Fremdsprachen Lehren und Lernen
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0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
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Gnutzmann Küster SchrammAstrid ERTELT-VIETH: Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel. Eine empirische Studie zum russisch-deutschen Schüleraustausch. Tübingen: Narr 2005 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 391 Seiten. [39,-- €]
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2007
Rupprecht S. Baur
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Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 243 Wie die Verf. selbst freimütig einräumt, gibt es gute Gründe nämlich „la frequence et le degre de cohesion" (83) dafür, dass die Nomen-Verb-, die Nomen-Adjektiv- und die Verb-Adverb- Kollokationen im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen. Auch aus didaktischer Sicht muss die Bedeutung der AAK insofern relativiert werden, als im Französischen die mit Adverbkollokatoren des Typs mortellement (ennuyeux) oder moralement (irreprochable) versprachlichten Konzepte mit anderen Mitteln realisiert werden können: ennuyeux a mourir (oder ennuyeux comme la pluie ), irreprochable sur plan moral, usw. Kaum Schwierigkeiten dürften daneben die adverbes de domaine machen, die sieht man einmal vom Syntagma geistig behindert -+ *physiquement handicape ab in aller Regel wörtlich ins Französische übersetzt werden dürfen. Unbeantwortet bleibt damit die Frage, welche AAK für den germanophonen Fremdsprachenlerner tatsächlich fehleranfällig sind. Eine äußerst puristische, im Widerspruch zum aktuellen Sprachgebrauch stehende Haltung offenbart schließlich das eine oder andere normative Urteil über die angebliche Inakzeptabilität von Wortverbindungen wie gravement blesse (anstelle von grievement blesse, s. 57). Konzeptuell orientiert sich die Autorin an dem, was sich in anderen metalexikographischen Studien durchaus bewährt hat, wobei an der Zuverlässigkeit der Resultate insgesamt dank einer grundsoliden, sorgfältig recherchierten empirischen Basis keine Zweifel bestehen. Mit Genugtuung stellt der Rezensent außerdem fest, dass die Arbeit weitere überzeugende Argumente dafür liefert, dass der systematischen Kollokationsarbeit im Fremdsprachenunterricht mehr Beachtung geschenkt werden muss und dass die Erarbeitung eines französischen (und spanischen) Kollokationswörterbuches unter Einschluss der AAK auch aus fremdsprachendidaktischer Sicht ein dringendes Desiderat bleibt. Um so mehr wird man es bedauern, dass in den aktuellen lexikographischen Projekten 13 - und dies gilt auch für das nicht erwähnte, online-verfügbare Dictionnaire des collocations von Toni Gonzalez Rodriguez 14 die AAK ausgespart bleiben. 15 Bielefeld EKKEHARD ZÖFGEN Astrid ERTELT-VIETH: Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel. Eine empirische Studie zum russisch-deutschen Schüleraustausch. Tübingen: Narr 2005 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 391 Seiten. [39,- €] Astrid ERTELT-VIETHs Publikation Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel (gleichzeitig ihre Habilitationsschrift) ist eine empirische Studie zum russisch-deutschen Schüleraus- 13 An vorderster Stelle zu nennen wären hier: (1) das in Kooperation zwischen dem ATILF (Nancy) und dem Romanischen Seminar der Universität Köln im Entstehen begriffene Dictionnaire des collocations für ca. 5 000 substantivische Basiswörter, die aus den Frequenzlisten zumLe Monde Corpus 1999/ 2000 (ca. 52 Mill. Wörter) und der Datenbasis des ATILF (ca. 16 Mill. Wörter) gewonnen werden, (2) das in einer Testversion online verfügbare Dictionnaire d'apprentissage dufran,; ; ais langue etrangere