eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 33/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
331 Gnutzmann Küster Schramm

Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums

121
2004
Erwin Tschirner
flul3310114
Erwin TSCHIRNER * Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums** Abstract. An important predictor of academic success of both foreign university students and of students studying a foreign language for academic purposes is vocabulary size. Estimates of minimal vocabulary sizes start at a low of 5,000 words for reading authentic texts (LA UFER 1997) and range up to 10,000 words for reading university textbooks (HAZENBERG/ HULSTUN 1996). To determine English vocabulary sizes of beginning Anglistik students at the University of Leipzig (Germany), NATION's (2001) Vocabulary Levels Tests were administered to approximately one third of all beginning students in the winter semester of 2001/ 02 (N = 142) along with a 25-item questionnaire focusing on relevant biographical information including past and present English language experience and study behavior. In addition to describing the vocabulary levels attained by the participants, the paper discusses the relationship between test scores and background data such as length of time in English-speaking countries, number of English-language books read per year, study strategies, etc. 1. Einleitung Umfang, Dichte und Tiefe des Wortschatzes ist einer der wichtigsten Indikatoren akademischen Erfolgs, wenn die Fremdsprache als Arbeitssprache benutzt wird, wie z.B. bei einem Auslandsstudium oder beim Studium eines philologischen Faches. Vor allem beim Leseverständnis ist lexikalisches Wissen die wichtigste Wissensquelle, noch vor Fachwissen und weit vor grammatischem Wissen (LAUFERISIM 1985, QIAN 2002). Darüber hinaus scheint es Wortschatzschwellen zu geben, d.h. Wortschatzgrößen, die notwendig sind, bevor Aufgaben in der Fremdsprache wie z.B. das Lesen unbekannter authentischer Texte mit Verständnis und ohne großen Zeitverlust erfolgreich gelöst werden können (LAUFER 1997). Das kann bedeuten, dass Studierende, die z.B. weniger als 5.000 der häufigsten Wörter ihrer Fremdsprache beherrschen, deutlich mehr Zeit für ihr Lesepensum brauchen und dabei trotzdem weniger verstehen als ihre muttersprachlichen Kommilitonen, mit dem Resultat, dass sie weniger erfolgreich ihr Studium abschließen bzw. es sogar frustriert abbrechen. LAUFER (1997) definiert Wörter eines bestimmten Schwellenwortschatzes als Sichtwortschatz, als Wörter, deren Formen und Bedeutungen sofort und Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Erwin TSCHIRNER, Univ.-Prof., Universität Leipzig, Herder-Institut, Deutsch als Fremdsprache und Angewandte Linguistik, Beethovenstraße 15, 04107 LEIPZIG. E-mail: tschimer@uni-leipzig.de Arbeitsbereiche: Zweitsprachenerwerb, Korpuslinguistik, Testforschung. •• Ich bedanke mich sehr herzlich bei Birgit Meerholz-Härle, Volkmar Munder und Stefanie Neuner, die bei der Gestaltung und Durchführung dieser Studie mitgewirkt haben, und bei Olaf Bärenfänger für sehr hilfreiche Kommentare. IFL1! JIL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 115 automatisch erkannt werden, und behauptet, dass die Übertragung muttersprachlicher Lesestrategien, darunter auch das Inferieren unbekannter Wörter aus dem Kontext, erst dann möglich ist, wenn eine bestimmte Wortschatzschwelle überschritten ist. Schätzungen im Hinblick auf Wortschatzschwellen für ein Universitätsstudium schwanken zwischen einen Umfang von 5.000 Lemmata als Minimum, um unbekannte authentische Texte der Zielsprache zu verstehen (LAUFER 1997), und 10.000 Basiswörtern, um die Fachliteratur des ersten Universitätsjahres zu verstehen (HAZENBERG/ HULs- TIJN 1996). Die häufigsten 5.000 Wörter des Englischen erfassen ca. 95% der Wörter eines durchschnittlichen Zeitungsartikels oder Fachaufsatzes. Unter dieser Schwelle von 95% scheint kein Verständnis eines Textes möglich (LAUFER 1997). Nach NATION (2001) müssen sogar mindestens 97% der Wörter eines Textes bekannt sein, um einen Text zu verstehen und um ein Inferieren unbekannter Wörter aus dem Kontext zu ermöglichen. Zum extensiven Lesen literarischer Texte wird sogar ein Wortschatzverständnis von 98% benötigt (HIRSHINATION 1992, HU/ NATION 2000), was für das Englische einen Wortschatzumfang von ca. 8.000 Lemmata voraussetzt. Studien mit Muttersprachlern des