eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 35/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2006
351 Gnutzmann Küster Schramm

Kulturelle Wissensstrukturen von Französichlernern in der Grundschule

121
2006
Eynar Leupold
Ines Carla Schäfer
flul3510090
Eynar LEUPOLD, lnes Carla SCHÄFER • Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlemern in der Grundschule Abstract. The teaching and leaming of foreign languages at the primary level is one of the more remarkable advances that Germany's educational system has made during the last decade. The following article draws largely on the European Common Framework ofLanguage Learning and Teaching, which describes the learner as a "social agent" and the teaching of a foreign language from a learner-centred perspective. lt explains the theoretical outlines and the results of an empirical study which attempts to eliminate the elements of French linguistic and cultural "baggage" held by young learners prior to beginning their studies of French as a foreign language. The results suggest that we should widen the perspective beyond the target country ofFrance and also take into account the more general cognitive and emotional disposition ofthe leamers. 0. Einführende Bemerkungen Die Semantisierung des Lexems marcher durch die Lehrerin verfolgten die Schülerinnen und Schüler im 1. Lernjahr der Grundschule mit großer Aufmerksamkeit. Die Unterrichtendemachte große Schritte und sagte begleitend: "Je marche". Dann blieb sie stehen, fragte mit Frageintonation: "Je marche? " schüttelte verneinend den Kopf und zusammen mit den Lernern wurde ein lang gezogenes „Non" artikuliert. Während sie sich wieder in Bewegung setzte, begleitet von der Äußerung „Je marche" und der anschließenden Nennung des Infinitivs marcher, rief ein Schüler unvermittelt - und zum sichtbaren Erstaunen der Unterrichtenden in die Klasse „Intermarche". Diese kleine Begebenheit steht stellvertretend für eine Reihe ähnlicher Beobachtungen im Französischunterricht in Grundschulklassen, die eines gemeinsam haben. Schülerinnen und Schüler kommen offensichtlich in den Anfangsunterricht einer Fremdsprache mit einem Ensemble an affektiven und kognitiven Strukturen. Dieses setzt sich zusammen aus ganz unterschiedlichen Elementen, wie Einstellungen zum Zielsprachenland, Urteilen, mehr oder weniger stereotypisiert, zum Land und seinen Bewohnern, einzelnen Wissenselementen zur Sprache, zu geographischen und/ oder historischen Fakten und Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Eynar LEUPOLD, Univ.-Prof., Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Fremdsprachen, Abt. Französisch, Kunzenweg 21, 79117 FREIBURG. E-mail: leupold@ph-freiburg.de Arbeitsbereiche: Didaktik und Methodik des Fremdsprachenunterrichts, Lehrwerkanalyse, Fremdsprachenfrühbeginn. Ines Carla SCHÄFER, Dipl. Übersetzerin, Lehrbeauftragte, Pädagogische Hochschule Freiburg, Institut für Fremdsprachen, Abt. Französisch, Kunzenweg 21, 79117 FREIBURG. E-mail: InesCarlaSchaefer@t-online.de Arbeitsbereiche: Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens, Interkulturelles Lernen, Fachsprachen. lFLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 91 Alltagsgewohnheiten. Beim Anfangsunterricht in einer Grenzregion zu Frankreich liegt es nahe, die authentische Begegnung mit der Zielsprachemealität eher für die Herausbildung eines solchen Vorwissens anzusetzen als z.B. das Durchblättern von Bilderbüchern, medial vermittelten Erfahrungen aus dem Fernsehen oder Erzählungen von älteren Geschwistern bzw. Eltern. Aber dieses sind Vermutungen, die zusammen mit dem einleitend geschilderten Ausschnitt aus der Unterrichtsrealität deutlich machen, dass „die Kategorie ,Fremdheit' [...] für den Frühbeginn noch nicht genügend differenziert diskutiert [ist]" (KUBANEK- GERMAN 1999: 173). Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Beitrag zu der Forderung, "die Typen von Vorwissen im Hinblick auf das Andere zu beschreiben" (KUBANEK-GERMAN 1999: 173). Eine explorative Studie mit Schülerinnen und Schülern aus drei 1. Grundschulklassen zu Beginn des Französischunterrichts im badischen Müllheim hat das Ziel, Einblicke in die kulturellen Wissensstrukturen der Lerner bezüglich des Zielsprachenlandes zu gewinnen. 1. Zum gegenwärtigen Konzept des Frühbeginns Nach einer Pilotphase im Schuljahr 2001/ 2002 wurde ab dem Schuljahr 2003/ 04 im Bundesland Baden-Württemberg verbindlich Unterricht in einer Fremdsprache ab Klasse 1 in der Grundschule eingeführt. Während in der südlichen Rheinschiene Französisch für die Schülerinnen und Schüler verpflichtend ist, beginnen im übrigen Teil des Bundeslandes die Grundschüler mit dem Fach Englisch. Nachfolgend werden einige wichtige organisatorische und fachdidaktische Merkmale des Unterrichts ausgeführt. 