Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2006
351
Gnutzmann Küster SchrammMehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive
121
2006
Adelheid Hu
flul3510183
Adelheid Hu * Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive Abstract. This paper focuses on language leaming and its subjective siguificance for an individual's learning biography. The main research questions ofthis study include: How are languages and language learning perceived within the course of an individual's life? Which languages become important during a person's life and why? How do bilingual/ multilingual persons perceive the different languages they use? This study is based on language memoirs and autobiographic texts written by bilingual or multilingual authors (Fran~ois Cheng, Ying Chen, Claude Esteban, Georges-Arthur Goldschmidt, Natasha Lvovich, Yoko Tawada and Alev Tekinay), i.e. persons who show a special sensitivity for linguistic questions. Tue first section provides a short overview about the current situation within the field of biographical research conceming language learning. The second part analyzes the different language memoirs with special reference to linguistic and cultural identity, the process oflanguage learning, the coexistence of different languages and the perception oflanguages. 1. Einleitung Mein Interesse an der Thematik dieses Beitrags Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive ist zweifach begründet: Erstens: Um Interkulturalität als Kernkategorie zweit- und fremdsprachlichen Lernens und Lehrens ist es im Moment ruhig geworden. Zu sehr sind andere Themen in den Vordergrund gerückt: Kompetenz, Leistung, Effektivität, Standardisierung, Aufgabenentwicklung, Messbarkeit diese Aspekte sprachlichen Lernens sind es, die zur Zeit Sektionen bei Kongressen Zulauf bescheren und die weite Teile der Fachdiskussion bestimmen. Zwar stehen auch in den neuen curricularen Verlautbarungen wie dem GER, den KMK-Bildungsstandards für die erste Fremdsprache oder in Kernlehrplänen einzelner Bundesländer Interkulturelle Kompetenzen in Präambeln immer noch an zentraler Stelle (vgl. EUROPARAT 2001: 105 f; SEKRETARIAT DER STÄNDIGEN KONFERENZ DER KULTUSMINISTER 2005: 7; MINISTERIUM FÜR SCHULE, JUGEND UND KINDER NRW 2004: 11), wenn es aber dann um Deskriptoren und Testaufgaben, also um Konkretisierung geht, stehen andere Kompetenzen wie Hörverstehen, Leseverstehen usw. im Mittelpunkt, da sie im Vergleich leichter operationalisierbar und messbar sind. Fragen, die in den 90er Jahren intensiv diskutiert wurden, z.B. inwieweit Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht sich nicht nur auf die so genannte „Ausgangskultur" und die so Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Adelheid Hu, Univ.-Profin, Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Von-Melle-Park 8, 20146 HAMBURG. E-mail: hu@erzwiss.uni-hamburg.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik (Französisch), Mehrsprachigkeitsforschung, Interkulturelle Didaktik FLulL 35 (2006) 184 AdelheidHu genannte „Zielkultur" beziehen sollte, sondern auch auf andere Kulturen, etwa diejenigen, die durch Globalisierung und Migration ohnehin in der Gesellschaft präsent sind, findet man in den aktuellen curricularen Papieren und Standardbeschreibungen nicht mehr diskutiert. Auch die Frage, wie Interkulturelles Lernen sich für diejenigen Kinder und Jugendlichen gestaltet, die selbst bereits intensive interkulturelle und mehrsprachige Erfahrungen gemacht haben, die also per se Interkulturalität und kulturelle Komplexität als biographisches Gepäck mitbringen, hat aktuell in den bildungspolitischen Verlautbarungen kaum Stellenwert. Sprachenlernen als kulturelle Erfahrung und Erweiterung der eigenen Identität, also in seiner Bedeutung für die je individuelle Biographie, wird aktuell wenig beachtet. So sehr wie selten zuvor rücken funktional-kommunikative Aspekte in den Vordergrund. Dies ist mein erster Ansatzpunkt: Ich möchte mich der Frage nähern, wie das Erleben von Sprachen mit dem biographischen Gewordensein von Menschen verknüpft ist, und welche Bedeutungen Menschen ihren Sprachen für ihr Leben und ihre Identität beimessen. Der zweite Grund, mich mit autobiographischen Schriften zwei- oder mehrsprachiger Personen zu befassen, liegt in der Thematik, die ich schon seit mehreren Jahren verfolge: der Frage nach sprachlich-kultureller Identität im Kontext von migrationsbedingter Zweibzw. Mehrsprachigkeit und dem Sprachenlernen in der Schule. Aus einer qualitativempirischen Studie (Hu 2003) zu dieser Thematik möchte ich hier nur holzschnittartig einige der wichtigsten Ergebnisse benennen: • Schulisches Fremdsprachenlernen findet zunehmend mehr auf der Basis von migrationsbedingter/ lebensweltlicher Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität statt. Die Vielfalt der Sprachen nimmt dabei deutlich zu. • Die schulisch orientierte Fremdsprachendidaktik und dementsprechend auch viele Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer tendieren bislang dazu, die außerhalb des Deutschen mitgebrachten Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler zu ignorieren und aus den im Klassenzimmer stattfindenden Lernund-lehrprozessen auszublenden. Die migrationsbedingt erworbenen und eben nicht im deutschen Schulsystem gelernten Sprachen erscheinen das wird an vielen Stellen der Studie deutlich den Lehrkräften für die sprachlichen Lernprozesse irrelevant. • Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler wurde deutlich: Die Verortung der eigenen sprachlich-kulturellen Identität, die durch das Zusammenspiel ganz unterschiedlicher kultureller Einflüsse und sprachlicher Erfahrungen gekennzeichnet ist, hat einen zentralen Stellenwert. Interkulturalität und Mehrsprachigkeit sind alltägliche Erfahrungen. Die emotionale Beziehung zu den verschiedenen Sprachen, mit denen die Jugendlichen in Berührung kommen, spielt eine herausragende Rolle. Die mehrsprachigen und genuin interkulturellen Anteile der Identitäten werden im schulischen Fremdsprachenunterricht hingegen so weit wie möglich ausgeblendet: Hier passen sich die Jugendlichen in vielen Fällen den Anforderungen der fremdsprachlichen Lehrkräfte an, die allein Deutsch als Referenzsprache zulassen. • Forschungen, die sich mit Lernprozessen im Kontext von typologisch nicht verwandten Sprachen befassen, also gerade auch Sprachen mit unterschiedlichen lFLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 185 Schriftsystemen, existieren bislang kaum. Das führt dazu, dass oftmals schlichte, wissenschaftlich nicht