Englischen ergaben, dass ein Wortschatzverständnis von 98%, d.h. 2 unbekannte Wörter pro 100 Wörter oder 1 unbekanntes Wort pro jeweils 5 Zeilen, als schwieriges Lesen empfunden wird. Erst ab einem Wortschatzstand von 99%, also ca. einem unbekannten Wort pro 10 Zeilen Text, wird das Lesen als angenehm empfunden (CARVER 1994). Diese Ergebnisse scheinen darauf hinzudeuten, dass zu Beginn eines Englisch-/ Anglistik-/ Amerikanistik-Studiums, besonders im Hinblick auf das sehr große Lesepensum vor allem in der Primär-, aber auch in der Sekundärliteratur, ein Wortschatzstand von mindestens 5.000, besser noch 8.000 Wörtern vorhanden sein sollte, um ein effektives und effizientes Studium von Beginn an zu ermöglichen. Nach 8 Jahren Englischunterricht am Gymnasium sollte ein solcher Wortschatzstand keine unrealistische Erwartung sein, obgleich die Lehrpläne z.B. in Sachsen zu Ende der 10. Klasse Gymnasium lediglich einen Wortschatzumfang von 3.000 Wörtern produktiv und 4.000 Wörtern rezeptiv erwarten und für die Oberstufe nur noch allgemeine Empfehlungen zur Stärkung des lexikalischen Wissens geben. Rahmenvorgaben für das Englischabitur gehen von 4.000 Wörtern produktiv und 5.000 Wörtern rezeptiv aus (SÄCHSISCHES STAATSMINISTE- RIUM FÜR KULTUS 2001). Um den Wortschatzstand beginnender Englisch-/ Anglistik-/ Amerikanistik-Studierender an der Universität Leipzig zu erfassen und um ggf. Hilfsmaßnahmen bei fehlenden Schwellenwortschätzen entwickeln zu können, wurden im WS 2001/ 2002 ca. 40% der Erstsemesterstudenten die Levels Tests von NATION (2001) gegeben, zusammen mit einem Fragebogen, der neben biographischen Daten Informationen zu relevanten Erfahrungen mit der englischen Sprache und Kultur und zum Wortschatzlernverhalten erhob. Im Folgenden wird zuerst die Forschungsmethode zusammengefasst und anschließend werden die Forschungsergebnisse präsentiert und interpretiert. lFJLl.lllL 33 (2004) 116 Erwin Tschirner 2. Methode 2.1 Teilnehmer Bei den Teilnehmern an dieser Studie handelte es sich um 142 Erstsemesterstudierende der Fächer Anglistik, Amerikanistik und Englisch (Lehramt) und damit um ca. 40% der Erstsemesterstudierenden dieser Fächer im WS 2001/ 02 an der Universität Leipzig. 84% der Teilnehmer waren weiblich, 16% männlich. Die Teilnehmer waren im Durchschnitt 20 Jahre alt, die jüngste war 18 und die älteste Teilnehmerin war 27. 53% der Teilnehmer kamen aus Sachsen, insgesamt 75% aus den drei mitteldeutschen Bundesländern: Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, 22% waren aus den alten Bundesländern. Alle sprachen Deutsch als Muttersprache und hatten das deutsche Abitur. 97% der Teilnehmer hatten das Abitur am Gymnasium gemacht, 3% an Gesamtschulen oder über den zweiten Bildungsweg. 72% belegten in der Oberstufe Englisch als Leistungskurs, 28% als Grundkurs, nur eine einzige Person hatte kein Englisch in der Oberstufe. 1 Die Teilnehmer hatten Englisch durchschnittlich 8 Jahre an der Schule (Min. 5, Max. 11, SD 1). Alle Teilnehmer nahmen freiwillig an der Untersuchung teil. 2.2 Messinstrument Als Messinstrument wurden der Vocabulary Levels Test und der Productive Levels Test von NATION (2001) verwendet. 2 Der rezeptive Vocabulary Levels Test besteht aus 5 allgemeinsprachlichen Subtests, die Wortschatzstände von 1.000, 2.000, 3.000, 5.000 und 10.000 Wörtern erfassen, und einem Spezialwortschatztest, der den akademischen Wortschatz erfasst. Der akademische Wortschatz besteht aus 570 Wörtern der allgemeinen Wissenschaftssprache, die nicht zu den häufigsten 2.000 Wörtern der englischen Sprache gehören, die aber insgesamt ca. 10% der Wörter eines durchschnittlichen Fachtextes ausmachen. Die rezeptiven allgemeinsprachlichen Subtests enthalten jeweils 30, der rezeptive Subtest zum akademischen Wortschatz enthält 36 ltems. Jeweils 3 Items sind zu einem Block zusammengefasst, wobei aus einer Liste von 6 Wörtern insgesamt drei Wörtern drei Definitionen zugeordnet werden müssen. Ein Beispiel für dieses Testformat ist in Abbildung 1 zu sehen. Jeder der Definitionen in Spalte 4 ist in Spalte 3 die Zahl in Spalte 1 zuzuordnen, die das richtige Wort aus Spalte 2 identifiziert. Diese Teilnehmerin hatte etwas länger als ein Jahr als AuPair in England gearbeitet und schnitt in den Tests überdurchschnittlich gut ab. 2 Vgl. CAMERON (2002) für eine kritische Würdigung der Levels Tests von Nation. JFLIIL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 