Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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Narr Verlag Tübingen
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2007
361
Gnutzmann Küster SchrammMehrsprachigkeit - ein realistisches Lernziel?
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2007
Franz-Joseph Meißner
Michael Legutke
flul3610234
Mehrsprachigkeit ein realistisches Lernziel ? Die Frage, ob man pro oder contra Mehrsprachigkeitsdidaktik sein kann, hängt davon ab, wie man diese definiert. Was ist also Mehrsprachigkeitsdidaktik oder, europäisch, didactics of plurilingualism, didactique du plurilinguisme ... ? - Für die EU verbindet sich plurilingualism mit der Vorstellung der Steuerbarkeit von Lernprozessen. Während multilingualism eine Vielzahl von Sprachen fasst, die zumeist einem geographischen Gesichtspunkt "die Vielsprachigkeit in deutschen Schulklassen") zugeordnet werden, heißt plurilingualism Planbarkeit, Übersichtlichkeit, Steuerbarkeit der individuellen Mehrsprachigkeit dank eines Sprachcurriculums. Dies ist das Konstrukt, das eine Sprache erst ! ehrbar macht, indem es das ,Wichtige' der sprachlichen Architektur vom weniger Wichtigen trennt und das Wichtige in eine ! ehrbare Abfolge bringt. Linguistisch korreliert dies mit der Systematizität von Sprache, mit Frequenzen und der Zentralität/ Exzentralität sprachlicher Phänomene. Da Kulturen ein Repertoire von Themen darstellen und Sprachen Kulturen abbilden, diese sich aber voneinander eben in ihren Themen unterscheiden, ist auch der Status der Elemente der Sprachen verschieden. Es wäre reizvoll, diese Frage zu den nativen und heterokulturellen Sprachnutzern hin zu verlängern und zu fragen: Können Deutsche eigentlich das Gleiche fragen wie Finnen? Vor derlei Hintergrund steht Harald WEINRICHs Frage (1986): "Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist? " Sprachen sind nicht inhaltlich und strukturell äquivalent. Die Wirksamkeit von Sprachunterricht hat ihre Grenzen. Bei der Konstruktion von Sprachcurricula stand zunächst die Zielsprache im Fokus. Schon früh erkannte man, dass die Ausgangssprache beim Fremdsprachenerwerb und bei der Fremdsprachenbenutzung kein stummer Mitspieler ist. In der Hochzeit der dogmatischen Einsprachigkeit lautete ein bezeichnender Titel ,Une poire aha, eine Birne' (RATIUNDE 1971). - Lange Zeit glaubte man, dass sich durch die mentale Trennung von Sprachen formale Fehlerfreiheit erreichen ließe: Die ,andere' Fremdsprache wurde zum Fehlerrisiko, formale Ähnlichkeiten zum falschen Freund. Man supponierte stillschweigend die Erreichbarkeit formaler und pragmatischer Korrektheit, orientierte sich an nativen Sprachweisen und Normen, ignorierte die lange Erfahrung mit Mehrsprachigkeit und von Mehrsprachigen. Kurz: Alles falsch! In der und für die Wirklichkeit der Interaktion in interkulturellen Sprechsituationen sind ganz andere Faktoren relevant. Und muttersprachennahe Perfektion wird erst nach langer Zeit und mit Hilfe nativer Sprachpartner erreicht. Das Üben kann allerdings eine Hilfe sein. Auch beim Tandemlernen. Richtig ist: Sprachen und Sprachenerwerb zusammendenken, zwischensprachliche Analogien wo immer möglich nutzen, dadurch den Spracherwerb beschleunigen und den verstehbaren Input vergrößern, Einsicht nehmen in die eigenen Spracherwerbsprozesse, sich als Sprecher und Erwerber der Sprachen Abis Y beobachten und korrigieren, Sprachpartnerschaften suchen... deklaratives und prozedurales Sprachenwissen vernetzen, um Strukturen, interlinguale Korrespondenzen- und Korrespondenzbrüche registrieren. Ein solcher Ansatz findet sehr starke Stützen in den Wissenschaften vom Lernen. Die einzelzielsprachlichen Didaktiken können dies nicht, solange sie die vorhandene oder intendierte Mehrsprachigkeit der