eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 33/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2004
331 Gnutzmann Küster Schramm

Inez de FLORIO-HANSEN, Adelheid HU (Hrsg.): Plurilingualität und Identität. Zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mehrsprachiger Menschen. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2003, 183 S. [24,50 €]

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2004
Franz-Joseph Meißner
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Buchbesprechungen • Tagungsberichte 277 Inez de FLORIO-HANSEN, Adelheid Hu (Hrsg.): Plurilingualität und Identität. Zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mehrsprachiger Menschen. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2003, 183 S. [24,50 €] Der Sammelband will Einblicke eröffnen, und zwar „in die engen Wechselbeziehungen zwischen Identität und Zweibzw. Mehrsprachigkeit, Globalisierung, Internationalisierung und Migration sowie die damit verbundenen Änderungen in der sprachlichen Ökologie der Gesellschaft" und "bislang gültige Normen und Gewohnheiten in Bildungsinstitutionen [...] grundlegend in Frage" (VII) stellen. So die Herausgeberinnen in der Einleitung. Hier arbeiten sie in großen Zügen Entwicklungslinien heraus, welche den Identitätsdiskurs durchziehen (u.a. Vygotsky, Bakhtin, Kristeva, Bourdieu, ...) . - "Als noch utopisch" kennzeichnen sie „die Vorstellung, möglichst viele Menschen in die Lage zu versetzen, anwendungsbezogene Kenntnisse in mindestens zwei Fremdsprachen zu erwerben" (X). Der Rezensent kann diese Skepsis nicht nachvollziehen. Ein Hindernis für die Förderung der Mehrsprachigkeit sehen beide Forscherinnen in der Art des gängigen Fremdsprachenunterrichts und seiner institutionellen monolingual-einzelzielsprachlich fokussierenden Steuerung. - Hier ist in der Tat eine Veränderung der Unterrichtskultur anzumahnen, welche überholte Praxen aus ihrem „monolingualen Habitus" holt (um es in eine Formel der ebenfalls im Bande vertretenen Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ingrid GOGOLIN zu kleiden). Leider blendet der Band Möglichkeiten einer sprachenübergreifenden Praxis des Fremdsprachenunterrichts und ihrer empirischen, konzeptuellen und methodologischen Fundierung aus. Dabei ist ein solcher Ansatz auch im Rahmen plurilingualer und plurikulturell integrativer Konzepte von Belang. In dem eröffnenden Aper9u „Mehrsprachigkeit, Identitäts- und Kulturtheorie: Tendenzen und Konvergenz" geht Adelheid Hu Fragen der pluriellen Identität vor dem Hintergrund von Sprache, Sprachlichkeit, Migration und Globalisierung nach. Dies führt in das Spannungsfeld kulturell divergenter, oft konfligierender Normendifferenzen und zu der Art, wie Menschen hiermit umgehen. Bei ihrem umsichtigen (und doch notwendigerweise [zu] kurzen) tour d'horizon fasst Vf.in weit: Lacan, Foucault, Bruner, Maclntire, Ricreur und weitere kommen per Zitat zu Wort oder werden integrativ behandelt. Dekonstruktion, Bedeutungsstiftung, Untrennbarkeit von Sprache und Kultur, Synkretismus, Schreiben über Mehrsprachigkeit sind Schlüsselbegriffe. Ulrike JESSNER beleuchtet „Das multilinguale Selbst: Perspektiven der Veränderung" vor dem Hintergrund der schillernden Begrifflichkeiten von 'Identität' und 'Ethnizität'. Die Psychologie zieht dem den Band durchziehenden Leitbegriff 'Identität' überwiegend 'Selbstkonzept' vor. Dieser Terminus kommt dem Rezensenten entgegen, weil er die Frage der 'Selbstdefinition' im betroffenen Subjekt belässt. Wie kürzlich Rita FRANCESCHINI zeigte 1 (der Beitrag konnte von J. noch nicht erfasst werden), sind Sprachbiographien ein beredtes Werkzeug der Mehrspracherwerbsforschung. Diese Perspektive ergänzt J., wenn sie verschiedene Bereiche zu Mehrsprachenerwerb und Mehrsprachigkeit erhellt. "Mehrsprachige Repertoires und plurielle Identität von Migranten: Chancen und Probleme" behandelt Georges Lüor auf dem Boden helvetischer Erfahrungen. Interessant fällt seine Analyse zu den „gewinnbringenden" kommunikativen Ressourcen aus. In netzwerkartigen Soziogrammen der Sprachendomänen von Individuen erläutert er