eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 39/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
391 Gnutzmann Küster Schramm

Von gestern – und doch für heute und morgen relevant

121
2010
Claus Gnutzmann
Frank G. Königs
flul3910005
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Claus G NUTZMANN , Technische Universität Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: c.gnutzmann@tu-bs.de Arbeitsbereiche: Das Englische als Welt- und Wissenschaftssprache und seine Vermittlung, Englische Grammatik und ihre Didaktik, Kontrastive Linguistik und Fehleranalyse, Fachsprachen. Prof. Dr. Frank G. K ÖNIGS , Philipps-Universität Marburg, Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Hans-Meerwein-Str., 35032 M ARBURG . E-Mail: koenigs@staff.uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Konzeptbildungen der Sprachlehrforschung, Psycholinguistik des Fremdsprachenlernens, Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung (insbesondere Deutsch als Fremdsprache und Romanische Sprachen), Übersetzungsdidaktik, Curriculumentwicklung, Lehrerbildung. 39 (2010) C LAUS G NUTZMANN , F RANK G. K ÖNIGS * Von gestern - und doch für heute und morgen relevant Anmerkungen zur Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und zu diesem Themenheft Mit der Geschichte eines Faches kann man sich unter unterschiedlichen Aspekten befassen: Man kann die Entwicklung zu einem spezifischen Zeitpunkt akribisch nachzeichnen, um diese Entwicklung im Rückblick nachzuvollziehen und besser verstehen zu können. Dabei gewinnt man - je nach Quellenlage - unterschiedlich tiefe Einblicke in das Denken und das Zustandekommen von Entscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es handelt sich also um einen Rückblick und um den Versuch, sich aus der Gegenwart in eine bestimmte Zeit zurückzuversetzen, um diese Zeit besser kennenzulernen und zu verstehen. Diese Form der Rekonstruktion liegt bei dem Rückgriff auf Primärquellen näher an den tatsächlichen Entwicklungen als bei Sekundär- oder Tertiärquellen, denn wie sich bisweilen zeigt, beinhalten die letztgenannten nicht selten Ungenauigkeiten oder sogar falsche Aussagen. Eine genaue Geschichtsschreibung lässt folglich den Blick in die Originale als unerlässlich erscheinen. In der Forschung mündet dies beinahe zwangsläufig in ein zuweilen akribisches Quellenstudium, dessen Ergebnisse im Übrigen nicht selten auch in einer eigenen Diskursart vermittelt werden: Texte zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts lesen sich von daher häufig anders als Arbeiten zu aktuellen Themen. Die Fremdsprachendidaktik kann auf eine Vielzahl von Arbeiten verweisen, in denen Forschungsetappen und wissenschaftlich anmutende Reflexionen über das Lehren und Lernen fremder Sprachen dokumentiert, nachgezeichnet und in ihrer Genese interpretiert werden. Beim oberflächlichen Betrachter kann dabei der Eindruck entstehen, dass es sich eher um punktuelle Erscheinungen und sporadische Sichtweisen handelt, die für das Geschichte des Fremdsprachenunterrichts 6 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Verstehen einer bestimmten Epoche in der Fachgeschichte bedeutsam erscheinen mögen, wobei dieser Eindruck dann einher geht mit der Vermutung, dass es sich dabei um eine in sich zeitlich abgeschlossene und durch die Zeit überholte Entwicklung handelt. Diese Einschätzung kann jedoch mit mindestens zwei Begründungen zurückgewiesen werden: Historische Darstellungen zum Fremdsprachenlernen, die sich um eine epochenübergreifende Analyse bemühen, machen erstens deutlich, wie verwandt bisweilen ‚verstaubt‘ anmutende Positionen aus vorangehenden Jahrhunderten