1.1 Strukturelle Gegebenheiten Der Fremdsprachenunterricht ist ein Unterricht, der auf der Grundlage eines vom Kultusministerium 2004 herausgegebenen Bildungsplans mit den Bildungsstandards für die Klassen 2 und 4 der Grundschule erteilt wird. 1 Der Stundenumfang beträgt zwei Wochenstunden. Während die Lernerleistungen in den ersten beiden Schuljahren unbenotet bleiben, werden in den Klassen 3 und 4 Noten erteilt. Die Fortsetzung des Sprachunterrichts in allen weiterführenden Schulen, also Hauptschule, Realschule und Gymnasium, ist organisatorisch geregelt. Die besondere fachdidaktische Herausforderung einer inhaltlichen und fertigkeitsbezogenen Anschlussfähigkeit am Ende des Unterrichts in der Grundschule ist erkannt und wird derzeit in schulartübergreifenden Gesprächskreisen und Arbeitsgruppen diskutiert. Das Dokument wird nachfolgend zitiert als Bildungsplan. lFLuL 35 (2006) 92 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer 1.2 Fachdidaktische Grundlagen SAUER (2000) hat in einem Überblicksartikel die Entwicklung des Fremdsprachenlernens im Grundschulalter in Deutschland nachgezeichnet und sowohl die politischen als auch die didaktischen Grundlagen unterschiedlicher Konzeptionen beschrieben. Nachdem zu Beginn der 80er Jahre in Baden-Württemberg ein Begegnungssprachenmodell unter dem Titel „Lerne die Sprache des Nachbarn" (vgl. PELZ 2000) eingesetzt wurde, erfolgte zu Beginn dieses Jahrhunderts eine konzeptionelle Neuorientierung. Sie trug nicht nur veränderten politischen Rahmenbedingungen, sondern auch aktuellen fachdidaktischen Erkenntnissen zum Lehren und Lernen Rechnung. Für das Erkenntnisinteresse unserer Studie werden nachfolgend drei fachdidaktische Entwicklungen aufgezeigt, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Relevanz der Frage nach dem kulturellen Vorwissen der Lerner unterstreichen. 1.2.1 Lernerorientierung Die Propagierung des didaktischen Prinzips der Lernerorientierung steht im Kontext der fachdidaktischenDiskussionzumKonstruktivismus (TIMM 1996; KÖNIGS 2005). Sowohl die bildungspolitische Dimension als auch einzelne Facetten des Prinzips werden in der Formulierung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GeR 2001) deutlich, nach der „das Lehren und Lernen von Sprachen an den Bedürfnissen, an der Motivation, den Dispositionen und den Lernmöglichkeiten der Lernenden orientiert wird" (GeR 2001: 16). Die Orientierung des Grundschulunterrichts am Lernerlässt sich an mehreren Stellen in den administrativen Vorgaben erkennen. So werden im Bildungsplan in der Aufzählung der „für die Grundschule allgemein gültigen didaktischen Prinzipien" u.a. genannt die „Einbeziehung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes", "ganzheitliche und vor allem handlungsorientierte Zugangsweisen" sowie „Situations-, Themen-, Erlebnis- und Spielorientierung" (Bildungsplan 2004: 86). Wenn in den Bildungsstandards für die Grundschule die Vorgabe gemacht wird, dass „Grundschulkinder [... ] bei ihrem prinzipiellen Bedürfnis zur Kommunikation abgeholt" werden (BILDUNGSPLAN 2004: 82), kann dies als ein weiteres Indiz für das Prinzip der Lernerorientierung gewertet werden. Außerdem „greift [der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule; Leupold/ Schäfer] die vom Kind ausgehende Reflexion, die sich in Fragen zu und Hypothesen über Sprache(n) und Welt äußert, auf und unterstützt sie" (BILDUNGSPLAN 2004: 83). Diese Aussage ist deshalb bemerkenswert, weil sie implizit das Fremdsprachenlernen in den Kontext des Konzepts der Mehrsprachigkeit stellt und weil der Spracherwerb in einen Zusammenhang mit dem Erwerb und einer Vertiefung eines enzyklopädischen Wissens gesetzt wird. Lernerorientierung aber, wenn man dieses Prinzip ernst nimmt und ihm im Unterricht Rechnung tragen will, bedeutet für die Unterrichtenden, sich Informationen über das sprachliche und enzyklopädische Wissen hinsichtlich des Zielsprachenlandes zu verschaffen, mit dem die Schülerinnen und Schüler in den Fremdsprachenunterricht gehen. lFLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 93 1.2.2 Kompetenzerwerb Die beiden nationalen Bildungsstandards für Französisch 1. Fremdsprache (Jahrgangsstufe 9 und Mittlerer Bildungsabschluss) sind eindeutig outputorientiert in dem Sinne, dass sie zu bestimmten Kompetenzbereichen die dazu gehörigen Endkompetenzen beschreiben. 