begründete Alltagstheorien und Mythen, etwa über die Schwierigkeit von Sprachen oder sprachliche Fremdheit, zu Buche schlagen. Hat sich in Bezug auf diese Aspekte in der jüngsten Zeit etwas bewegt? Abgesehen von einigen Forschungsbzw. Qualifikationsarbeiten rückt aktuell die Frage der Mehrsprachigkeit, und zwar explizit auch im Sinne der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit, eher in den Hintergrund. Zur Zeit scheinen einfache Lösungen näher zu liegen. Es geht zunehmend lediglich um die Frage, wie Schüler/ innen mit Migrationshintergrund möglichst schnell Deutsch lernen, um in Regelklassen aufgenommen zu werden (vgl. auch die Debatte um „Deutsch auf dem Schulhof', z.B. in der FAZ vom 29.1.06: 1). Diese Entwicklungen, die Fragen der sprachlich-kulturellen Identität unberücksichtigt lassen, sind umso erstaunlicher, als gleichzeitig auf anderen Ebenen kultur- und sprachbedingte Probleme in besonderer Deutlichkeit zutage treten. So wird z.B. in der PISA-Ergänzungsstudie (PISA KONSORTIUM DEUTSCHLAND 2003) und anderen Evaluationen des deutschen Schulsystems (aktuell etwa auch in der Evaluation des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskommission für Bildung, Vernor Mufios Villalobos, vgl. SCHULTZ 2006 in der Süddeutschen Zeitung vom 22.2.06) immer deutlicher die Benachteiligung von Schüler/ innen nicht nur aus den so genannten „bildungsfemen" Schichten, sondern gerade auch von Kindern mit Migrationshintergrund festgestellt. Integration bleibt im übrigen auf allen Ebenen ein Thema mit viel politischem Zündstoff (vgl. für einen aktuellen Beitrag etwa KIYAK 2006: 43 f). Es stellt sich die Frage, wieso es zu diesem Trend der „einfachen Lösungen", gerade auch in der Schulsprachenpolitik, kommt. Es mangelt nämlich, und dies soll auch Thema dieses Beitrags sein, nicht an fehlenden Denkansätzen, theoretischen Modellen, empirischen Studien und Neukonzeptualisierungen von Kernkategorien sprachlichen Lernens unter den Bedingungen von Pluralität. Gerade im Kontext kulturwissenschaftlicher Ansätze zur Beschreibung und Konzeptualisierung sprachlich-kulturellen Lernens (vgl. für einen Überblick Hu 2004) sind differenzierte und innovative Modelle entwickelt worden (vgl. z.B. ALTMAYER 2004; BREDELLA 2002; HALLET 2002; Hu 2003; SCHU- MANN 2000; SCHWERDTFEGER 2000; VOLKMANN [et al.] 2002). Auch zum Thema Sprachenlernen und Identität liegen zahlreiche Forschungen vor (z.B. KRA.MSCH 2003; NORTON 1997; PAVLENKOILANTOLF 2000), ebenso wie zum Thema „Migration und Sprache bzw. Mehrsprachigkeit" (z.B. CHAMBERS 1996). All diese Ansätze haben jedoch eines gemeinsam: sie bieten keine einfachen Lösungen, sie betonen oftmals die Individualität und Einzigartigkeit, ebenso auch die Kontextgebundenheit von Lernprozessen; die Unterrichtsvorschläge, die entwickelt werden, sind eher anspruchsvoll, erfordern Lese- und Denkbereitschaft, die Darstellung der didaktischen Ansätze ist theoriegeleitet und verlangt etwa von den Lehramtsstudierenden oder Lehrer/ innen ein hohes Maß an linguistisch-erkenntnistheoretisch-kulturwissenschaftlichem Verständnis. Dies entspricht offensichtlich nicht dem aktuellen politischen Bedarf nach schnell wirksamen Lösungen, die Deutschland bei den zukünftigen PISA-Studien wieder „nach vom bringen" sollen. Es entspricht auch nicht den Vorstellungen der ebenfalls kompetenzorientier- JFLuL 35 (2006) 186 AdelheidHu ten Lehrerausbildung, wo in BA-MA-Studiengängen schnell und effektiv Wissen und Know-how für den Einsatz in der Berufspraxis erworben werden soll. Und schließlich passt auch eine Hinwendung zu Fragen der sprachlich-kulturellen Identität wenig zu der aktuellen ökonomischen Orientierung des Bildungssystems überhaupt (vgl. LIESNERI SANDERS 2005). Als Wissenschaftlerin kann ich jedoch nur den langsamen Weg gehen und hoffen, dass trotz des politischen Handlungsdrucks die eine oder andere durch wissenschaftliche Forschung gewonnene Einsicht auch in die Bildungspolitik gelangt. Zurück zum Thema Mehrsprachigkeit: Die Fragen, die mich in diesem Zusammenhang bewegen, richten sich auf die Bedeutung der zuerst erworbenen Sprachen im Laufe einer zwei- oder mehrsprachigen Biographie. Genauer: Von welcher Bedeutung ist die Erstsprache für den weiteren Spracherwerb und weiteres Sprachenlernen im Laufe des Lebens? Kann man sie mit Berechtigung für schulisch angeleitetes Sprachenlernen unberücksichtigt lassen? In welchem Verhältnis stehen Erstsprachen, Zweitsprachen und weiterhin gelernte Sprachen in der subjektiven Perspektive mehrsprachiger Personen? Welche Rollen spielen die Sprachen für die Identität der Betroffenen? Und schließlich: Lassen sich erste Aussagen über Sprachwahrnehmung gerade auch im Kontext distanter Sprachen treffen? Um mich diesen Fragen zu nähern, erscheinen mir sprachbiographische Forschungszugänge besonders gewinnbringend zu sein. Ich gebe im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über diese Art der Forschung und stelle dann im Hinblick auf die Aspekte sprachlich-kulturelle Identität, Sprachenlernen, Zusammenspiel der Sprachen und Sprachwahrnehmung exemplarisch einige Textauszüge hier ausgewählt aus literarischen Sprachbiographien vor. Ich verlasse also, das ist mir durchaus bewusst, zunächst den Kontext des schulischen Sprachenlernens und nehme eine weitere Perspektive ein. Ich verspreche mir jedoch davon, aus einer solchen weiteren Perspektive wiederum Einsichten zu gewinnen, die für das Verständnis schulischen Sprachenlernens, gerade in einem größeren interkulturellen Zusammenhang, fruchtbar sein können. 2. Zur Forschung über Sprachbiographien Sprachbiographieforschung im Kontext von Fremdsprachendidaktik, Sprachlehr- und -lernforschung sowie Zweitsprachenerwerbsforschung ist bislang noch eher ein Randgebiet. Dennoch ist seit einigen Jahren ein zunehmendes Interesse an dieser Thematik zu beobachten. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit skizziere ich im Folgenden drei unterschiedliche Zugänge innerhalb dieser Forschungsrichtung. 