aktuellen Entwicklungen und Konzepten sind. Kenntnisse der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts können somit auch als Ideengeber und Motivator für seine Weiterentwicklung in der Gegenwart dienen. Solche Darstellungen sind z.B. - um nur einige exemplarisch zu nennen - von K ELLY (1969), C UQ (1991), G ERMAIN (1993), M ACHT (1986, 1987, 1990), P UREN (1988), H ÜL - LEN (2005) oder H OWATT / W IDDOWSON ( 2 2004) vorgelegt worden. Sie zeigen bis zum jeweiligen Erscheinungsdatum Entwicklungen auf und tragen dazu bei, aktuelle Tendenzen historisch zu verorten. Dabei zeigt sich, dass viele aktuell anmutende Konzepte bisweilen schon wesentlich früher auftauchen als gegenwärtig angenommen, freilich unter anderen Bezeichnungen und nicht unbedingt wissenschaftlich abgesichert, und auch keineswegs mit der heute üblichen Akribie begründet, erprobt und modifiziert. Daraus lässt sich zweitens ableiten, dass ein Blick in die Fachgeschichte nicht zwangsläufig ein Additum, sondern vielmehr ein genuiner Bestandteil des Faches selbst ist. Oder in den Worten von Werner H ÜLLEN (2005: 7): Kenntnisse zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts sind ein sinnvoller Beitrag zur Fremdsprachenlehrerausbildung [...]. Das berufliche Handeln in der Gegenwart gewinnt neue Vergleichs- und Beurteilungsmaßstäbe, wenn es wissentlich vor dem Hintergrund der Entwicklungen geschieht, die zu seinen Bedingungen und den Eigenarten seiner Praxis beigetragen haben. Der Fremdsprachenlehrer und die Fremdsprachenlehrerin gewinnen für ihre Arbeit eine neue Ernsthaftigkeit, wenn sie sich der Tatsache bewusst werden, dass ihre beruflichen Vorläufer in den vergangenen Jahrhunderten die europäische Kulturentwicklung wesentlich mitbestimmt haben. Die Zukunft sollte deshalb tunlichst nicht geplant werden ohne Vergleich mit Erfahrungen, die man in der Vergangenheit - auch in der weit zurückliegenden - schon gemacht hat. Damit diese epochenübergreifende wichtige Funktion der fachgeschichtlichen Beschäftigung erfüllt werden kann, sind Einzelstudien notwendig, die gleichsam die unterschiedlichen Puzzleteile eines umfassenden Mosaiks ergeben. Auch über solche Einzelstudien verfügt die Fremdsprachendidaktik, und zwar sowohl über solche, die konzeptuell angelegt sind und nach den zugrunde liegenden Begriffen, Konzepten und Auswirkungen fragen, als auch über solche mit überwiegend Dokumentationscharakter. Die nachfolgende Nennung versteht sich wieder als exemplarisch: H ÜLLEN / K LIPPEL (2002, 2005), K LIPPEL (1994), D OFF (2002) für den ersten Typ, C HRIST / R ANG (1985), S CHRÖDER (1987/ 1989/ 1992/ 1995/ 1996/ 1999) für den zweiten Typ. Das umgangssprachliche Verständnis von ‚Geschichte‘ geht von einem abgeschlossenen Vorgang aus. ‚Das ist doch Geschichte‘ bringt zum Ausdruck, dass etwas vorbei und nicht mehr aktuell ist. Ein solches Verständnis greift zu kurz, weil es den Blick darauf verstellt, dass man aus der Geschichte lernen kann und dass abgeschlossene Ereignisse oder Entwicklungen gegenwärtig und/ oder zukünftig von Bedeutung sein können. Damit Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 7 39 (2010) stellt sich gleichwohl die Frage, wann etwas anfängt, ‚Geschichte‘ zu sein. Hier deuten sich zwei mögliche Antworten an: Die eine Antwort geht davon aus, dass man dies im Rückblick feststellen kann. Eine fachliche Entwicklung ist abgeschlossen, die Ergebnisse liegen vor, und man kann zu einer rückblickenden Einschätzung oder Bewertung gelangen. Man könnte die fachgeschichtlichen Einzelstudien so werten: Indem man sich mit den Arbeiten oder Positionen z.B. einzelner Personen aus zurückliegenden Zeitepochen