2 Dieses Konzept findet auch in den landesspezifischen Bildungsstandards für den Unterricht in der Grundschule in Baden-Württemberg seinen Niederschlag. Der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule ist eindeutig auf den Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen angelegt. Parallel zum Aufbau einer Interaktionskompetenz, in der 1. und 2. Klasse, konzentriert auf die mündlichen Fertigkeiten, bevor dann die Schriftlichkeit in den Klassen 3 und 4 hinzu tritt, erfolgt der Aufbau einer Sprachlernkompetenz, d.h. der Aufbau eines Strategiewissens. Zu den „überfachlichen Kompetenzen" zählt der Erwerb eines Weltwissens, dessen Aufbau in unmittelbarem Zusammenhang mit Teilen des Spracherwerbs gesehen wird. 3 So heißt es in den Bildungsstandards: "Die Kinder erwerben Wissen in und durch die Zielsprache, lernen erste grundlegende Ordnungsmuster der Welt kennen, sie erhalten erste grundlegende Einsichten in typische kulturelle Gewohnheiten und sind durch die Beschäftigung mit der Zielsprache und der zielsprachlichen Kultur interkulturell sensibilisiert" (BILDUNGSPLAN 2004: 86). Die Ausführungen machen deutlich, dass ein Aufgabenbereich für den Fremdsprachenerwerb in der Grundschule angesprochen wird, der die fachdidaktische Diskussion interkulturellen Lernens aufnimmt. Zugleich gewinnt das Anliegen, einen Einblick in bereits vorhandene kulturelle Wissensstrukturen der Lerner zu gewinnen, an Bedeutung. 1.2.3 Language/ Cultural Awareness Wenn in den Bildungsstandards davon die Rede ist, dass die Lerner „interkulturell sensibilisiert" werden, dann liegt es nahe, das Forschungsanliegen mit der Diskussion zur "language/ cultural awareness" zu verbinden. GNUTZMANN (1995, 1997, 2003) hat die aus dem englischsprachigen Raum stammenden Forschungsansätze zur "language awareness" dargestellt, um eigene Forschungserkenntnisse und Überlegungen erweitert und den Bezug zur Realität des Fremdsprachenunterrichts hergestellt. Angesichts der Definitionsprobleme ist die Bezugnahme auf JAMES/ GARRETTT (1992) geeignet, zumindest die begriffliche Komplexität zu verdeutlichen. Die Autoren sehen "language awareness" als einen Komplex, der mit einer affektiven, einer sozialen, einer politischen sowie einer kognitiven Dimension verbunden ist, ergänzt um eine "performance domain". 2 Eine kritische Bestandsaufnahme aus fremdsprachendidaktischer Sicht bieten die Beiträge der 25. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts in dem Sammelband von BAUSCH/ BURWITZ- MELZERIKÖNIGS! KRUMM (Hrsg.) (2005). 3 Eine kritische Haltung zu der vielfach propagierten untrennbaren Verbindung von Sprache und Kultur nimmt Breugnot ein. Für sie kann diese Verbindung „keineswegs als theoretisch und empirisch evident gelten" (BREUGNOT 2000: 294). JFLIIL 35 (2006) 94 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer Obwohl diese inhaltsorientierten Facetten des Begriffs schon deutlich über die Bezugnahme auf das Sprachsystem hinaus weisen, hat die fachdidaktische Diskussion zum Interkulturellen Lernen zu einer konsequenten Ausweitung oder auch Verschiebung von der "language awareness" zur "cultural awareness" (BYRAM 1997; BYRAM/ ZARATE 1997) geführt. BYRAM (1997) entwickelt ein zyklisches Modell des Sprachunterrichts, in dem der Erwerb von Sprache und Kultur miteinander verzahnt sind. Der Prozess setzt mit dem Fertigkeitserwerb ("skill acquisition") ein, geht in eine zweite Phase der "language awareness" über, auf die dann eine Phase der "cultural awareness" folgt, die zu einer Phase der "cultural experience" führt. In konsequenter Fortführung des Ansatzes ersetzen Byram/ Zarate die Orientierung am "native speaker" durch das Bild des "intermediaire culturel" (BYRAM/ ZARATE 1997). Dieser knappe und selektive Bezug auf die Diskussion zum Begriff der "language/ cultural awareness" zeigt, wie wichtig es ist, über die Frage nach den sprachlichen Vorkenntnissen hinaus der Frage nachzugehen, inwieweit die Sprachenlerner zu Beginn des Fremdsprachenunterrichts an der Grundschule schon über eine "cultural awareness" verfügen. 2. Entwicklungspsychologische Erkenntnisse Die fachdidaktische Diskussion allein ist nicht ausreichend, um zu begründeten Arbeitshypothesen für die Untersuchung zum kulturellen Vorwissen von Fremdsprachenbeginnern in der Grundschule zu kommen. Zwar stellt D. Wolff mit Blick auf den Forschungsstand zum Muttersprachenerwerb, zum Bilingualismus und zum natürlichen Zweitsprachenerwerb fest, "dass Sprachlernprozesse eng an kognitive Prozesse gebunden sind, an Generalisierungsprozesse, an Abstraktionsprozesse, an Prozesse des Hypothesenbildens und Hypothesentestens" (W0LFF 1994: 30). Aber die Frage ist natürlich, ob diese generalisierende Aussage auch für die Sprachenlerner gilt, die in der Regel zwischen sechs und acht Jahren alt sind. Es gilt also in einem zweiten Teil, die Perspektive auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse zu dieser Altersstufe zu werfen. 