2.1 Forschungen zu Sprachbiographien auf der Basis narrativer Interviews mit mehrsprachigen Erwachsenen Insbesondere in der Schweiz wird seit einigen Jahren auf diesem Gebiet intensiv geforscht. Mehrere Sammelbände (ADAMZIKIROOS 2002; FRANCESCIIlNI 2001; FRANCES- CHINIIMIECZNIKOWSKI 2004; FÜNFSCHILLING 1998) sind dort erschienen (vgl. aber auch FLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 187 APITSCH 1998; OHM 2000; THUM/ KELLER 1998). Kennzeichnend für diese Forschungsgruppen ist die Betrachtung von Sprachbiographien aus der Perspektive der Zweitsprachenerwerbsforschung: Durch einen sprecherzentrierten Blickwinkel erhofft man sich insbesondere Einsichten in Spracherwerbsverläufe. Forschungsfragen hier sind etwa folgende (vgl. dazu FRANCESCHINI 2002: 26): Welches sind die retrospektiven Vorstellungen von erfolgreichen Lernern in Bezug auf ihren eigenen Erwerbsprozess? Mit welcher Art von Kontaktpersonen hat sich der Spracherwerbsprozess abgespielt? Welche Strategien aus der sprachlichen Erstsozialisation konnten beim Erwerb der Zweitsprache/ Drittsprache eingesetzt werden? Methodisch gesehen werden die erhobenen Narrationen als Interpretationen der eigenen Sprachentwicklung aufgefasst, gewissermaßen als Alltagstheorien, die mit Hilfe einer interpretativen Methodologie analysiert werden. Im Allgemeinen geschieht dies zunächst durch Betrachtung der Erzählungen als Einzelfallschilderungen. In einem zweiten Schritt werden jedoch aus einem größeren Datenkorpus Erzählungen miteinander verglichen, so dass auch überindividuelle Erzählmuster hervortreten. Figuren sprachbiographischen Erzählens, typische Verläufe von Erwerbsprozessen werden somit erkennbar. Auch die Art und Weise, wie individuelles Erleben mit sozialen, kulturellen und lebensgeschichtlichen Kontexten verknüpft wird, wird deutlich. Erste Generalisierungen aus dem Datenkorpus zeigen folgende wiederkehrende Strukturelemente auf (FRANCESCHINI 2004: 132 ff): eine holistische Betrachtungsweise, eine starke persönliche Involviertheit, die große Bedeutung der Tiefe des emotionalen impact, sei er negativ oder positiv, die Einzigartigkeit jeder Sprachbiographie, vor allem aber die überaus starke emotionale Gewichtung der Sprachen und der Sprachlernerfahrungen. Hervorzuheben ist, dass sich das Thema Emotion und Spracherwerb/ Sprachenlernen in diesen Forschungen zu einem der zentralsten Aspekte überhaupt herausschält (vgl. auch PA VLENKO 2002). 2.2 Forschungen zu publizierten Sprachenbiographien zwei- oder mehrsprachiger Schriftsteller/ innen Vermutlich ist es die Tatsache, dass durch Postkolonialismus, Migration und Globalisierung die Zahl zwei- oder mehrsprachiger Schriftsteller/ innen in den letzten Jahrzehnten deutlich ansteigt, die für verstärkte Aufmerksamkeit für die Textsorte der literarischen Sprachenautobiographie auch in den mit Sprachenlernen und -lehren befassten Disziplinen gesorgt hat (vgl. KELLMAN 2003a). In den USA hat sich insbesondere Aneta Pavlenko aus der Perspektive der Applied Lingustics mit "cross cultural autobiographies" oder, wie es im anglo-amerikanischen Raum auch häufig heißt, "literary translingualism" (PAVLENKO 2001: 327) beschäftigt. Den Grund dafür, sich gerade mit publizierten Texten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, also einer relativ außergewöhnlichen Minderheit, zu befassen, sieht sie in deren besonderer Sensibilität für Sprache bzw. Sprachen und deren Erwerb. PAVLENKO untersucht in ihren Forschungen (2001, 2001a) einen Korpus von 16 Sprachlernbiographien ("language learning memoirs") sowie 7 sprachbiographischen Essays zeitgenössischer Autorinnen und Autoren, die sich für Englisch als Literatursprache entschieden haben, obwohl es nicht ihre Erstsprache ist. lFLuL 35 (2006) 188 AdelheidHu Pavlenkos Interesse richtet sich bei der Analyse der Texte insbesondere auf die Frage, wie die Autor(inn)en in den Texten ihre Identität im Zusammenhang mit ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität inszenieren. Dabei stehen sprachliche, ethnische, kulturelle, soziale sowie geschlechtsspezifische Aspekte im Vordergrund. Ähnlich wie bei FRANCESCHINI geht es auch PA VLENKO darum, durch den Vergleich einer relativ großen Zahl von Texten rhetorische Formen herauszukristallisieren, die für diese Textsorte charakteristisch sind. Außerdem ist es ihr Anliegen, die Forschungen zum Sprachenlemen und Zweitspracherwerb durch diese subjektiven Selbstzeugnisse zu bereichern. Auch für den frankophonen Raum gibt es Ansätze einer solchen Forschung: So untersucht Anne-Rosine DELBART (2002) kulturelle, literarische und psychologische Motive für die Sprachwahl bilingualer frankophoner Autoren. Ich selbst habe mich in Hu (2005) mit Sprachbiographien chinesisch-frankophoner Autor(inn)en im Hinblick auf sprachlich-kulturelle Identität, Mehrsprachigkeit und literarisches Schreiben beschäftigt (vgl. auch GAUVIN 1997; KROH 2000). Um einen besonders differenzierten und meines Erachtens wichtigen Beitrag im Kontext literarischer Sprachbiographien handelt es sich bei der Studie von Simone HEIN- KHATIB: Sprachlichkeit und Biographie. Eine Untersuchung sprachbiographischer Selbstbeschreibungen der mehrsprachigen Schriftsteller Peter Weiss und Georges-Arthur Goldschmidt (im Druck). Die Verfasserin widmet sich hier dem Thema „Mehrsprachigkeit", und zwar mit dem Ziel, das Verhältnis von Menschen zu ihren Sprachen besser zu verstehen. Sie ist dabei weniger an funktional-kommunikativen Faktoren interessiert, ebenso wenig an sozial-symbolischen Gesichtspunkten ihr geht es in erster Linie hingegen um die Frage, wie das Erleben von Sprachen mit dem biographischen Gewordensein eines Menschen verknüpft ist, und welche spezifischen Funktionen und Bedeutungen mehrsprachige Menschen ihren Sprachen in ihren individuellen Biographien beimessen (HEIN-KHATIB, im Druck: 11). Hein-Khatib ist also an der Dimension des Selbstausdrucks als Bestandteil menschlicher Sprachlichkeit interessiert. Als konkrete Fälle wählt sie die Sprachbiographien von Peter Weiss und Georges-Arthur Goldschmidt, wobei die Gründe für die Entscheidung vor allem in der relativ ähnlichen Biographie, gleichzeitig aber auch in der besonders intensiven Bearbeitung sprachlicher Fragen bei den beiden Autoren und schließlich dem sehr unterschiedlichen Umgang mit Migration und Mehrsprachigkeit liegen. HEIN-KHATIB arbeitet forschungsmethodisch mit der Methode der biographischen Fallrekonstruktion von Gabriele ROSENTHAL. Ihr Ansatz, der zum einen gestalttheoretisch begründet ist, zum anderen aber auch psychoanalytische Aspekte miteinbezieht, scheint der Verfasserin in besonderer Weise geeignet, der Frage näher zu kommen, wie Sprachlichkeit in ihrer Bedeutung für ein Individuum erforscht werden kann, und wie gerade die Verknüpfung von biographischem Erleben im Allgemeinen und dem Aspekt der Sprachlichkeit im Besonderen angemessen rekonstruiert werden kann. In diesem Sinne rekonstruiert sie dann die beiden Sprachbiographien in verschiedenen Analyseschritten mit dem Ziel, die jeweilige Eigenstrukturiertheit des Falles in einem möglichst hohem Maße freizulegen (71 ). Die sehr differenzierten und bis in