1 2 3 4 5 6 business clock horse pencil shoe wall part of a house animal with four legs something used for writing Abb. 1: Itemblock aus dem Vocabulary Levels Test 117 Der Productive Levels Test besteht aus 4 allgemeinsprachlichen Subtests, die Wortschatzstände von 2.000, 3.000, 5.000 und 10.000 Wörter erfassen, und einem Spezialwortschatztest, der den universitären Wortschatz erfasst, das produktive Gegenstück zum rezeptiven akademischen Wortschatz. Die produktiven Subtests bestehen aus jeweils 18 Items, wobei das gesuchte Wort in einen Kontext eingebettet ist, der aus 1-2 Sätzen besteht, wobei die ersten 2-4 Buchstaben des gesuchten Wortes vorgegeben sind. Ein Beispiel für dieses Testformat bietet der folgende Satz. 1. France was proc ____ a republic in the 18th century Aufgrund der großen Menge an Items (insgesamt 280) wurden die 11 rezeptiven und produktiven Subtests auf insgesamt 8 unterschiedliche Testvarianten (A-H) so verteilt, dass jede Studierende nur jeweils 5 Subtests bearbeiten musste. Die Varianten wurden so gestaltet, dass die Subtests in jeweils unterschiedlicher Reihenfolge angeordnet waren, um Ermüdungserscheinungen u.Ä. als Störvariablen auszuschalten. Der Subtest R2000 (Rezeptiv 2000) z.B. war in Variante A Teil 1, in Variante C Teil 5, in Variante F Teil 4 usw. Da davon auszugehen war, dass die Subtests von 2.000 bis 5.000 (inkl. die „allgemeinwissenschaftssprachlichen" Subtests) für die gewählte Population die interessantesten Ergebnisse liefern würden, wurden diese stärker gewichtet. Die Subtests R3000 und P3000 waren in 5 Varianten enthalten, die anderen Subtests dieser Gruppe in jeweils 4 Varianten. Der Subtest RlO00 hingegen war nur in 2 Varianten enthalten, die Subtests Rlü.000 und Plü.000 nur in jeweils einer. Die letztgenannten drei Subtests sind deshalb auch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Zusätzlich zu den Wortschatztests wurde ein Fragebogen verteilt, der persönliche und schulische Daten erhob und Fragen zu früheren Erfahrungen mit der englischen Sprache und Kultur, zu bestehenden Kontakten mit der englischen Sprache über Personen und Medien, zur Art und Weise des Vokabellemens und zur Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkenntnisse stellte. 2.3 Datenerhebung und -analyse Die Datenerhebung fand 6 Wochen nach Beginn des Semesters im Rahmen einer großen Einführungsvorlesung in die anglistische Literaturwissenschaft statt. Insgesamt nahmen 167 Studierende teil, von denen 25 entweder nicht mehr im ersten Semester studierten, keine Muttersprachler des Deutschen waren oder kein deutsches Abitur hatten. Die Tests lFLl! lL 33 (2004) 118 Erwin Tschimer dieser Teilnehmer wurden nach Ende der Datenerhebung aussortiert und nicht weiter bearbeitet. Die 8 Varianten des Tests wurden so verteilt, dass benachbarte Studierende jeweils unterschiedliche Varianten bearbeiteten. Die Fragebögen waren mit den Tests zusammengeheftet und wurden gleich im Anschluss an den Test ausgefüllt. Im Durchschnitt benötigten die Studierenden 26 Minuten für die 5 Subtests ihrer Variante. Die schnellste Studierende war nach 18 Minuten fertig, die langsamste nach 42 Minuten. Die Datenanalyse wurde mit der Statistiksoftware Systat (University of Iowa) gemacht. Die Daten wurden kodifiziert und von zwei verschiedenen Personen eingetippt und gegengelesen. Neben einfachen deskriptiven Statistiken für Fragebögen und Testergebnisse wurden zur Ermittlung von Gruppenunterschieden T-tests verwendet, zur Korrelationsanalyse numerischer Daten wurde der Pearson Korrelationskoeffizient ermittelt. 3. Ergebnisse und Diskussion Im Folgenden werden zuerst ausgewählte Ergebnisse aus dem Fragebogen präsentiert. Im Anschluss daran werden die Wortschatzstände der Studierenden vorgestellt. Im dritten und letzten Teil dieses Kapitels wird auf vier Forschungsfragen zum Verhältnis von Wortschatzständen und ausgewählten biographischen Daten eingegangen. 3.1 Ausgewählte Ergebnisse aus dem Fragebogen Eine Analyse der Fragebogenergebnisse ergibt ein eher nüchternes Bild der Vorbereitung und des Lernbewusstseins beginnender Anglistik-/ Amerikanistik- und Englischstudierender. Das Interesse an der englischen Sprache und ihren Kulturen scheint bei mehr als der Hälfte der Erstsemester eher wenig ausgeprägt. Wie Tab. 1 auf der folgenden Seite zeigt, haben 68% der Studierenden keine Sprech- oder Schreibkontakte außerhalb ihrer Veranstaltungen. 