befasst, blickt man auf einen in sich abgeschlossenen Vorgang zurück, den man darstellt und in der Rückschau bewertet. Damit geht man gleichzeitig der Unsicherheit von prognostischen Effektivitätseinschätzungen aus dem Weg: Man kann eben im Rückblick sagen, welche Auswirkungen eine Position oder eine Entwicklung gehabt haben, vorausgesetzt, dass die Quellenlage dies zulässt. Dies würde auch bedeuten, dass aktuellere Entwicklungen (noch) nicht geschichtsbeladen sein können, da man über ihre Wirkung auf das Fach in der Zukunft noch keine Aussagen treffen kann (oder will). Ob sich in 200 Jahren noch jemand an Aufgabenorientierung, vernetztes Sprachenlernen oder computerbasierte Selbstlernprogramme erinnern wird, lässt sich gegenwärtig jeweils nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Nun kann man diesem umgangssprachlichen Verständnis von ‚Geschichte‘ und ‚Fachgeschichte‘ entgegenhalten, dass es der von H ÜLLEN zitierten Forderung nicht gerecht wird, weil es Geschichte als etwas Abgeschlossenes begreift, das keine Bedeutung für Zukunft und Gegenwart hat. Aktuellere Entwicklungen und Positionen würden damit nicht unter die Geschichte des Faches fallen, jedenfalls nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Dennoch gibt es gute Gründe, die fachgeschichtlichen Betrachtungen nicht so ohne weiteres mit einer historisch abgeschlossenen Zeitepoche beginnen zu lassen, sondern sich auf den Standpunkt zu stellen, dass die Fachgeschichte bereits im Hier und Jetzt beginnt: Der zeithistorische Rückblick gestattet eine Bewertung aktueller Positionen und Entwicklungen, die mit dem Anspruch verknüpft ist, direkt oder indirekt Aussagen darüber zu machen, ob sie relevante Einschnitte bedeuten, die das Fach charakterisieren: Auf der Grundlage und vor dem Hintergrund fachhistorischer Analysen lassen sich also Standortbestimmungen des Faches vornehmen, die zwar zukunftsgerichtet sein mögen, aber gleichzeitig eine zeithistorische Komponente beinhalten. Man braucht also ein wie auch immer geartetes historisches Bewusstsein, ohne das eine Einschätzung aktueller Entwicklungen kaum möglich wäre. Oder anders ausgedrückt: Zwischen Geschichte und Aktualität gibt es eine doppelte Verbindung: Wir blicken durch den Spiegel des Hier und Jetzt auf Vergangenes zurück, und wir blicken durch den Spiegel der Historie in die Gegenwart und Zukunft. Wer sich folglich heute mit Entwicklungen früherer Epochen beschäftigt, um sie kennenzulernen, zu verstehen und einzuschätzen, kann seine Erfahrungen aus der Aktualität nicht ausblenden. Und wer sich mit der Frage befasst, welche fachlichen Entwicklungen der Gegenwart von Bestand sein werden oder könnten, tut dies vor dem Hintergrund seines fachgeschichtlichen Wissens und/ oder Bewusstseins. Für eine kritische und ‚distanzierte‘ Einschätzung neuer fremdsprachendidaktischer Maßnahmen und Methoden erscheint eine historische Verortung dieser geradezu unabdingbar und insbesondere für die Lehrerbildung von hoher Relevanz. Es liegt in der Natur von so genannten Paradigmenwechseln, das jeweils aktuelle Paradigma als Allheilmittel zur 8 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Lösung bestehender Probleme anzusehen, und so wird dieses auch in der Lehre entsprechend vertreten. Die Verpflichtung auf eine ‚seligmachende‘ Position führt allerdings auf Seiten der zukünftigen Lehrer zu falschen Erwartungen und (mindestens mittelfristig) im Beruf zu Frustrationen. Da wir um die Vergänglichkeit von Paradigmen wissen, muss es unser Ziel sein, der Vermittlung von historischen Entwicklungen und Zusammenhängen, also eines „historischen Wissensfundus“ (H ÜLLEN 2000: 