2.1 Kognitive Entwicklung Alle Beiträge in den Basiswerken zur Entwicklungspsychologie (OERTERIM0NTADA 5 2002; MIETZEL 3 1997; MöNKS! KN0ERS 1996) beziehen sich in ihren Aussagen zur kognitiven Entwicklung auf die Stufentheorie Piagets. Entsprechend wird für die Altersstufe der durchschnittlich sieben Jahre alten Kinder Bezug genommen auf die Merkmale des Übergangs vom voroperatorischen Stadium zum Stadium der konkreten Operationen. Nachfolgend werden wir nur knapp auf drei Aspekte eingehen, die als relevant für die Anlage und die Auswertung der Untersuchung zu sein scheinen. JFLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 95 2.1.1 Kategorisierungsleistungen Die Untersuchung bestätigt, dass es für die Kinder der genannten Altersstufe nicht einfach ist, Kategorisierungen vorzunehmen. Einzelnen Aspekten wird Beachtung geschenkt, ohne dass eine Kategorisierung im Sinne einer „Gesamtkonzeption" vorgenommen wird. (MONTADA 5 2002: 422 ff) Offensichtlich erfolgt erst mit dem Übergang in das Stadium der konkreten Operationen die Fähigkeit, "dass Objekte gleichzeitig mehr als einer Kategorie zugehören können und dass die Kategorien zueinander in einer logischen Beziehung stehen" (ROSSMANN 1997: 114). Die Frage stellt sich in dem Zusammenhang, inwieweit Kinder in der Lage sind, Objekte, Beobachtungen und Erfahrungen, die sich auf das Zielsprachenland Frankreich beziehen, zusammenfassen und der Kategorie „Frankreich" zuordnen zu können. Wenn man die Befunde aus der Entwicklungspsychologie zugrunde legt, wird dies eher unwahrscheinlich sein. Dies bedeutet, dass wir bei der Befragung eher ein unstrukturiertes Wissen erwarten können. 2.1.2 Räumliches Verständnis Im Zusammenhang mit dem Defizit an Kategorisierungsleistungen steht die folgende Feststellung von MERKL (2002: 65). Kinder der 1. und 2. Grundschulklasse verfügen nicht über systematische räumliche Beziehungen. Sie kennen einzelne Orte, sind aber nicht in der Lage, sie räumlich in einer größeren Einheit (Land, Nation, Kontinent) zu verorten. Wenn man diese Hinweise zum kulturellen Wissen der Fremdsprachenlerner in der Grundschule weiter denkt, wird es interessant sein zu sehen, ob es zumindest einzelne Schüler/ innen gibt, die eine räumliche Vorstellung von Frankreich haben. 2.1.3 Egozentrische Wahrnehmung Als ein weiteres Merkmal der kognitiven Entwicklung der Altersgruppe siebenjähriger Kinder wird der Egozentrismus genannt. Damit wird die Unfähigkeit bezeichnet, "sich in die Rolle eines anderen hineinzuversetzen, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen oder die eigene aktuelle Sichtweise (Wahrnehmung, Meinung, Wissen) als eine unter mehreren möglichen zu begreifen" (MONTADA 5 2002: 422). Erst in der konkret-operationalen Phase entwickelt sich die „Fähigkeit zur Dezentrierung" (MöNKS/ KNOERS 1996: 157). Für die Untersuchung ist dieser Tatbestand insofern relevant, als sie die Frage nach der „Fremdheit" und dem Bewusstsein der Grundschüler für das Fremde/ Andere aufwirft. 3. Untersuchungsfragen Die vorausgegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass es aus fachdidaktischer Sicht und unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Gegebenheiten ein Erkenntnisinteresse gibt, Informationen über die Wissensstrukturen zu erhalten, die mit dem Zielsprachenland Frankreich in Verbindung stehen und mit denen Lerner der 1. Klasse den Französischunterricht aufnehmen. lFlLuL 35 (2006) 96 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer Auf der Grundlage der allgemeinen Hypothese, dass Kinder vor dem Erlernen einer Fremdsprache über Wissenselemente zum Zielsprachenland verfügen, soll die Untersuchung Antworten geben auf folgende Fragen: - In welchem Umfang verfügen Grundschulkinder beim Fremdsprachenbeginn über Wissenselemente zum Zielsprachenland ? - Welchen Bereichen der zielsprachlichen Kultur können die Wissenselemente zugeordnet werden? - Lässt sich aus. den Informationen ein einheitliches Bild des anderen Landes und seiner Menschen erkennen ? Erlauben die Antworten Hinweise auf Konsequenzen für die inhaltliche Gestaltung des Anfangsunterrichts? 4. Untersuchung Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine Befragung von Erstklässlern zu ihren Vorwissen und Vorerfahrungen zur Zielsprachenkultur. Die Schülerinnen und Schüler haben zum Zeitpunkt der Befragung (Anfang November 2005) bereits einige Wochen Schulalltag hinter sich, beginnen jedoch zu diesem Zeitpunkt erst mit dem Französischunterricht nach dem Bildungsplan. 