71 % lesen keine Sachbücher, 64% lesen keine Zeitungen, 78% hören kein englischsprachiges Radio, 53% surfen im Internet nicht durch englischsprachige Seiten. 70% lesen keine Fachaufsätze, 31 % lesen keine Fachbücher. Selbst die Pflichtlektüre der Primärliteratur wird von 46% der Befragten nicht gelesen. 50% der Befragten lesen zwar mehr als zwei Unterhaltungsromane pro Jahr, 26% jedoch lesen keinen und 24% nur einen oder zwei. 49% der Studierenden sehen keine englischsprachigen Filme, 48% wenigstens einbis mehrmals pro Monat. Überraschend ist, dass 23% der Studierenden noch nie im englischsprachigen Ausland waren und weitere 35% höchstens bis zu vier Wochen (davon 11 % bis zu einer Woche und weitere 11 % bis zu 14 Tage). Weniger überraschend ist das Wortschatzlernverhalten: 41 % der Befragten lernen keine Vokabeln (mehr), 48% markieren unbekannte Wörter in ihrer Lektüre, 30% führen Wortlisten und 10% arbeiten mit Karteikarten. ]F]LiJL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 119 Sprechkontakte (keine/ Partner/ Freunde/ Familie) 68% 7% 29% 4% Sprechzeit (keine/ 1/ 6/ 6+ Std. pro Woche) 68% 20% 8% 4% Schreibkontakte (keine/ Partner/ Freunde/ Familie) 68% 8% 28% 2% Fachbücher (keine/ 2/ 5/ 5+ pro Jahr) 31% 36% 29% 4% Sachbücher (keine/ 2/ 5/ 5+ pro Jahr) 71% 18% 7% 4% Pflichtromane (keine/ 2/ 5/ 5+ pro Jahr) 46% 18% 28% 8% Unterhaltungsromane (keine/ 2/ 5/ 5+ pro Jahr) 26% 24% 35% 15% Fachaufsätze (keine/ 2/ 5/ 5+ pro Jahr) 70% 11% 11% 8% Zeitungen (keine/ monatlich/ wöchentlich/ täglich) 64% 34% 2% 0% Filme (keine/ monatlich/ wöchentlich/ täglich) 49% 48% 2% 1% Nachrichten (keine/ monatlich/ wöchentlich/ täglich) 31% 49% 15% 5% Radio (keine/ monatlich/ wöchentlich/ täglich) 78% 17% 3% 2% Internet (keine/ monatlich/ wöchentlich/ täglich) 53% 0% 37% 10% Ausland (keine/ bis zu 1/ 3/ 12 Monate) 23% 35% 13% 20% Lernen (keine/ markieren/ Listen/ Karteikarten) 41% 48% 30% 10% Tab 1: Ausgewählte Fragebogenergebnisse zusammenfassend lässt sich sagen: Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten scheinen aus acht Jahren schulischen Englischunterrichts keine oder nur sehr wenige erfolgversprechende Wortschatzlern- und -erwerbsstrategien mitgebracht zu haben. Die Frage, ob sie die Wortschatzziele der Lehrpläne erreichen, wird im nächsten Abschnitt beantwortet. 3.2 Wortschatzstände Wortschatzziele für das Englischabitur sind 5000 Wörter rezeptiv und 4000 Wörter produktiv. Um Spielraum für Flüchtigkeitsfehler zu lassen, wurde als Erwerbskriterium nicht 100%, sondern 90% richtiger Antworten festgelegt. Dies hatte zur Folge, dass die rezeptiven Tests bei 3 Fehlern noch als bestanden zählten und die produktiven Tests bei 1,5 Fehlern. Tabelle 2 zeigt die Anzahl der Studierenden, die am jeweiligen Subtest mitgemacht haben und den Prozentsatz der Studierenden, die beim eben erwähnten Erwerbskriterium von 90% den Subtest bestanden haben. Zusätzlich zeigt sie den Prozentsatz Studierender, die die einzelnen Tests bei einem Erwerbskriterium von 80% bestanden hätten, also bei 6 falschen Antworten bei den rezeptiven Tests und bei 3 falschen Antworten bei den produktiven Tests. Des Weiteren gibt sie die durchschnittlich erreichte Prozentzahl der richtig gelösten Aufgaben, zusammen mit Minimum, Maximum und Standardabweichung (SD) an. JF[,m, 33 (2004) 120 Erwin Tschirner (' J.JIJ~-, •'~(- _o,mm; .,"_,it'ah,I <M ,~xa---"-! i¾L _" "-,1" " "H'"_m"" , , ··.·=••I R2000 87 78% 94% 92,46 66,7 100 6,91 ACAD 72 47% 76% 86,1 52,7 100 10,9 R3000 87 28% 50% 77,77 46,7 100 14,96 R5000 72 21% 30% 69,91 26,7 100 18,56 P2000 89 22% 53% 77,76 19,4 100 15,59 UNIV 72 0% 1% 49,49 0 83,3 16,64 P3000 90 2% 8% 51,73 16,6 94,4 18,35 P5000 71 0% 1% 32,48 0 80,6 16,22 Tab 2: Anzahl der Teilnehmer pro Subtest 3 Bei einem Erwerbskriterium von 90% beherrschen 78% der Teilnehmer die häufigsten 2000 Wörter des Englischen rezeptiv. Der rezeptive akademische Wortschatz wird von 47% der Teilnehmer beherrscht, die häufigsten 3000 Wörter werden von 28% der Teilnehmer beherrscht und die häufigsten 5000 Wörter von 21 % der Teilnehmer. Produktiv werden die häufigsten 2000 Wörter von 22% der Teilnehmer beherrscht und die häufigsten 3000 Wörter von 2%. Keiner der Teilnehmer besteht den produktiven akademischen (universitären) Wortschatz oder den produktiven 5000-Wörter-Test. Bei einem Erwerbskriterium von 80% beherrschen 94% der Teilnehmer die häufigsten 2000 Wörter des Englischen rezeptiv. Der