die Tiefenstrukturen der Fälle vordringenden Analysen werden schließlich ergänzt um FLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 189 eine vergleichende Darstellung der beiden Einzelfälle, die es erlaubt, Strukturen und Deutungsmuster von Biographie und Sprachlichkeit kontrastiv zu erfassen. Wenn HEIN- KHATIB kritisiert, dass in fremdsprachendidaktischen oder sprachpolitischen Zusammenhängen Sprachbiographien wenn überhaupt dazu herangezogen werden, um bestimmte Argumentationen zu stützen, so zeigt sie hier in eindrucksvoller Weise die Eigenstrukturiertheit von zwei spezifischen Sprachbiographien auf. Diese Studie macht in besonderer Weise deutlich, wie verkürzt und oberflächlich zum Teil Darstellungen sprachlicher Lernprozesse in pragmatisch orientierten Kontexten sind. 2.3 Sprachbiographien und institutionelles Sprachenlernen Schließlich sei noch auf Ansätze verwiesen, die sich mit dem Potential von Sprachbiographien im schulischen oder universitären Kontext beschäftigen. Christiane PERREGAUX (2002) geht es in ihrem Beitrag« (Auto)biographies langagieres en formation et a l' ecole: Pour une autre comprehension du rapport aux langues » darum, die mehrsprachigen Biographien der Schüler/ innen bzw. der Studierenden im Kontext von Sprachenunterricht sowohl in der Schule als auch an der Universität zu erheben, um Mehrsprachigkeit sichtbar zu machen und zur Reflexion über Sprachlernprozesse anzuregen. Claudine BROHY (2002) berichtet über die Integration der Sprachenbiographien der Lernenden in universitäre Sprachkurse. Auch hier geht es um Reflexion von Sprachlernstrategien, den Aufbau metakognitiven Wissens sowie Sprachenbewusstheit bzw. Sprachlembewusstheit. KRUMM (2002) verweist auf das Potential von Sprachenportraits in der Grundschule, die es erlauben, Sprachbiographien der Kinder zu enthüllen (zum Thema Reflexion über Sprache und Sprachenlernen im Grundschulbereich vgl. auch die ausführliche empirische Studie bei Korn, im Druck). 3. Sprachlich-kulturelle Identität, Sprachenlernen, Zusammenspiel der Sprachen und Sprachwahrnehmung in autobiographischen Texten zweibzw. mehrsprachiger Autor/ innen Die Texte, auf die ich mich im Folgenden beziehe, stammen von Autorinnen und Autoren, die die Sprache, in der sie vorwiegend publizieren (in den meisten Fällen Französisch, zum Teil auch Deutsch und Englisch) erst zu einem relativ späten Zeitpunkt (in den meisten Fällen als junge Erwachsene) gelernt bzw. erworben haben. Bei der Recherche nach relevanten Texten haben mich vor allem drei Kriterien geleitet: erstens interessieren mich insbesondere solche Texte, in denen das Zusammenspiel von kulturell und linguistisch distanten Sprachen (Chinesisch-Französisch, Japanisch-Deutsch) thematisiert wird. Mehrsprachigkeit im Kontext solcher Sprachkombinationen ist kaum erforscht und verdient von daher besondere Aufmerksamkeit. Ein zweites Kriterium ist die Intensität und Differenziertheit, mit der in den Texten Fragen des Spracherwerbs, der Sprachwahrnehmung bzw. der Identität in mehrsprachigen/ mehrkulturellen Zusammenhängen verhandelt wird. Schließlich ist zu erwähnen, dass ich verstärkt Texte aus dem frankolFLuL 35 (2006) 190 AdelheidHu phonen Kontext rezipiert habe in großer Zahl vorhandene interessante Fälle aus dem anglophonen oder hispanophonen Bereich habe ich nicht systematisch miteinbezogen (vgl. aber dazu BAMMER 1994; KELLMAN 2003b). Kurz zu den Autorinnen und Autoren, aus deren Texten ich hier Ausschnitte vorstelle: Franc; ois Cheng ist chinesischer Herkunft, lebt aber seit mehr als 50 Jahren in Frankreich, wo er vor allem als Schriftsteller (fast ausschließlich in französischer Sprache) tätig und anerkannt ist. Für unsere Thematik ist insbesondere der TextLe Dialogue. Une passion pour la langue franc; aise (CHENG 2002) interessant, in dem er die Entwicklung seiner sprachlich-kulturellen Identität detailliert schildert. Ebenfalls aus China stammt die Autorin Ying Chen, die wesentlich jünger als Cheng als Studentin ins französischsprachige Kanada emigriert ist und dort seit 1981 lebt. Ich beziehe mich hier auf Texte aus dem Band Quatre mille marches. Un reve chinois (CHEN 2004), in dem sie ihre Sprachlerngeschichte sowie insbesondere Aspekte interkultureller Identität erörtert. Natasha Lvovich ist jüdisch-russischer Herkunft und beschreibt in ihrer Sprachbiographie The multilingual Seif (L VOVICH 1997) zunächst ihren Lernprozess der französischen Sprache (in Moskau) sowie dann begründet durch Emigration in die USAder englischen Sprache. Für Alev Tekinay sind Türkisch und Deutsch die wichtigsten Bezugsprachen, jedoch ist der Text, auf den ich mich hier beziehe, In drei Sprachen leben (TEKINAY 1997) insofern besonders für Fragen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität interessant, als sie hier die Rolle des Englischen als dritter Sprache reflektiert. Die Erstsprache für Georges-Arthur Goldschmidt war Deutsch, jedoch wurde, bedingt durch seine Flucht vor den Nationalsozialisten bzw. das anschließende Exil in Frankreich, Französisch über lange Jahre zu seiner Haupt- und Literatursprache. In Ein Stuhl mit zwei Lehnen une chaise a deux dossiers ( GOLDSCHMIDT 1991 ), ebenso aber auch in seiner Autobiographie Über die Flüsse (GOLDSCHMIDT 2001) schildert er aus der Retrospektive die Entwicklung seines Verhältnisses zu den beiden Sprachen. Yoko Tawada stammt aus Japan und lebt seit 1982 in Hamburg, wo sie vorwiegend in deutscher Sprache publiziert. Charakteristisch für eine Vielzahl ihrer Texte ist die zentrale Bedeutung der Reflexion über Struktur und kulturelle Semantik der deutschen und der japanischen Sprache. Hier beziehe ich mich auf ihr Buch Überseezungen aus dem Jahre 2002 (TA WA- DA 2002). Claude Esteban schließlich, ein in Paris lehrender und publizierender Wissenschaftler und Autor, stellt insofern einen Sonderfall dar, als er in Paris geboren wurde und somit neben seiner Familiensprache Spanisch gleichzeitig die französische Sprache erwarb. Hier beziehe ich mich auf sein Buch Le partage des mots (ESTEBAN 1990), in dem er seine Zweisprachigkeit in autobiographischer Perspektive reflektiert. Forschungsmethodisch ist festzustellen, dass es sich bei den hier ausgewählten Texten um retrospektive Narrationen handelt, die subjektiv Erlebtes in Zusammenhänge einbinden, Erinnerung in Erzählung überführen und das sprachliche Selbst inszenieren (FOLKENFLIK 1993; LEMKE 2002; NELSON 2003). Autobiographische Erinnerung, wie z.B. Harald Welzer in Das kommunikative Gedächtnis (WELZER 2002) aufzeigt, unterliegt einem ständigen Reinterpretationsprozess. Anhänger von objektivistischeren Forschungszugängen könnten von daher fragen, ob diese subjektive ästhetisierte und inszenierte Erinnerung überhaupt den Tatsachen, also den tatsächlichen Lernprozessen FLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 191 etwa, entspricht. Man kann dem entgegenhalten, dass das, was hier interessiert, aber nun gerade die Frage nach der Subjektivität ist. So wird explizit danach gefragt, welches Konzept von Sprache etwa zugrunde gelegt wird, ob bzw. welche sprachlich-kulturellen Differenzen aufgebaut werden und wie sprachliche Normalität und Besonderheit inszeniert werden. Eine systematische Analyse dieser Texte forschungsmethodisch gesehen muss also von einer diskursanalytisch-interpretativen Basis ausgehen. Als ein erste Annäherung an eine solche Forschung stelle ich im Folgenden zunächst einmal eine Reihe ausgewählter Textstellen vor, ohne jedoch die Einzelfälle im Detail und Zusammenhang zu analysieren. 