eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 34/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2005
341 Gnutzmann Küster Schramm

Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterrichts oder: Weshalb ein Paradigmenwechsel, eine Umkehr, im Fremdsprachenunterricht erfolgen muss

121
2005
Werner Bleyhl
flul3410045
Werner Bleyhl * Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterrichts oder: Weshalb ein Paradigmenwechsel, eine Umkehr, im Fremdsprachenunterricht erfolgen muss Abstract. The topic of this contribution is the mental and philosophical narrowness, which, for long a time, has been the characteristic feature of foreign language teaching. The mental blockage has even prevented the practical shortcomings being noticed. Findings in all the neighbouring disciplines, such as the cognitive sciences, language acquisition research, including foreign language instruction research or the neuro-sciences, have been generous! y neglected. The challenge now feit through circumstances that no langer allow the blind continuation in the old way are: foreign language teaching in the primary school, content integrated language teaching, and finally, the Common European Framework for languages which officially resets the language teaching goals. The long demanded change in the underlying language learning theory can no langer be neglected. Wie war es früher doch so schön und Fremdsprachenlehren so bequem: Der Lehrer lehrte, der Schüler lernte. Und war das Schuljahr um, dann war der Lehrplan erfüllt und gekonnt das Pensum. Ja, mach nur einen Plan Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch 'nen zweiten Plan Gehn tun sie beide nicht. BERTOLD BRECHT Wer mit einem fertigen Plan ins Klassenzimmer kommt, der kriegt immer ein Problem. Aussage bei einer Schülerumfrage Der Beitrag ist getragen von dem Unbehagen des Verfassers über die Diskrepanz des schulischen Fremdsprachenunterrichts zwischen dem Energieaufwand sowohl der Lehrer als auch der Schüler und dem letztlich nicht voll befriedigenden Ergebnis der Anstrengungen aller. Nach einer Einleitung, in der einige die gegenwärtigen Herausforderungen angesprochen werden, und zwei 'Erfolgs' -Beschreibungen des heutigen Fremdsprachenunterrichts, erfolgt eine Skizzierung tradierter, die Unterrichtspraxis entscheidend beeinflussenden, den Lehrern so gut wie nie bewussten Lernvorstellungen, die jedoch heute weder theoretisch noch empirisGh haltbar sind, die aber unverantwortlich kontraproduktiv wirken. Im vierten Abschnitt wird der Frage nachgegangen, inwieweit der Fremdsprachenerwerb überhaupt steuerbar ist und die natürliche Erwerbssequenz nach PIENEMANN Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Werner BLEYHL, vormals Pädagogische Hochschule LUDWIGSBURG. Englische Sprache und Literatur. Privat: Hohenackerstraße 34/ 1, 73733 ESSLINGEN. E-mail: wernerbleyhl@t-oniine.de Arbeitsbereiche: Spracherwerbsforschung, Fremdsprachendidaktik und -methodik. lFLulL 34 (2005) 46 Werner Bleyhl aufgelistet. Lernen und Sprachenlernen, aus jüngster biologischer und psychologischer Sicht, wird im nächsten Abschnitt skizziert, ehe rnit einem Abriss wesentlicher Bedingungen für einen effektiver Spracherwerb in institutionalisiertem Rahmen geendet wird. 1. Einleitung In einer Zeit der allgemeinen Verunsicherung scheint, relativ überraschend für manche, selbst in der bislang windstill gelegenen Nische des Fremdsprachenunterrichts eine gewissen Unruhe aufzukollllllen. Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen will eine gewisse Umwertung mancher Werte bringen. Lernziel war für den von wem auch illllller mit Sprachenfragen Europas betrauten - TRIM schon früher klar: "collllllunicative effectiveness is the criterion of success, not the mere performance of linguistic exercises without error" (TRIM 1992: 8). Denn der schon in den 70er-Jahren vorgestellte Threshold Level bzw. Niveau-seuil machte deutlich: [...] the formal structure of a language has been displaced from its central position, command of grammar and vocabulary is seen as an indispensable means to a communicative end rather than an end in itself. Assessment and evaluation are increasingly based on the performance of communicative acts rather than on structural manipulation or discrete item testing. The criteria applied are those of communicative effectiveness rather than formal correctness [fett W.B.] (TRIM 1992: 10). Mit dem Hinweis auf die selbstverständliche Notwendigkeit von Grallllllatik und Lexik wollte er wohl den Traditionalisten den Übergang nicht so harsch erscheinen lassen. Dass TRIM Grallllllatik vor Lexik anführt weist darauf hin, dass er 1992, wie die meisten heutigen Lehrer, noch nicht wusste, dass Lexik nicht nur pragmatisch wichtiger ist als Grallllllatik, sondern dass nur eine kritische Masse an erworbener Lexik den Erwerb der Grallllllatik erst ermöglicht. 2. Die Leistung des heutigen Fremdsprachenunterricht Unstrittig ist, dass Abiturienten Studierfähigkeit erlangt haben sollten. Dies heißt heute u.a., dass sie englischsprachige Texte des entsprechenden Niveaus lesen und verstehen können müssen. Die mit der PISA-Studie bekannt gewordenen Experten für empirische Bildungsforschung KöLLER und BAUMERT haben Abiturienten in zwei Bundesländern mittels des in der Zulassungspraxis zu amerikanischen Universitäten langjährig bewährten TOEFL-Tests untersucht. Ergebnis: Natürlich haben die meisten Schüler erfolgreich abgeschnitten, nur: sie waren um so erfolgreicher, je mehr sie außerhalb des Lehrbuchs in der englischen Sprache aktiv waren. Die Befunde zum Auslandsaufenthalt belegen die überragende Bedeutung des Lernens in authentischen Kontexten. Ein Schüler, der mehr als 6 Monate im Ausland war, hat eine 11 bzw. 12mal höhere Chance, die kritischen Werte (des Tests) zu überschreiten als jemand, der nie im Ausland war, und zwar bei Kontrolle aller übrigen Prädikatoren (KöLLER u.a. 2004). lFLl.llL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 47 Mit anderen Worten: Die Durchnahme der Lehrbücher reicht nicht. 1 Der Pisa-Experte BAUMERT urteilt in einem Radio-Interview allgemein: "Wenn wir die Leistungsentwicklung angucken, wir haben für das Gymnasium Vergleiche von 1968 an aus unserem Institut, dann haben wir einen Abfall der Leistung bei gleichzeitig ansteigender Intelligenz. Das ist das eigentliche Problem" (in R. KAHL 2004, 18.12. 