mehrsprachige Praxen: Gerard Z. benutzt Französisch in den Domänen: Freunde, Ferien, Medien, Einkauf, Beruf; Deutsch und/ oder Schwyzertütsch in allen Domänen; Englisch: Ferien, Beruf, Medien; Italienisch: Beruf. Zum Konnex von Sprache und Identität der „sukzessiven Ichs" (42) äußert sich L. aus der Sicht der linguistischen "Sprachbiographien: Erzählungen über Mehrsprachigkeit und deren Erkenntnisinteresse für die Spracherwerbsforschung und die Neurobiologie der Mehrsprachigkeit". In: Bulletin vals-alsa 76, 2002, 19-33. F]Lw., 33 (2004) 278 Buchbesprechungen • Tagungsberichte Migrationsforschung 2, was das hier Besprochene um interessante Aspekte ergänzt. Das Konfliktpotential von praktizierter Zweisprachigkeit zwischen erweiterter Identität und „Bastardisierung" (44) wird nach L.s Erhebungen unterschiedlich erlebt: "Die vertrauten Fixpunkte geraten ins Wanken." (53) Der Migrant wird zu einer Selbstverortung zwischen Ausgangs- und Zielgesellschaft aufgefordert. Wer kennt ihn nicht, den flotten Vorwurf der Monolingualen? "Das ist doch kein gutes Deutsch - Über Vorstellungen von guter Sprache und ihren Einfluss auf Mehrsprachigkeit" referiert Ingrid GoG0LIN. Ein Satz wie der zitierte versteckt letztlich 'kulturelle Gewalt' im Sinne des Friedensforschers Johan GALTUNG 3, den die Erziehungswissenschaftlerin überraschenderweise nicht bemüht. Inci DIRIM berichtet zur „Gestaltung sozialer Beziehungen durch multilinguale Sprachpraxis". Fazit in einem kurzen Satz: Sprachmischung und Code-Switching sind gruppenbildende Konstituenten. Eine neue Perspektive bietet Martina LIEDKEs Beitrag „Eindruck und Diskurs. Zur auditiven Wahrnehmung von Sprecheridentität und Fremdsprachigkeit". Auch hier verändern sich die Selbstkonzepte, so wenn Lazo, ein 30jähriger Grieche, berichtet: "Aber, ich konnte schon mal gut Griechisch sprechen/ äh, äh gut Deutsch sprechen. [...] Und das ist wieder weggegangen ..." Wechsel im kulturellen Selbstkonzept von Individuen und Spracherwerb bzw. Sprachverlust wirken ineinander. Fremdheit im Diskurs Zweisprachiger entsteht auch durch gezielte kommunikative Strategie oder durch interkulturelle und sprachliche Lakunen. Und natürlich können Zwei- oder Mehrsprachige das jeweils 'Fremde' als (vermeintlichen) Ausweis der eigenen Fremdheit missbrauchen(? ) oder es verstecken. Zu den Lernzielen meint Vf.in: "Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, sich aussuchen zu können, welcher 'Typ' (Kompetenzmuster, Rezensent) sie sein wollen. [ .. .]" (103). Claire KRAMSCHs Beitrag "The multilingual Subject" beleuchtet nach einer grundlegenden Einführung in das theoreticalframework, the study, the mirror of language folgende Perspektiven: Split between Seif and Other, Seif in the mirror of the Other, Narrational Appropriation and Ownership. C. Kramsch resümiert: "Their [von jungen Bilingualen] deep understanding that languages are fundamentally non-interchangeable has made them cautious of words, but, at the same time, it has given them a rich repertoire of linguistic means to express irreconcilable paradoxes, and an uncommon talent for humor, language play, and authorial manreuvres between distance and closeness." In ihrem ebenfalls lesenswerten Beitrag „Sprachenvielfalt und Sprachenmischung in der litterature beur'' nimmt Adelheid SCHUMANN Merkmale des metissage - Stil, sprachliche Ausdrucksformen des Zugehörigkeitsgefühls zwischen frans; ais standard, parler jeune, dialecte arabe, frans; ais des immigres, jeux de mots in den Blick. Susanne DANNHORN verfolgt „Mehrsprachigkeit und kulturelle Identität in der Musik am Beispiel des spanisch-französischen Sängers und Komponisten Manu Chao". Hiphop-Musik, patchwork-Identität, Migration, Zerrissenheit, Musik - Sprache - Identität sind Schlüsselbegriffe des Aufsatzes. "Manu Chao ist eine Art 'Transmigrant', der sich an vielen Orten der Welt zu Hause fühlt..." "Un populo diventa poviru e servu, quannu ci arrobanu a lingua, addutata di padri, a perdi pi sempri". Diesen Satz des Sizilianers Ignazio Buttata die Kehrseite von Nebrijas "Siempre la 2 Man vergleiche hierzu auch den von Jürgen ERFURT, Gabriele BUDACH und Sabine HOFFMANN herausgegebenen Sammelband: Mehrsprachigkeit und Migration. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2003. 3 Johann GALTUNG: "Kulturelle Gewalt. Zur direkten und strukturellen Gewalt tritt die kulturelle Gewalt". In: Zeitschrift für Kulturaustausch 4, 1993, 473--487. IFL1.ilL 33 (2004) Buchbesprechungen • Tagungsberichte 279 lengua fue compafiera del imperio" (1492) setzen Mark WARSCHAUER und Inez DE FLoruo- HANSEN ihrem Artikel "Multilingualim, ldentity, and the Internet" voran. Ausgehend von postkolonialen Identitätstheorien diskutieren sie die spannende Frage der Rolle des Internets zwischen Sprachentod und Sprachenförderung. "lt is just incredible when I hear people talking about how open the Web is. lt is the ultimate act of intellectual colonialism. The product comes from America so we either must adapt to English or stop using it. [...] But if you are talking about a technology that is supposed to open the world to hundreds of millions of people, you are joking." So die Kritik des russischen Internetprovider Glasnet, Anatoly Voronov. Im Jahr 1996 waren 82 Prozent der Webseiten in englischer Sprache gehalten. Vf. zeigen, dass der ASCII-Code, der ja lange Zeit nicht-englische Zeichen ignorierte, keine 'innozente' quantite negligeable war. Benutzer des PC wissen um die Verbreiterung der Zeichenbasis und der im Internet präsenten Sprachen. Vf. verfolgen diese Perspektive allerdings, etwa im Hinblick auf das Chinesische und andere zunehmend wichtige Sprachen, nicht weiter. Auf der Grundlage von Erfahrungen in Hawai vor dem Hintergrund der 'Zwangsamerikanisierung' beschreibt Warschauer statt dessen die Revitalisierung einer indigenen Sprache durch das Internet, um sodann zu Fragen der Mehrsprachenerziehung und Sprachensicherung vorzudringen. Aufschlussreicher im Sinne der Sprachenfuturologie als die Präsenz von Seiten und die Erfahrungen einzelner Autoren wäre allerdings die quantitative und grob qualitative Analyse der Nutzer gewesen. Immerhin ist dies heute ja technisch möglich. Inwieweit die geschilderten Fälle und Erfahrungen auf andere Kontexte übertragbar oder gar generalisierbar sind, bleibt eine offene Frage. Der an Projektunterricht interessierte Praktiker wird Warschauers (indirekte) 'Anregung' aufgreifen, Webseiten von vom Sprachverlust Bedrohten aufzusuchen und sie unterrichtlich zu verwerten. Würden Schüler dies tun, so trügen sie schon durch die bezeugte Aufmerksamkeit für die 'kleinen' Sprachen dazu bei, den Lebenswillen der kleinen Sprachgemeinschaften zu stärken. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen, wäre aus unserer Sicht eine Botschaft an die europäische Leserschaft Warschauers gewesen immerhin verfolgt das Buch ja eine didaktische Absicht. Insgesamt bietet der Band neben Bekanntem aufschlussreiche Beiträge zu Plurilingualität und Identität. Eine weitere Annäherung an didaktische Fragen im engeren Sinne steht indes noch aus. Schade in diesem Zusammenhang, dass Arbeiten wie die von Eva BURWITZ-MELZER (2003) nicht mehr herangezogen werden konnten 4, die eine Verbindung zwischen empirischer Forschung, interkulturellem Lernen in kulturell-heterogenen Klassen und Praxis herstellen. Aus der Vielzahl der gebotenen Aspekte konnte diese Besprechung nur einige wenige herausgreifen und selbst diese nicht detailliert diskutieren. Gießen FRANZ-JOSEPH ME! l]NER The Globalisation of English and the English Language Classroom Internationales Kolloquium des Englischen Seminars der Technischen Universität Braunschweig Der Begriff Globalisierung ist in der allgemeinen öffentlichen Diskussion hauptsächlich mit ökonomischen Faktoren wie zum Beispiel der Herausbildung - und Macht internationaler Konzerne sowie mit der zunehmend aufklaffenden Schere zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern besetzt. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wird dabei die englische 4 Eva BURWITZ-MELTZER: Allmähliche Annäherungen: Fiktionale Texte im interkulturellen Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufe/ . Tübingen: Narr 2003. lFLll.llL 33 (2004)