4.1 Untersuchungsdesign 4.1.1 Schulischer Kontext Die Befragungen fanden an der Michael-Friedrich-Wild-Grundschule in Müllheim in Südbaden statt. Die Besonderheit dieser Schule besteht darin, dass in dem Gebäude zusätzlich eine ecole elementaire untergebracht ist, an der ca. 50 französische Kinder nach französischem Bildungsplan und unter französischer Schulaufsicht unterrichtet werden. Die Zusammenarbeit beider Schulen, die ihre Entstehung der Stationierung der Deutsch-Französischen Brigade in Müllheim verdankt, ist im „Müllheimer Konzept" geregelt, einem von beiden Kultusministerien genehmigten Vertragswerk; das über den im jeweiligen Bildungsplan geregelten Unterricht hinaus zusätzliche schulische und außerschulische Angebote zum fremdsprachlichen und Interkulturellen Lernen vorsieht. Wesentlicher Aspekt des Konzepts ist der Fremdsprachenunterricht als Anbahnung von Sprachlernkompetenz und Interkultureller Kompetenz. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, die Fremdsprache sowie kulturelle Inhalte über die in den Bildungsplänen vorgesehenen Wochenstunden hinaus kennen zu lernen. Zusätzlicher Fremdsprachenunterricht, der von muttersprachlichen Lehrkräften im Rahmen von 15-minütigen Begegnungsintervallen an drei Tagen pro Woche erteilt wird, sowie vierwöchige Aufenthalte im anderen Schulsystem, Kulti-AG, Vorlesenachmittage unter dem Motto einer Sprache und Theater-AG sind Elemente dieses Konzepts. lFLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 97 4.1.2 Probanden Die Befragung wurde mit 40 Erstklässlern durchgeführt, die alle ausschließlich das deutsche Schulsystem besuchen und die gemäß Bildungsplan Französisch ab Klasse 1 als Fremdsprache erlernen. Die Schülerinnen und Schüler haben zum Befragungszeitpunkt noch keinen Französischunterricht erhalten, so dass die Befragung auf die zielsprachlichen und kulturellen Kenntnisse abzielen kann, über die die Kinder vor Beginn des schulischen Französischunterrichts verfügen. Hier ist ergänzend anzumerken, dass einige der Kinder den Deutsch-Französischen Kindergarten Erlenboden in Müllheim besucht haben, der in Anlehnung an die schulische Zusammenarbeit deutsche und französische Kinder nach den jeweils gültigen nationalen Systemen betreut bzw. unterrichtet und darüber hinaus gemeinsame Aktivitäten gestaltet. Andere Kindergärten am Ort vermitteln zum Teil Französisch in spielerischen Sequenzen. Einige der Kinder stammen aus zweisprachigen deutsch-französischen Familien. Andere stammen aus Familien mit Migrationshintergrund, in denen eine andere Sprache als Deutsch oder Französisch Familiensprache ist (Türkisch, Albanisch, Serbokroatisch, Russisch, Ungarisch, Italienisch, Litauisch, Kreolisch, Spanisch). 4.1.3 Untersuchungsinstrument Zur Befragung erfolgte auf der Grundlage eines Themeninventars, das sich einerseits auf Persönlichkeiten, Bauwerke, Essensgewohnheiten bezog, andererseits zu Fragen nach bekannten Liedern, Namen und Objekten aus dem französischen Alltag (Autos) anregte. Dieser offene Inhaltskatalog diente der Fragestellerin dazu, ein Gespräch mit dem zu befragenden Kind thematisch zu strukturieren. Das Gespräch war sehr breit angelegt, um zu gewährleisten, dass Aussagen durch Assoziation möglich wurden und nicht durch eine zu direkte Fragestellung verhindert würden. Die Befragung war als Einzelgespräch zwischen der Interviewerin und der Schülerin bzw. dem Schülerangelegt und fand in einem Raum außerhalb des Klassenzimmers statt. Als Zeitfenster waren zehn Minuten pro Gespräch vorgesehen. Die Antworten waren stichpunktartig zu notieren, wobei vermieden werden sollte, dass die Kinder den Eindruck erhielten, es handele sich um ein Abfragen von vermeintlich erlerntem Wissen. 4.1.4 Versuchsablauf Die Befragung fand im November 2005 während der Schulzeit statt. Durch die große Unterstützung der Klassenlehrerinnen konnten die Kinder ohne Schwierigkeiten einzeln den Unterricht für den Zeitraum des Interviews verlassen. Um den Unterrichtsablauf nicht zu stören, wurden einzelne Schulstunden für die Einzelgespräche vorgesehen. Somit fand die Untersuchung im Laufe einer Woche statt. Die Kinder wurden durch die Klassenlehrerinnen auf die Befragung vorbereitet mit lFLuL 35 (2006) 98 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer dem Hinweis, dass die Befragungsperson neugierig darauf sei, was die Kinder über Französisch und Frankreich wüssten. Die Reaktionen der Kinder auf die Befragungssituation