ou seconde sowie (3) das kurz vor der Fertigstellung stehende Lexique actif du fran,; ; ais. 14 Kostenloser Zugriff auf dieses Wörterbuch unter: http: / / www.tonitraduction.net. 15 Das Buch ist alles in allem sorgfältig redigiert. An Druckfehlern sind uns aufgefallen: [...] jolie fille. »141 -> jolie fille. » 141 (S. 45); CAA et CSA-> CAA et CNA (S. 57 et passim); Möhlen 1985-> Möhle 1985 (S. 69, Anm. 202); sur la bases-> sur Ja base (S. 91); S. 135: die eingerahmten Erläuterungen verweisen nicht auf die richtige Stelle im Screenshot vom Petit Robert electronique; eile ne etait-> eile n'etait (S. 166); Zöfgen 2002 -> Zöfgen 2002b (S. 175); dificfcilmente-> diffcilmente (S. 247); S. 275: Schümann, Jasmin-Yvonne (2002)-> die Diss. von Jasmin-Yvonne SCHÜMANN ist nicht wie angegeben beim Niemeyer-Verlag in Tübingen erschienen, sondern nur online verfügbar unter: http: / / e-diss.uni-kiel.de/ diss_418 (und nicht diss-418). IFLuL 36 (2007) 244 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel tausch. Zunächst ordnet sie ihre Arbeit in den wissenschaftlichen Diskurs zur interkulturellen Kommunikation ein, erläutert dann ihr methodisches Vorgehen bei der Erhebung, berichtet aus ihren früheren Studien, bevor sie untersucht, welche Bilder die russischen Austauschschüler entwerfen. Diese Bilder von Deutschland und den Deutschen entstanden zu Beginn der 90er Jahre auf der Grundlage der damaligen Vorstellungen und Erfahrungen der Schüler im russischen Alltag, der noch stark von der sowjetischen Zeit geprägt war. Bei der Lektüre der Arbeit ist zu berücksichtigen, dass die sowjetische Zeit doch länger als 15 Jahre zurückliegt. Lakunen und Symbole: Die konstruierten Bilder der Austauschschüler sollen in der Studie einzeln und zugleich innerhalb der Austauschgruppe untersucht werden. Weiterhin sagt ERTELT- VIETH, dass man den Begriff „Bild" mit dem Begriff des „Stereotyps" vergleichen kann. Wo die Autorin Unterschiede sieht und wo sie liegen, wird allerdings nicht erläutert. Als theoretischen und begrifflichen Rahmen für die Darstellung ihrer Untersuchungen wählt ERTELT-VIETH das Lakunen-Modell von SüROKIN und den Symbol-Begriff von GEERTZ (1995). 1 Die Lakunen-Theorie war von ERTELT-VIETH bereits in ihrer Dissertation (1990) dargestellt und verarbeitet worden. „Lakunen sind Elemente (Realia, Prozesse, Zustände) eines Textes (in weitestem Sinne), die den Erfahrungen der Träger einer anderen Kultur nicht entsprechen. [...] Lakunen sind per definitionem interkulturell."(S. 74) 2 Lakunen sind also Verstehenslücken, die in der Kommunikation bei einem Zusammentreffen zweier Vertreter unterschiedlicher Kulturen entstehen können. Gleichzeitig verwendet die Autorin den Begriff des Symbols im Sinne von GEERTZ: „Symbole sind ,fassbare Formen von Vorstellungen [...] aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen'" (S. 82). Lakunen und Symbole ergänzen sich für ERTELT-VIETH. Lakunen beziehen sich auf Differenzen, die sich aus der Außenperspektive ergeben. Sie sind ,Lücken', die sich „zwischen [...] zwei Kulturen oder Kulturebenen" ergeben, indem einer der Kommunikationsteilnehmer den vorliegenden „Text" nicht (korrekt) deuten kann. Symbole hingegen sind an eine Innenperspektive gebunden, ergänzen somit den Begriff der Lakune, da die durch eine Person eingebrachten Vorstellungen durch sie erfasst werden können. Das "Aufdecken von Lakunen" ist für ERTELT-VIETH ein „analytisches Vorgehen", für das Deuten von Symbolen postuliert die Autorin eine Synthese aus der Innenperspektive heraus ( S. 84). Das Aufdecken einer Lakune erfolgt demnach von außen durch ERTELT-VIETH. Sie beschreibt aus ihrer Perspektive das Verhalten, das in einer der in Kontakt tretenden Kulturen