3.1 Sprachliche und kulturelle Identität Dieses Thema stellt in den Sprachbiographien keinen ablösbaren Einzelaspekt dar, sondern durchzieht sie als ein ständig wiederkehrendes starkes Leitmotiv. Das zugrunde gelegte Sprachkonzept ist immer personenbezogen. Sprache bzw. Mehrsprachigkeit werden als wichtiger, ja, als einer der wichtigsten Aspekte der eigenen Identität gesehen, niemals nur als eine Form von Wissen oder von Kompetenz. Dennoch ist die Art und Weise, wie das Verhältnis von Identität und Mehrsprachigkeit/ Mehrkulturalität beschrieben wird, durchaus unterschiedlich. Zunächst eine Textstelle von CHENG, der insbesondere die Mehrdimensionalität und Mehrperspektivität als Charakteristikum seiner Identität betont, gleichzeitig aber auch die harmonische Vermischung der unterschiedlichen Einflüsse: "Habite a present par J'autre Jangue, sans que cesse en Jui Je diaJogue interne, J'homme aux eaux souterrainement meJees vit J'etat priviJegie d'etre constamment soi et autre que soi, ou aJors en avant de soi. A Ja rencontre des choses, il eprouve Ja sensation de jouir d'une approchex « stereophonique » ou « stereoscopique » ; sa perspective ne saurait etre que muJtidimensionnelle" (CHENG 2002: 79 t). 1 Zahlreiche Metaphern fallen hier ins Auge: "Von der Sprache bewohnt", "interner Dialog", "unterirdisch zusammenfließende Wasser". Dieser durch Zweisprachigkeit bedingte Zustand wird als ein privilegierter beschrieben; die Wahrnehmung wird als mehrperspektivisch, als multidimensional charakterisiert. Auch in der Darstellung von LVOVICH steht die sprachlich-kulturelle Identität im Zentrum ihres Sprachlernprozesses. Sie beschreibt hingegen insbesondere den Identitätswechsel, den ihr das Erlernen der französischen Sprache im Moskau der früheren Sowjetunion ermöglichte: „Gegenwärtig bewohnt von der anderen Sprache, ohne dass in ihm der interne Dialog aufhört, lebt der Mensch mit den unterirdisch ineinander fließenden Wassern den privilegierten Zustand ständig er selbst, aber auch ein anderer als er selbst zu sein, oder aber auch vor sich selbst zu sein. Bei der Wahrnehmung der Dinge, empfindet er ein Gefühl einen stereophonen oder stereoskopen Zugang zu haben, seine Perspektive kann nur multidimensional sein" (CHENG 2002: 79 f; Übersetzung A. H.). lFLulL 35 (2006) 192 AdelheidHu "The French reality was a French fantasy a-la-Russe, in the country where xenophobia and 'xenophilia' were strangely interwoven. By using its language I could penetrate into its depth, step onto its land, and become part of it. A French personality, after all, was much less confusing and safer than being a Jew in Soviet Russia. lt was a beautiful Me, the Me that I liked: I spoke French without an accent. I assumed my French seif' (LVOVICH 1997: 8 f). 2 Man erkennt hier, dass das Erlernen der französischen Sprache und die Kommunikation in der französischen Sprache für Lvovich ein Moment der Identitätsänderung beinhaltet. Sie entwickelt durch ihr Studium der französischen Sprache ein Bild von Frankreich, aber vor allem auch von sich selbst, das deutlich eskapistische Züge trägt. Sie nimmt eine französische Identität an, die sogar im Verhältnis zu ihrer jüdisch-russischen Identität zumindest zeitweise dominant wird. Hier deutet sich schon ein Aspekt an, den man in vielen mehrsprachigen Autobiographien findet: die Empfindung, durch eine zweite oder dritte Sprache von kulturell-sprachlichen Zwängen oder Konflikten befreit zu werden. So schreibt etwa TEKINA Y anlässlich einer Reise zu einer Tagung in England: „Die dritte Sprache beginnt bereits im Flugzeug. Es ist ein sauberes britisches Englisch, das zumindest passiv zu verstehen wirklich nicht schwer ist. Die ersten Erfolgserlebnisse. (...) Es ist eine neue Welt, die entdeckt und entziffert werden muss. Jeder Gegenstand, jedes Gefühl muss neu benannt werden. Zwar liegt das Schulenglisch so weit zurück, aber es wird wieder lebendig, wenn man sich in diesem Sprachraum bewegt. (...) Ein herrliches Gefühl. Man verwandelt sich, viehnehr vervielfältigt man sich. Durch zwei Sprachen war ich zwei verschiedene Menschen, hatte ein türkisches und ein deutsches Ich, die sich ständig stritten und nie in Einklang bringen ließen. Die dritte Sprache, die neutral ist, ist wie ein unbeschriebenes Blatt und hat eine versöhnende Funktion. Durch sie kehrt Friede ein. Es ist mein drittes Ich. Es ist wie ein neuer Lebensabschnitt" (TEKINAY 1997: 29 f). Tekinay betont in ihrer Darstellung, dass dank des Englischen die Konflikte zwischen der deutschen und türkischen Sprache ihre Bedeutung und Heftigkeit verlieren. Die dritte Sprache hat für sie eine depolarisierende und damit entspannende Funktion. Sehr deutlich wird aber auch hier wieder, wie das Erlernen einer Sprache als Änderung der eigenen Identität erlebt wird. Bei Georges-Arthur Goldschmidt schließlich wird mit der zweiten Sprache noch eine wesentlich radikalere Form von Befreiung verbunden: Deutsch-jüdischer Herkunft und gezwungen, wegen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten im französischen Exil zu leben, erfährt er die französische Sprache lebenslang als befreiend geradezu im physisch-existentiellen Sinn: „Das Französische bleibt für mich eine Sprache des Schutzes, eine Sprache der Hoffuung, der Befreiung im geschichtlichen wie biographischen Sinn. Am 5. September 1944 habe ich in 2 „Die französische Realität war ein Bild von Frankreich ,a la Russe', in dem Land, in dem Fremdenangst und Fremdenfreundlichkeit auf seltsame Weise verwoben waren. Indem ich die französische Sprache gebrauchte, konnte ich in die Tiefe Frankreichs eintauchen, auf seinem Boden wandern und Teil von ihm werden. Eine französische Identität war weniger verwirrend und sicherer als Jüdin in Sowjetrussland zu sein. Es entstand ein wundervolles Ich, ein Ich, das ich liebte: Ich sprach Französisch ohne einen Akzent. Ich akzeptierte mein französisches Ich" (LVOVICH 1997: 27; Übersetzung A. H.). lFLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 193 meinem Dorf mitten in den Alpen ein für alle mal die Angst verloren, und die Atmung wurde weiter durch die französische Sprache" (GOLDSCHMIDT 1991: 89). 