2004). In ihrem Bericht über einen deutsch-schwedischen Schüleraustausch stellte HUFEISEN (2005) u.a. fest, dass eines der Arbeitsprinzipien der schwedischen Schule der 'Einbezug der Lebenswirklichkeit in das Lernen' ist, dass dort außerdem eine andere 'Lernkultur' herrsche, dass die Schüler dort lernen wollten und nicht, wie viele der deutschen Schüler, die Schule weitgehend ablehnten. Bei ihrer vorgenommenen Leistungsuntersuchung fand die Autorin „eine Korrelation zwischen Alter (und Anzahl der Jahre mit Englischunterricht) und formaler Korrektheit der Texte... Die deutschen Schüler erzielten in Bezug auf Grammatik allgemein, Satzstellung und Wortwahl geringfügig bessere Resultate bei den Tests und in der mündlichen Kommunikation; allerdings zeigten sich die schwedischen Jugendlichen gewandter in der mündlichen Kommunikation, was die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten, den Wortschatz und die Suche nach Alternativen anbetrifft." In Bezug auf Einzelfehler schreibt sie: „Laut Hessischem Lehrplan für das Unterrichtsfach Englisch Klassen 8 und 9 sollten Schülerinnen und Schüler nach viereinhalb bzw. fünfeinhalb Jahren Englischunterricht nicht mehr Äußerungen wie die folgenden produzieren: ' ...he don't teil me things .. ./ I think it's would be a funny time.' Auch bei den schwedischen Schülern finden sich vergleichbare Fehler: 'I taking part.../ They got a lots of cars'" (HUFEISEN 2005: 11). Angesichts solcher Befunde, die zeigen, dass sich die sprachlichen Lernprozesse nicht nach den Lehrplänen richten, ist die Frage nach der inneren Berechtigung bzw. nach der Sinnhaftigkeit solcher 'Lehrpläne', die Frage nach deren inneren Begründung und Logik, nicht von der Hand zu weisen. 3. Die heimlichen Theorien hinter dem traditionellen Fremdsprachenunterricht Es ist hier leider nicht der Rahmen gegeben, Unterricht näher und die sie tragenden Vorstellungen vom Lernen bei den Lehrern im einzelnen zu analysieren. Verwiesen sei auf BLEYHL (2005b). Dort wurde das Lehrerverhalten einer mit Video festgehaltenen Szene mit Anfängern eines Unterrichts analysiert, der sich als ausgesprochen „kommunikativ" verstand, faktisch wohl aber allenfalls 'pseudo-kommunikativ' zu nennen wäre, da Es wäre angesichts der schlechten Werte der über die Haupt- oder Realschule zum Abitur gekommenen Abiturienten einer weiteren Studie wert, näher zu untersuchen, inwieweit der Schluss berechtigt ist, dass die Schüler um so weniger können,je kleinschrittiger ihre Lehrbücher vorgehen und die Inhalte gleichzeitig banaler werden. nlillL 34 (2005) 48 Werner Bleyhl für niemand im Klassenzimmer eine neue Information angeboten wurde. Eine Reihe folgender traditioneller Sprachlernvorstellungen wurde erkennbar: • Lernen erfolge primär über Imitation. • Lernen wird verstanden als ein Input-Output-Geschehen. • Der Stoff soll linear, Schritt für Schritt, vom Einfachen zum Schwierigen, gelernt werden. • Wenn Lernschwierigkeiten auftreten, wird das Geschütz der Bewusstmachung, der Kognitivierung, aufgefahren. Man folgt dabei dem informationstheoretischen Ansatz in der Annahme, dass der Königsweg zum 'Können' über das 'Wissen' gehe. • Die lineare Logik erfordere so auch ein Vorgehen gemäß einer grammatischen Progression. • Wenn auch nicht sofort bei den beginnenden Anfängern, so holt man sich als Stütze die Schrift.2 (Immer wieder verweisen Lehrer auf ihre eigene Erfahrung, dass sie selbst erst sicher seien, wenn sie das unbekannte Wort geschrieben sähen. - Man befindet sich damit fest in der Tradition, da man im Unterricht des Lateinischen oder Griechischen immer nur vom geschriebenen Wort ausging.) • Getragen wird das methodische Vorgehen vom Glauben an die Steuerbarkeit des Sprachenlernens. Diesem Vorstellungskonglomerat liegt ein Gemenge von nicht nur einander sich widersprechenden, hier ungerechtfertigten, weil in ihrem Absolutheitsanspruch inzwischen falsifizierter Theorien zugrunde, die insgesamt zu der Situation führen, dass im deutschen Fremdsprachenunterricht mit sehr viel Energie seitens der Lehrer, wie auch seitens der zunächst durchweg hochmotivierten Schüler insgesamt ein nicht voll befriedigendes Ergebnis erreicht wird. Diese Theorien hier nur holzschnittartig skizziert gilt es zu erkennen und auf ihre Berechtigung für den Fremdsprachenunterricht zu befragen: (a) Der Lehrer spricht vor, der Schüler spricht nach. - Dahinter steht die Vorstellung, dass Sprachenlernen über Imitation erfolge. Der Lerner mache eine bestimmte Erfahrung, versuche die angebotene Information selbst wiederzugeben und „präge" sich so das Neue ein (input-output-Verfahren). Dies ist die Vorstellung des Empiristen JOHN LOCKE, wonach der Mensch ein Wachstäfelchen sei, eine tabula rasa, die durch Lehren entsprechend eingeritzt werde und so Lernen stattfinde. Notfalls gelte es die Verknüpfungen von Reizen und Reaktionen zu „drillen", wie es die technisch versierteren Behavioristen vorschlagen. Kommentar: Die Problematik der Wahrnehmung wird hier einfach negiert. Was KANT schon aufzeigte, hat auch die Gestalt- und die neuere Kognitionspsychologie hinreichend klargemacht: Wahrnehmung ist von entsprechenden Kategorien des Wahrnehmenden abhängig. Imitation ist erst dort möglich, wo die entsprechenden kognitiven, motorischen etc. Bedingungen gegeben sind. Imitation ist wichtig, aber sie ist ganz bestimmt im Zur Frage der Schrift vgl. BLEYHL (2006). lFLu.uL 3-4 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 49 Bereich Sprachenlernen sekundär, sie ist an Voraussetzungen wie einem Empfinden für Rhythmus u.a. gebunden. Wenige Hinweise müssen hier genügen: Trotz der angeborenen Fähigkeit zur Lautunterscheidung, die Evolution hat es so eingerichtet, dass der Säugling aus physiologischen Gründen erst nach sechs Monaten mit der eigenen Sprachlautproduktion beginnen kann, d.h. erst dann, wenn das Phonemsystem der ihn umgebenden Sprache sich in ihm mental stabilisiert hat. Im Erstspracherwerb geht Verstehen (Rezeptionsfähigkeit) von Wörtern der eigenen Produktion fünf bis sieben Monate voraus. Beim Zweitspracherwerb sind diese auch hier individuell unterschiedlich langen, aber notwendigen Rezeptionsphasen inzwischen neurobiologisch erklärbarkürzer. Im traditionellen Fremdsprachenunterricht werden sie dem Lerner nicht gestattet. (b) RENE DESCARTES ist im Fremdsprachenunterricht von heute oft noch in dreierlei Hinsicht präsent. 1. Er begründete die erkenntnistheoretische Methode des Aufspaltens des Komplexen in Einzelsegmente, kurz die reduktionistische Methode. Kommentar: Inwieweit dieses Isolieren der Einzelphänomene gerade bei lebender Sprache, die ja gerade immer simultan ein Geschehen auf mehreren Ebenen, in mehreren Dimensionen ist und die ohne die gleichzeitige Mehrdimensionalität eben nicht mehr lebendig ist, zu fragwürdigen Ergebnissen führt, habe ich in BLEYHL (2004) aufzuzeigen versucht. Die fatale Folge der didaktisch gut gemeinten, aber oft kontraproduktiven grammatischen Progression (BLEYHL 2005a) und der Reduzierung auf einen sprachlichen Aspekt mit der methodischen Konsequenz des PPP (presentpractise produce) kann sogar gerade ein Erschwernis, wenn nicht die Unmöglichkeit des Lernens zur Folge haben, da die notwendigen sozialen und intentionalen Bedingungen sprachlicher Kommunikation fehlen. 