in einer bestimmten Kommunikationssituation ,auffällig' bzw. so nicht üblich ist und dadurch zu Missverständnissen führt. Die Bedeutung des Verhaltens ist dabei eine Deutung, welche die an der Kommunikation beteiligten Subjekte vornehmen. Durch die analytischen Gespräche der Autorin wird diese Bedeutungsebene als Innenperspektive der Kommunikationsteilnehmer in die Analyse einbezogen. Dabei stellt sich methodologisch gesehen die Frage, ob Symbol-Analyse (Innenperspektive) und Lakunen-Analyse (Außenperspektive) wirklich immer so deutlich voneinander getrennt werden können, daja die Autorin selbst immer auch an der Beschreibung und Interpretation aller Prozesse beteiligt ist. 2 In der Arbeit von ERTELT-VIETH verwendete Literatur wird hier bibliografisch nicht nachgewiesen. Die Angaben von Seitenzahlen beziehen sich ausschließlich auf die besprochene Arbeit. lFJLlJ! ]L 36 (2007) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 245 Nur an einer Stelle nimmt ERTELT-VIETH eine ausführlichere Lakunen-Analyse vor. Dabei handelt es sich darum, dass die russische Gastschülerin Natascha sich von der deutschen Gastfamilie und der Partnerschülerin Christine nicht angemessen an- und aufgenommen fühlt (S. 213). An dieser Stelle beschreibt die Autorin noch einmal ihr methodisches Vorgehen folgendermaßen: „Das Aufdecken von Kommunikationsproblemen und anderen Konflikten in der Entwicklung der Austauschbeziehung zwischen Natascha und Christine kann mit dem Lakunen-Modell erfolgen. Es handelt sich dann um eine Suche nach den individuellen und kulturspezifischen Ursachen. Die personenbezogene Analyse wird nicht als Gegensatz, sondern als Spezifizierung der kulturbezogenen Analyse durchgeführt (was die ausdrückliche Hereinnahme nichtkulturspezifischer psychologischer Aspekte, z. B. der Pubertät und Adoleszenz in unserem europäischen Kulturkreis, nicht in Frage stellt). Diese Analysen stützen sich einerseits auf das Material zum Einzelfall. zugleich aber das Gesamtkorpus und auf das Wissen der Untersuchungsleiterin von beiden Sprachen und Kulturen, denn sonst wäre das Hypostasieren von Kulturspezifika gar nicht möglich. In anderen Worten: Die Behauptung, verschiedene Konflikte zwischen den beiden Mädchen gingen auf kulturelle Spezifika zurück, stützt sich auf mein dieser Untersuchung vorausgehendes, in der Untersuchung u. a. durch Metakommunikation mit russischen Experten gestütztes und erweitertes Kulturwissen[ ... ] und auf die (angestrebte) Plausibilität des gesamten Deutungszusammenhanges, der mit dieser Studie hergestellt wird" (S. 213). Diese Vorgehensweise, durch die kulturspezifische Besonderheiten in Kommunikationsprozessen erkannt und für andere Personen offengelegt werden sollen, erscheint plausibel. Es bedarf in der Tat ethnomethodologischer, kulturspezifischer und gesprächsanalytischer Kenntnisse durch den Analysierenden, um kommunikative Missverständnisse aufzudecken und zu deuten. ERTELT-VIETH kann aber in ihrer Darlegung nicht davon überzeugen, dass diese Deutungen und Interpretationen wirklich nur durch eine Anwendung der Lakunentheorie von Sorokin in Verbindung mit der Symboltheorie von Geertz zutage gefördert werden können, oder ob nicht auch ethnomethodologische und konversationsanalytische Verfahren zu denselben Ergebnissen führen könnten. Bevor ERTELT-VIETH ihre Untersuchungsmethode auf der Basis von Lakunen- und Symboltheorie erläutert (Kap. 3), versucht sie das Phänomen der interkulturellen Kommunikation mit verschiedenen Theorien und Modellen der Semiotik, der Ethnomethodologie, der russisch-sowjetischen Tätigkeitstheorie u.a.m. zu verbinden (Kap. 2). Die inhaltliche Verbindung dieser theorieorientierten Teile zu der dann folgenden empirischen