37), angemessenen Raum im Studium zu bieten, um zukünftigen Fremdsprachenlehrern den Erwerb einer historisch basierten Kritikfähigkeit zu ermöglichen, die sie vor einer voreiligen und unkritischen Identifikation mit ‚Innovationen‘ bewahren kann. Als einschlägiges Bespiel kann hier das in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts - je nach historischem, bildungs- und sprachenpolitischem Kontext - unterschiedlich praktizierte Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache (dogmatische vs. aufgeklärte Einsprachigkeit, zuletzt B UTZKAMM / C ALDWELL 2009) dienen. Dass die Herausbildung von Sprachlehrmethoden und auch autonomer Ansätze zum Fremdsprachenlernen nicht zufällig ist, sondern bestimmten Regularitäten, der Beantwortung bestimmter Fragestellungen folgt (Was ist das Wesen von Sprache? Wie lernt man Sprachen? Warum lernt man Sprachen? ), ist mehrfach gezeigt worden (z.B. R ICHARDS / R ODGERS 2 2001). Das vorliegende Themenheft repräsentiert das hier nur kurz skizzierte weite Verständnis fachgeschichtlicher Entwicklungen. Es enthält drei Arten von Beiträgen: Da sind zunächst einmal die rückblickenden Beiträge, die punktuelle Analysen fachgeschichtlicher Positionen und Entwicklungen untersuchen. Da sind zum zweiten Beiträge, die explizit von aktuellen Entwicklungen ausgehen und fragen, in welchem Umfang sich Vorläufer dieser Entwicklungen zu früheren Zeitpunkten bereits herausarbeiten lassen. Und da sind zum dritten Beiträge, die aktuelle(re) Entwicklungen zum Anlass für entweder konzeptuell-prognostische oder resümierend-fachgeschichtliche Betrachtungen nehmen. K ONRAD S CHRÖDER sucht nach Begründungen, die es bereits im 18. Jahrhundert für das Englischlernen in Deutschland gegeben hat. Die von ihm herangezogenen Quellen belegen, dass es bereits in dieser Zeit Argumente für die Aneignung und den Unterricht des Englischen gegeben hat - aus heutiger Sicht insofern bemerkenswert, als das Englische seinen Siegeszug durch das deutsche Bildungssystem erst im 20. Jahrhundert angetreten und damit insbesondere das Französische als erste Fremdsprache deutlich verdrängt hat. Schröder zeigt, dass mit wirtschaftlichen und ästhetischen Argumenten bereits zwei Jahrhunderte zuvor engagierte Plädoyers für die bildende Wirkung des Englischlernens und des Englischunterrichts gehalten wurden, auch wenn diese Plädoyers noch keine schulsprachenpolitische Wirkung entfalteten, u.a. weil die gesellschaftlichen Bedingungen dem (noch) entgegenstanden. H ERBERT C HRIST geht der Frage nach, welche Rolle die „schöne Literatur“ im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts spielte. Dabei zeigt er, dass mit der Behandlung von Literatur im Unterricht je nach Ausrichtung der jeweiligen Autoren didaktischer Positionsbestimmungen unterschiedliche Zielsetzungen verbunden wurden. Diese reichten von der Vermittlung ästhetischer Werte bis zur Verlängerung des reinen, auf Syntax- und Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 9 39 (2010) Lexikvermittlung fokussierten Sprachunterrichts durch Behandlung literarischer Texte und zu allgemeinbildenden Begründungen, die den fremdsprachlichen Literaturunterricht gerade nicht zu einem fachwissenschaftlich geprägten, sondern zu einem gesellschaftspolitischen Phänomen erklärten: Literatur und die Beschäftigung mit ihr als Quelle und Anlass für das Verstehen gesellschaftlicher Erscheinungen der Zielkultur. Dies geschah auf der Grundlage eines wahrlich beachtlichen Kanons von Schriften, deren Gesamtumfang aus heutiger Sicht beeindruckend ist. Betrachtet man die aktuellen Diskussionen über die Lehrerbildung, so stößt man nicht selten auf den Begriff der