2. Für DESCARTES war der Mensch gespalten in die res extensa, seinen Körper, und in die res cogitans, den Geist. Diese Vorstellung liegt denn auch der ganzen Tradition im Fremdsprachenunterricht der Trennung zwischen Sprache / Geist einerseits und Körper andererseits zugrunde. Kommentar: Es ist die Tradition der "talking heads and dead bodies" (vgl. LEGUTKE/ THOMAS 1991). Heute noch ist es in der Praxis des Fremdsprachenunterricht keine Selbstverständlichkeit, dass „zum umfassenden Verständnis des menschlichen Geistes [und damit auch der Sprache, W.B.], eine organische Perspektive erforderlich ist, dass der Geist nicht nur aus einem körperlosen cogitum in das Reich von Körpergeweben verlegt, sondern auch zu einem ganzen Organismus in Beziehung gesetzt werden muss, der aus den vielfältig miteinander verflochtenen Teilen des Körpers im eigenen Sinn und des Gehirns besteht und der mit einer physischen und sozialen Umwelt interagiert" (DAMASIO 1997: 333). 3. Es muss noch der Aspekt Rolle des Bewusstseins beim Sprachenlernen angesprochen werden. Für DESCARTES war das Denken des Menschen, die Kognition, etwas Bewusstes. Alles Lernen war für ihn bewusstes Lernen. In diesem Denken fordert Lernen auch im Fremdsprachenunterricht Bewusstmachung. lFLUJJL 34 (2005) 50 Werner Bleyhl Kommentar: Auch diese Tradition ist in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts immer noch sehr lebendig (vgl. die Behandlung der Grammatik bis zur Betonung der 'language awareness'). Dabei erlebt jeder Lehrer mindestens einmal in jeder Stunde, dass ein Schüler einen Verstoß gegen eine Regel begeht, die er weiß, die dessen sicheres deklaratives Wissen ist und die er auch bewusst weiß, wie etwa, dass im Englischen im simple present die Form der 3. Person Singular die Endung -s bekommt. Dank der Unterrichtsforschung (etwa HECHT/ GREEN 1992) ist hinreichend bekannt, dass wir zwischen deklarativem und impliziten Wissen Korrelationen feststellen können, wie wir nur wollen. Wir wissen dank der neueren Kognitions- und Neurowissenschaften, dass unser Bewusstsein nur ca. 40 bis 60 bits 3 pro Sekunde verarbeiten kann. Wir wissen auch, dass unser kognitiver Apparat im Gehirn schon beim Anblick eines Bildes mehrere tausend bits pro Sekunde zu verarbeiten hat. Wenn auch die Sprachwissenschaft die zig-tausend bits, die bei sprachlichem Handeln, analytisch mit großen Zeit-, Kraft- und Papieraufwand ans Licht heben kann (ohne den Anspruch, damit alle zu erfassen), kann die Verarbeitung und Realisation im Leben (online) zum Großteil nur unbewusst erfolgen. Es bedarf hierzu interner, kulturell erworbener Kompetenzen, also solche, die sich im Sprachbenutzer historisch, evolutionär entwickeln müssen. Ob die einem Sprecher jeweils bewusste Theorie die für sein jeweilige Handeln die entscheidende ist, muss dahingestellt bleiben. (Die Selbsttäuschung ist nicht aus Zufall ein Ur-Thema der Literatur.) Auf die inzwischen unbestrittene parallele Arbeitsweise unseres Gehirn kann hier nicht eingegangen werden. Nur soviel: Manche wähnen sich schon sehr fortschrittlich, wenn sie auf die beiden Hemisphären unseres Großhirns zu sprechen kommen und betonen, die eine sei für die Analyse, die andere für Emotionen zuständig, die eine für Sprache, die andere für die nonverbalen Fertigkeiten. Hier soll nur verwiesen werden auf die führende britische Neurowissenschaftlerin SUSAN GREENFIELD. Sie fasst mit aller gebotenen Vorsicht die hier relevanten Forschungsergebnisse folgendermaßen zusammen: "Rather, the findings suggest that the difference between the left and the right hemisphere is one of degree rather than of absolute distinction. [...] The result ( of a great deal of research) is that our two hemispheres enable us to see the world at more than one level, to see detail and the bigger picture at once" (GREENFIELD 2000: 168). D.h. das menschliche Gehirn kann mehr leisten, als ihm die naive auf dem Stand eines DESCARTES stehen gebliebene Didaktik zutraut. Es braucht allerdings Zeit, um die für ein erstrebtes Verhalten notwendigen mentalen Strukturen wachsen zu lassen. Inwieweit deklaratives Wissen ein sinnvolles Lernziel sein soll, kann hier nicht erörtert werden. 4 Sicher ist, dass es Zeit (und entsprechende Erfahrung) braucht, ehe der Geist sich seiner selbst bewusst wird, und dass auch für Sprache gilt, wie es HEGEL ausdrückte, dass das Kennen dem Erkennen vorausgehen muss. 5 - Bei allem Respekt für DESCARTES, seine Irrtümer (vgl. Dabei sei mit BATESON (1981) ein bit als ein Unterschied definiert, der einen Unterschied macht. 4 Auf die Argumente gegen den kognitivistischen Ansatz von KARMILOFF-SMITH sei aufTOMASELLO (2002: 226-229) verwiesen. 5 In der Deutschdidaktik ist hier schon mehr Einsicht über die Begrenztheit des Sprachwissens für das Sprachkönnen zu finden. SPITTA (2003: 180) etwa betont, es sei nun für viele Lehrer Zeit, sich von der Meinung lFLlllll 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 51 DAMASIO 1995) brauchen den Fremdsprachenunterricht von heute nicht mehr zu belasten. Denn, im Umgang mit Sprache, "eine symbolisch verkörperte Institution, die sich zuvor aus sozio-kommunikativen Tätigkeiten entwickelte" (TOMASELLO 2002: 114), sind weit mehr als 40 bis 60 bits pro Sekunde zu verarbeiten. Sich der verschiedenen Dimensionen von Sprache bewusst zu bedienen oder auch nur bewusst wahrzunehmen, ist völlig unmöglich. 6 Unser Bewusstsein kann schließlich jeweils nur einen Aspekt fokussieren. Das mit den Sachverhalten vertraute Gehirn 'verrechnet' alles, was ihm wichtig scheint, selbstorganisatorisch (vgl. BLEYHL 1997). Je mehr jedoch das Bewusstsein bemüht wird, desto größer wird die Gefahr der, wie es RINV0LUCRI EARL STEVICK aufgreifend, genannt hat, der "linguistic semi-strangulation", der '"lathophobic aphasia' or inability to speak due to fear of making mistakes" (1997). Ehe später noch auf die Entwicklung der grammatischen Strukturen im Lerner eingegangen wird, sei in diesem Rahmen hier nur kurz darauf verwiesen, dass normalerweise wegen seiner beschränkten Reichweite unser Bewusstsein mit den Inhalten, die wir sprachlich fassen wollen, hinreichend beschäftigt ist. Nun will 'kommunikativer Fremdsprachenunterricht' ja gerade die Inhalte ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, die Schüler das lehren und üben lassen, was sie später benötigen, nämlich die Sprache als Mittel der Verständigung zu gebrauchen. Die Lehrer betonen dies auch. Sie sind jedoch wie ihr Korrekturverhalten zeigt oftmals primär an der Sprachform oder anderen als von ihnen angegebenen Aspekten interessiert, wie es WULF in folgendem Splitter eines Schüler-Lehrer-Dialogs prägnant fasste: "[...] and they they died.