabulary acquisition". In: Studies in Second Language Acquisition 21, 319-333. HAASTRUP, Kirsten (1991): Lexical inferencing procedures or talking about words. Tübingen: Narr. HUCKIN, Thomas/ BLOCH, Joel (1993): "Strategies for inferring word meaning in context: a cognitive model". In: HUCKIN/ HAYNES/ COADY (eds.), 153-177. HUCKIN, Thomas/ COADY, James (1999): "Incidental vocabulary acquisition in a second language: a review". In: Studies in Second Language Acquisition 21, 181-193. HUCKIN, Thomas/ HAYNES, Margot/ COADY, James (eds.) (1993): Second language reading and vocabulary learning. Norwood, N.J.: Ablex Publishing Corporation. HULSTIJN, Jan H. (2001): "Intentional and incidental second language vocabulary learning: a reappraisal of elaboration, rehearsal and automaticity". In: ROBINSON, Peter (ed.): Cognition and second language instruction. Cambridge: Cambridge University Press, 258-287. ]OE, Angela (1995): "Text-based tasks and incidental vocabulary learning". In: Second Language Research 11.2, 149-158. NAGY, William E. / HERMAN, Patricia A. / ANDERSON, Richard C. (1985): "Learning words from context". In: Reading Research Quarterly 20.2, 233-253. NATION, I.S.P. (2001): Learning vocabulary in another language. Cambridge: Cambridge University Press. NEMSER, William (1998): "Variations on a theme by Haastrup". In: ALBRECHTSEN, Dorte [et al.] (eds.): Perspectives onforeign and second language pedagogy. Odense: Odense University Press, 107-117. NORMAN, Donald A. (1982): Learning and Memory. San Francisco: Freeman. P ARIBAKHT, T. Sima/ WESCHE, Marjorie (1999): "Reading and incidental L2 vocabulary acquisition: an introspective study oflexical inferencing". In: Studies in Second Language Acquisition 21, 195-224. PRESSLEY, Michael/ LEVIN, Joel R. / McDANIEL, Mark A. (1987): "Remembering versus inferring what a word means: mnemonic and contextual approaches". In: MCKEOWN, Margaret M. / CURTIS, Mary E. (eds.): The nature of vocabulary acquisition. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum, 107-123. RIEDER, Angelika (2002a): Beiläufiger Vokabelerwerb: Theoretische Modelle und empirische Untersuchungen. Dissertation, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen. http: / / w210.ub.uni-tuebingen.de/ dbt/ vo11texte/ 2002/ 646. RIEDER, Angelika (2002b): "A cognitive view of incidental vocabulary acquisition: from text meaning to word meaning? " In: Vienna English Working Papers 11.1&2, 53-71. http: / / www.univie.ac.at/ Anglistik/ views/ 02_1&2/ AR.PDF. SPERBER, Dan/ WILSON, Deirdre (1995): Relevance: Communication and cognition. 2nd edition. Oxford: Blackwell. STEIN, Mark J. (1993): "The healthy inadequacy of contextual definition". In: HUCKIN/ HAYNES/ COADY (eds.), 203-214. STERNBERG, Robert J. (1987): "Most vocabulary is learned from context". In: McKEoWN, Margaret M. / CURTIS, Mary. E. (eds.): The nature of vocabulary acquisition. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum, 89-105. W OLFF, Dieter (1994 ): "Der Konstruktivismus: ein neues Paradigma in der Fremdsprachendidaktik? " In: Die Neueren Sprachen 93.5, 407-429. lFLl.llL 33 (2004)