Untersuchung ist nicht immer deutlich. Es ist zu vermuten, dass manche dieser ausufernden Bezüge, die hergestellt werden, der Textsorte "Habilitationsschrift" geschuldet sind. Voruntersuchungen und Kontext der Studie: Die Kapitel 4 und 5 liefern Informationen aus der beruflichen Tätigkeit der Untersuchungsleiterin und zwar zum deutsch-russischen Kontext und zum russisch-deutschen Schüleraustausch. ERTELT-VIETH erklärt hier u. a., dass ein Schüleraustausch nicht zu den dienstlichen Pflichten eines Lehrers gehört, dass viel Verantwortung auf den Lehrern bei einem solchen Austausch lastet, welche Fragen vor einem Austausch zu klären sind usw. Hier erfährt man auch, dass sich im Haushalt der Autorin stets „Russisches" befindet, wie z.B. „Matrjoschkas" und russische Pralinen (Kap. 4). Auch hierin zeigt sich einmal mehr, dass es der Autorin schwer fällt, zwischen (für diese Arbeit) wichtigen und unwichtigen Details zu unterscheiden und sich auf das Wesentliche zu beschränken. Im Sinne des o. a. Zitates möchte ERTELT- VIETH hier wohl ihre Autorität als Expertin unterstreichen, aber die dargebotenen Details wirken dysfunktional. Auch der Exkurs zum Fremdsprachenunterricht in der UdSSR, Kontakte zu Ausländern in der UdSSR usw. alles Erfahrungen von ERTELT-VIETH aus ihrer sowjetischen Zeittragen hier nichts Wesentliches für die eigentliche Studie bei. Die Autorin hätte sich auf wichtige zusammenfassende Bemerkungen beschränken sollen (S. 124 ff). In Kapitel 5 beschreibt ERTELT-VIETH sehr ausführlich, wie die gesamte erste Russlandreise von statten ging und welche Vorbereitungen getroffen werden mussten. In diesem Zusammenhang ]FlLw., 36 (2007) 246 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel berichtet ERTELT-VIETH dann über die beiden an dem Schüleraustausch beteiligten Städte und Schulen, die sie als Städte und Schulen A und Stadt B anonymisiert. Die russischen Schüler stammen von zwei Schulen, die mit dem Etikett „tiefste Provinz und pulsierende Millionenstadt" (S. 134) beschrieben werden. Die Stadt Aist mit 350.000 Einwohnern im Vergleich zur Millionenstadt B (wahrscheinlich St. Petersburg) für russische Verhältnisse klein und Schülerbeschreibungen zufolge „langweilig, weit ab vom Zentrum, zumal weit ab vom Ausland", man kann dort „Interessantes weder erleben, erfahren noch kaufen[...]." Die multikulturelle Stadt B hingegen ist eine durch Handel und Industrie ans Ausland angebundene Metropole, die bereits zu sowjetischer Zeit über einen „privilegierten Zugang zu Informationen und Waren" verfügte. Die deutschen Partnerstädte sind Kleinstädte mit 30.000 und 85.000 Einwohnern. Insgesamt hat ERTELT-VIETH mehr Ergebnisse aus der Gruppe der Schüler aus der Stadt A aufgenommen. Dabei werden die Herkunft und die damit verbundene provinzielle Prägung der Schüler zwar angeführt, inhaltlich aber nicht im Sinne einer intrakulturellen Differenzierung der Gruppen herausgearbeitet, die interkulturell Bedeutung gewinnen könnte. Es stellt sich die Frage, warum diese Unterscheidung in der Analyse nicht berücksichtigt wird. Des Weiteren fällt auf, dass die Autorin mehr Schülerinterviews aus der Gruppe A verarbeitet hat. Liegt der Grund vielleicht darin, dass die Unterschiede zwischen der Stadt A und der deutschen Partnerstadt (russische Provinzstadt vs. deutsche Kleinstadt) größer waren und sich somit ein intensiverer Kontrast abzeichnete, als zwischen der russischen Großstadt und ihrer deutschen Partnerstadt? Letztlich kamen einmal russische Schüler aus der Provinz und ein anderes Mal aus einer russischen Großstadt in eine deutsche Kleinstadt. Sollte das etwa keine Auswirkung auf das Vorhandensein, die Verarbeitung und Veränderung der „Bilder" haben? Welche Bilder