3.2 Sprachen lernen Es erstaunt nicht, dass durch die enge Verknüpfung von Sprachen und Identität der Prozess des Sprachenlernens einen hohen und biographisch bedeutsamen Stellenwert erhält. Der Sprachlernprozess wird keineswegs nur als kognitiver Prozess beschrieben noch als eine Art von Gedächtnisleistung, sondern als ein Akt, der die gesamte Person mit ihrer Körperlichkeit, mit ihren Gefühlen, ihrer Fantasie, ihrer Wahrnehmung und eben ihrer Identität miteinschließt. So heißt es bei CHENG: "Comment s'etonner des lors que l'apprentissage d'une langue ne soit un processus essentiel et complexe? Plus qu'une affaire de memoire, on doit mobiliser son corps, son esprit, toute sa capacite de comprehension et d'imagination, puisqu'on apprend non un ensemble de mots et de regles, mais une maniere de sentir, de percevoir, de raisonner, de deraisonner, de jurer, de prier et, finalement d'etre. (... ) Vraiment apprendre, c'est-a-dire s'investir tout entier dans cette langue, y inscrire les chiffres de son destin au point d' en faire un instrument de survie, ou de creation, cela releve d'un defi insense" (CHENG 2002: 10 f). 3 Bei YING CHEN, der sino-kanadischen Schriftstellerin, wird Sprachenlernen ebenfalls ähnlich wie bei Cheng als ein existentiell bedeutsamer Prozess betont, da die eigene Existenz nur als eine sprachlich bedingte gesehen werden kann. Sie betont aber darüber hinaus Sprachenlernen als einen lebenslangen Prozess, der sie ähnlich wie im Laufe einer Reise von Sprache zu Sprache führt und ihr ermöglicht, mehr von der Welt zu verstehen: "Je suis donc toujours sur mon chemin, en apprenant les langues de mon etoile pour m'approcher un peu d'elle. On existe, n'est-ce pas, dans 1a langue et par la langue. De meme, en voyage, on se promene d 'une langue a l' autre, a tel point qu' on oublie presque la sienne. J' emprunte les langues, sachant bien qu' elles ne sont pas les miennes et qu' elles me seront retirees a la moindre inattention de ma part. J'observe froidement le temps des verbes et le genre des choses. Je suis une etemelle etudiante en langues" (Chen 2004: 32). 4 "Wieso sollte man erstaunen, dass das Lernen einer Sprache ein essentieller und komplexer Prozess ist? Mehr als eine bloße Angelegenheit des Gedächtnisses, geht es darum, seinen Körper zu mobilisieren, seinen Geist, seine gesamten Fähigkeiten des Verstehens und der Imagination, denn man lernt nicht nur ein Zusammenspiel von Wörtern und Regeln, sondern eine Art und Weise zu fühlen, wahrzunehmen, nachzudenken, zu fluchen, zu beten und schließlich zu sein.( ... ) Eine Sprache wirklich lernen, das heißt, sich ganz und gar in diese Sprache hineinzubegeben, die Chiffren seines Schicksals in sie hineinzuschreiben, um so aus ihr ein Instrument des Überlebens oder aber des Schaffens zu machen, dies ist eine unglaubliche Herausforderung" (CHENG 2002: 10 f; Übersetzung A. H.). 4 „Ich bin also immer auf meinem Weg, ich lerne die Sprache meines Planeten, um mich ihm ein wenig zu nähern. Man existiert, ist es nicht wahr, in der Sprache und durch die Sprache. Man ist unterwegs, man spaziert von einer Sprache zur anderen, bis zu einem Grad, dass man fast die eigene vergisst. Ich leihe die Sprachen, wohl wissend, dass sie nicht mir gehören, und dass sie sich mir wieder entziehen, wenn ich sie vernachlässige. Ich beobachte kühl die Zeiten der Verben und das Genus der Dinge. Ich bin eine ewige Sprachenlernerin" (CHEN 2004: 32; Übersetzung A. H.). FLuL 35 (2006) 194 AdelheidHu 3.3 Zum Zusammenspiel der Sprachen Ein zentraler Aspekt in vielen Texten ist die Reflexion darüber, in welchem Verhältnis die Sprachen, in denen die Personen leben, zueinander stehen. Besonders bedeutsam ist dabei die Frage, welche Rolle die Erstsprache angesichts der Tatsache spielt, dass in den aktuellen Lebenszusammenhängen die Zweitbzw. Umgebungssprache die eigentlich dominierende Rolle spielt nicht zuletzt haben sich ja die meisten Autoren auch dazu entschieden, in dieser Sprache zu schreiben. Cheng betont in seinem Buch durchgängig die linguistische und kulturelle Distanz zwischen der chinesischen und der französischen Sprache und auch die Konflikte, die er phasenweise durchlebte, als nicht klar war, welche Sprache letztlich seine Publikationssprache sein würde. Nach der Entscheidung für die französische Sprache ist jedoch die chinesische Sprache für ihn nach wie vor von großer Bedeutung er beschreibt die Rolle der chinesischen Sprache für ihn selbst und auch seine schriftstellerische Produktivität an vielen Stellen des Buchs mit zahlreichen Metaphern und Bildern: "Le destin a voulu qu'a partir d'un certain moment de ma vie, je sois devenu porteur de deux langues, chinoise et fran9aise. ( ... ) Deux langues de nature si differentes qu' elles creusent entre elles le plus grand ecart qu'on puisse imaginer. C'est-a-dire, que durant au moins deux decennies apres mon arrivee en France, ma vie a ete marquee par un drame passionnel fait avant tout de contradictions et de dechirements. Ceux-ci, toutefois, se sont transmues peu a peu en une quete non moins passionnelle lorsque j 'ai opte finalement pour une des deux langues, l' adoptant comme outil de creation, sans que pour autant l'autre, celle dite matemelle, soit effacee purement et simplement. Mise en sourdine pour ainsi dire, cette demiere s' est transmuee, eile, en une interlocatrice fidele mais discrete, d' autant plus efficace que ses murmures, alimentant mon inconscient, me foumissaient sans cesse des images a metamorphoser, des nostalgies a combler" (CHENG 2002: 7 f).s Cheng beschreibt. hier das Chinesische in seiner bilingualen Existenz als zwar „gedämpft", nichtsdestoweniger aber als ständig präsent. Die chinesische Sprache sei ihm eine Art „Gesprächspartnerin", die konstant sein Unterbewusstes nährt. An anderer Stelle spricht er von der chinesischen Sprache als einer "vieille nourrice fidele" (CHENG 2002: 79) (einer alten treuen Amme), die ständig gegenwärtig ist und Unterstützung bietet. Auch bei GOLDSCHMIDT ist das Zusammenspiel seiner Sprachen ein wichtiger, viel beschriebener Aspekt. Obwohl er jahrelang ausschließlich in französischer Sprache publizierte und erst im fortgeschrittenen Alter wieder in der Lage war, auch auf Deutsch „Das Schicksal hat gewollt, dass ich von einem Punkt meines Lebens an zwei Sprachen in mir trage, die chinesische und die französische.