- Very good." Selbst der gutmeinendste Lehrer wird oft unbewusst von seinem Primärinteresse 'Sprachform' verführt. Er ist Sklave seiner 'tunnel vision' auf sprachliche Korrektheit, schließlich gilt es den der grammatischen Progression verpflichteten Lehrplan zu erfüllen. Und diese innere Unaufrichtigkeit, dass der Lehrer Inhalt sagt und Form meint, wie sein Verhalten offenbart, merken die Schüler wohl, nicht aber die Lehrer. Hier verstößt ein Unterricht, wie sehr er sich auch kommunikativ gibt, gegen den ethischen Grundsatzes des "eo-operative principle of conversation" (GRICE). Die Schüler spüren die "phoniness" der Erwachsenen. Ist es dann ein Wunder, dass Schüler spätestens ab der Pubertät den Fremdsprachenunterricht bei der 2. Fremdsprache mehr als bei der 1., in der man früher sicherer istals eine Einrichtung der Verlogenheit ablehnen? bzw. der Hoffnung zu verabschieden, dass Sprachwissen, Wissen über Sprache, sich positiv auf die Sprachproduktion auswirke. Und INGENDAHL nennt unter den schwärzesten Einsichten aus der Tragödie des Grammatikunterrichts, die oftmals einer schulischen „Realsatire" gleiche, etwa, dass alle Fragen dort „handlungsirrelevant" seien oder dass „die selbstgeschaffenen Probleme zu diskutieren der einzige Sinn und Zweck der Grammatik-Konstruktion" sei (INGENDAHL 1999: 8). - Für die Kognitionsforscherin STERN ist als Ergebnis ihrer Forschungen klar: Wissen über Wissen, Metakognition ist sekundär (vgl. STERN 2002), und grammatische Begriffsbildung hat erlebte und verinnerlichte Erfahrung mit der Sprache als Voraussetzung. 6 Vgl. SCHULZ VON THUN, der die Kommunikationsmodelle B ÜHLERs und W ATZLAWICKs in seiner Kommunikationspsychologie kombinierte und aufzeigte, wie in jeder Nachricht mindestens simultan vier Nachrichten enthalten sind: neben dem Sachinhalt eben noch der Appell, die Selbstoffenbarung und die Implikationen über die Beziehungen der kommunizierenden Personen (SCHULZ VON THUN 1. Aufl. 1988; 41. Aufl. 2005). lFlLllllL 34 (2005) 52 Werner Bleyhl (c) Ein Ur-Vorbild allen Unterrichtens, so verwässert der Gedanke über die Jahrtausende auch wurde, ist die zur Weisheit führende Dialogtechnik eines SOKRATES, wie PLATON sie uns überlieferte. Hierin liegt die Berechtigung für das unterrichts-typische Frage-Antwort-Spiel des Lehrers, über das KAHL (2004) urteilt: "Das Gespräch im sogenannten 'fragend entwickelnden Unterricht' ist ein Pseudogespräch". Kommentar: Über dieses Erbe ist zumindest zweierlei zu bemerken. 1. PLATON ging davon aus, dass alles Wissen dem Menschen angeboren sei, weshalb der wahre Lehrer, wie SOKRATES, nur die Hebammenkunst anzuwenden habe, um das im Menschen schlummernde Wissen mäeutisch, mit Hebammengeschick, ins Bewusstsein zu heben. - Bei aller Anerkennung der angeborenen Disposition für Sprache beim Menschen, Sprache ist nicht genetisch gegeben. Indirekt hat dieser Ansatz im 20. Jahrhundert jedoch einen gewissen Auftrieb erhalten, insofern als CHOMSKYs Idee der dem Menschen angeborenen 'Universalgrammatik' diesen platonischen Vorstellungen so fern nicht ist. Abgesehen davon, dass keine Berichte über die im Fremdsprachenunterricht wirksam sich erweisende angeborene Universalgrammatik vorliegen, ergab die linguistische Forschung der nicht-europäischen Sprachen, dass die Idee der Universalgrammatik ein Mythos ist. "No single formal grammar would be adequate to account for the acquisition process in all ofthe world's many thousands oflanguages" (SLOBIN 1973, in: TOMASEL- LO 2005: 4). Natürliche Sprachen sind eben kein Satz abstrakter algebraischen Regeln, die, unempfindlich für Bedeutungen, sich algorithmisch kombinieren lassen und nur ein Lexikon aufweisen, das die Bedeutungselemente enthält. Der Stand seiner Spracherwerbsforschungen zusammenfassend betont TOMASELLO, dass wir stattdessen von einem einzigen Spracherwerbsprozess ausgehen können, bei dem der Lerner abstrakte Kategorien und Schemata auf Grund seiner konkreten Spracherfahrung konstruiert und dabei mit den Informationseinheiten beginnt, die er eben verarbeiten und kategorisieren kann. Die entscheidenden kognitiven Prozesse sind dabei das Deuten der Sprechabsichten und das Herausfinden der allgemeinen Muster, d.h. die psychologische Dimension ist für einen Lernerfolg bzw. für das Verstehen dieser Lernprozesse unverzichtbar. Sprachkönnen des einzelnen ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses der Soziogenese. - Als 2. ist zu bemerken, - und dies impliziert die Hebammenleistung allemal -, dass mehr als ein halbes Jahr vor der Geburt bereits eine befruchtende Begegnung stattgefunden haben muss und dass eine Reifezeit möglichst ohne äußere Störungen gegeben war, soll die Geburt ein freudiges Ereignis werden. Mit ein Qualitätsausweis einer guten Hebamme ist schließlich, dass sie den rechten Zeitpunkt für ihre Hilfestellung erkennt. Ein Input- Output-Denken ist auch im geistigen Bereich schädlich, wenn nicht tödlich. (d) Ein Erbe des reduktionistischen Vorgehens von DESCARTES ist auch, dass etwa FERDINAND DE SAUSSURE und seine Gefolgsleute mit der deskriptiven, analytischen Aufspaltung eines 'Wortes' in signifiant (Symbol) und signifie (Referent) zufrieden waren. Die Ineffektivität des Wörterlernens im Fremdsprachenunterricht (bzw. als individuelle häusliche Tätigkeit) auf dieser Basis ist notorisch. Kommentar: Für das Sprachenlernen ist diese eingeschränkte Sichtweise der strukturalistischen Linguistik völlig unangemessen: theoretisch ist schließlich jede sprachliche RlllL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 53 Referenz ein sozialer Akt. Empirisch kann sprachliche Referenz, die jeweils eine momentan relevante Auswahl aus dem Weltgeschehen ist, immer nur in einem Kontext sozialer Interaktion verstanden werden (vgl. T0MASELL0 2002). Im natürlichen Sprachenlernen ist eine solche soziale Einbettung immer gegeben, und entsprechend leichter werden die Wörter behalten bzw. stellen sich in entsprechenden Sozialsituationen auch viel schneller wieder im Gedächtnis ein. - Erinnert sei an die unvergleichlich höhere Effektivität im Fremdsprachenunterricht mit TPR. Das methodische Vorgehen mit der Technik des TPR basiert auf der kreisenden Evokation eines Ensembles von Intentionen und in deren Folge von mentalen Begriffen, die sprachlich benannt werden: die Wirkung von Symbolen in der sozialen Interaktion wird im Raum erlebbar. So entsteht eine gemeinschaftliche Gruppe derer, die die Symbole verstehen und gebrauchen, es entsteht eine Sozialpartnerschaft, in der der Lehrer steuert, genau wie die Lerner über ihr Zögern, ihr Verhalten den Lehrer steuern. Beide erleben, dass die genaue gegenseitige Beachtung erfolgreich ist; alle erleben, dass ihr Vertrauen in den anderen nicht enttäuscht wird, und alle gewinnen so auch Selbstvertrauen. In diesem körperlich-sozialen Zusammenspiel organisiert und verinnerlicht der Lerner weitgehend unbewusst7 -, das kulturelle Symbolsystem der zunächst noch fremden Sprache. Reduktionistisches, formalistisches Denken hat im Bereich Sprache nur dort seine Berechtigung, wo von vorne•herein nur Aussagen zu Teilbereichen getroffen werden sollen. Das reduktionistische Weltverständnis neigt zum Positivismus, der sich im Fremdsprachenunterricht in der Vorstellung findet, man könne eine sprachliche Äußerung 'objektiv' beurteilen. Kommentar: Selbst im naturwissenschaftlichen Denken ist diese Vorstellung lange überwunden. 