entwerfen die russischen Austauschschülerinnen und -schüler? Kernstück der Arbeit ist das Kap. 6, in dem Beispiele dafür gegeben werden, welche Vorstellungen russische Schüler/ -innen von Deutschland und Deutschen haben und wie sich diese Bilder im Verlauf des Deutschlandsaufenthaltes ändern. Besonders auffällig ist die Tatsache, dass viele der befragten Schüler zum Zeitpunkt der Befragung vor der Reise im Vergleich zu den Deutschen über ein ausgesprochen negatives Selbstbild verfügen. Der von der Autorin Sascha genannte Schüler beispielsweise äußert sich vor der Reise gleich in mehrfacher Hinsicht eher abwertend über seine russischen Landsleute, wohingegen er den Deutschen viele positive Eigenschaften wie Sauberkeit, Kultiviertheit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und die Fähigkeit zu logischem Denken zuschreibt. Russen hingegen seien „nicht sehr kultiviert", sie dächten bisweilen nicht einmal darüber nach, pünktlich zu sein, sie überlegten zu wenig, bevor sie handelten und seien deshalb in großen „ideellen" wie materiellen Schwierigkeiten (S. 144). Sascha korrigiert sich nach dem Austausch dahingehend, dass er seine starke Polarisierung aufhebt: Es gebe doch „keinen [so] großen Unterschied" zwischen Russen und Deutschen, diese Vcirstellung sei wohl geleitet gewesen von der Vorstellung, "Menschen im Kapitalismus seien ganz andere Menschen" (S. 145). Hier zeigt sich noch die eingangs erwähnte Nähe der Untersuchung zur sowjetischem Zeit. Kein russischer Schüler würde heute von „Menschen im Kapitalismus" sprechen und aus dieser Perpektive Unterschiede zwischen Russland und Deutschland sehen. Auch der Schüler Dima hat vor seiner Reise den Eindruck, in Deutschland seien die Menschen glücklicher und dies sei bereits an ihrem Gesichtsausdruck(! ) zu erkennen. Die Deutschen versuchten sehr viel mehr, einander zu helfen und dieser Wunsch spiegele sich in ihrem Miteinander wider. Dieses ihm durch Austauschschüler aus dem Vorjahr überlieferte Bild behält Dima auch nach seiner Reise bei, relativiert aber seine extreme Sichtweise auf positive deutsche Eigenschaften, indem er beispielsweise auf den geregelten Tagesablauf der Deutschen verweist, den er als für die Russen „merkwürdig" und „stressig" (S. 181) beschreibt. lFLulL 36 (2007) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 247 Einzig die Austauschschülerin Sveta reflektiert dieses negative Selbstbild bereits vor ihrer Reise. Die Russen hätten Minderwertigkeitskomplexe, die aber nicht immer angebracht seien. Man bräuchte sich als Russe oder Russin den deutschen Austauschschülern gegenüber nicht minderwertig zu fühlen. Obwohl die negative Selbsteinschätzung meist eine Abschwächung erfährt, überrascht sie doch. Die Autostereotype der Völker sind in der Regel nicht negativ. Da die Untersuchungen von ERTELT-VIETH, wie schon erwähnt wurde, zu Beginn der 90er Jahre stattfanden, also nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Russland doch noch stark von der sozialistischen Periode geprägt war, das Alte keinen Wert mehr hatte, aber es noch keine neuen Werte gab, wäre es interessant durch wiederholende Untersuchungen zu erkunden, wie sich das Selbstbild der Russen in den letzten 15 Jahren entwickelt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass das negative Selbstbild Ausdruck einer vorübergehenden Verunsicherung als Folge der Umbruchsituation ist. Auffallend und teilweise erstaunlich sind auch Reflexionen der russischen Schüler, die Autostereotype und vermutete Heterostereotype der Deutschen über die Russen wiedergeben. Sascha urteilt nicht nur selbst negativ über seine Landsleute, sondern antizipiert auch das Bild, das Deutsche in seinen Augen von Russen haben