waren unterschiedlich. Die Eltern waren in einem Elternbrief von der bevorstehenden Untersuchung unterrichtet worden und hatten ihre Einwilligung zur Befragung erteilt. In dem Verhalten der Kinder spiegelten sich zum Teil Einstellungen und Vorbehalte der Eltern wider. In den Interviews fühlten sich einige Kinder deshalb nach eigener Aussage wie in einer Prüfungssituation. Sie äußerten Unsicherheit in Bezug auf ihre Kenntnisse sowie negative Erwartungen hinsichtlich der Fragen. Somit war ein wichtiges Anliegen zu Beginn des Gesprächs, diese Befindlichkeiten zu klären und Vertrauen auszubilden. Es zeigte sich, dass die Kinder zu erzählen begannen, sobald sie ihren persönlichen Anknüpfungspunkt fanden. Nach ersten Fragen zu persönlichen Daten wie Vorname, Alter und Sprachen wurde mit jedem Kind ein Gespräch über Erfahrungen und Kenntnisse über die französische Sprache und Kultur geführt. Das mit zehn Minuten veranschlagte Zeitfenster wurde bei manchen Befragungen überschritten. Es wurde deutlich, dass durch freie Assoziation zu bestimmten Themen von den Kindern mehr Aussagen gemacht wurden. 5. Untersuchungsergebnisse: Darstellung und Kommentierung 5.1 Allgemeine Beobachtungen Die Kinder verfügen über sehr heterogene Vorstellungen über das Nachbarland, dessen Sprache sie lernen werden. Sofern die Kinder nicht über konkretes Wissen "Der Eiffelturm steht in Paris") oder persönliche Erfahrungen verfügen, fällt es ihnen schwer, überhaupt Aussagen zu Frankreich zu machen. Im Allgemeinen ist eine größere Aufmerksamkeit für sprachliche und kulturelle Belange bei den Kindern zu beobachten, die aus mehrsprachigen Familien stammen oder bei Kindern mit Migrationshintergrund. Durch Nachfragen und Aufstellen von Vergleichen durch die Interviewerin wird Wissen sichtbar, das die Kinder jedoch nicht notwendigerweise Frankreich zuordnen. Bei den Kindern wird unterschiedlicher Grad der Strukturiertheit des Wissens deutlich. 5.2 Strukturiertheit des Wissens Eine defizitäre Kategorisierung wird insbesondere im Bereich des geographischen Wissens erkennbar. Obwohl diese Kinder nur wenige Kilometer von der französischen Grenze entfernt leben, sind sie zu einer Kategorisierung nach Ländern nicht in der Lage. Vor allem die inzwischen nicht mehr existierenden Grenzkontrollen machen es auch Kindern, die mit ihren Familien regelmäßig zum Einkaufen oder zum Tanken ins Nachbarland fahren, unmöglich, einen Bezug zwischen "hier" (Deutschland) und „dort" (Frankreich) herzustellen. Zwar überqueren die Kinder den Rhein und damit die Grenze auf einer augenfälligen Stahlbrücke, doch löst die Überquerung kein Bewusstsein für ein anderes Land aus. FLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 99 5.3 Erfahrungen in und mit dem Nachbarland Hinsichtlich der Frage nach einem Aufenthalt in Frankreich reagieren Kinder ohne Erfahrung sehr entschieden. Sie sind sich der Tatsache, das fremde Land noch nicht besucht zu haben, bewusst. Wenige Kinder berichten von Ferien in Frankreich oder Treffen mit Freunden oder Verwandten. Einkaufsfahrten nach Frankreich erfreuen sich bei einigen Familien großer Beliebtheit. Die Kinder, die mit ihren Eltern Einkaufsfahrten unternehmen, machen auch keine ausführlicheren Angaben als die Kinder, die angeben, noch nie in Frankreich gewesen zu sein. Einzelne Kinder nehmen offensichtlich das Baguette als Besonderheit wahr. Zur Frage von Kenntnissen über französische Essgewohnheiten können die Kinder kaum Angaben machen. Mehrere Kinder berichten davon, dass vergleichbare, und damit bekannte Speisen anders schmecken. Ein Kind aus einer deutsch-französischen Familie berichtet vom Verzehr von Stierfleisch ('taureau') in Südfrankreich und findet dies außerordentlich bemerkenswert. Obwohl auch Lebensmittel in Frankreich eingekauft werden, äußern die Kinder kaum Unterschiede zur deutschen Küche. Nur vereinzelt erfolgen einzelne Angaben zu anderen Geschmacksrichtungen bei Fruchtsäften oder zum Erwerb von Fisch. Auffällig ist, wie sehr ein geplanter Besuch des Landes die Wahrnehmung und das Bewusstsein für einen Aufenthalt in einem anderen kulturellen Rahmen schärft. Selbst ein Kind, das von einem für es selbst einmaligen, kurzen Besuch mit der Kindergartengruppe in einem Kindergarten in Frankreich berichtet, ist sich dieses Ereignisses bewusst und erzählt vom anders gestalteten Ablauf des Kindergartentages. 