rezeptive akademische Wortschatz wird von 76% der Teilnehmer beherrscht, die häufigsten 3000 Wörter von 50%, die häufigsten 5000 Wörter von 30%. Produktiv werden die häufigsten 2000 Wörter von 53% der Teilnehmer beherrscht und die häufigsten 3000 Wörter von 8%. Jeweils 1% der Teilnehmer besteht den produktiven akademischen (universitären) Wortschatz und den produktiven 5000-Wörter-Test. Selbst bei einem Kriterium von 80% erreichen also weniger als die Hälfte der Studierenden das rezeptive Ziel der 10. Klasse, nämlich 4000 Wörter, und gerade mal 8% das produktive Ziel von 3000 Wörtern. Die Abiturziele werden noch stärker verfehlt. Natürlich kann man sagen, dass das Abiturziel nicht die häufigsten 5000 Wörter erfasst, sondern irgendwelche 5000 Wörter. Wenn man aber bedenkt, dass es gerade die häufigen Wörter sind, die das Lesen erleichtern und die erlauben, dass muttersprachliche Lesestrategien wie z.B. das Erraten unbekannter Wörter aus dem Kontext auf die Fremdsprache übertragen werden können, dann sollte man erwarten, dass sich das schulische Lernen explizit auf diese häufigen Wörter konzentriert. Prozent der Teilnehmer bestanden bei Erwerbskriterium 90% bzw. 80%; Mittelwerte, Minimum, Maximum und Standardabweichung der Subtestergebnisse in Prozent lFL1LIIL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 121 3.3 Wortschatzstand und Sprachlernerfahrungen Im dritten und letzten Abschnitt dieses Kapitels soll dargestellt werden, in welchem Verhältnis die Subtests zueinander stehen und welche Sprachlernerfahrungen mit welchen Wortschatzständen korrelieren. Es wurden die folgenden Hypothesen aufgestellt. 1. Studierende, die höhere Ergebnisse bei Subtests höherer Wortschatzstände haben, haben auch höhere Ergebnisse bei Subtests niedrigerer Wortschatzstände. 2. Studierende, die mehr lesen, haben ein größeres rezeptives Vokabular. 3. Studierende, die mehr sprechen, haben ein größeres produktives Vokabular. 4. Studierende, die Vokabeln direkt lernen, haben ein größeres produktives Vokabular. Hypothese 1 beschäftigt sich mit der Vorhersagevalidität der Subtests, insbesondere der Frage, ob höhere Ergebnisse bei Subtests höherer Wortschatzstände höhere Ergebnisse bei niedrigeren Wortschatzständen vorhersagen. Wie der Pearson Korrelationskoeffizient r in Tabelle 3 deutlich macht, korrelieren die einzelnen rezeptiven Subtests ebenso wie die produktiven Subtests untereinander signifikant moderat hoch bis hoch. Moderat hohe Korrelationen ergeben sich vor allem bei den Subtests, die weit auseinander liegen, wie zwischen R2000 und R5000 (r = 0,518) und P2000 und P5000 (r = 0,596). Subtests, die nahe beieinander liegen, wie zwischen R3000 und R5000 (r = 0,801), P2000 und P3000 (r = 0,787) und P3000 und P5000 (r = 0,753) korrelieren signifikant hoch. Damit erscheint die Validät der Subtests im Hinblick darauf, ob durch die Levels Tests aufsteigende Kompetenzen gemessen werden, als gesichert. R2000 R3000 51 0,562' R2000 ACAD 36 0,768' R2000 R5000 17 0,518" R3000 ACAD 17 0,740' R3000 R5000 53 0,801 * R5000 ACAD 36 0,807' P2000 P3000 37 0,787' P2000 UNIV 52 0,640' P2000 P5000 17 0,596" P3000 UNIV 19 0,557" P3000 P5000 53 0,753' P5000 UNIV 36 0,636' Tab 3: Korrelation zwischen den Subtests. 'p < 0,001. "p < 0,05. lFLlllL 33 (2004) 122 Erwin Tschimer Hypothese 2: Studenten, die mehr lesen, haben ein größeres rezeptives Vokabular Um Korrelationen zwischen Lesepensum und Testergebnissen der rezeptiven Tests herstellen zu können, wurde zuerst ein Gesamtlesepensum pro Jahr ermittelt, indem die Angaben für Fachbücher, Sachbücher, Pflichtliteratur, Unterhaltungsliteratur (zu jeweils 100 Prozent), Fachaufsätze (zu 25 Prozent) und Dramen/ Gedichtbände (zu 50 Prozent) summiert wurden. Die Studierenden gaben an, dass sie im Durchschnitt 10 Bücher pro Jahr lesen (Mittelwert: 10,26; Min.: 0; Max.: 60; SD 10,05). In einem zweiten Schritt wurden die Studierenden in jeweils zwei Gruppen eingeteilt: Studierende, die angaben, gar nichts zu lesen, und alle anderen; Studierende, die angaben, bis zu vier Bücher pro Jahr zu lesen (ca. ein Drittel der Teilnehmer), und die, die mehr lasen; und Studierende, die angaben, bis zu 10 Bücher pro Jahr zu lesen (Mittelwert). Wie Tabelle 4 zeigt, ergeben T-tests für alle rezeptiven Subtests signifikante Unterschiede zwischen Studierenden, die angeben, nichts auf Englisch zu lesen, und denen, die das tun. Des Weiteren gibt es bei den Subtests R2000 