'Objektivismus' im strengen Sinne ist dort eine indiskutable Position geworden, genau wie in der modernen Philosophie. Wissenschaft bildet Wirklichkeit nicht ab, sie konstruiert sie. Sprache bildet Wirklichkeit genauso wenig ab, sie gliedert und konstruiert Wirklichkeit und zwar im sozialen Miteinander mit den kulturell evolutionär gewordenen Mitteln. Ihr Funktion ist, die Aufmerksamkeit anderer zu beeinflussen. Die jeweils vom Sprecher eingenommene Perspektive, seine Einschätzung der Kommunikationssituation etc. bestimmt die Wahl seiner Sprachmittel. (Das ist ein Fakt, der in der gegenwärtig im Schulischen ablaufenden Evaluationsdiskussion überhaupt nicht hinreichend beachtet zu werden scheint, zeigt allerdings einmal mehr die geistige Retardation im wissenschaftlichen Denken in der Fachdidaktik bzw. der Sprachlehr- und -lernforschung, wo die Problematik der 'Wahr'-'nehmung' und der Perspektive nie hinreichend bedacht wurde.) 7 Die Traditionalisten haben damit große Schwierigkeiten. Sie hängen immer noch am antiken Menschenbild vom Menschen als einem animal rationale, einem „mit Vernunft begabten Lebewesen". Sie haben oftmals noch nicht einmal KANT rezipiert, für den der Mensch ein „zur Vernunftfähiges Lebewesen" ist, d.h. dass gewisse Voraussetzungen für Vernunft (und Kultur) gegeben sein müssen. Sie haben erst recht nicht FREUDs Kränkung der Menschheit akzeptiert, wonach der Mensch wegen der Macht des Unbewussten nicht einmal „Herr im eigenen Hause ist". lFLIIIL 34 (2005) 54 Werner Bleyhl 4. Inwieweit ist der Erwerb einer Fremdsprache durch Unterricht steuerbar? Diese Frage pflegt sich der Fremdsprachenlehrer im allgemeinen gar nicht zu stellen. Er geht einfach von der Gegebenheit aus. Und übt man etwa eine Struktur auch lange genug im Unterricht, so schneiden die Schüler in einer diese Struktur alsbald überprüfenden Klassenarbeit auch gar nicht so schlecht ab. Das Problem ist nur, nach ein paar Wochen scheint bei zu vielen Schülern dieses Gelernte einfach nicht m6hr vorhanden. Das ist im Mathematikunterricht oder anderen Schulfächern genau so. Nur, immer wieder diese leidige Erfahrung machen zu müssen, strapaziert mit den Jahren die Nerven der Lehrer. (Von den Schülern soll hier gar nicht die Rede sein.) Inzwischen gibt es jedoch groß angelegte empirische Untersuchungen des Fremdsprachenunterrichts. Würden die Lehrer die vorgelegten Ergebnisse zur Kenntnis nehmen, müsste es ihnen eigentlich wie Schuppen von den Augen fallen: 1. "Der Erwerb der[ ...] Grammatik unter gesteuerten Bedingungen verläuft anders, als üblicherweise in der Fremdsprachendidaktik angenommen. [...] Der Grammatikerwerb unterliegt internen Gesetzmäßigkeiten, die durch den Unterricht nicht kurzgeschlossen und nicht geändert werden können. Der Weg über Erwerbsstrategien ist unvermeidlich; lernersprachliche Abweichungen sind konstituierender Bestandteil des Erwerbsprozesses. 2. (D)er Erwerb (erfolgt) in einer festen Abfolge von Phasen[...] 3. In keinem der (untersuchten) Bereiche verläuft der Erwerb parallel zum schulischen Grammatikprogramm[... ]." (DIEHL 2000: 359 f.). Die Daten dieser Untersuchung zeigten zudem, "dass schulischer Unterricht Fossilisierungen [...] geradezu verursachen kann, und zwar dann, wenn sich eine Schüler oder eine Schülerin vom Rhythmus der schulischen Grammatikprogression überrollt fühlt" (ib.: 375). Das Fazit lautet: "Implizite Lernmechanismen sind bei der Bewältigung komplexer Aufgaben (wie zum Beispiel Spracherwerb) effektiver als explizite" (ib.: 377). Das schon seit den 70er Jahren an kleineren Studien gewonnene und nun in einer breiten und langfristig angelegten Studie bestätigte Ergebnis besagt, dass schulischer Fremdsprachenunterricht die natürlichen Erwerbssequenzen nicht verändern kann (W ODE 1974; 1981), dass bezüglich der Abfolge der sprachlichen Entwicklung in den Lehrplänen stehen kann, was will (verwiesen sei auf die eingangs zitierten Beispiele von HUFEISEN). Die intern sich entwickelnde Reihenfolge ist allemal stärker. Es lohnt also, die Aufmerksamkeit auf diese Sequenzen zu lenken. Und diese Sequenzen wurden für das Deutsche (DIEHL 2000: 364) und das Englische (vgl. auch PELTZER- KARPF/ ZANGL 1998) erstellt. Die Reihenfolge PIENEMANNs (1998; 2004), der sich seit Jahrzehnten mit diesen Fragen beschäftigt, sieht folgendermaßen aus: JFLUJL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 2 3 4 5 6 Words Formulae S neg V(O) svo SVO-Question -ed -ing Plural -s (Noun) Poss -s (Noun) Do-SV(O)-? Aux SV(O)-? Wh-SV(O)-? Adverb-First Poss (Pronoun) Object (Pronoun) Copula S (x) Wh-copula S (x) V-particle Neg/ Aux-2 nd -? Aux 2nd-? 3sg-s Cancel Aux-2 nd Hello, Five Dock, Central How are you? Where is X? What's your name? Me no live here./ I don't live here. Me live here. You live here? John played. Jane going. I like cats. Pat 's cat is fat. Do he live here? Can I go home? Where she went? What you want? Today he stay here. I show you my garden. Mary called him. / s she at home? Where is she? Tumit offi Why didn't you teil me? Why can't she come? Why did she eat that? What will you do? Peter likes bananas. I wonder what he wants. (Acquisition sequence in English according to PIENEMANN's "Processability Theory", rearranged, aus: LENZING 2004: 37) 55 In aller Deutlichkeit muss betont werden, dass sich aus einer solchen Reihenfolge kein Curriculum, kein Lehrplan, keine grammatische Progression eines Sprachunterrichts ableiten lässt. Genau wie der Lerner die Erfahrung des Bedeutungskontrastes beim Erlernen der sich oftmals wechselseitig definierenden Wörter braucht, braucht der Lerner die Erfahrung der verschiedenen Strukturen. Denn erst im Kontrast zu einander, in der Erfahrung ihrer Opposition, lässt sich die Leistung einer bestimmten grammatischen Erscheinung erkennen und erwerben. Eine Progression im Gänsemarsch erlaubt diese Kontrasterfahrungen nicht und erschwert das Lernen der Spezifik der Leistungen jener Spracherscheinungen. Eine zu fürsorgliche Simplifizierung führt zudem oft zur Trivialisierung und wirkt dann kontraproduktiv, wie mancher Unterricht, viele Bilderbücher und etwa 'Bearbeitungen' von Märchen zeigen, die wegen zu großer sprachlicher Banalität langweilen und das Lesen verleiten. Jeder Lerner, der vom Inhalt angesprochen ist, holt sich aus dem sprachlichen Angebot, was er jeweils versteht und braucht; Weltwissen, inhaltliches Interesse und die nonverbalen Kommunikationskanäle bieten vielfältige Dekodierungshilfen. lFLllllL 34 (2005) 56 Werner Bleyhl Erkennt der Fremdsprachenlehrer, dass jeder Lerner diese Sequenz nach seinem Tempo und entsprechend der Intensität seiner mental verarbeiteten Sprache erwirbt, so gewinnt er - und der Unterricht gewaltige Freiheitsgrade. Hinzu kommt - und darüber besteht in der neueren Linguistik Konsens-, dass der Erwerb der Grammatik "lexicon driven" ist, abhängig vom verinnerlichten Wortschatz des Lerners. Der Beginn des Erwerbs grammatischer Strukturen setzt ein ab einem Wortschatz von 400 bis 500 lexikalischen Einheiten (MARCHMAN/ BATES 1994). Damit ergibt sich, dass Sprachenlernen nicht durch das Pauken von Grammatikregeln und von Listen leerer Vokabelhülsen erreicht wird, sondern durch den Aufbau mentaler Begriffe, wie sie die jeweiligen Sprachgemeinschaften im Laufe ihrer Geschichte entwickelt haben, und dies in sozialen Situationen, bei denen Sprache das Verhalten der Beteiligten koordiniert. 