5.4 Sprachwissen Sprachliche Vorkenntnisse zu Französisch bestehen nur bei einigen wenigen zweisprachigen Kindern. Einzelne Jungen und Mädchen geben Auskunft über sprachliche Vorerfahrungen im Kindergartenbereich. In der konkreten Nachfrage nach Kenntnissen von einzelnen französischen Wörtern reagieren die Kinder zögerlich. Sie empfinden dies als Leistungsüberprüfung und blockieren häufig. Durch behutsames Weiterfragen in Themenbereichen (Bsp.: "Kennst du einen Tiernamen aufFranzösisch? ") machen die Kinder durchaus Angaben, wobei der Eindruck entsteht, dass sie weitaus mehr wissen, jedoch ohne Kontext nicht auf ihr enzyklopädisches Wissen zurückgreifen können. Auffallend sind in diesem Zusammenhang die zweisprachigen Kinder, die Deutsch und Französisch als Muttersprachen haben. Selbst diese Kinder reagieren verhalten und nennen nur wenige Wörter. Auch wenn im Gespräch an dieser Stelle zur Auflockerung auf das Französische übergegangen wird und die Kinder französisch sprechen, kommen mit einer Ausnahme keine sprachsystematischen Antworten. Die Angaben der Kinder zu den Sprachen, die sie zu Hause neben Deutsch sprechen, geben bereits Aufschluss über eine Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachigkeit. Kinder, die mehrere Muttersprachen oder Familiensprachen haben, geben wie JFLuL 35 (2006) 100 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer selbstverständlich Auskunft hierzu. Bemerkenswert ist die Einhaltung der Reihenfolge nach Gewichtung: Die dominante Sprache im Elternhaus wird zuerst genannt. Einige Kinder, die ausschließlich Deutsch als Muttersprache sprechen, reagieren verwundert und antworten unsicher. Kinder, bei denen das Alemannische stark ausgeprägt ist, nennen auf die Frage nach weiteren Sprachen, die sie sprechen, diesen Dialekt als zweite Sprache neben Deutsch. 5.5. Städte und Kulturdenkmäler Die befragten Kinder zeigen geringe Kenntnisse über Bauwerke oder Städte in Frankreich. Einige Kinder kennen den Eiffelturm und wissen, dass er in Paris steht. Einzelne Kinder berichten von Bauwerken, die sie auf Urlaubsreisen kennen gelernt haben. Beim Versuch, Urlaubserinnerungen geographisch zu lokalisieren, fällt auf, dass die Kinder noch nicht über ausreichende Fähigkeiten zur Strukturierung von geographischer Information verfügen. Sie sind sich jedoch der Zuordnung eines Bauwerkes oder einer Gegend zu Frankreich bewusst. Frankreich wird aber nur insoweit identifiziert, als es das Land ist, in dem „anders" eben französisch gesprochen wird. Ähnlich verläuft der Wahrnehmungsprozess zu Paris als Stadt. Kinder, die Paris als Hauptstadt von Frankreich und Berlin als Hauptstadt von Deutschland beschreiben, verfügen aufgrund dieser Gegenüberstellung bereits über ein kognitives Ordnungsschema. Für eine Vielzahl von Kindern ist es allerdings noch nicht möglich, über französische Städte zu sprechen. Selbst Mulhouse mit seinen Supermärkten, eine Stadt in geringer Entfernung zum Wohnort (15 km.), bleibt abstrakt und länderspezifisch ohne jede Differenzierung. Die Kinder kennen eher den Namen des betreffenden Supermarktes als dass sie den Städtenamen mit dem Land verknüpfen. Eine Besonderheit in diesem Zusammenhang sind die Beobachtungen der Kinder auf Einkaufsfahrt, die von der auffälligen Rheinbrücke, aber auch von den vielfach beleuchteten Industrieschloten entlang des Rheins berichten. Diese Wissensstrukturen gehören nicht in den Rahmen eines Frankreichbildes, bieten jedoch genau diesen Kindern erste Orientierungen und können so Anknüpfungspunkte zu Unterrichtsgesprächen ergeben. 5.6 Privatpersonen und Personen des öffentlichen Lebens Auf die Frage nach Zuordnung von Personen des öffentlichen Lebens und der Medien zu Frankreich bzw. nach Kontakten zu französischen Privatpersonen werden nur vereinzelt Beispiele angeführt (Fußballspieler). Kinder mit einem zweisprachigen Hintergrund (D, F) berichten von Bekanntschaften mit Privatpersonen, die sie eindeutig als Franzosen oder Französinnen identifizieren aufgrund der Sprache, die diese Personen benutzen. Über den privaten Bereich hinausgehende Kenntnisse sind kaum zu beobachten. Obwohl Kinder offensichtlich über private Kontakte zu französischen Staatsbürgern innerhalb und außerhalb Frankreichs verfügen, können sie noch keine Angaben zur Herkunft und Zuordnung von französischen Vornamen machen. Sie nehmen offensichtlFLuL 35 (2006) Kulturelle Wissensstrukturen von Französischlernern in der Grundschule 101 lieh die Vornamen als Eigenschaft des betreffenden Menschen wahr, stellen jedoch keinen Bezug zu einer möglichen oder wahrscheinlichen Herkunft des Namens her. Nur ein Kind nannte die französische Version seines Vornamens. Auch hier wird deutlich, dass die Kinder vermutlich über ein Ensemble von Wissensstrukturen verfügen, die aber in keinem systematischen Bezug zu Frankreich stehen. 