könnten: "Deutsche denken[...] nur Schlechtes über uns, nämlich dass der Russe ein Bär ist[ ...], der im Wald wohnt" (S.145). Auch andere Schüler verbinden das Bild des „russischen Bären" mit einem angenommenen negativen Heterostereotyp der Deutschen über die Russen." (S. 228) Interessant könnte es deshalb sein herauszufinden, wie sich angenommene und existierende Heterostereotype zueinander verhalten. Welche Assoziationen verbinden Deutsche mit dem „russischen Bären"? In einer deutschen Wodka-Werbung im Fernsehen bedient man sich des Bildes eines sich aufbäumenden und brüllenden Bären, gefolgt vom dem Spruch: "Des Wodkas reine Seele". Kraft, Wildheit, Natürlichkeit und Natur könnten hier die Assoziationen sein, die evoziert werden sollen. Dazu wird auf subtile Weise die „Reinheit" des Getränks" mit dem Stereotyp der „russischen Seele" verbunden. In jedem Fall kann keine negative Konnotation damit verbunden sein, sonst wäre es ja nicht tauglich für die Werbung. Wahrscheinlich wäre es bei deutsch-russischen Treffen von Schülern oder auch Studenten ertragreich, solche vielschichtigen Werbungen gemeinsam zu analysieren. Hierbei können die komplexen Beziehungen von Auto- und Heterostereotypen konkret aufgebrochen und besprochen werden. Diesen Teil der Analysen von ER TEL Tc VIETH liest man mit Interesse und er regt dazu an, ihn für interkulturelle Kommunikationsprozesse zur Sensibilisierung von Studierenden auszunutzen, indem ähnliche eigene Fragen zu Stereotypen untersucht werden oder indem die Ergebnisse der Analysen der Autorin überprüft werden. , Wie oben bereits gesagt, ordnet ERTELT-VIETH alle ihre Beobachtungen in die Lakunentheorie ein und ordnet jede Erscheinung einer gewissen Klasse von Lakunen zu. Als Beispiel für eine "kulturemotive Lakune" führt die Autorin das Verhältnis von russischem Schüler und deutschen Gasteltern an. Die Abwesenheit von zu Hause gilt für die russische Mentalität als sehr schwierig bzw. fast als „tragisch" (S. 214). Das bedeutet wiederum, dass die Gastgeber aus russischer Sicht dieses Heimweh durch besonders fürsorgliches Verhalten ausmerzen müssen. Da die deutschen Gasteltern das nicht wissen, kommt es zu einem Verhalten, das den Erwartungen der russischen Gäste nicht entspricht und das als zu distanziert, zu wenig persönlich und zu wenig herzlich empfunden wird. ERTELT-VIETH beschreibt viele solcher Arten von Lakunen. Allerdings wiederholt sie an mehreren Stellen ein und dasselbe Beispiel. So wird auf Seite 214 das Beispiel der „Abwesenheit von zu Hause" erwähnt und auf Seite 254 wird noch einmal genau das gleiche Beispiel angeführt. Solche Doppelungen sind unnötig. Selbst die Überschriften der einzelnen Unterkapitel sind gleich. Beide heißen „Lakunen-Analyse". lFL11liL 36 (2007) 248 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel Zusätzlich zur Lakunen-Analyse widmet sich ERTELT-VIETH einer ausführliche Symbolanalyse. Hier werden z.B. russische Wörter wie obscitel, nyj "geprächsbereit") und dobryj "gut") erklärt. Lexikalische Lakunen obscitel'nyj und dobryj. Eigenschaften, die für Russen in der Kommunikation eine besondere Bedeutung haben, werden durch die Wörter obscitel 'nyj und dobryj repräsentiert. Russen erwarten von einem echten Gesprächspartner, dass er sich öffnet, dass man eine Vertrauensbeziehung herstellt, dass man eine „gemeinsame Sprache" findet (S. 237). "Vor diesem Hintergrund ist fremd derjenige, mit dem man sich nicht unterhalten kann und umgekehrt: Jemand ist nicht mehr fremd, wenn man ihm alles sagen kann" (a.a.O.). Diese Eigenschaft scheint für einige Schüler wesentlich zu sein. Sie erwarten, dass ihre Beziehung zu ihren Austauschpartnern diesen Vorstellungen entspricht. Die Schülerin Natascha, deren