4.1 Focus on form Manche Fremdsprachendidaktiker wollen den alten Fremdsprachenunterricht retten, indem sie auf die Bedeutung des deklarativen Wissens als Königsweg des institutionalisierten Fremdsprachenlernens bestehen. Gerade in einer empirischen Studie, in der die Bedeutung vonfocus onform untersucht werden sollte, kommt jedoch Jessica WILLIAMS zu dem Schluss: Finally, it is evident that leamers at all levels are more concemed with sorting out lexical meaning than grammatical form, though, as they become more proficient, they are increasingly willing and/ or able to address more grammatical issues on their own. Teachers cannot expect learners to consistently ferret out and notice morphosyntactic features. Learners seem to be very good at working on some aspects of their language development independently, but the responsibility for calling learner attention to other aspects appears to remain with the teacher, especially at the early stages of acquisition" (WILLIAMS 2001: 341). Es bleibt also dabei, erst kommt Inhalt (sprich Lexik), dann das Interesse für Form; erst das Kennen, dann das Erkennen. Und ein Empfinden der Lehrperson dafür, was ihre Schüler brauchen und was sie voranbringt, ist Teil ihrer Professionalität. Das· Pferd am Schwanz aufzuzäumen, wie es oft genug im traditionellen Unterricht geschah, bedeutet 'Eile mit Weile', wenn nicht Verlust der Motivation. Natürlich war es immer ein Traum, dass Lehren und Lernen in einem Verhältnis von 1: 1 stehen. Gleichfalls ein Traum ist die Annahme, Sprachrezeptionsfähigkeit und Sprachproduktionsfähigkeit verhalte sich im Verhältnis 1: l. Eine Isolierung von Fachwissen, eine Verneinung des immer gegebenen Involviertseins von Emotion bei kognitiven Prozessen und sprachlichem Geschehen muss unfruchtbar bleiben. Ein Lernen isolierter Einzelinformationen, wozu der reine Sprach- oder Grammatikunterricht über die Jahrhunderte verführen konnte, ist für das Leben unsinnig und wird deswegen von Lernern möglichst gemieden oder zu umgehen versucht. Es ist auch kein Zufall, dass fast jeder der deutschen Literaturnobelpreisträger, von HERMANN HESSE zu THOMAS MANN oder GÜNTER GRASS sich recht negativ über die Lehrer geäußert hat, just weil sie die Urbedürfnisse nicht zuletzt kreativer Schüler so oft missachtet haben. Der fremdsprachliche Unterricht hatte damit lange genug nur zu Ergebnissen geführt, die schulintern bzw. für die Schullaufbahn lFLlllL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 57 wichtig waren. Auch heute steht er nicht außerhalb der literarischen Kritik, die von EUGENE IüNESCOs schon angegrautem Spott in La ler: ; : on bis zu LORIOTs Die Jodelschule reicht. Auf einen derartigen Unterricht trifft dann das vernichtende Urteil des Pädagogen HERRMANN zu, wenn er sagt: "Der übliche Schulunterricht missachtet alle elementaren Prinzipien des natürlichen erfolgreichen Lernens, er ist die organisierte Wirkungslosigkeit" (HERRMANN 2005). 5. Lernen - und Sprachenlernen aus biologischer und psychologischer Sicht Biologisch gesehen bilden Neugier, Spiel und Lernen ein charakteristisches Bündel. Damit diese Verhaltenssysteme aktiviert werden, bedürfen sie allerdings der Voraussetzung eines 'entspannten Feldes', das Anregung wie Sicherheit bietet. Ohne das Vorhandensein von Anregung, ohne soziale Interaktion, ohne eine anregungsreiche Umgebung, die eben nicht monoton, in ihrer Strukturiertheit eben nicht sofort durchschaubar ist, kann sich auch keine Intelligenz entwickeln, ob sie genetisch angelegt ist oder nicht. 8 Der Reichtum an Anregung ist dabei oftmals an Sozialpartnerschaft gebunden, bei der wieder ineinander fließend und nicht zu trennen gleichzeitig ein Maß an (emotionaler wie körperlicher) Sicherheit gegeben sein muss. Alle Säugetierjungen lernen am besten im Spiel, jenem "training for the unexpected" (SPINKA [et al.] 2001), wo sie zum einen sich in anregungsreichen Umgebungen befinden und wo sie sich zum zweiten emotional sicher fühlen. Dies sagt uns die Verhaltensforschung wie auch die Gehirnforschung, und die Neurobiologie sagt uns auch noch ein Stück, welche chemischen Reaktionen in welchen Gehirnarealen bzw. Neuronenensembles dabei ablaufen. 9 Trotzdem gibt es natürlich große individuelle Unterschiede in der Lerngeschwindigkeit und in der Höhe des letztlich erreichten Niveaus. Tiere, die in reichstrukturierter Umwelt aufgewachsen sind, machten später weniger Fehler bei Problemlösungsaufgaben und erwiesen sich unbekannten Situationen und Auch hier bedarf es eigentlich bei jedem Schritt, bei jeder Erfahrung des Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Denken, wie es KANT ausführlich dargelegt hat (vgl. BLEYHL 2004). Genau so ist die Philosophie heute der Meinung, herausgefordert von engen Interpretationen neurobiologischer Erkenntnisse, dass das Zusammenspiel von Leib und Seele (KATHER 2004), und damit die sinnlichen Qualitäten, das Verhältnis des Menschen zur Umwelt bestimmen. 9 Der im Jahr 2000 mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichnete Eric KANDEL etwa konnte aufzeigen, wie sich das Gedächtnis auf der Ebene des Gehirns als die Leistung eines sich laufend ändernden Netzwerkes darstellt. (Das Bild des Abspeichern von einzelnen Informationen ist unangemessen.) Das Kurzzeitgedächtnis nutzt bestehende Neuronenverbindungen, das Langzeitgedächtnis bedarf der Aktivierung von Genen, die die Vergrößerung bestehender und die Herausbildung zusätzlicher Synapsen bewirken. Proteine und Botenstoffe spielen bei der Überführung der Inhalte von Kurzzeitins Langzeitgedächtnis eine Rolle. Die wesentliche Nachricht für den Sprachlehrer besteht aber darin, dass es die Bedeutung ist, die für das Gehirn die Wirkung eines Filters für die Überführung ins Langzeitgedächtnis übernimmt. Die Leistung des Gehirns beruht zudem nicht nur im Zusammenspiel der einzelnen Neuronen und Neuronenensembles, auch innerhalb der einzelnen Zelle findet eine hochkomplexe Interaktion statt. lFJL! lllL 34 (2005) 58 Werner Bleyhl gegenüber neuen Objekten explorationsfreudiger. Verglichen mit in einförmigen Umgebung oder in ständiger Bedrohung aufgewachsenen Tieren korrespondierten die Unterschiede im Verhalten auch morphometrischen, neuroanatomischen und neurochemischen Unterschieden im Zentralnervensystem. Die in reicher Umgebung Aufgewachsenen wiesen einen größeren Cortex auf, eine stärkere Verzweigung der Dentriten und eine höhere Anzahl von Synapsen in den relevanten Hirnpartien. Ihr reicheres, lernerfahreneres und gebildeteres Gehirn erlaubt ihnen, mehr Informationen aus ihrer Umwelt zu verarbeiten und zu speichern. Der Trick der Natur, weshalb dieses einmal in Gang gekommene Neugierverhalten ein Selbstläufer wird, besteht darin, dass Neugier eine sich selbst belohnende Verhaltensaktivität darstellt und zwar dank der positiven Emotionen, die das Gehirn selbst erzeugt. - Hält man sich dieses alte Säugetiererbe vor Augen, so zeigt die Verwobenheit von