Lerner ausblenden. - Und die Sprachrichtigkeit? Bleibt sie auf der Strecke? Nein, wenn man der Empfehlung folgt: Zwei Sprachen neben der Muttersprache mit produktivem Ziel und hohem, aber realistischem Anspruch lernen/ lehren ... und weitere. Genau das will die EU. Mehrsprachigkeitsdidaktik ist eine Transversaldidaktik, welche die einzelsprachlichen Didaktiken ergänzt, sie aber weder ersetzen kann noch will. FRANZ-JOSEPH MEljJNER lFLuL 26 (2007) Pro und Contra 235 Eine der zentralen Aufgaben der öffentlichen Schulen besteht darin, junge Menschen zu befähigen, auf hohem Niveau und kompetent mit Anforderungen sprachlicher und kultureller Vielfalt umzugehen, was Fähigkeiten in mehreren Sprachen einschließt. Die Schule muss deshalb vielfältige Lerngelegenheiten bereitstellen (Unterrichtsangebote, Lerninhalte, Sprachlernberatung, Begegnungsmöglichkeiten), damit die Lernenden auf dem Weg zur Mehrsprachigkeit optimal gefördert werden. Dabei hilft allerdings keine allgemeine Mehrsprachigkeitsdidaktik. Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit geht zwar alle Fremdsprachendidaktiken an, sie muss jedoch im schulischen Kontext immer im Zusammenhang eines spezifischen Fachs erfolgen. Auf der Basis einer Sprache, in der die Lernenden kompetent werden, erfolgt die Öffnung zu und die Verknüpfung mit anderen Sprachen, werden Sprachbewusstheit und Sprachlernbewusstheit entwickelt. Deshalb sind auch die einzelnen Sprachdidaktiken gefordert, ihre didaktischen und methodischen Konzepte zu überdenken und zu verändern. Die Fragestellungen und konkreten Antworten im Sinne der Förderung von Mehrsprachigkeit werden je nach Sprache und Position der Sprache in der Sprachenfolge anders ausfallen. So stellt sich der Englischdidaktik nicht nur die Frage, wie die mitgebrachte Mehrsprachigkeit vieler Kinder im Englischunterricht der Grundschule gewürdigt und vorhandene Sprachlernkompetenzen genutzt und ausgebaut werden können, sondern vor allem auch, wie die erste Fremdsprache ein Tor zu weiteren Sprachen wird. Damit dies gelingt, kommt es u. a. darauf an, dass den Kindern beim Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen die Freude am Sprachenlernen und ihr Leistungswille erhalten bleiben. Beide sind unverzichtbare Voraussetzungen für den Einstieg in die zweite und in weitere Fremdsprachen. Die Französischdidaktik, meist mit der zweiten Fremdsprache befasst, muss Antworten auf die Frage liefern, mit welchen Inhalten und Methoden die Lernerfahrungen mit der ersten Fremdsprache im Unterricht der zweiten Fremdsprache sinnvoll aufgegriffen und sprachspezifisch ausgebaut werden müssen und wie bereits vorhandene Sprachlernkompetenzen dabei produktiv zu nutzen sind. Ihre Aufgabe ist außerdem dazu beizutragen, dass die Freude am Gebrauch der Sprache und die Lernbereitschaft aufrecht erhalten werden, denn ohne diese wird sich kaum Kompetenz entwickeln. Sind Inhalte und Methoden der zweiten Sprachen wirklich geeignet, einen erweiterten und anderen Zugang zur Welt zu eröffnen und damit ein neues Sprachlernabenteuer zu ermöglichen? Antworten muss das Fach geben. Allerdings können sich die Sprachdidaktiken nicht selbst genügen. Vielmehr sind sie aufgerufen, sich zu vernetzen und gemeinsam Wege vorzuschlagen, wie eine solche Vernetzung in der schulischen Praxis einer Entwicklung von Mehrsprachigkeit (mehrsprachigen Lehre) dienen kann. Allgemeine Bekenntnisse zu einer Didaktik der Mehrsprachigkeit bergen die Gefahr, dass die konkreten Aufgaben, die sofort, und zwar von den einzelnen Fremdsprachendidaktiken, angegangen werden sollten, hinter sprachübergreifenden Forderungen aus dem Blickfeld geraten. Die Fremdsprachendidaktiken dürfen deshalb auch nicht unter eine Mehrsprachigkeitsdidaktik subsumiert werden. MICHAEL LEGUTKE FJLUJJL 36 (2007)