Professionsforschung. Insbesondere Schulpädagogen und weniger Fremdsprachenforscher haben sich hier einen Namen gemacht (vgl. z.B. H ERICKS 2006, B AYER / B OHNSACK / K OCH -P RIEWE / W ILDT 2000), ein Umstand, der der Fremdsprachendidaktik nicht zu Unrecht auch zum Vorwurf gemacht wird (T RAUTMANN 2010). Um so überraschter wird man konstatieren, dass Professionalisierungsideen - freilich ohne diesen Begriff zu verwenden - bereits im 19. Jahrhundert auftauchen, wie F RIEDE - RIKE K LIPPEL in ihrem Beitrag zeigt. Sie betrachtet die selten zitierten Autoren L UDWIG H ERRIG und H ERMANN B REYMANN „[...] als Eckpunkte der Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts in den lebenden Sprachen und der Etablierung einer gleichermaßen wissenschaftlich fundierten und praxisorientierten Lehrerbildung“. Beide engagierten sich bereits in dieser Epoche dafür, dass angehende Lehrer gut ausgebildet wurden, wobei sich die gute Ausbildung keineswegs nur auf die wissenschaftlichen, sondern auch auf die unterrichtspraktischen Kompetenzen bezog. Mit dem Verhältnis von Nationalerziehung und Fremdsprachenlernen befasst sich F ELICITAS S TREHLOW . Sie skizziert die Vorstellung von einer Erziehung zum „Deutschsein“ im 19. und 20. Jahrhundert und fragt nach der Verträglichkeit mit den Zielen des Fremdsprachenunterrichts. Für das 19. Jahrhundert kann sie feststellen, dass Nationalerziehung und die Beschäftigung mit fremden Sprachen und Kulturen sich nicht zwangsläufig ausschließen. Erst die politischen Ereignisse des beginnenden 20. Jahrhunderts und das Aufkommen des Nationalsozialismus tragen zu einer Verschärfung der Fronten bei, die den Fremdsprachenunterricht stärker in die Defensive geraten lassen. Einem spezifischen Phänomen geht der Beitrag von M ARCUS R EINFRIED nach. In ihm geht es um muttersprachenbasierte Semantisierungstechniken in der Vermittlung von Fremdsprachen in den beiden vorangehenden Jahrhunderten. Dabei zeichnet er die unterschiedlichen Positionen nach, die sich in diesem Zusammenhang in den Quellen finden lassen und die von der Integration der Muttersprache bis zu deren dogmatischer Ablehnung reichen. Der historisch angelegte Argumentationsgang beinhaltet sowohl methodische Standpunkte als auch sprachwissenschaftliche Perspektiven des Bedeutungsbegriffs und mündet schließlich in die von W OLFGANG B UTZKAMM wiederholt propagierte „aufgeklärte Einsprachigkeit“, die bekanntlich einen funktional bestimmten Einsatz der Muttersprache - auch und gerade zur Semantisierung - zulässt. Mit den Beobachtungen und Anmerkungen von S TEFAN E TTINGER beginnen die Beiträge, die sich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklung gleichsam in der Rückschau mit der Frage beschäftigen, ob und in welchem Umfang aktuelle Forschungstendenzen sich auf Entwicklungen zurückführen lassen, die bereits längere Zeit zurückliegen. 10 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) Mit dem Schwerpunkt auf Phraseologie und Wortschatzerwerb untersucht Ettinger, welche Informationen und vor allem welche Anforderungen der modernen Phraseologie und der Lexikografie insgesamt bereits in dem 1900 erschienenen Band Les idiotismes et proverbes de la conversation allemande enthalten sind. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der über hundert Jahre alte Band erstaunlich modern ist - ein Plädoyer dafür, dass wir gut beraten sind, aus der Fachgeschichte zu lernen. D ANIEL C OSTE nimmt aktuelle sprachen- und fremdsprachenpolitische Diskussionen in Europa zum Anlass, danach zu fragen, in welchem Umfang sich die Argumentationen und Begründungen für diese fremdsprachenpolitischen Eckpunkte an vorangehende Entwicklungen anschließen lassen. Dabei stellt er fest, dass Diskussionen über Standards und Varietäten nicht neu sind und bereits vor über 100 Jahren bei der Frage nach geeigneten Formen und Zielen des Fremdsprachenunterrichts eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. C LAUS G NUTZMANN und N ADINE S ALDEN widmen sich einem durchaus aktuellen Thema: In Übereinstimmung mit der Lernerorientierung in der Fremdsprachendidaktik stellen sie die Frage nach den unterschiedlichen Lernerbildern in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts. Dazu typologisieren sie das Bild, das unterschiedlichen Vermittlungsmethoden einschließlich der kulturkundlichen Bewegung jeweils zugrunde liegt. Lernende von Fremdsprachen waren je nach Methode und Zeitgeist unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt, in denen sich nicht zuletzt auch der Antagonismus zwischen Gebrauchsorientierung und Bildungswert des Fremdsprachenunterrichts widerspiegelt. Trotz dieser wechselhaften Lernerbilder lassen sich wiederkehrende Muster ausmachen, wobei sich bestimmte Erscheinungen bis heute gehalten haben bzw. wieder neu belebt werden. Ebenfalls bei einer aktuellen Entwicklung setzt der Beitrag von F RANZ -J OSEPH M EI ß NER ein. Es geht ihm um die Vorläufer der heute - u.a. vor allem von ihm propagierten - Mehrsprachigkeitsdidaktik. Diese zielt in ihrem Kern darauf, die vorhandenen Sprachwissens- und Sprachkönnensbestände zu aktivieren und für das Lernen weiterer Sprachen nutzbar zu machen (vgl. M EI ß NER 2005, 2010; H ALLET / K ÖNIGS 2010). Er zeigt, dass wesentliche Elemente der Mehrsprachigkeitsdidaktik bereits in vorangehenden Jahrhunderten nachgewiesen sind. Der Rekurs auf andere (im Lernenden vorhandene) Sprachen kommt in mehrsprachigen Wörterbüchern und Grammatiken zum Ausdruck, die einen entsprechenden Anspruch formulieren, aber vor allem auch in metakognitiven Strategien, die das Lernmanagement, das Memorisieren von syntaktischen Strukturen, das Überwachen der eigenen Sprachlernfortschritte und der Sprachproduktion in der Fremdsprache betreffen und die sich aus entsprechenden Berichten der jeweiligen Zeit herausfiltern lassen. Die letzten beiden Beiträge gehen stärker von aktuelle(re)n Entwicklungen aus: S ABINE D OFF zeichnet die Entwicklung der Englischdidaktik der 1970er und 1980er Jahre nach. Dabei fragt sie nach den Begründungen für das Selbstverständnis der Englischdidaktik als einer wissenschaftlichen Disziplin und nach den Entwicklungsschritten, die seitens der Englischdidaktik dabei vollzogen wurden. Sie konstatiert für die beginnenden 1970er Jahre eine Krise, aus der sich das Fach durch eine zunehmende Interdiszipli- Von gestern - und doch für heute und morgen relevant ... 11 39 (2010) narität, eine Neuordnung des Verhältnisses von Theorie und Praxis und eine Neubestimmung der wissenschaftlichen Methoden sukzessive befreit hat. F RANK G. K ÖNIGS befasst sich mit der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit fachliche Entwicklungen auch als solche wahrgenommen werden und das Profil des Faches verändern. Es ist also zu klären, was die jeweiligen Entwicklungen aus der Sicht des Betrachters zu fachrelevanten Entwicklungen macht, welche Bedingungen dafür gegeben sein müssen, damit diese Wahrnehmung zustande kommt und in welchem Umfang die Gefahr besteht, dass verkürzte Wahrnehmungen zu nicht mehr hinterfragten Mythen werden. Aufgezeigt wird dies an Beobachtungen zur Sprachlernbewusstheit, zur Mehrsprachigkeit, zum Wortschatzlernen, zur Gruppenarbeit, zum Lernen mit neuen Medien und zu Bildungsstandards. Die Beschäftigung mit Aspekten