(...) Zwei Sprachen von so unterschiedlicher Natur, dass sich zwischen ihnen eine riesige Distanz auftut. Dies hat dazu geführt, dass mindestens während zweier Jahrzehnte nach meiner Ankunft in Frankreich mein Leben durch Widersprüchlichkeiten und Zerrissenheit geprägt war. Diese haben sich in eine nicht weniger spannende Suche gewandelt, als ich mich schließlich für eine der beiden Sprachen entschied, indem ich sie als Werkzeug meines literarischen Schaffens adoptierte, ohne dass die andere, die, die man gemeinhin Muttersprache nennt, einfach beiseite gewischt worden wäre. Sozusagen gedämpft, hat diese letztere sich in eine treue, aber diskrete Gesprächspartnerin verwandelt, und zwar umso wirkungsvoller, als ihr Murmeln, das mein Unterbewusstsein nährt, mir ständig Bilder und Erinnerungen liefert, die ich dann verarbeite" (CHENG 2002: 7 f; Übersetzung A. H.). FLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 195 zu schreiben (vgl. zur detaillierten Darstellung dieses Prozesses HEIN-KHATIB, im Druck: 140 ff), stellt er das Verhältnis dieser beiden Sprachen als ein gleichwertiges, reziprokes dar. Beide Sprachen sind in seinem Bewusstsein konstant präsent: „Unablässig stehen die Sprachen sich gegenüber. (...) Alles was man schreibt, geht durch den stummen Filter der anderen Sprache, die einem ohne Unterlass beim Schreiben zusieht. (...) Man sieht sie nicht, doch sie ist stets gegenwärtig, als Möglichkeit, in Bereitschaft (GoLDSCHMIDT 1991: 95). „Die beiden Sprachen sind für mich fest ineinander verwoben, so jedenfalls, dass immer die eine ein Auge für die andere offen hat, dass sich die eine von der anderen ablesen und gestalten lässt. Damit soll nur gesagt sein, dass das Französische in mir immer das Deutsche überwacht und umgekehrt das Französische anspornt" (GOLDSCHMIDT 1999: 22 f; hier zitiert nach HEIN-KATHIB, im Druck: 178) Goldschmidt sieht jeweils die eine Sprache im Hintergrund der anderen ein Zustand, den er als Bereicherung und als Schutz beschreibt. 3.4 Zur Sprachwahrnehmung auf graphischer, phonetischer und semantisch-kultureller Ebene Zum Schluss möchte ich auf den Aspekt der Wahrnehmung der Sprachen eingehen, und zwar auf graphischer, phonetischer und semantischer Ebene. Zunächst zum graphischen Aspekt, zur Schriftbzw. Buchstabenwahrnehmung. Ich zitiere dazu noch einmal Cheng: "Pour nous en tenir au seul aspect concemant les signes, comme je suis fa9onne par l'ecriture ideographique ou chaque signe forme une unite vivante et autonome,j'ai une sensibilite particuliere pour la sonorite et la plasticite des mots. J'ai tendance, tout bonnement, a vivre un grand nombre de mots fran9ais comme des ideogrammes. Ceux-ci sont ideogrammes, non par des traits graphiques bien sfu, puisqu'ils relevent d'un systeme phonetique encore que la graphie de certaines lettres ne me soit pas indifferente : A, homme ; E, echelle ; H, hauteur ; M, maison ; 0, ooil; S, serpent; T, toit; V, vallee; Z, zebrure, etc.-, c'est phonetiquement qu'ils incament l'idee d'une figure" (Cheng 2002: 40). 6 CHENG nimmt das Schriftsystem der französischen Sprache vor dem Hintergrund der chinesischen Sprache mit ihrem isolierenden ideographischen Schriftsystem wahr. Von daher beachtet er nicht nur die Phonetik der Sprache (siehe unten), sondern auch das Erscheinungsbild der Buchstaben, dem er spezifische Assoziationen zuschreibt eine Art 6 „Wenn man nur den Aspekt der Zeichen nimmt, da ich durch die ideographische Schrift geprägt bin, wo jedes Zeichen eine lebendige und autonome Einheit darstellt, habe ich eine besondere Sensibilität für den Klang und die Plastizität der Wörter. Ich neige dazu, ganz einfach eine Vielzahl französischer Wörter als Ideogramme wahrzunehmen. Diese sind natürlich nicht wegen der graphischen Strichfolgen Ideogramme, da sie auf einem phonetischen System beruhen, obwohl jedoch das Schriftbild mancher Buchstaben mir nicht gleichgültig ist: A - Mensch, E- Leiter, H- Höhe, M- Haus, 0 -Auge, S - Schlange, T - Dach, V - Tal, Z- Zebrasteifung usw hauptsächlich beinhaltet sie auf der phonetischen Ebene die Idee eines Bildes." (CHENG 2002: 40; Übersetzung A. H.). JFlLuL 35 (2006) 196 AdelheidHu von Wahrnehmung, die man letztlich nur nachvollziehen kann, wenn man andere Schriftsysteme in Betracht zieht (vgl. auch den Textauszug weiter unten von TAWADA). Der zweite Aspekt betrifft die phonetische Wahrnehmung, die insbesondere auch bei CHENG betont wird. Bei alltäglichen, auch völlig unpoetischen Wörtern, die keinerlei besonderen onomatopoetischen Charakter haben, wird eine Beziehung zwischen phonetischer Lautung und Wortbedeutung hergestellt. Hier von vielen Beispiel eines, die Wahrnehmung des französischen Wortes „entre" (zwischen): "Entre: Le mot 'entre', avec son double sens d'intervalle et de penetration, est suggere avec une nettete breve par la phonie. Il y a ce son suspendu en l'air (-EN) et qui semble, tel un aigle, attendre la moindre occasion pour penetrer (-TRE) dans la breche ouverte par l'espace lorsque deux entites sont en presence, quelle que soit l'intention qui les anime, hostile ou harmonieuse" (CHENG 2002: 46). 7 Auch in der Sprachbiographie von Claude ESTEBAN spielt dieser Aspekt eine Rolle. Der unterschiedliche Klang der Wörter im Französischen bzw. Spanischen für dasselbe Objekt ist es, der ihn als Kind verwirrte: "Je me souviens encore de la perplexite ou me plongea le fait que ce petit objet avec lequel je piquais un morceau de viande, cet ustensile si familier, si digne d'attention au regard d'un enfant, reponde a la fois au nom de tenedor et de fourchette. ( ... ) Me repetant le mot fourchette, je voyais confusement surgir en moi l'image de quelque chose de violent et d'aigu a la fois qui s'accordait assez bien a l'objet ainsi designe, alors que flottait dans les sons de tenedor jene sais quoi d'une atrnosphere chaude, opaque et ronde qui s'associait bien davantage a la notion et a la perception optique d'une cuillere" (ESTEBAN 1990: 31 f). 