eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 33/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
331 Gnutzmann Küster Schramm

Radegundis STOLZE: Hermeneutik und Translation. Tübingen: Narr 2003 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 467), 348 Seiten [39 €]

121
2004
Bernd Stefanink
flul3310275
Buchbesprechungen • Tagungsberichte 275 Radegundis STOLZE: Hermeneutik und Translation. Tübingen: Narr 2003 (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 467), 348 Seiten [39 €] STOLZE führt die mangelnde Berücksichtigung des hermeneutischen Ansatzes in der Übersetzungswissenschaft [ÜW] auf herkömmliche Auffassungen von Hermeneutik zurück, die der neueren Entwicklung dieses Ansatzes nicht gerecht werden. Zu dieser haben vor allem Heideggers und Gadamers Überlegungen beigetragen, die das Zursprachekommen der Wahrheit als einen autopoietischen Prozess darstellen, der sich durch einfühlende „Teilhabe" des Textrezipienten am „Mitteilungsgeschehen" des Textes vollzieht. Wichtig ist, dass der Textrezipient dabei die Textwahrheit nicht zu erarbeiten hat, sondern dass diese sich ihm durch einfühlendes „leibhaftiges" Wahmehmen aufdrängtdie Hermeneutik spricht von einem« Ergriffensein von der Wahrheit» (108) 1, bzw. von dem« Überwältigtwerden von der Wahrheit» (111) ein fundamentaler Unterschied zum kognitiven Ansatz, dem sich der hermeneutische ansonsten sehr nahe fühlt, bei dem der Verstehensprozess jedoch als eine aktive Textverarbeitung dargestellt wird. Auch mit der als etabliert geltenden Vorstellung einer jeglichem Übersetzen obligatorisch vorgeschalteten „übersetzungsrelevanten Textanalyse", die bereits von STEFANINK (1997) und KußMAUL (2000) in Frage gestellt wurde, räumt STOLZE auf: "Textverständnis wird nicht durch eine Textanalyse geschaffen" (162). 2 Wie entsteht der zielsprachliche Text? Textverstehen und zieltextliches Formulieren verschmelzen in einem gemeinsamen Prozess. Das Sichaufdrängen der Textwahrheit ist so stark, dass es zu einem „intuitiven Formulierungsimpuls" kommt, der in den Zieltext mündet (203, 211). Fillmore's „Scenes-and-Frames"-Semantik veranschaulicht den Prozess: Die linguistischen Frames des Ausgangstextes [AT] rufen im Übersetzer Kognitive Szenen wach, für die sich, aufgrund seiner Bilingualität und Bikulturalität zielsprachliche Frames aufdrängen. So verschmelzen im Gadamerschen „inneren Dialog", der sich im Übersetzer abspielt, die Verstehenshorizonte in einem dialektischen „Spiel" zwischen sprachlichen Elementen des AT und des zu produzierenden Zieltextes (207, 302). Dieser Prozess ist sisyphusartig zur Unvollendung verurteilt. Es gibt nicht die endgültige „Musterübersetzung" (302). Wir haben es nur mit jeweilig zeitlich begrenzt „stimmigen", "geglückten", "symmetrischen" Entwürfen zu tun, in denen das „Mitteilungsgeschehen" "solidarisch" und „verantwortungsvoll" "präsentiert" wird. Die entlastende Grundlage für diese „Unabschließbarkeit des tentativen [übersetzerischen] Entwurfs" (222) liefert Heideggers ontologischer Ansatz in der Hermeneutik: Verstehen erscheint nun nicht mehr als eine „Methode", mit der fremder Sinn angeeignet wird. Verstehen ist vielmehr ein Akt der Sinnstiftung. Heidegger sieht den hermeneutischen Zirkel als ein Verstehen zwischen Gewusstem und Neuem. Da das Gewusste jeweils individuell verschieden ist, ist auch die Sinnstiftung, durch Teilhabe am Sinn, jeweils unterschiedlich. Es gibt keine objektive Wahmehmung. Dies ist jedoch kein Negativum, sondern birgt die Chance, der Wahrheit in jeweiligen individuellen Entwürfen näherzukommen (69). Die Sinnstiftung im Heideggerschen Sinn ist möglich, weil der Text stets das Potential eines Sinnüberschusses birgt, der dazu führt, dass jede Lektüre bis hin zur erneuten Lektüre durch den Autor selbstzu einem neuen Verständnis führt (73, 160, 161, 280). Vergleicht man den didaktischen Ertrag von STOLZES Ansatz mit dem anderer Übersetzungs- Die Zahlen in Klammem ohne Jahresangabe beziehen sich auf das hier besprochene Buch. 2 Vgl. Bernd STEFANINK "'Esprit de finesse' - ,Esprit de geometrie': Das Verhältnis von ,Intuition' und ,übersetzerrelevanter Textanalyse' beim Übersetzen". In: R. Keller (Hrsg.): Linguistik und Literaturübersetzen. Tübingen: Narr 1977, 161-183), wo eine« epistemologische Wende» im übersetzungstheoretischen Denken gefordert wird. Vgl. weiter Paul KußMAUL: Kreatives Übersetzen. Tübingen: Stauffenburg 2000. JFLl! L 33 (2004) 276 Buchbesprechungen • Tagungsberichte theoretiker, so nimmt er sich auf den ersten (täuschenden) Blick etwas mager aus: Weder groß angelegte Schemata semantischer Vernetzungen des texthintergründigen Weltwissens noch ein methodisches Regelwerk das zu einer „wiederholbaren regelgeleiteten Schrittfolge" würde, wie es z.B. GERZYMISCH-ARBOGAST/ MUDERSBACH zur Sicherung des wissenschaftlichen Status fordern, ebenso wenig sprachenpaarbezogene Äquivalenzmuster, wie kürzlich noch von HENSCHELMANN geliefert, mit denen man „Übersetzungsfertigkeiten" im Sinne von WILSS ausbilden könnte. Vielmehr geht es darum, in einem Deverbalisierungsprozess „den mitgeteilten Gedanken zu erfassen, um diesen dann, von den Fesseln der Interferenz befreit, in einem kreativen Entwurf frei zu formulieren" (249). Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Person des Übersetzers. Aber auch hier haben wir es nicht mit dem Versuch zu tun, sein übersetzerisches Verhalten in Algorithmen festzuhalten wie es z.B. LÖRSCHER (mit epistemologischem Anspruch) oder KRINGS (mit einer bescheideneren didaktischen Zielsetzung) versucht haben. Das wichtigste Element ist, das Bewusstsein von den eigenen Vorurteilen im Verstehensprozess zu wecken. Der Übersetzer muss Sensibilität und Sprachgefühl entwickeln; dies ist nicht etwas Mysteriöses, Undefinierbares, sondern kann „trainiert" werden (308). Wer von einem solchen Training allerdings klare „Transpositions"-anweisungen im Sinne der stylistique comparee erwartet bzw. ein Einüben von Bewegungsabläufen, die zu „Fertigkeiten" im Sinne von WILSS führen würden, wird enttäuscht sein. Eher wird man an die Pascalschen Anweisungen an den Ungläubigen erinnert: "Faites le geste et vous aurez la foi! " Bei STOLZE heißt es: „Eine ,aktuell-spontane Beziehung' zu einem Text kann einer nicht als Leistung herstellen, sie passiert eben, oder auch nicht" (90). Man kann sich nur wie die weisen Jungfrauen des Neuen Testaments vorbereiten und warten bis es einen überwältigt, man hat die Gnade (im Sinne der Pascalschen „Grace", oder auch nicht). Sicher etwas frustrierend, aber es entspricht den Erfahrungen professioneller Übersetzer. STOLZES Kritik an anderen Theoretikern ist manchmal etwas ungerecht. So der Vorwurf der Fixiertheit auf mikrostrukturelle Äquivalenzkriterien an K. REIB, bei der doch die intra-textuelle Kohärenz an erster Stelle steht. Desgleichen der Vorwurf an KußMAUL und STEFANINK durch die Arbeit mit Methoden des Lauten Denkens die Aufmerksamkeit der Lerner vom Gesamttext abzulenken. Verkannt wird, dass diese Methoden nicht präskriptiver, sondern deskriptiver Art sind und in erster Linie der didaktischen Bedarfsanalyse dienen. Eine gewisse Unsicherheit scheint zu bestehen, wenn es sich um die Determinierung des Übersetzens als "Entscheidungsprozess" handelt. Etwas widersprüchlich klingen zumindest auf den ersten Blick die diesbezüglichen Erörterungen auf den Ss. 211-240 und 309. Dies gilt auch für die Rolle der Methodik im Übersetzungsprozess, wo sich die Darlegungen auf S. 90 u. auf S. 297 zu widersprechen scheinen. Vielleicht sollte auch ein wenig konkreter aufgezeigt werden, wie das „in wissensbasierter Lektüre intuitiv gewonnene Textverständnis auhand semantischer Textelemente zu fundieren [ist]" (203), wenn im gleichen Atemzug die „linguistische Analyse der Textebene" als Fundierung verworfen wird (203). Ähnlich widersprüchlich wirken die Ausführungen auf den Ss. 240 und 241. Fazit: Es gelingt STOLZE, durch die Verbindung von philosophischer Fundierung mit neueren kognitivistischen Erkenntnissen die Praxis eines deontologisch korrekten, unvoreingenommenen Übersetzens theoretisch zu untermauern. Ein anspruchsvolles, nachdrücklich zu empfehlendes Buch, das von tiefgründiger Auseinandersetzung mit der Thematik zeugt und das zum Nachdenken anregt. Daran vermag selbst die außergewöhnlich große Zahl von Druckfehlern, auf deren Nennung wir hier aus Platzgründen verzichten, nichts zu ändern. Bielefeld BERND STEFANINK IFLI.IL 33 (2004)