der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts und seiner Erforschung ist ein weites Feld. Bisweilen mag es erscheinen, als unternehme man den Versuch, dieses weite Feld nur mit einem Spaten ausgerüstet zu kultivieren. Gleichwohl ist es notwendig, sich dieser Aufgabe zu stellen, denn nur dann besteht die Chance dazu, dass auch ein Fach wie die Fremdsprachendidaktik in die Lage versetzt wird, aus der Geschichte zu lernen. Die Beiträge dieses Bandes sollen die Notwendigkeit zu diesem Schritt verdeutlichen und gleichzeitig anregen, sich mit fachgeschichtlichen Aspekten auseinanderzusetzen. Literatur B AYER , Manfred / B OHNSACK , Fritz / K OCH -P RIEWE , Barbara / W ILDT , Johannes (Hrsg.) (2000): Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenzen? Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. B UTZKAMM , Wolfgang / C ALDWELL , John A.W. (2009): The Bilingual Reform. A Paradigm Shift in Language Teaching. Tübingen: Narr 2009 (Narr Studienbücher). C HRIST , Herbert / R ANG , Hans-Joachim (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Sieben Bände. Tübingen: Narr. C UQ , Jean-Pierre (1991): Le français langue seconde. Origines d’une notion et implications didactiques. Paris: Hachette. D OFF , S ABINE (2002): Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt-Longman. G ERMAIN , Claude (1993): Évolution de l’enseignement des langues: 5000 ans d’histoire. Paris: Hachette. H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (2010): „Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen“. In: H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer, 302-307. H ERICKS , Uwe (2006): Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. H OWATT , A.P.R. / W IDDOWSON , H.G. ( 2 2004, 1 1984): A History of English Language Teaching. Oxford: Oxford University Press. H ÜLLEN , Werner (2005): Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 12 Claus Gnutzmann, Frank G. Königs 39 (2010) H ÜLLEN , Werner (2000): „Ein Plädoyer für das Studium der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts“. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 11, 31-39. H ÜLLEN , Werner / K LIPPEL , Friederike (Hrsg.) (2002): Heilige und profane Sprachen. Die Anfänge des Fremdsprachenunterrichts im westlichen Europa. Wiesbaden: Harrasowitz. H ÜLLEN , Werner / K LIPPEL , Friederike (Hrsg.) (2005): Sprachen der Bildung - Bildung durch Sprachen. Wiesbaden: Harrasowitz. M ACHT , Konrad (1986/ 1987/ 2000): Methodengeschichte des Englischunterrichts. Band 1: 1800-1880. Band 2: 1880-1960. Band 3: 1960-1985. Augsburg: Universität. M EI ß NER , Franz-Joseph (2005): „,Mehrsprachigkeitsdidaktik‘ revisited“. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 34, 125-145. M EI ß NER , Franz-Joseph (2010): „Interkomprehensionsforschung“. In: H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer, 381-386. K ELLY , Louis G. (1969): 25 Centuries of Language Teaching. Rowley, Mass.: Newbury House. K LIPPEL , Friederike (1994): Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden. Münster: Nodus. P UREN , Christian (1988): Histoire des méthodologies de l’enseignement des langues. Paris: CLÉ International. R ICHARDS , Jack C. / R ODGERS , Theodore S. ( 2 2001, 1 1986): Approaches and Methods in Language Teaching. Cambridge: Cambridge University Press. S CHRÖDER , Konrad (1987/ 1989/ 1992/ 1995/ 1996/ 1999): Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes, Spätmittelalter bis 1800. 6 Bände. Augsburg: Universität. T RAUTMANN , Matthias (2010): „Professionsforschung in der Fremdsprachendidaktik“. In: H ALLET , Wolfgang / K ÖNIGS , Frank G. (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer, 346-350.