8 Der dritte Aspekt im Kontext von Sprachwahrnehmung betrifft die semantisch-kulturelle Ebene. Ich zitiere hier exemplarisch eine Textstelle aus dem Buch Überseezungen von Yoko TA w ADA, in dem die semantisch-kulturelle Wahrnehmung hier des deutschen Worts ich aus der Perspektive der japanischen Sprache und Kultur beschrieben wird. Am Ende des Textauszugs mischt sich außerdem die graphische Wahrnehmung mit hinein: „In unserer Siedlung in Tokio gab es viele Mädchen in meinem Alter. Eines dieser Mädchen fiel mir besonders auf, weil es sich wie ein Junge als ,boku' bezeichnete. Wir gingen zusammen zur Grundschule. Die meisten Mädchen bezeichneten sich als ,atashi', einige frühreife Mädchen dagegen schon als ,watashi', ein Mädchen aus einer vornehmen Familie benutzte das Wort ,ata- 7 „Das Wort ,entre' (dt. zwischen) mit seinem doppelten Sinn von Zwischenraum und Eindringen, bringt allein durch seinen Klang die Bedeutung nahe. Da ist dieser gleichsam in der Luft schwebende Laut ,en', der wie ein Adler, auf die erste Gelegenheit zu lauem scheint, um in die Spalte einzudringen (-tre), die sich öffnet, wenn zwei Entitäten präsent sind" (CHENG 2002: 46; Übersetzung A. H.). 8 „Ich erinnere mich noch an die Verwirrung, in die mich die Tatsache brachte, dass dieses kleine Objekt, mit dem ich ein Stück Fleisch aufspießte, dieses vertraute Gerät, das die Aufmerksamkeit eines Kindes so sehr anzieht, zugleich mit tenedor und fourchette bezeichnet wurde. Indem ich mir das Wort fourchette (Gabel) wiederholte, sah ich in mir ein Bild von etwas Aggressivem und zugleich Spitzern auftauchen, das gut zu dem so benannten Objekt passte, während in den Klängen des Wortes tenedor etwas Warmes, Opakes und Rundes in meinem Bewusstsein entstand, was eigentlich mehr zu einem Löffel passte (ESTEBAN 1990: 32; Übersetzung A.H.). FLuL 35 (2006) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in autobiographischer Perspektive 197 kushi', dieses Wort roch nach Zypressenholz. Die meisten Jnngen nannten sich ,boku', einige freche oder stolze Jnngen dagegen ,ore'. (... ) Ich hatte Schwierigkeiten mit diesen Wörtern, die ,ich' bedeuten. Ich fühlte mich weder wie ein Mädchen noch wie ein Junge. (...) Wie einfach wäre meine Kindheit gewesen, wenn ich eine andere Sprache zum Beispiel Deutsch gesprochen hätte. Ich hätte dann einfach immer ,ich' sagen können. Man muss sich weder weiblich noch männlich fühlen, um das Wort ,ich' zu verwenden.(...) Ein Ich muss kein bestimmtes Geschlecht haben, kein Alter, keinen Status, keine Geschichte, keine Haltnng, keinen Charakter. Jeder kann sich einfach ,ich' nennen. Dieses Wort besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt, aus der Tatsache, dass ich überhaupt spreche. ,Ich' wurde zu meinem Lieblingswort. So leicht nnd leer wie dieses Wort wollte ich mich fühlen.(...) Mir gefällt außerdem, dass ein ,ich' mit einem ,I' beginnt, ein einfacher Strich, wie der Ansatz eines Pinselstriches, der das Papier betastet und gleichzeitig die Eröffnnng einer Rede ankündigt. Auch ,bin' ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort ,bin', das klingt genau gleich nnd bedeutet ,eine Flasche'. Wenn ich mit den beiden Wörtern ,ich bin' eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz, nnd die Flasche ist leer" (TAWADA 2002: 53 f). Yoko Tawada hat in Bezug auf die Pronomina im Japanischen, die u.a. abhängig von sozialen Status, vom Alter und vom Geschlecht her gebraucht werden, Schwierigkeiten, sich selbst zu bezeichnen. Sie empfindet hingegen das deutsche Pronomen ich als neutral und von daher entlastend. 4. Fazit Die Analyse der Textauszüge zeigt zunächst einmal, dass Fragen sprachlicher Lernprozesse schwer umfassend erforscht werden können, wenn man nicht den Kontext des biographischen Erlebens, d.h. etwa das historische, das politische, aber auch das persönlich-idiosynkratische Umfeld mit in Betracht zieht. Der Bilingualismus bei Goldschmidt z.B. ist nicht angemessen zu verstehen, wenn man nicht die historisch-politische Situation berücksichtigt. Insofern stellt die Beschäftigung mit subjektiven sprachbiographischen Zeugnissen zu kognitionswissenschaftlich oder linguistisch orientierten Forschungen eine wichtige Bereicherung dar. Der Erwerb, das Erlernen, aber auch der Erhalt von Sprachen in Migrationszusammenhängen, so konnte gezeigt werden, ist ein deutlich identitätsbezogener Prozess. Es geht keineswegs nur um die Fähigkeit, in einer zweiten oder dritten Sprache zu kommunizieren, sondern vor allem darum, die sprachliche Entwicklung in einen sinnhaften Bezug mit der eigenen Biographie zu bringen. Immer wieder trifft man in den Texten auf Selbstbeschreibungen und Selbstverortungen in einer komplexen sprachlich-kulturellen Gemengelage. Sprachen führen zu Identitätsveränderungen und -erweiterungen, zu Befreiungen, aber auch zu Konflikten. Die Tatsache, dass diese Aspekte - und das unterstützt auch die Befunde anderer sprachbiographischer Forschungen in den Biographien einen zentralen Stellenwert einnehmen, muss, auch was schulisches Sprachenlernen betrifft, zu denken geben. Möglicherweise wird gerade dieser Aspekt sprachlichen Lernens zur Zeit zu sehr vernachlässigt. In Bezug auf den Aspekt Mehrsprachigkeit liefern die Befunde interessante Einsichten zum Verhältnis der Sprachen zueinander sowie zur Sprachwahrnehmung. Gerade die JFJLuJL 3 5 (2006) 198 AdelheidHu differenzierten Darstellungen. über die Rolle und Funktion der zuerst in der Kindheit erworbenen Sprache im Zusammenspiel mit später erworbenen Sprachen fordern auch im Hinblick auf schulisches Sprachenlernen zum Nachdenken heraus. Natürlich haben Schülerinnen und Schüler ein anderes Sprachbewusstsein als erwachsene Schriftsteller, aber es ist davon auszugehen, dass auch für sie und ihre Art und Weise zu lernen, ihre Zwei- oder Mehrsprachigkeit eine wesentlich bedeutendere Rolle spielen als gemeinhin angenommen wird (vgl. Hu 2003). Die Darstellung zur Sprachwahrnehmung, gerade im Kontext entfernter Sprachen, regen zu Forschungen auch im schulischen Bereich an: Wie nehmen Kinder und Jugendliche, deren Erstsprache mit dem Deutschen bzw. den Schulfremdsprachen typologisch nicht verwandt und auch kulturell als distante Sprache gilt, die Sprachen wahr, mit denen sie in der deutschen Schule konfrontiert werden? Forschungen in diese Richtung würden langfristig dazu beitragen, sprachlich-kulturelle Integration nicht als Einbahnstraße zu begreifen, sondern als einen wechselseitigen, interkulturellen Lernprozess. Literatur ADAMZIK, Kirsten/ Roos, Eva (eds.) (2002): Biographies langagieres. Bulletin suisse de linguistique appliquee, hiver 2002. ALTMAYER, Claus (2004): Kultur als Hypertext. Zu Theorie und Praxis der Kulturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium. APITSCH, Ursula (1998): Migration und Biographie. 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