und ACAD (allgemeinwissenschaftlicher Wortschatz) signifikante Unterschiede zwischen Studierenden, die bis zu 4 Bücher lesen, und denen, die mehr lesen. Beim Subtest R5000 gibt es zusätzlich einen signifikanten Unterschied zwischen Studierenden, die bis zu 10 Bücher pro Jahr lesen, und denen, die mehr als 10 Bücher lesen. R2000 Keine Bücher 9 88,14 10,95 4,8' Bücher 78 92,96 6,21 ACAD Keine Bücher 6 74,95 17,57 12,2· Bücher 66 87,12 9,68 R3000 Keine Bücher 11 66,68 13 12,7' Bücher 76 79,39 14,61 R5000 Keine Bücher 10 58,67 15,72 13,1' Bücher 62 71,72 18,46 R2000 Bis zu 4 Bücher 32 90,42 8,5 3,2' Mehr als 4 Bücher 55 93,65 5,55 ACAD Bis zu 4 Bücher 16 81,38 15,01 6,1' Mehr als 4 Bücher 56 87,46 9,16 R5000 Bis zu 10 Bücher 39 65,22 17,34 10,4' Mehr als 10 Bücher 33 75,46 18,69 Tab 4: T-tests: Rezeptive Subtests und Lesepensum. 'p < 0,05. lFLIIIL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 123 Während die Gruppenmittelwerte der Studierenden, die nichts auf Englisch lesen, und denen, die das tun, beim Subtest R2000 4,8 Prozentpunkte auseinander liegen, ergibt sich beim allgemeinwissenschaftlichen Wortschatztest (ACAD) und den Tests R3000 und R5000 ein Unterschied von 12-13 Prozentpunkten. Interessant ist auch der hohe Unterschied von 10,4 Prozentpunkten beim Subtest R5000 zwischen Studierenden, die bis zu 10 Bücher pro Jahr lesen, und denen, die mehr lesen. Erwartungsgemäß sind bei den Subtests geringerer Wortschatzgrößen die Gruppenunterschiede bis zu 4 oder mehr Büchern signifikant und beim Subtest der höchsten Wortschatzgröße (R5000) der Gruppenunterschied bis zu 10 oder mehr Büchern. Der wichtigste Unterschied scheint allerdings der zu sein, ob jemand englische Bücher und Texte liest oder nicht. Der Vergleich zwischen der Häufigkeit der fremdsprachlichen Zeitungslektüre und den Ergebnissen der rezeptiven Tests ergibt zwischen Studierenden, die mehrmals pro Monat eine englischsprachige Zeitung zu lesen, und denen, die keine englischen Zeitungen lesen, signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen auf den unteren Niveaus R2000 und ACAD (s. Tabelle 5). R2000 -Zeitung 57 91,01 7,34 4,2' + Zeitung 30 95,22 5,09 ACAD -Zeitung 41 83,70 11,71 5,6' + Zeitung 31 89,30 8,96 Tab 5: T-tests: Rezeptive Subtests und Zeitungslesen. 'p < 0,05. Damit wird Hypothese 2, die zwischen dem Leseverhalten und dem Abschneiden in rezeptiven Tests einen Zusammenhang herstellt, von dieser Studie unterstützt, vor allem im Hinblick auf die Gesamtmenge des Gelesenen, aber auch für die unteren Wortschatzgrößen mit Blick auf das Lesen englischsprachiger Zeitungen. Hypothese 3: Studenten, die mehr sprechen, haben ein größeres produktives Vokabular Bei der Untersuchung dieser Hypothese wurden zwei Variablen mit den Ergebnissen der produktiven Tests korreliert, zum Einen die Variable „Sprechmöglichkeiten außerhalb von Veranstaltungen" und zum anderen die Variable „Auslandsaufenthalte". T-tests zwischen der Gruppe von Studierenden, die angibt, dass sie außerhalb ihrer Veranstaltungen kein Englisch sprechen, und denen die dies mindestens eine Stunde pro Woche tun, ergeben bei den produktiven Tests auf den Niveaus P2000 und P5000 signifikante Unterschiede mit hohen Mittelwertsunterschieden. Bei den mittleren Niveaus P3000 und dem Test der allgemeinen Wissenschaftssprache ergeben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen diesen Gruppen (s. Tabelle 6 auf der folgenden Seite). Das Fehlen signifikanter Unterschiede zwischen der Gruppe, die bis zu einer Stunde pro Woche außerhalb ihres Unterrichts Englisch spricht, und denen, die mehr Englisch sprechen, lFlLIIIJL 33 (2004) 124 Erwin Tschirner könnte darauf hindeuten, dass Gruppenunterschiede nicht so sehr auf der Menge der Kontakte beruhen, sondern eher darauf, ob Kontakte überhaupt gesucht werden, also möglicherweise darauf, wie motiviert jemand ist bzw. wie stark ausgeprägt sein oder ihr fremdsprachliches Selbstbewusstsein ist. P2000 -Sprechen 59 75,26 17,21 7,4* + Sprechen 30 82,67 10,39 P5000 -Sprechen 49 29,49 15,17 9,7* + Sprechen 22 39,14 16,85 Tab 6: T-tests: Produktive Subtests und Sprechen außerhalb von Veranstaltungen. *p < 0,05. Die zweite Variable für Hypothese 3 war „Aufenthalte in englischsprachigen Ländern". Hierfür wurden die Teilnehmer in zwei unterschiedliche Gruppen eingeteilt: Teilnehmer, die bis zu vier Monate im Ausland waren (der Mittelwert für alle Teilnehmer), und welche, die sich länger dort aufhielten. Wie Tabelle 7 zeigt, ergeben sich signifikante Unterschiede für alle produktiven Tests außer dem Test der allgemeinen Wissenschaftsprache (UNIV). P2000 Bis zu 4 Monate 63 74,94 16,54 9,7* Mehr als 4 Monate 26 84,60 10,44 P3000 Bis zu 4 Monate 63 47,16 15,55 15,3* Mehr als 4 Monate 27 62,42 20,20 P5000 Bis zu 4 Monate 52 27,84 13,04 17,3' Mehr als 4 Monate 19 45,18 17,61 Tab 7: T-tests: Produktive Subtests und Aufenthaltsdauer in englischsprachigen Ländern. 