5.7 Weitere Einzelbeobachtungen Zu einem speziellen Alltagsthema können nur wenige Kinder Angaben machen: Automarken werden von den befragten Kindern nicht als französisch oder deutsch wahrgenommen. Sie haben von einzelnen Ausnahmen abgesehen keinen Bezug zu Automarken, können sogar nicht einmal die Automarke des Familienautos wiedergeben. Die Comicfigur Asterix kennen sehr viele Kinder, auch wenn ein Großteil sie nicht zu Frankreich attribuiert. In den meisten Fällen bestimmen die Kinder die Figur als Freund von Obelix, und viele Kinder scheinen den Spielfilm gesehen zu haben bzw. über ein Computerspiel mit dieser Figur zu verfügen. Nur wenige kennen die Comichefte. Es ist offensichtlich, dass die Figur als Teil der Kindermedien auftritt, ohne dass eine geographische oder historische Einordnung damit verbunden wäre. Aus der erstaunten Nachfrage einiger Kinder, ob diese Figur wirklich Franzose sei, ist zu entnehmen, dass durch die Befragung hier ein Strukturierungsprozess in Gang gekommen ist. Zudem scheint dieses Thema sehr gut an die Lebenswirklichkeit der Kinder anzuknüpfen, und es ist im Gespräch eine deutliche Entspannung der Befragungssituation zu spüren. Fast alle Kinder kennen französische Kinderlieder. Auf Nachfrage bzw. kurzes Anstimmen von gängigen Liedern wird deutlich, dass alle Kinder mehrere Lieder kennen und beherzt mitsingen können. In diesem Bereich liegt sicher ein wesentlicher Anknüpfungspunkt zur Lernerorientierung, da Lieder neben der kognitiven Komponente eine hohe emotionale Komponente im Unterricht darstellen. Wenn die Kinder zum Abschluss gebeten werden, über etwas Besonderes, das sie über Frankreich wissen, zu berichten, reagieren viele mit Ratlosigkeit. Einzelne Kinder verfügen offensichtlich über besondere Erfahrungen, die sie mitteilen wollen. So berichten sie von Einzelerlebnissen "Skorpione unter Steinen"), aber auch über ihre generelle Haltung zu Frankreich "Wie wäre es wohl, wenn wir sie verstünden? " "Besonders ist, dass sie anders sprechen! ") 6. Ausblick Da der Umfang und die Qualität der Wissensstrukturen sehr variieren und sich eine Generalisierung angesichts der individuellen Erfahrungen weitgehend verbietet, stellt sich die Frage, wie diese Einsichten gleichwohl genutzt werden können, um sie in einen lernerorientierten Unterricht einbeziehen zu können. Sicherlich erleichtert den Lehrkräften das Wissen um bestimmte Vorkenntnisse bei den Kindern die Gestaltung des Unterrichts. Jedoch spielen in diesem Zusammenhang lFLuL 35 (2006) 102 Eynar Leupold, Ines Carla Schäfer nicht ausschließlich Wissenskonzepte eine Rolle, die sich auf Frankreich beziehen. Die Kinder verfügen über Wissensstrukturen, die aber nicht notwendigerweise auf den Themenbereich Französisch eingegrenzt werden können. Auch andere kulturelle Inhalte spielen bereits eine Rolle und bieten ihrerseits Möglichkeiten zur Verknüpfung mit französischen Themen. Unser Plädoyer geht dahin, einen lernerorientierten Ansatz der Bezugnahme auf Wissensstrukturen nicht auf Französisch und die französische Kultur zu beschränken, sondern Strukturierungsangebote auf dem Weg eines weit gefassten interkulturellen Ansatzes im Unterricht anzubieten. Diese Strukturierung verhilft den Kindern zur Orientierung in einer multikulturellen Gesellschaft und "language awareness" sowie "cultural awareness" werden somit zu sicheren Wegbegleitern im lebenslangen Lernprozess. Für den Bereich der Forschung bietet diese Studie Orientierungen für weitere Arbeiten, die zum Beispiel die Entwicklung der Erweiterung und Systematisierung von Wissensstrukturen über einen längeren Zeitraum und unter dem Einfluss des Sprachunterrichts beschreiben. Auch die Frage nach der Gestaltung von Lehr- und Lernmaterial für den Sprachunterricht mit der Möglichkeit der Einbeziehung individueller Wissensstrukturen deutet im Spannungsfeld von Interkulturellem Lernen und Lernerautonornie auf ein interessantes Forschungsanliegen. Literatur BAUSCH, Karl-Richard/ BURWITZ-MELZER, Eva/ KÖNIGS, Frank G. / KRUMM, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards für den Fremdsprachenunterricht auf dem Prüfstand. Tübingen: Narr. BLEYHL, Werner (Hrsg.) (2000): Fremdsprachen in der Grundschule. Grundlagen und Praxisbeispiele. Hannover: Schroedel. BREUGNOT, Jacqueline (2000): "Fremdsprachen". In: REICH, Hans R / HOLZBRECHER, Alfred/ ROTH, Hans-Joachim (Hrsg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen: Leske & Budrich, 287-310. BYRAM, Michael (1997): "'Cultural awareness' as vocabulary training". In: Language Learning Journal 16, 51-57. 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