Austauschbeziehung zu ihrer Partnerin Christine sich problematisch entwickelte, bemerkte in Deutschland enttäuscht, dass Christine in ihren Augen nicht geeignet war für solche „Gespräche" (obscenie). Die beiden verstanden sich nicht gut, was auch auf ihre völlig unterschiedlichen Temperamente zurückzuführen ist. Es stellt sich die Frage, ob solche Unstimmigkeiten sich nicht auch bei einem Schüleraustausch innerhalb deutscher Schüler oder z.B. zwischen Deutschen und Franzosen hätten ergeben können. Liegt es nicht an der Verschiedenheit der Menschen, die sich eben manchmal „verstehen" und manchmal nicht? Latent spielen hier die kulturspezifisch unterschiedlichen Vorstellungen von „Gast" und „Gastfreundschaft" eine Rolle, die sich mit den Symbolen obscitel 'nyj und dobryj verbinden: Gast und Gastgeber sollen aus russischer Sicht ein vertrauensvolles, freundschaftliches Verhältnis haben, der Gastgeber ist bereit, alles zu tun, damit der Gast sich wohlfühlt. Wer so handelt, ist obscitel 'nyj und dobryj. Wenn der russische Gast Abweichungen von diesen eigenen Erwartungen feststellt oder spürt, fühlt er sich unwohl und schlecht behandelt. Der russische Begriff dobryj ist damit sehr weit und kann mit dem Äqivalent „gut" nur unzureichend wiedergegeben werden. Dobryj bedeutet nicht „gut" zu sein durch moralisches Handeln im Sinne philosophischer oder religiöser Normen, sondern meint je nach Situation eine menschliche Fähigkeit, anderen Menschen Interesse entgegen zu bringen, sich ihnen im Gespräch öffnen zu können und (in einem für deutsche Vorstellungen übertriebenen Maße) gastfreundlich zu sein. Man versteht, dass das durch diese beiden Begriffe bezeichnete Verhalten, das in einem Schüleraustausch für die russische Seite im Sinne ihrer Kultur jeweils zentrale Eigenschaften markiert, den Erwartungen entsprechend nicht eingelöst wird und zu Enttäuschungen führt. Insofern ist ERTELT- VIETH Recht zu geben, dass Nataschas Enttäuschung über Christines Verhalten nicht nur eine persönliche, sondern eine kulturspezifische Dimension hat. Indikatoren für dieses der Gastfreundschaft widersprechende Verhalten waren aus Sicht der russischen Schülerin z. B., dass Christine ihren Tagesablauf für Natascha nicht geändert hatte, damit sie sich öfter sehen können, dass die Gastmutter sie am Abend nicht zu einem Cafe gefahren hatte, damit sie dort einmal ihre russischen Freundinnen treffen konnte, dass die Mittagessenszeit in der Familie nicht so gelegt wurde, dass man mit Natascha, auch wenn sie später kam, immer gemeinsam essen konnte usw. Ein solches Verhalten widerspricht extrem den Regeln der russischen Gastfreundschaft, und Menschen, die sich so verhalten, kann die Eigenschaft dobryj nicht zugesprochen werden. Auch wenn das exemplarisch erwähnte Verhalten auch aus deutscher Sicht kritisiert werden könnte, gibt es im deutschen Kontext Rationalisierungen und Erklärungsmöglichkeiten, durch die das Gefühl einer Verletzung des Gaststatus und einer persönlichen Beleidigung zurückgedrängt und relativiert werden könnten. Hier spielt die interkulturelle Dimension und die Verbindung mit den Bedeutungen von obscitel 'nyj und dobryj eine Rolle. Zur Relevanz der Studie von ERTELT-VIETH für die interkulturelle Kommunikation. Es ist ein Verdienst von ERTELT-VIETH, interkulturelle Entwicklungen genau zu beschreiben und zu analysieren. Wie bereits gesagt wurde, ergeben sich dadurch vielfältige Anregungen zum NachlFIL1UilL 36 (2007) Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 249 fragen und Weiterarbeiten. Ob das Lakunenmodell mit seiner vielfachen Ausdifferenzierung (mentale Lakunen, Tätigkeitslakunen, Gegenstandslakunen und weitere Unterkategorien) für solche Analysen wirklich