'p < 0,001. Dabei ergeben sich deutliche Unterschiede in den erreichten mittleren Prozentpunkten zwischen Studierenden, die weniger als 4 Monate im englisch-sprachigen Ausland verbracht haben, und denen, die mehr als 4 Monate dort waren, wie die Spalte „Mittelwertsdifferenz" deutlich macht. Beim Subtest P2000 beträgt der Mittelwertsunterschied zwischen den Gruppen bereits 9,7 Punkte, beim Subtest P3000 beträgt er 15,3 Punkte und beim Subtest P5000 schließlich beträgt er sogar 17,3 Punkte. 4 Die Tatsache, dass es für 4 Bei den hohen produktiven Subtests (P3000 und PS000) sind die Mittelwertsunterschiede besonders hoch, wenn man Lerner, die weniger als ein Jahr im Ausland waren, mit denen vergleicht, die länger als ein Jahr dort IFLailL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 125 alle Gruppen keine signifikanten Unterschiede beim Subtest allgemeinwissenschaftlicher Wortschatz gibt, mag darauf hindeuten, dass letzterer durch einen Auslandsaufenthalt allein nicht gelernt wird, auch wenn es sich dabei um einen längeren Aufenthalt handelt. Damit wird die Hypothese, je mehr Sprechmöglichkeiten ein Lerner hat, desto größer ist sein oder ihr produktiver Wortschatz, durch diese Studie unterstützt, sowohl durch die Variable „Sprechmöglichkeiten außerhalb universitärer Veranstaltungen", als auch und sehr deutlich durch die Variable „Aufenthalt in englischsprachigen Ländern". 5 Hypothese 4: Studierende, die Vokabeln direkt lernen, haben ein größeres Vokabular Diese Hypothese wurde von der vorliegenden Studie nicht unterstützt. Es gab bei keinem der acht produktiven und rezeptiven Subtests signifikante Unterschiede zwischen Studierenden, die gezielt Vokabeln lernen, und denen, die dies nicht tun. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Fragen zum Vokabellernen nicht differenziert genug gestellt worden waren, kann aber auch darauf hindeuten, dass diejenigen, die Vokabeln lernen, dies nicht effektiv genug tun, um damit messbare Erfolge zu erzielen. 4. Zusammenfassung und Ausblick Die vorliegende Studie ergibt ein eher nüchternes Bild davon, wie gut vorbereitet beginnende Anglistik-, Amerikanistik- und Englisch-Studierende ihr Studium aufnehmen, sowohl im Hinblick darauf, ob sie erfolgreiche Sprachlern- und -erwerbsstrategien verfolgen, wie darauf, ob ihr lexikalisches Wissen umfangreich genug ist, um das hohe Lesepensum eines philologischen Studiums effizient erfüllen zu können. Der Großteil der Studierenden bringt weder den für ein Universitätsstudium notwendigen Wortschatz mit, noch liest er genug. Den sowohl aus der Forschungsliteratur wie auch von den Lehrplänen (Abitur) verlangten rezeptiven Wortschatzstand von 5000 Wörtern erreichen gerade mal 21 % der befragten Studierenden, insgesamt 28% erreichen 3000 Wörter. Produktiv sieht es noch düsterer aus. Der Wortschatzstand von 3000 Wörtern, der bereits am Ende der 10. Klasse beherrscht werden sollte, wird nur von 2% der Studierenden erreicht, selbst 2000 Wörter produktiv erreichen nur 21 %. Neben fehlenden Sprech- und Schreibkontakten außerhalb universitärer Veranstaltungen (68% haben gar keine), lesen viele beginnende Studierende viel zu wenig: 71 % lesen keine Sachbücher, 70% lesen keine Fachaufsätze, 64% lesen keine Zeitung, 46% lesen ihre Pflichtlektüre nicht. Nur 50% lesen mehr als zwei Unterhaltungsromane und nur 33% mehr als zwei Fachbücher pro Jahr. Trotz ihres geringen Wortschatzes lernen nur 40% Vokabeln direkt über Karteikarten oder Wortlisten. waren. Beim Subtest P3000 ergibt es einen signifikanten Unterschied (p < 0,05) von 21,8 und bei P5000 von 25,4 Punkten. 