Neugier, Spiel und Lernen aus neuro-, verhaltens- und evolutionsbiologischer Sicht sich ebenfalls als zur Natur des menschlichen Kindes gehörig. Sprache, auch im Unterricht, macht nur Sinn, - und dies ist ganz im Sinne des Volksschullehrers und jungen Philosophen LUDWIG WITTGENSTEIN wenn sie ihre Funktion erfüllt, die Tatsachen der Welt in der Sprache abzubilden. Sprachphilosophisch ist Sprache nun im Sinne des reiferen WITTGENSTEIN aber noch mehr. Sprache ist eine Vielfalt von Handlungen. In den verschiedensten sozialen, kulturellen, gemeinschaftlichen Situationen spielen wir jeweils das der Lebensform, das unserem Denken und Fühlen angemessene „Sprachspiel". Wir erwerben die Fähigkeit, es zu spielen, wir wachsen in es hinein, im gemeinschaftlichen Handeln. Und dieses Sprachspiel seinerseits hilft uns wiederum, die andern, und letztlich auch uns selbst, zu verstehen. Wir müssen erkennen, was SCHILLER 10 und auch HEGEL schon betonten: Erst über die andern können wir uns selbst verstehen 11, insofern ist unser Selbstverständnis wie unser Umgang mit der Welt, genau wie unsere Empfindungen, immer auch kulturell bestimmt. Wir sind als Menschen Kulturwesen, die man nur vor dem Hintergrund ihrer Sprach- und Kulturgemeinschaft verstehen kann. Der kognitivistische, traditionelle informationstheoretische Denkansatz dagegen sieht den Menschen als rationalen Informationsverarbeiter. Er missachtet die biologischen Gegebenheiten und wirkt psychologisch kontraproduktiv: Der Lehrer erklärt die Regeln; der kognitive Apparat des Schülers setzt sie um; die Sache wird gelernt. Dieser Ansatz verkennt alle Gesetze der Psychologie wie des Spracherwerbs, genau wie auch die Komplexität der Sprache. Dieser Ansatz ist jedoch insofern erfolgreich, als der über Spracherwerb unaufgeklärte Lehrer dank seiner Technik der doppelten psychologischen Mausefalle mit seinem Kleinmut sich selbst samt seine kleinmütig gemachten Schülern fängt. Dies geschieht folgendermaßen: Macht ein Fremdsprachenschüler einen sprachlichen Fehler, 'bewertet' der Lehrer seinem Selbstverständnis gemäß diese Äußerung. Diese Wertung erfolgt unwillkürlich und ist, so sie nicht zu einer verbalen Reaktion führt, 10 Musenalmanach 1797. 11 Insofern ist Fremdsprachenlernen als solches in sich schon der hermeneutische Weg des interkulturellen Lernens (vgl. BLEYHL 1989, 1994). lFLILIL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 59 an den nonverbalen Reaktionen von dem Sprachlerner, der mit einer Äußerung für einen Augenblick seinen Kopf aus seinem Schildkrötenpanzer herausgestreckt hatte und sensibel auf den Erfolg seiner Risikobereitschaft wartet, meist deutlich ablesbar. Bemerkt der Schüler die (negative) Wertung, muss er sie als 'Abwertung' seiner Leistung und seiner Person verstehen. Dadurch dass der Schüler einen Fehler gemacht hat, wurde er schuldig. Und wer schuldig ist, verdient Strafe, verdient zu leiden. Also muss ich, als Lehrer, den Schüler leiden lassen. Es 'muss', gemäß diesem althergebrachten Menschenbild, eine Beeinträchtigung der Würde des Individuums erfolgen, denn Leiden will der Mensch ja vermeiden, folglich wird er künftig diesen Fehler, sprich die Nichtberücksichtigung der besagten kognitiv und verbal fassbaren Regel, vermeiden. (Immer wird unterstellt, der Mensch würde beim Sprechen 12 oder Schreiben bewusst Sprachregeln anwenden, bzw. die Benutzung von Sprache sei ein kognitiv bewusst zu steuernder Mechanismus.) Kurz, durch die oftmals subtilen und dem Bewusstsein der Interagierenden meist überhaupt nicht bewussten Kränkungen wird die Würde des Lernenden beeinträchtigt, und der Wunsch solchen Kränkungen sich künftig zu entziehen, etwa dass man das Lernen dieser Sprache aufgibt oder (wenn man in der Schule das Fach nicht abwählen kann) die Person des Lehrers als widerlich und emotional nicht mehr satisfaktionsfähig einstuft. Das Stellen dieser „Mausefalle" ist übrigens der Hauptunterschied zwischen natürlichem Spracherwerb und Fremdsprachenunterricht. Die Sprachlernprozesse sind jeweils prinzipiell ähnlich (vgl. BLEYHL 2005a). Die psychologischen Bedingungen dafür jedoch nicht. Eine Mutter oder ein Vater reagiert bei seinem Kind dank einer „angeborenen Didaktik" (PAPOUSEK) nie in solcher Weise auf sprachformale Fehler. Eltern korrigieren allenfalls den Inhalt oder wiederholen die Passage sprachlich korrekt, indem sie ihr Kind zugleich emotional bestätigen. Der Förderaspekt dominiert über den Bewertungsaspekt, und Förderung findet statt, wenn die Selbstwirksamkeit vom Lerner erfahren wird. Bei Erfahrungen positiver Bestätigung der eigenen Risikobereitschaft jedoch floriert Lernen, floriert Motivation, floriert Leistung. Hier liegt volle Übereinstimmung vor in der neuen Kognitionswissenschaft, in der Schulforschung, Evolutionsbiologie, Verhaltens- oder Hirnforschung. Eine gewisse Spannung zwischen Sicherheit und Ungewissheit (völlige Angstfreiheit gibt es nicht), das Erfahren und Akzeptieren der Herausforderung, ist der Ort für Kreativität. Und dies gilt für jedes Lebensalter. Es wäre schon ein großer Schritt nach vorn, wenn Lehrer wie Eltern mehr Langmut aufbrächten, Lerneräußerungen beobachten, inhaltlich darauf reagieren und nicht gleich in Bezug auf sprachliche Form bewerten würden. Aber Lernen ist für Ältere, auch für Lehrer, schwieriger. Auch Umlernen ist für Ältere noch schwieriger. Doch wenn die Lehrer nicht erkennen, dass die Vorstellungen vom Sprachenlernen und die Denkstruktu- 12 In der traditionellen Fremdsprachendidaktik wird selten bedacht, dass Sprechen die komplizierteste feinmotorische Leistung ist, die der menschliche Organismus erbringt, gilt es schließlich das Zusammenwirken der ca. hundert verschiedenen Muskeln, die bei der Bildung nur einer Silbe involviert sind, auf genaues Funktionieren im Millisekundenbereich zu trimmen. Dass ein solches System stressanfällig sein muss, sollte einleuchten. ]F[,llll, 34 (2005) 60 Werner Bleyhl ren des sofortigen Bewertens, in denen wir alle aufgewachsen sind, uns als Lehrer letztlich daran hindern, gerade als Lehrer erfolgreich zu sein, wird es auch kein Ausbrechen aus dem Kreisverkehr des fremdsprachenunterrichtlichen Misserfolgs geben. Denn überall dort, wo Lehrer beim Lehren einer Fremdsprache erfolgreich waren und sind, dominiert nie eine Fokussierung der Sprachform, dort dominiert eine Interesse an Sachen, an Menschen; dort herrscht eben eine Atmosphäre, die Lernern primär Vertrauen, Zutrauen statt Misstrauen, entgegenbringt, ihnen Gelegenheit gibt, ausgehend von ihren Bedürfnissen im Sprachlichen selbst reiche Erfahrungen machen zu können, genau wie beim Erstspracherwerb oder dem erfolgreichen Zweitsprachenerwerb. 6. Effektiver Spracherwerb in institutionalisiertem Rahmen Sprachenlernen, das nachhaltig ist, also Spracherwerb, der Erwerb von Sprachkönnen, nicht von Sprachwissen, erfolgt im Erfahren des Gebrauchs der betreffenden Sprache in der Welt, im sozialen Miteinander. Das haben schon KANT gesagt "lebende Sprachen lernt man am besten im Umgang") und auch WITTGENSTEIN. 