eine bessere Basis darstellt als ethnomethodologische Zugänge, erscheint mir fraglich. Es wird eine Vielzahl von Beispielen angeführt, die das Lakunenmodell verdeutlichen sollen. Im Sinne der kontrastiven Linguistik, dass es absolute Äquivalenzen in verschiedenen Kulturen zumindest im konnotativen und assoziativen Bereich nicht gibt, könnten wohl potenziell alle Teilbereiche der interkulturellen Kommunikation als Lakunen identifiziert werden. Das wäre sicherlich nicht im Sinne von ERTELT-VIETH. Sie zeigt aber nicht die Grenze auf, von der ab es keinen Sinn mehr machen würde, zwischensprachliche Phänomene als Lakunen zu identifizieren. Positiv zu beurteilen ist, dass diese Studie die interkulturellen Wahrnehmungsprozesse sehr konkret und ausführlich darstellt. Es wird deutlich, welche Bilder die russischen Schüler vom Gegenüber und auch von sich Selbst haben. ERTELT-VIETH kann zeigen, wie die Erfahrungen während des Austausches die Bilder und damit die interkulturelle Kommunikation verändern. Leider ist das Buch einerseits durch eine Überfrachtung mit theoretischen Ausführungen, andererseits durch eine teilweise breite Darstellung von Nebensächlichkeiten nicht einfach zu lesen, so dass es wahrscheinlich nur wenige interessierte Experten auf dem Gebiet der Russistik und der interkulturellen Kommunikation erreichen wird. Das ist bedauerlich, denn die von ERTELT-VIETH zusammengetragenen Erkenntnisse für den deutsch-russischen Sprach- und Kulturkontakt decken Besonderheiten nicht nur der russischen, sondern auch der deutschen Kultur auf, und man würde sich wünschen, dass diese Erkenntnisse auch von einem breiteren Publikum rezipiert würden. Essen RUPPRECHT S. BAUR Frauke INTEMANN, Frank G. KÖNIGS (Hrsg.): Ach/ texte - Didak-Tick der modernen, unmodernen und außerirdischen Sprachen. Eine etwas andere Festschrift für Claus Gnutzmann zum 60. Geburtstag (und zu allen weiteren). Bochum: AKS-Verlag 2006 (Fremdsprachen in Lehre und Forschung; 41), XX+ 229 Seiten [25,- €] Die Institution Festschrift ist bekanntlich eine deutsche akademische Erfindung und als solche eine überaus ernsthafte Angelegenheit. Von gewissem Unterhaltungswert mögen vielleicht manche selbstdarstellungskünstlerischen Abbilder der Gelehrten sein, die den Bänden vorangestellt werden, aber sonst gibt es bei der Lektüre von Festschriften wenig zu lachen. In die daraus resultierende Publikationslücke stößt nun beherzt der hier zu besprechende Band. Die Herausgeber wünschten sich bei seiner Planung von den Beiträgern Satiren auf den Wissenschaftsbetrieb und die in ihm Tätigen. Dass mit dieser Idee gerade Claus GNUTZMANN geehrt werden sollte, ist sicherlich kein Zufallabgesehen von seiner nachgewiesenen individuellen Humorkompetenz ist er fachlich einer Sprache und Kultur verpflichtet, für die Selbstironie ein hohes Gut ist. Den Rezensenten freut's, hat er doch ein ganz anderes als sonst geartetes Vergnügen bei der Lektüre dieser Festschrift. Dieses Vergnügen ist allerdings notwendigerweise selektiv. Festschriftbeiträge werden angefordert, nicht aber aus eigenem Antrieb geschrieben, sie erfüllen einen sozialen Zweck und dürfen, wenn ein ordentlicher Band zustande kommen soll, nicht zu kurz sein. Das damit auch bei seriösen Festschriften drohende Qualitäts- und Homogenitätsproblem verschärft sich, wenn Satire gewünscht wirdnicht jeder ist ein Tucholsky und auch dieser war umso besser, je kürzer er schreiben durfte. So haben sich denn einige Beiträger aus sicherlich achtbaren Gründen dem Wunsch nach Ironie versagt und eher vergangene Gemeinsamkeiten mit dem Jubilar thematisiert. Andere entwickelten durchaus vergnügliche Ideen (Fremdsprachenunterricht im Star-Trek-Weltraum, von lFILlllL 36 (2007)