5 Eine ebenso große Rolle spielt Länge des Auslandsaufenthalts bei den rezeptiven Subtests, wiederum außer beim allgemeinwissenschaftssprachlichen Wortschatz. Alle Unterschiede waren signifikant (p < 0,001). Die Unterschiede beim Subtest R2000 betragen 5,3 Punkte, bei R3000 13,5 und bei R5000 19,6 Punkte. lFLaruL 33 (2004) 126 Erwin Tschirner Auch diese Studie bestätigt, dass Studierende, die mehr lesen, einen größeren rezeptiven Wortschatz haben. Nicht bestätigt werden konnte, dass Studierende, die Vokabeln direkt lernen, einen größeren produktiven Wortschatz haben. Dies mag daran liegen, dass die Wortschatzlernstrategien der Studierenden nicht präzise genug erfasst wurden, oder daran, dass selbst diejenigen, die Wortschatzlemstrategien anwenden, dies nicht effektiv genug tun, um damit messbare Erfolge zu erzielen. Signifikante Korrelationen und hohe Unterschiede in der Prozentzahl erreichter Punkte ergeben sich zwischen der Länge von Auslandsaufenthalten und allen Subtests außer den allgemeinwissenschaftssprachlichen. Die Ergebnisse dieser Studie deuten auf eine Reihe ungelöster Probleme im schulischen Englischunterricht, zumindest im Bundesland Sachsen, und im universitären Anglistik-/ Englisch-Studium hin. Der Wortschatzstand von Abiturienten, die ein Anglistik- oder Englisch-Studium aufnehmen, ist unzureichend. Selbst die Ziele der Lehrpläne, die zumindest fürs Leseverständnis eher an der unteren Grenze der Studierfähigkeit in der Zielsprache liegen, werden weit verfehlt. Dies hat möglicherweise zwei Ursachen: Zum einen scheint die Abwesenheit von Wortschatzzielen in der Oberstufe darauf hinzudeuten, dass nach der 10. Klasse keine konsequente Wortschatzarbeit mehr betrieben wird. Zum anderen wird in acht Jahren gymnasialem Englischunterricht viel zu wenig gelesen. Der sächsische Lehrplan für Gymnasien z.B. sieht neben den Lektüremöglichkeiten der Lehrwerke in der 10. Klasse lediglich eine Kurzgeschichte vor, im Grundkurs der Oberstufe eine Ganzschrift und im Leistungskurs zwei Ganzschriften (SÄCHSISCHES STAATSMINISTERIUM FÜR KULTUS 2001). Vergleicht man das mit der verbindlichen Leseliste des Studienführers für Studierende der Anglistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig (SEIDEL 2000), die aus über 200 Werken besteht, von denen ca. die Hälfte bis zur Zwischenprüfung gelesen sein soll, so wird deutlich, welche Diskrepanzen zwischen schulischer Wirklichkeit und universitären Erwartungen bestehen. Möglicherweise ist auch vor der Oberstufe das effektive Gewicht, das dem Wortschatzlernen zugestanden wird, eher unzureichend. Die Ergänzung des grammatikorientierten Unterrichts durch kommunikationsorientierte Aufgaben (Leseverständnis, Hörverständnis, Sprechen) hat möglicherweise den Lexikerwerb noch weiter in den Hintergrund treten lassen als vor der kommunikativen Wende. Des Weiteren scheinen moderne Überlegungen zur Wichtigkeit bestimmter Wortschätze, wie z.B. hochfrequente und allgemeinwissenschaftliche Wortschätze, von Lehrwerkautoren, Schulbehörden, Lehrern und Lehrerbildner noch nicht genügend wahrgenommen zu werden. Schließlich scheint auch das Vermitteln und Üben von Wortschatzlernstrategien eher noch in den Kinderschuhen zu stecken. Wortschatzwissen, Wortschatzlernen und Wortschatzlemstrategien sollten im schulischen Englischunterricht ein deutlich größeres Gewicht erhalten. In der Zwischenzeit scheinen Anglistik- und Amerikanistikfachbereiche an den Universitäten gut beraten zu sein, wenn sie sowohl die Wortschatzstände ihrer beginnenden Studierenden evaluieren, wie auch Maßnahmen ergreifen, mit Hilfe deren die notwendigen Schwellenwortschatzstände ebenso direkt wie auch durch extensive Leseprogramme gelernt und erworben werden. Während viele Forscher (u.a. NATION 2001) davon ausgehen, dass auch FremdlFLIIL 33 (2004) Der Wortschatzstand von Studierenden zu Beginn ihres Anglistikstudiums 127 sprachenlerner ab einem gewissen Wortschatzstand neue Lexeme ähnlich wie Muttersprachler vor allem durch extensives Lesen erwerben, vermehren sich in jüngster Zeit Hinweise darauf, dass ein bewusstes produktives Lernen von und Arbeiten mit Vokabeln auch für fortgeschrittene Fremdsprachenlerner, auf Grund von Unterschieden in den Bereichen noticing, kontextuelles Raten, Speicherfähigkeit und kumulativer Erwerb zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Lernern, genau so wichtig ist wie extensives Lesen und dass sich dadurch ein größerer Wortschatz in geringerer Zeit erreichen lässt (LAUFER 2003). Literatur CARVER, Ronald P. (1994): "Percentages of unknown words in text as a function of the relative difficulty of the text: Implications for instruction". In: Journal of Reading Behavior 26, 413--437. 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