13 All dies besagt: Die Erfahrung des Gebrauchs von Sprache im sozialen Miteinander, bei der sich der eine Gesprächspartner auf den anderen einstellt, also das GRJCE' sehe "cooperative principle" beachtet, ist einem Buchunterricht überlegen. 14 Die in einer Kultur erwachsenen sprachlichen Symbole sind nicht in einer „blutleeren" Situation vermittelbar bzw. lernbar. Auch das Erlernen einer Zweit- oder Fremdsprache besteht ja nicht darin, dass man ein sprachliches Zeichen durch ein anderes sprachliches Zeichen, eben dem einer anderen Sprachgemeinschaft, ersetzen lernt. Theoretisch ist sinnvolle Verwendung sprachlicher Zeichen, sprachliche Referenz, immer ein sozialer Akt, "bei dem eine Person versucht, die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf etwas in der Welt zu fokussieren. Und wir müssen ebenfalls die empirische Tatsache anerkennen, dass sprachliche Referenz nur in einem Kontext sozialer Interaktionen verstanden werden kann" (T0MASELL0 2002: 117). Es sei an das weiter oben schon angeführte Verständnis von Sprache als „einer symbolisch verkörperten Institution" erinnert. Entscheidend ist die Einsicht, "dass sprachliche Symbole die unzähligen Weisen der intersubjektiven Auslegung der Welt verkörpern, die in einer Kultur über einen historischen Zeitraum hinweg akkumuliert wurden; und der Erwerb des konventionellen Gebrauchs dieser symbolischen Artefakte, und damit die Verinnerlichung dieser Auslegungen, verwandelt die Eigenart der kognitiven Repräsentationen von Kindern (und älteren Lernern einer Zweitsprache, W.B.) grundlegend" (TOMASELL0 2002: 116). Deswegen ist das Lernen einer weiteren Sprache ja intelligenzfördernd, es eröffnet weitere Sichtweisen auf Welt, neue Wege des Umgangs mit Zeitge- 13 „Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muss man auf den sinnvollen Gebrauch achten. [... ] Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos. (Wenn sich alles so verhält als hätte ein Zeichen Bedeutung, dann hat es auch Bedeutung.)" (WITTGENSTEIN 1963: 28) 14 Sprachunterricht mittels elektronischer Medien muss u.a. auch dieses Kriterium bestehen. lFLuL 34 (2005) Die Defizite des traditionellen Fremdsprachenunterricht oder: ... 61 nassen bzw. dem Denken früherer Epochen. Sprachenlernen findet dort statt, wo sich der Lerner als Teil der sprachlich begleiteten sozialen Interaktion erlebt. Erinnert sei auch an die eingangs erwähnten Untersuchungen von KöLLER u.a. über die Überlegenheit des Erlernens einer Fremdsprache bei Erfahrungen authentischen Sprachgebrauchs. D.h. ein inhaltsorientierter Fremdsprachenunterricht (vgl. BLEYHL 2005c) ist geboten. Und Inhalte brauchen entsprechende Lexik. Wie die Praxis zeigt, wird unter schulischen Bedingungen Sprache am effektivsten dort gelernt, wo gemeinsam um Sachverhalte gerungen wird. Die Effektivität des sogenannten 'bilingualen Sachfachunterrichts' bzw. des Immersionsunterrichts (WODE 2004) ist kein Zufall. Doch wie bricht der Lerner die Masse der Lexik auf? Auch hier gibt es empirische Untersuchungen. KAUSCHKE (2000) etwa konnte aufzeigen, dass bei den ersten 50 Wörtern, die ein Kind lernt, die sozial-persönlichen Wörter absolut dominieren. Das heißt, der Lerner muss sich erst der Zuverlässigkeit der persönlichen Beziehungen zu den ihn umgebenden Experten sicher sein, ehe er sich weiter in die Welt hinaus wagen kann, um dann im sozialen Miteinander die kulturell gewachsenen Symbole der Welterfassung kennenzulernen und zu übernehmen. Fazit: Sprachenlernen ist ein bio-psycho-soziales Geschehen, bei der keine einseitige Determinierung gegeben ist. Eine Scheuklappenperspektive ist einem Verstehen der unendlich komplexen Prozesse nicht förderlich. Spracherwerb, auch im schulischen Rahmen, ist kulturelles Lernen, ist ein fortwährender Kreiselprozess des auf seinen Körper angewiesenen Lerners, bei dem sich dessen kulturelle Kompetenz zusammen mit seiner Kognition und seinem Sprachvermögen in der sozialen Interaktion in der Welt entwickelt. Laufend heißt es dabei, vielfältige Perspektiven auf ein und denselben wahrgenommenen Gegenstand einzunehmen. Verstehen ist dabei unabdingbar, wobei wir, schon wenn wir HUMBOLDT 15 ernst nehmen, täglich erfahren, dass wegen des Anteils der Subjektivität in allem Verstehen die soziale Interaktion als Korrektiv zum Aushandeln des Gemeinsamen und den daraus folgenden Verinnerlichungen notwendig ist. "Spracherwerb ist eine Schlüsselschauplatz, auf dem wir das komplexe Wechselspiel zwischen den individuellen und kulturellen Linien der kognitiven Entwicklung beobachten können, insofern Kinder [und die Lerner weiterer Sprachen, W.B.] einerseits für sich abstrakte Sprachkonstruktionen bilden, andererseits jedoch die konventionellen symbolischen Artefakte (Konstruktionen) einer Kultur verwenden, die sie in ihren gesellschaftlichen Gruppen vorfinden" (TOMASELLO 2002: 177). „Um den konventionellen Gebrauch eines Werkzeugs oder Symbols von anderen zu erlernen, müssen Kinder [und die Lerner weiterer Sprachen, W.B.] daher zu einem Verständnis dessen gelangen, wozu, d.h. zu welchem äußeren Zweck, der andere das Werkzeug oder Symbol verwendet; das bedeutet, sie müssen die intentionale Bedeutung [...] der symbolischen Praxis verstehen lernen, wozu sie 'gut' ist, was 'wir', die Benutzer dieses [...] Symbols, damit tun" (TOMASELLO 2002: 16). Die Erfahrung der Funktionalität von Sprache, des Sinns, gerade in der Kommunikation, ist beim Lernen einer Sprache 15 "[..•] alles Verstehen (ist) aus Objectivem und Subjectivem zusammengesetzt" (HUMBOLDT 1820/ 1994: 54). FLlllL 34 (2005) 62 Werner Bleyhl unverzichtbar. Und Sprache verstehen heißt, dass man meint, die Absichten des Sprechenden, des Schreibers zu erkennen. (Aus diesem Grund kann Sprache ebenfalls gelernt werden beim Beobachten von Dritten, die sich über für den Lerner durchschaubare Sachverhalte unterhalten.) Auch traditioneller Fremdsprachenunterricht war immer dort erfolgreich, wo der Lehrer fachlich qualifiziert war UND wo das Menschliche höher als das Formale behandelt wurde. Sprachenlernen ist erfolgreich dort, wo die Sprachentwicklung im Lerner als ein historischer, nicht willkürlich steuerbarer Prozess theoretisch und emotional akzeptiert und für reichhaltige Spracherfahrung gesorgt wird, und wo die Beteiligten zugleich erleben, wie sprachliche Mittel die mentale Aufmerksamkeit gegenseitig, im sozialen Miteinander, leiten können. Wenn sich in diesem historischen, evolutionären Prozess des Lernens einer Sprache einzelne Einfluss-'Faktoren' benennen lassen, dann sind es dieselben wie beim Erstspracherwerb, von dem wir wissen, dass jene Mütter, die mit ihren Kindern mehr gemeinsamen Beschäftigungen nachgehen und tendenziell den Aufmerksamkeitsfokus des Kindes sprachlich begleiten, Kinder haben, die ein höheres Sprachverständnis und später auch eine reichhaltigere Sprachproduktion aufweisen. Literatur BATESON, Gregory (1981): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. 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